Susanna Fassbind

ZEIT FÜR
DICH –
ZEIT FÜR
MICH

Nachbarschafts-
hilfe für Jung
und Alt


Vorwort [von Anne Rüffer]

Prolog

Mit Mut, Ausdauer und Flexibilität

Inspirationen, Ressourcen und Potenziale

Von Akzeptanz und Teamgeist

Integration aller für hohe Lebensqualität
[von Ingrid Engelhart]

Konsequenzen der demografischen Entwicklung

Markt und Staat

Das Leben ist gestaltbar: Das Alter an der Nahtstelle
von Chancen und Einschnitten
[von Christoph Zeckra]

Zivilgesellschaft und Freiwilligenarbeit

Eine Frage der Haltung [von Manuela Weichelt-Picard]

KISS – Keep it small and simple

Das Modell KISS

Rechtliche Strukturen

Kooperationen

Regionale und individuelle Umsetzung

Erfahrungen und Perspektiven

Durch Erfahrungen wird jede Genossenschafts–
gründung einfacher

Aufbauen auf früheren Erfahrungen

Kompetent und liebevoll begleiten

Wahlverwandtschaften werden wie Familie

Beeinträchtigungen als Chance nutzen

Dauer-Herausforderung Software

Neuland für die Politik

Zukunftsgerichtetes solidarisches
Generationenprojekt KISS
[von Ruedi Winkler]

Epilog

Zeit und Geld – Sein und Haben


Anhang

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Dank

Vorwort


2. Dezember 2015, Genf. Im voll besetzten »Auditorium Ivan Pictet« hat sich ein hochrangiges Publikum versammelt, um die aktuellen Preisträger des Alternativen Nobelpreises zu ehren. Selten stimmt die Adresse eines Ortes so unmissverständlich mit den Inhalten der Veranstaltung überein wie an diesem Abend: »Maison de la Paix«. Deutschlands Umweltministerin Barbara Hendriks und UN-Generaldirektor Michael Møller eröffnen den Anlass, der unter dem Titel steht: »On the Frontlines and in the Courtrooms: Forging Human Security.«

In der darauf folgenden Diskussion der vier Preisträger von 2015 fällt auf einmal die Aussage, die mich elektrisiert: »Die UN wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um nachfolgende Generationen vor der Geisel des Kriegs zu bewahren. Seither hat es über 170 Konflikte gegeben – und ihr habt die Möglichkeit einer Abschaffung von Kriegen nie diskutiert? Come on, guys, das ist doch unglaublich!« Verlegenes Gelächter und ungläubiges Staunen im Publikum, doch Dr. Gino Strada, Gründer der internationalen Hilfsorganisation »Emergency« weiß nur zu gut, wovon er spricht: Seit den frühen 1990er-Jahren baut er Kliniken in Kriegsregionen und kümmert sich um die zivilen Opfer – 10% sind Kämpfer der verschiedenen Kriegsparteien, 90% Zivilisten. Er beendete sein Statement mit der Feststellung: »Nennt mich ruhig einen Utopisten, denn alles ist eine Utopie, bis jemand seine Idee in die Tat umsetzt.«

Einer der wohl meistzitierten Sätze der letzten Jahrzehnte lautet: »I have a dream.« Nicht nur Martin Luther King hatte einen Traum – viele Menschen träumen von einer gerechteren Welt für alle. Und es sind einige darunter – mehr als wir wissen und noch lange nicht genug –, die ihren Traum mit Engagement, Herz und Verstand realisieren. Es sind Pioniere in ihren Bereichen, man mag sie – wie Gino Strada, Martin Luther King, Mutter Teresa oder Jody Williams – durchaus Utopisten nennen. Doch: Jede große Errungenschaft begann mit einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision.

Den Funken einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision weiterzutragen und damit ein Feuer des persönlichen Engagements zu entzünden, das ist die Absicht, die wir mit unserer neuen Reihe – wir nennen sie »rüffer&rub visionär« – verfolgen. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung der Autoren mit ihrem jeweiligen Thema. In packenden Worten berichten sie, wie sie auf die wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Frage aufmerksam geworden sind und was sie dazu veranlasst hat, sich der Suche nach fundierten Antworten und nachhaltigen Lösungen zu verpflichten. Es sind engagierte Texte, die darlegen, was es heißt, eine persönliche Verpflichtung zu entwickeln und zu leben. Ob es sich um politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche oder spirituelle Visionen handelt – allen Autoren gemeinsam ist die Sehnsucht nach einer besseren Welt und die Bereitschaft, sich mit aller Kraft dafür zu engagieren.

So vielfältig ihre Themen und Aktivitäten auch sein mögen – ihr Handeln geschieht aus der tiefen Überzeugung, dass eine bessere Zukunft auf einem gesunden Planeten für alle möglich ist. Und: Wir sind davon überzeugt, dass jeder von uns durch eigenes Handeln ein Teil der Lösung werden kann.

Anne Rüffer, Verlegerin

img_01.jpg

Mit Mut, Ausdauer
und Flexibilität


Mit diesem einleitenden Rück- und gleichzeitigen Ausblick möchten wir allen Mut machen, ihre Visionen und Erfahrungen in zukunftsorientierte Projekte einzubringen, selber solche zu gestalten und aufzubauen. Wir vier Gründerfrauen wollen Menschen motivieren, ihre Ideen angehen und uns von echten oder scheinbaren Hindernissen nicht aufhalten lassen. Denn: Widerstände beinhalten letztlich immer einen Kern, den es zu bedenken gilt, um frei entscheiden zu können.

Wir vier Gründerinnen haben alle – jede auf ihre besondere Weise – das Leben als eine Abfolge von Versuch, Irrtum und Erfolg in verschiedensten Bereichen erlebt. Die Themen reichen von Geschlechter-, Abfall-, Energie-, Erziehungs-, Sozial- und Finanzfragen, Firmenaufbau und -betrieb, Kommunikationsaufgaben, Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand auf allen drei Ebenen (Gemeinde, Kanton und Bund), Wirtschaft und Zivilgesellschaft bis zur Gestaltung von Leitbildern und Marken. Dieses gebündelte Know-how und vor allem das reiche Erfahrungswissen haben wir für KISS vernetzt und ganzheitlich eingebracht.

In unserer Zeit findet ein großer gesellschaftlicher Wandel1 statt, für den es keine Ausbildungen und Gebrauchsanweisungen gibt. So war KISS für uns vier ein »Learning by doing«: Verschiedenste Aus- und Weiterbildungen, familiäre und berufliche Erfahrungen und immer wieder intensive Freiwilligenarbeiten bildeten die Basis. Mit Mut, Ausdauer und hoher Flexibilität haben wir dieses zivilgesellschaftliche Projekt gestartet und in unterschiedlicher Weise weitergetragen.

Das politische und wirtschaftliche Umfeld begegnet »Betreuung mit Nachbarschaftshilfe« grundsätzlich positiv. Es ist jedoch nicht einfach, die rechtlichen Grundlagen2 dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen; sie erweisen sich für kreative und innovative Lösungen häufig als wenig elastisch und blockierend. Wie die im Augenblick finanziell und sozial größte Herausforderung »Altersvorsorge« zeigt, fließen neue, vor allem zivilgesellschaftliche Ansätze kaum in die Strukturen der Vorsorge ein und entlasten die öffentliche Hand und Bürger nicht, obwohl gerade die Entlastung eine ihrer Stärken darstellt. KISS kann in Zusammenarbeit mit Politik und Wirtschaft diese Erleichterungen in vielfältigster Art einbringen.

Dieses Buch soll den Pioniergeist und Mut von vielen Menschen stärken, damit wir zusammen die großen gesellschaftlichen Herausforderungen meistern – zum Besten von allen!

»Das, was geklärt werden muss, klären wir; das, was gemacht werden muss, machen wir.« – Nach vielen Diskussionen und einem ersten Konzept haben wir entschieden, einfach anzufangen und das Modell ständig weiterzuentwickeln. Die eigenen Bedürfnisse und die der anderen ernst zu nehmen, sich den Herausforderungen immer wieder zu stellen und das Projekt gemeinsam weiter zu entwickeln gehört ebenso zu KISS wie die Kernidee: die Zeitgutschriften für Jung und Alt.

Edith Stocker | Susanna Fassbind und ich haben Mitte der 1990er-Jahre in einer Zeitschrift einen Beitrag über ein Zeitgutschriften-System in Japan gelesen, das dort »Fureai Kippu« heißt. Während des Lesens hat es mich durchzuckt, und ich habe gewusst, dass diese Idee auch für uns in der Schweiz relevant ist. Für einen kurzen Moment, einem Urknall gleich, habe ich das Potenzial wahrgenommen, das darin schlummert. Erst später habe ich den Zusammenhang zwischen demografischer Entwicklung, Nachbarschaftshilfe und Atomisierung der Gesellschaft gesehen. Gesellschaftspolitische Themen wie Familie, Gleichstellung, Diversity, Gesundheitsförderung haben mich beruflich immer begleitet.

img_02.jpgimg_03.jpg

Für mich enthält KISS einen entscheidenden Unterschied zu »klassischer« Nachbarschaftshilfe: Geben und Nehmen geschieht auf Augenhöhe. Beide sind Nehmende und Gebende im Sinne von: »Ich bekomme, indem ich gebe.«

Freiwilligenarbeit ist häufig mit dem Wunsch verbunden, Arme zu unterstützen, Behinderten und Bedürftigen zu helfen. Doch selbst Menschen mit Einschränkungen sind in ihrem innersten Wesen ganz, haben etwas zu geben und wollen dies in der Regel auch tun. Deshalb engagiere ich mich generell und bei KISS dafür, dass der Mensch nicht vorwiegend über seine Defizite definiert wird.

Mit Susanna Fassbind arbeite ich schon seit Jahrzehnten in verschiedenen Projekten zusammen und tausche mich mit ihr laufend zu wirtschaftlichen und politischen Themen aus. Die Idee einer Säule 4 kam immer wieder zur Sprache, und als Susanna Fassbind und Ingrid Spiess das Thema beim Berufsverband Fachperson Betreuung aufgriffen, war es keine Frage, dass wir gemeinsam weitermachen. Beim ersten Workshop im September 2011, den die beiden im Namen des Verbandes organisierten, bat mich Susanna, den Workshop zu den Zeitgutschriften zu leiten. Dort lernten wir Heidi Lehner kennen.

Bezeichnend war unsere Vereinsgründung im Zug. Wenn etwas Sinnbild ist für das Ganze, dann diese Gründung. Wir vier Frauen (Heidi Lehner, Ingrid Spiess, Susanna Fassbind und ich) hätten keinen Verein gebraucht, die realen Gegebenheiten verlangten aber einen. In ein, zwei Tagen bereitete ich die Statuten vor; unterwegs im Zug verteilten wir die Ressorts und unterschrieben die Statuten. Das ist für mich Symbol und Programm zugleich: Im Zug fahrend und unterwegs, wir vier Frauen, ohne Hierarchie- oder Besitzansprüche. Das, was geklärt werden muss, klären wir; das, was es braucht, machen wir.

Die Genossenschaften aufzubauen und über die Aufbauphase hinauszubringen ist sicher eine der großen Herausforderungen. Die interne Kommunikation ist in einem sich selbst organisierenden Gebilde etwas sehr Anspruchsvolles. Das verlangt andere Arten von Informationskanälen, als wir uns gewohnt sind. Eine weitere Herausforderung sehe ich in der Aufgabenverteilung auf viele Schultern, an die richtigen Menschen, mit den richtigen Kompetenzen, mit dem richtigen Handwerk, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit und das noch möglichst selbst organisiert ... Bis das so weit ist und eine Normalität erreicht, dauert es und braucht es Durchhaltevermögen. Davon haben wir Gründerinnen allerdings eine Menge, und das stimmt mich sehr zuversichtlich.

Ingrid Spiess | 2009 lernte ich im Rahmen einer Weiterbildung durch den Berufsverband Fachperson Betreuung Susanna Fassbind kennen; es ging damals um die zukünftige Öffentlichkeitsarbeit des Verbandes. Im Gespräch mit ihr erfuhr ich von den Zeitgutschriften und war sogleich fasziniert davon, weil das Konzept der Zeitvorsorge eine Win-win-Situation für alle Beteiligten darstellt.

Aus meiner Erfahrung als Heimleiterin weiß ich, dass Menschen, die frisch ins Heim kommen, in der Regel nur in wenigen Bereichen eingeschränkt sind und Hilfe benötigen, vieles könnten sie gut selber machen. Im Heimalltag konnte ich jedoch beobachten, wie sie ihre Selbständigkeit in kurzer Zeit verloren, weil sie keine Aufgaben mehr hatten. Gerade als Heimleiterin sehe ich, dass viele Menschen mit einer adäquaten Unterstützung besser zu Hause leben könnten. Ein Beispiel: Die Menschen, die damals auf die von mir geleiteten Abteilungen kamen, waren alle an einer Demenz erkrankt. Die meisten von ihnen waren in kurzer Zeit inkontinent, weil sie die Toilette nicht mehr rechtzeitig finden konnten. Wären sie zu Hause in ihrem gewohnten Umfeld geblieben, wäre die Inkontinenz nicht so schnell ein Thema geworden, weil sie sich dort besser zurechtfanden.

Hinzu kommt die große finanzielle Belastung. Die meisten bezahlten CHF 10000 bis 12000 im Monat für die Betreuung und Pflege im Heim. Bei vielen reichte das monatlich verfügbare Einkommen trotz Ergänzungsleistungen und Hilflosenentschädigung nicht aus. Diese Frage ist auch mit der neuen eidgenössischen Pflegefinanzierung3 nicht gelöst. Im Gegenteil, sie wird auf den Steuerzahler abgeschoben. Die meisten Menschen wollen nicht ins Heim. Diesen Wunsch, möglichst selbstbestimmt leben zu können, wollte ich ernst nehmen, und mit KISS sah ich eine Möglichkeit, darauf hinzuwirken.

Ein Kollege aus Salzburg hat einmal gesagt: »Die Zeitgutschriften sind nur ein Vehikel. Das Miteinander der Menschen, die Freude, wenn es einmal läuft, wenn sich die Leute gegenseitig unterstützen, ist das Entscheidende. Dann zählen die Minuten nicht mehr.« In meinem Dorf engagiere ich mich auf unterschiedliche Weise, um eine tragfähige Nachbarschaftshilfe zu etablieren. So habe ich mich für die Schaffung eines Begegnungsortes eingesetzt. Die Menschen müssen sich begegnen können, damit sie sich kennenlernen und miteinander ins Gespräch kommen. Zusätzlich habe ich mich für den freiwilligen Begleitdienst für Sterbende gemeldet. Wenn ich handfest mittun kann, kommt bei mir Freude und Energie auf. Als nächster Schritt steht Seniorenkochen mit Alleinstehenden an. Wenn sich das weiterentwickelt, werde ich die Gründung einer Genossenschaft ins Auge fassen.

Seit Juni 2014 bin ich Leiterin der ortsansässigen Pro Senectute, organisiere Anlässe im Zentrum »Kafimühli«. Auf diese Weise bereite ich das Gärtchen vor, in dem hoffentlich bald viele verschiedene Pflänzchen zu sprießen beginnen, sodass wir in absehbarer Zeit in unserem Dorf eine blühende Nachbarschaftshilfe haben werden.

Heidi Lehner | Seit mich Susanna Fassbind und Ingrid Spiess im Frühling 2011 bei der Sunflower Foundation besucht hatten, um sich über das japanische Fureai-Kippu-System zu informieren, hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mich am Aufbau der Nachbarschaftshilfe mit Zeitgutschriften zu beteiligen. Im August 2011 stellte ich dann Susanna drei Fragen:

Susanna Fassbind antwortete nach Rücksprache mit Edith Stocker und Ingrid Spiess mit einem dreifachen Ja, und damit war klar: Da mache ich mit.

Im bewussten Verzicht auf eine Besicherung4 der Zeitgutschriften durch Gewährleistungskredite oder hinterlegte Geldsummen sehe ich eine große Chance. Denn wenn Menschen erkennen, dass es weder die Franken auf ihrem Konto noch die aufgeschriebenen Stunden sind, die ihnen Halt und Sicherheit geben, sondern Menschen in ihrem Umfeld, auf die sie sich verlassen können, dann entsteht etwas anderes, als wenn sie sich auf das Äuffnen ihres Bankkontos konzentrieren müssen.

Selbstverständlich ist es praktisch und unkompliziert, jemanden zu bezahlen. Wenn wir Geld haben, ist es nicht einmal notwendig, dass wir die Person kennen, die uns zu Hause hilft. Sie kommt, macht die Wäsche und geht wieder. Mit der Überweisung ihres Stundenlohns sind wir ihr nichts schuldig, und wenn sie ihre Arbeit nicht gut gemacht hat, verlangen wir Nachbesserung oder rufen jemand anderen. Geld hat aber auch die unangenehme Eigenschaft, dass es knapp ist, vor allem da, wo keine ausreichende Rendite zu erzielen ist. In der Pflege und Betreuung von kranken oder älteren Menschen und von Kindern ist »Zeit haben dürfen« entscheidend. Sobald wir aber die Zeit bezahlen müssen, wird sie zu einem Kostenfaktor – mit unerwünschten Nebenwirkungen: Dann behandeln wir Zeit wie Geld und haben zu wenig davon.

Wenn Menschen ihre Zeit mit anderen teilen, entstehen Beziehungen. Das geschieht spontan und immer wieder. Es ist aber längst nicht mehr selbstverständlich, dass man sich in einem Quartier oder Mehrfamilienhaus kennt und gegenseitig hilft, wenn Not am Mann oder an der Frau ist. Deshalb gilt es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Leuten einfacher machen, sich zu finden und aufeinander einzulassen. Es braucht erfahrene Ansprechpersonen mit Fingerspitzengefühl, die die Leute zusammenbringen und da sind, wenn Fragen oder Schwierigkeiten auftauchen. Das gehört für mich zwingend zu KISS. Und es gehört für mich zu KISS, dass die Genossenschaftsmitglieder eigenverantwortlich das tun, was sie gerne tun oder als sinnvoll erachten, und sich dabei gegenseitig wertschätzen. Mit dem Aufschreiben der Zeit wird diese Wertschätzung sichtbar gemacht. Entscheidend ist jedoch das, was die Menschen miteinander erleben. Das trägt sie durch den Alltag und motiviert zum Weitermachen.

Susanna Fassbind | Mein ganzes Leben war ich davon überzeugt, dass meine Freiheit dort aufhört, wo die des Mitmenschen beginnt und dass diese Überzeugung in einer Demokratie aktiv gelebt werden sollte. Diese Haltung erfordert zunächst Selbsterkenntnis und führt letztlich zu Selbstverantwortung. Nur als selbstverantwortliches Mitglied eines Staates kann ich diesen aktiv mitgestalten, und nur wenn ich mich nicht »dem Geld ausliefere«, kann ich meine Selbstverantwortung wahrnehmen und herausfinden, was der wahre Wert im Leben ist. Für mich spiegelt KISS den Kern meiner Werte: Meiner inneren Stimme folgen, meine Potenziale erkennen und nutzen, Freundschaften pflegen und dem Gemeinwesen dienen. Dafür habe ich mich seit 40 Jahren auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Positionen engagiert.

2008 bekam ich einen neuen Nachbarn, der verantwortlich war für die Demenzabteilung eines Pflegezentrums und mir ab und zu schilderte, was er dort erlebte. Um ihm für sein Verständnis in einer Sache zu danken, bot ich ihm als Ausgleich ein Zeitguthaben an. Daraufhin bat er mich, den Berufsverband Fachperson Betreuung zu beraten. Ich bot ihm drei Abende an, an denen ich mich mit den Zentralschweizer Vorstandsmitgliedern treffen würde. Ingrid Spiess, Schweizer Geschäftsleiterin, und die damalige Präsidentin kamen aus Interesse zum zweiten Abend. Nach diesem Anlass begann ich die Beratung des Berufsverbandes, gab zweimonatlich die Fachzeitschrift »3-fach« heraus und organisierte Tagungen. Für mich war wichtig, in den fast drei Jahren, in denen ich die Zeitschrift verantwortete, das Thema intensiv zu recherchieren und viele Betreuungsmodelle zu studieren. Die damals verfassten Artikel zu Mehrgenerationenhaus, neuen Betreuungsstrukturen, geistiger Fitness: Sie sind immer noch aktuell, gottlob oder leider.

Während vieler Jahre bereitete ich den Boden für meine jetzige »soziale Aufgabe« vor. Zudem war ich ein Leben lang selbständig und verfüge über keine Rente im herkömmlichen Sinn. Weil ich stets viel unbezahlte Freiwilligenarbeit geleistet habe, bekomme ich auch nicht die volle AHV (Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung).5 Ich weiß folglich aus eigener Erfahrung, dass wir für ein würdevolles Alter für alle neue Geldund Finanzierungsmodelle benötigen.

KISS habe ich von Anfang an als großes Gesundheitsprojekt gesehen, als evolutionäres Programm für einen gesellschaftlichen Wertewandel, der Schritt um Schritt mit der Bevölkerung gestaltet werden kann. Eine fixe Vorstellung, was KISS alles beinhalten soll, hatte und habe ich nicht. Ein solch visionäres Konzept kann nur mit empathischen und engagierten Menschen, die KISS Tag für Tag leben, umgesetzt werden.