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nomen

Gerd Bedszent

Wirtschaftsverbrechen
und andere
Kleinigkeiten

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© Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2017
Alle Rechte vorbehalten

www.nomen-verlag.de

ISBN 978-3-939816-46-1
eISBN 978-3-939816-47-8

„Die Nationalökonomie entstand als eine natürliche Folge der Ausdehnung des Handels, und mit ihr trat an die Stelle des einfachen, unwissenschaftlichen Schachers ein ausgebildetes System des erlaubten Betrugs, eine komplette Bereicherungswissenschaft. Diese aus dem gegenseitigen Neid und der Habgier der Kaufleute entstandene Nationalökonomie oder Bereicherungswissenschaft trägt das Gepräge der ekelhaftesten Selbstsucht auf der Stirne.”

(Friedrich Engels,
Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie)

Inhalt

An Stelle eines Vorworts

Bauernlegen und Kirchenraub

Gepflastert mit den Leichen der Armen

Tod in der Wüste

Deportation ins Nirgendwo

Raketen für den Endsieg

Zu treuer Hand

Kriminelle Dekarbonisierung

Unendliches aus einem Toll-Collect-Haus

Die Welt, wie sie stinkt

Ein Hafen, der nicht fliegen will

Kapitän Flints Erben

Bankenrettung auf Ukrainisch

Oligarchen und andere Widrigkeiten

In den Orkus der Geschichte

Literaturverzeichnis

An Stelle eines Vorworts

„[…] also ich sagte: ‚Komödie ist Tragödie plus Zeit. Tragödie plus Zeit.‘ Also, zum Beispiel in der Nacht, in der Lincoln ermordet wurde, konnte man keine Witze darüber machen. Ging einfach nicht. Inzwischen ist einige Zeit vergangen […], und jetzt ist es freigegeben.“

Woody Allen, Verbrechen und andere Kleinigkeiten

Ist es schon eine Komödie oder noch eine Tragödie? Das bleibt im obengenannten Film (im Original: „Crimes and Misdemeanors“) bis zum Schluss unklar. Der geniale Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler enthüllt darin – ebenso wie in seinen anderen Werken – groteske Verformungen menschlichen Zusammenlebens in der spätbürgerlichen Gesellschaft. Kann man schon darüber lachen? Oder lieber noch nicht?

Im hier vorliegenden Buch geht es freilich nicht um stockkonservative Augenärzte, die ihre Geliebten umbringen, und auch nicht um die Frustration erfolgloser Filmemacher. Stattdessen werden in dem Band Episoden eines global wirkenden Prozesses dokumentiert.

Der Kapitalismus ist im Bewusstsein der meisten Menschen naturgegeben, etwas, das irgendwie schon immer da war. Auch wenn dies nachweislich nicht stimmt. Historisch gesehen ist der Kapitalismus sogar eine vergleichsweise junge Gesellschaftsordnung, er entstand schrittweise im Lauf der letzten Jahrhunderte. Der Unterschied zwischen unserer heutigen und den vormodernen Gesellschaften liegt hauptsächlich in der Dominanz von Akkumulation und Kapitalfetisch, den Motoren kapitalistischer Wertschöpfung.

Wie bildete sich die kapitalistische Produktionsweise heraus? Der Mainstream der historischen Forschung schildert ihre Durchsetzung als Ergebnis eines Siegeszuges von Aufklärung, bürgerlichem Fleiß und technischem Fortschritt, der Entwicklung von Wissenschaft und Erfindungsgeist, den Taten wagemutiger Entdecker, dem Aufbruch kühner Denker aus der Finsternis religiöser Dogmen.

Tatsächlich aber wurden und werden die Grundlagen der kapitalistischen Wertschöpfung auch durch nackten Raub, durch Zwangsarbeit und Massenmord geschaffen. Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft wäre ohne die brutal durchgesetzte Enteignung ganzer Völker oder Bevölkerungsgruppen nie möglich gewesen – die Fundamente unserer modernen Gesellschaft ruhen auf den Leichen der Beraubten.

Die Grausamkeiten der Frühphase des Kapitalismus sind bekannt, sie wurden lediglich während des ideologischen Durchmarsches des Neoliberalismus in den letzten Jahrzehnten weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. In den ersten Kapiteln dieses Buches werden einige Beispiele von gemeinem Diebstahl und Massenmord während dieser Durchsetzungsphase geschildert.

Die Mehrzahl der Beiträge dieses Bandes dokumentiert allerdings Bubenstücke der jüngeren und jüngsten Vergangenheit – Skandale und Skandälchen, räuberische Aneignung und kriminelle Machenschaften dubioser Krisengewinner, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten durch die Medien geisterten. Ein Anspruch auf Vollständigkeit erhebt der Band natürlich nicht, eher im Gegenteil: Eine Abhandlung, die sämtliche Raubzüge allein der letzten Jahrzehnte dokumentiert, würde vermutlich die Reihen mehrerer Bücheregale füllen.

Selbstverständlich ist die Geschichte der kapitalistischen Moderne nicht nur eine Abfolge von Gewaltakten, von räuberischer Erpressung, von Unterschlagung und Raubmord. Dass sie eine solche aber auch ist, daran kann in unserer Gegenwart nicht genug erinnert werden.

Ist der Kapitalismus insgesamt kriminell, jeder Kapitalist ein Wirtschaftsverbrecher? Das wäre eine arg verkürzende Definition. Richtig ist: Kapitalismus basiert auf Raub. Räuberische Aneignung kann illegal sein, also ein Verbrechen. Sie kann aber durchaus auch in Übereinstimmung mit den gültigen Gesetzen erfolgen.

Noch kann man über die grausamen Absurditäten der kapitalistischen Wertschöpfung keine Witze machen. Dennoch habe ich mich für diesen Buchtitel entschieden. Woody Allen und alle anderen Götter der Filmkunst mögen mir verzeihen.

Bauernlegen und Kirchenraub

„[…] Thoms friert. […] Gott schütze dich vor Wirbelwinden, vor bösen Sternen und Seuchen! Gebt dem armen Thoms ein Almosen […]“

William Shakespeare, König Lear

Der Kapitalismus hat seine Wurzeln in den Nischen der hochmittelalterlichen Agrargesellschaft, er entstand innerhalb der Mauern europäischer Städte. Mit der Herausbildung von Kaufmannsgilden und Handwerkerzünften waren zunächst nur die Grundlagen für seine weitere Entwicklung geschaffen. Erst als reiche Kaufleute in den spätfeudalen Kriegen zu Finanziers von absolutistischen Alleinherrschern und Condottieri wurden, bildete sich schrittweise die Akkumulationslogik heraus.

Auf dem flachen Lande dominierte dann allerdings immer noch die vormoderne, auf tributären Verhältnissen beruhende Feudalwirtschaft. Und an den Rändern dieser Agrarwirtschaft hatten sogar noch Reste des Gemeinschaftseigentums überlebt, uralte Rudimente aus der Zeit vor Beginn der sozialen Aufspaltung der Gesellschaft. Es gab gemeinschaftlich genutzte Viehweiden, Jagd-, Fischerei- und Holzrechte. Karl Marx schrieb dazu: „Das Gemeindeeigentum – durchaus verschieden von dem […] Staatseigentum – war eine […] Einrichtung, die unter der Decke der Feudalität fortlebte“ (Marx 1951, Bd. 1, S. 763).

Mit der Ablösung von Landwehr und Ritterheeren durch mit teuren Feuerwaffen ausgerüstete Söldnerverbände erhöhte sich schlagartig der Finanzbedarf der Grundherren. Die zunächst noch übliche Naturalabgabe wurde durch eine in Geld zu entrichtende Steuer ersetzt. Das Recht zum Eintreiben dieser Steuer wurde von den Herrschern dann häufig an sogenannte Steuerpächter verkauft. Diese Pächter stockten entsprechend der kapitalistischen Akkumulationslogik die zu entrichtenden Abgaben massiv auf und holten zahlungsunfähigen Bauern nicht selten die letzte Kuh aus dem Stall. Der Philosoph Robert Kurz schrieb dazu: „Der unersättliche Geldhunger der Feuerwaffenherrschaft wurde zum bestimmenden Moment. Nach Berechnungen stieg die steuerliche Belastung zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert um nicht weniger als 2200 Prozent“ (Kurz 2013, S. 101f.).

Diese Monetarisierung und gleichzeitige Verschärfung der Ausbeutungsverhältnisse ging einher mit der Beraubung der Landbevölkerung. Zunächst fiel das immer noch vorhandene bäuerliche Gemeineigentum einer Aneignung durch Grundbesitzer zum Opfer, dann wurden die kleinbäuerlichen Wirtschaften selbst Schritt für Schritt durch agrarkapitalistische Pächter ersetzt. Karl Marx beschrieb die Entwicklung als „systematisch betriebenen Diebstahl des Gemeindeeigentums“. Dieser ließe „jene großen Pachten anschwellen, die man […] Kapital-Pachten oder Kaufmanns-Pachten nannte“ (Marx 1951, Bd. 1, S. 763f.). Die Frühmoderne war also geprägt durch eine Entwicklung von tributären Feudalverhältnissen hin zum Agrarkapitalismus.

Diese gesellschaftliche Umwälzung wurde gewaltsam gegen den Widerstand der Betroffenen durchgesetzt. Wie Robert Kurz schrieb, wehrten sich „die unabhängigen Produzenten in verzweifelten Aufständen gegen ihre Zurichtung zum Funktionsmaterial der Kriegsmaschine und ihrer abstrakten Geldökonomie“ (Kurz 2013/1, S. 105). Die beispielsweise im frühen 16. Jahrhundert in weiten Teilen Europas tobenden Bauernaufstände gelten dabei durchaus zu Unrecht als frühbürgerliche Revolution und werden auch zu Unrecht mit der zur gleichen Zeit stattfindenden Reformation in einen Topf geworfen.

Tatsächlich lehnten sich damals große Teile der Agrarbevölkerung gegen die Zumutungen der neuen Zeit auf und waren nicht gewillt, die permanente Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen einfach so hinzunehmen. Aus zahlreichen überlieferten Schriften der Aufständischen geht diese Programmatik auch klar hervor. Als Beispiel sei zitiert aus einem Forderungskatalog der aufständischen Bauern von Frankenhausen vom Mai 1525: „[…] dass ihr wollt lassen frei sein, was Christus hat frei gemacht: Holz, Wasser, Weide, Wildbann“ (Lenk 1980, S. 147). Bekanntlich verloren die thüringischen Aufständischen kurze Zeit später die entscheidende Schlacht und ihr führender Kopf, der Theologe Thomas Müntzer, wurde hingerichtet.

Die Kirchenreformen des 16. Jahrhunderts hatten keinesfalls ihre Wurzeln in diesen verzweifelten Revolten der Landbevölkerung. Im Gegenteil: Sie flankierten ideologisch die beginnende kapitalistische Umgestaltung. War die neue Gesellschaft doch von einer Art, die „keine religiöse Legitimation erheischt, sondern ganz im Gegenteil Kapitalprofit bzw. schiere Macht zum Inhalt hat“ (Weber 2007, S. 107). Statt Armenspeisung und Vertröstung auf ein besseres Jenseits lag der Schwerpunkt der Kirchenpolitik nun auf der Beförderung von Arbeitsethos und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Der ausufernde Apparat der katholischen Kirche sollte beschnitten werden; deren nicht unbeträchtlicher Besitz weckte Begehrlichkeiten der in permanenter Finanznot steckenden Herrscher. Über deren Verwaltungsapparat wanderte der enteignete Kirchenbesitz dann in die Hände neureicher Bürger.

Martin Luther als bedeutendster Ideologe der Reformation war durchaus ein Verfechter von bürgerlichem Fleiß und Arbeitsethik. Seine Parteinahme gegen die revoltierenden Bauern war keinesfalls ein Ausrutscher und resultierte auch nicht aus persönlichen Differenzen mit Thomas Müntzer, dem „Erzteufel, der in Möhlhusen residiert“. Forderungen nach Wiederherstellung und Erhalt von Gemeineigentum mussten dem Reformator als wahrlich der Hölle entsprungen erscheinen: „Denn hundert Töde soll ein frummer Christ leiden, ehe ein Haarbreit von der Bauren Sache bewilliget. […] Steche, schlahe, würge hie, wer da kann! Bleibst du druber tot, wohl dir!“ (Hutten/Müntzer/Luther 1970, Bd. 2, S. 256ff.).

Die heftigsten Exzesse bürgerlicher Umgestaltung sind allerdings aus England überliefert, einem Land, in dem die Feudalverhältnisse bereits durch anhaltende Verteilungskämpfe (Rosenkriege) zerrüttet waren, deren Monarch Heinrich VIII. dann aus durchaus privaten Gründen eine „Reformation von oben“ angeordnet und durchgesetzt hatte.

Im benachbarten frühkapitalistisch aufstrebenden Holland florierte zu dieser Zeit die Wollweberei. Diese entwickelte einen kaum zu stillenden Hunger nach Rohmaterial, was einen massiven Anstieg der Preise nach sich zog. England exportierte zunehmend Wolle nach Holland und Schafweiden wurden profitabler als Getreideäcker. Die daraus resultierende Umgestaltung der Agrarproduktion hatte ihre Grundlage in einer brutalen Enteignung und Vertreibung der Landbevölkerung.

Der humanistische Denker Thomas Morus (1487–1535) beschrieb in seiner Schrift „Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia“ mit bitterböser Ironie ein England, in dem Schafe, „die so sanft und genügsam zu sein pflegen, jetzt aber, wie man hört, so gefräßig und bösartig geworden sind, dass sie sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern. […] Ein einziger Schaf- oder Kuhhirt genügt ja, um dasselbe Land vom Vieh abweiden zu lassen, zu dessen Bebauung und Bestellung viele Hände erforderlich waren“ (Grassi 1987, S. 26f.).

Morus widersetzte sich wenig später in seiner Eigenschaft als englischer Lordkanzler der Loslösung vom Papst und der Gründung einer anglikanischen Staatskirche, er wurde aus diesem Grunde eingekerkert und hingerichtet. Dass ihn die katholische Kirche im Jahre 1935 als Märtyrer heiligsprach, sorgte bei vulgärmarxistischen Ideologen lange Zeit für Verwirrung. Konnte doch nach ihren Vorstellungen ein Sozialutopist nur auf Seiten des Fortschritts und damit der Reformation gestanden haben.

Der aufrechte Humanist wird wohl sehr genau gewusst haben, warum er sich gegen die von oben angeordnete Kirchenreform positionierte. War diese doch ein gigantischer Raubzug zugunsten des sich in dieser Zeit formierenden absolutistischen Staatsapparates. Die Auflösung der Klöster führte zu einem unwiderruflichen Verlust unersetzlicher Kulturgüter samt massenhafter Vertreibung der bisher auf Kirchenländereien ansässigen Agrarbevölkerung. Auf der von ihm erdachten Insel Utopia hatte Morus eben keine sozialistische Idylle, sondern eher ein stark idealisiertes Hochmittelalter beschrieben: Es gibt kein Privateigentum, Geldwirtschaft spielt kaum eine Rolle, die Menschen verfügen über genügend Freizeit für ihre geistigen Bedürfnisse. Einpeitschern bürgerlicher Rationalität und Arbeitszwänge waren und sind solche Utopien natürlich ein Gräuel.

Ebenso wie die Agrarbevölkerung fast aller Regionen Europas setzten sich auch die Bauern Englands in einer ganzen Reihe von Aufständen gegen Enteignung und Vertreibung zur Wehr und wurden nach deren Niederschlagung als sogenannte Landstreicher Opfer repressiver Blutgesetze. Allein während der Regierungszeit Heinrichs VIII. sollen in England 27.000 Kriminelle gehängt worden sein, zehntausende wurden ausgepeitscht oder körperlich verstümmelt (Linebaugh/Rediker 2008, S. 27, S. 382).

Der Widerstand der Beraubten wurde später immer wieder aufgegriffen: In einer 1649 erschienenen Flugschrift der „Wahren Leveller“ werden Gutsherren und Grundbesitzern alle Eigentumsrechte am Grund und Boden abgesprochen, da „ihr und eure Vorfahren durch Mord und Diebstahl zu eurem Eigentum gelangt“ und „die Erde mitsamt ihren Reichtümern an Korn, Vieh und ähnlichen Dingen dazu erschaffen ward, um ausnahmslos allen Menschen […] eine gemeinsame Schatzkammer zum Lebensunterhalt zu dienen“ (Winstanley, S. 41f.). Der zur Zeit der englischen Revolution von Gerrard Winstanley und seinen Anhängern unternommene Versuch, die größtenteils bereits vollzogene Beraubung der Agrarbevölkerung zurückzudrehen, musste natürlich scheitern. Die weitere Entwicklung verlief genau in entgegengesetzter Richtung.

Karl Marx, utopischen Wunschvorstellungen eher abhold, bezeichnete die Enteignung der Landbevölkerung im frühbürgerlichen England und Schottland als „frechste Schändung des ‚heiligen Rechts des Eigentums‘“ (Marx 1951, Bd. 1, S. 766) und brachte den Vorgang dann noch einmal auf den Punkt: „Einen neuen furchtbaren Anstoß erhielt der gewaltsame Expropriationsprozess der Volksmasse im 16. Jahrhundert durch die Reformation und, in ihrem Gefolge, den kolossalen Diebstahl der Kirchengüter. […] Die Kirchengüter selbst wurden größtenteils an raubsüchtige königliche Günstlinge verschenkt oder zu einem Spottpreis an spekulierende Pächter und Stadtbürger verkauft, welche die alten erblichen Untertanen verjagten und ihre Wirtschaften zusammenwarfen. Das gesetzlich garantierte Eigentum verarmter Landleute an einem Teil der Kirchenzehnten ward stillschweigend konfisziert“ (Marx 1951, Bd. 1, S. 759).

Etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte der Kapitalismus in mehreren Ländern Westeuropas seine erste Blüte. Die sozialen Grausamkeiten und kriminellen Auswüchse der neuen Gesellschaft konnten sich spätestens in dieser Zeit nicht mehr hinter der Maske von Rudimenten feudaler Machtverhältnisse verstecken. Es war demzufolge kein Zufall, dass gerade damals erste sozialistische Denker die kapitalistische Ökonomie ernsthaft hinterfragten und dabei unzählige Fälle von Plünderung und gemeinem Diebstahl aus ihrer frühen Geschichte zu Tage förderten. Karl Marx zitiert in seinem Hauptwerk gewiss nicht zufällig einen britischen Gewerkschafter: „Das Kapital hat einen horror vor Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinem Profit […]. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens“ (Marx 1951, Bd. 1, S. 801, FN 250).

Robert Kurz brachte im 1999 erschienenen „Schwarzbuch Kapitalismus“ die Entwicklung auf den Punkt: „Der großen Mehrzahl ist es sowohl in der kapitalistischen Frühgeschichte seit dem 16. Jahrhundert als auch in dem Vierteljahrtausend von 1750 bis heute in nahezu jeder Hinsicht schlechter gegangen als im 14. und 15. Jahrhundert. […] In der frühmodernen Epoche vor der Industrialisierung hatte sich ganz Europa in eine Dante‘sche Hölle der Verelendung verwandelt“ (Kurz 1999, S. 15f.).

Gepflastert mit den Leichen der Armen

„Er ist uns nötig; er macht uns Feuer,
Holt unser Holz, verrichtet mancherlei,
Das Nutzen schafft. He, Sklave! Caliban!
Du Erdkloß, sprich!“

William Shakespeare, Der Sturm

Zeitalter der Plünderung

Dass das sogenannte Zeitalter der großen Entdeckungen auch ein Zeitalter weltweiter Plünderungen und unzähliger Gewaltakte war, wird hier als bekannt vorausgesetzt. Im öffentlichen Bewusstsein sind die Gräueltaten spanischer Konquistadoren in Süd- und Mittelamerika durchaus präsent. Eine ähnlich brutale koloniale Landnahme gab es aber auch im Süden Asiens. Schon das schrittweise Vordringen portugiesischer Seefahrer bis hin zur Südspitze Afrikas wurde unter anderem mittels Sklavenhandel finanziert. Und als die Portugiesen im Jahre 1498 erstmals Indien erreichten, war dies für die Einheimischen der Beginn einer Katastrophe.

Nein, ein vollständiger Abriss der Geschichte Indiens kann hier nicht gelliefert werden. Das würde nun wirklich den Umfang des Buches sprengen. Der Meinung von Karl Marx, die indische Gesellschaft habe überhaupt keine Geschichte, sondern nur eine „Geschichte der aufeinanderfolgenden Eindringlinge“ (Marx 1953, S. 326), muss man allerdings widersprechen. Marx kannte die vollständige Geschichte des Subkontinentes ganz einfach nicht – zu seiner Zeit hatte sie noch kein Historiker oder Archäologe dem Dunkel des kolonialen Vergessens entrissen. Auf dem Territorium der heutigen Indischen Union und der Nachbarstaaten existierten jedenfalls schon in der Frühgeschichte der Menschheit bedeutende Hochkulturen. Bereits im dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zählte die Induskultur zu den am weitesten entwickelten Regionen der Welt.

Zum Zeitpunkt des Eindringens der Europäer wurde der Norden Indiens von muslimischen Feudalreichen dominiert. Die südindischen Küstenstädte waren damals bedeutende Zentren eines umfänglichen Fernhandels, unter anderem mit Arabien, China, Ägypten und dem südlichen Afrika. Die Ankunft der Portugiesen erwies sich für diesen Überseehandel als verheerend. Den mit Geschützen ausgerüsteten europäischen Karavellen waren die indischen und arabischen Handelsschiffe nicht gewachsen. Schon die ersten portugiesischen Flotten pflegten beim Zusammentreffen mit arabischen Schiffen diese auszuplündern und mitsamt der Besatzung zu versenken. Ostafrikanische und indische Küstenstädte, die sich restriktiv diktierten Handelsbedingungen nicht unterwerfen wollten, wurden mittels Schiffsartillerie in Trümmer gelegt. Der Seehandel über den Indischen Ozean ging massiv zurück; das im heutigen Simbabwe gelegene Munhumutapa-Großreich, das ökonomisch auf Rohstoffexporten in Richtung Indien basierte, zerfiel im Bürgerkriegschaos.

Abschöpfen von Reichtum

Mit der Ankunft anderer europäischer Mächte brach das überdehnte, auf nacktem Raub und Erpressung beruhende portugiesische Weltreich bis auf geringe Reste zusammen. Die frühkapitalistischen Mächte Niederlande und Großbritannien traten sein koloniales Erbe an. In Indien konnte sich die britische Ostindien-Kompanie gegen ihre Konkurrenten durchsetzen und dominierte in der Folge die Wirtschaft des Subkontinentes.

Indien war zunächst nicht im Besitz der englischen Krone. Die Kaufleute der britischen Ostindien-Kompanie zahlten einen jährlichen Tribut an die Regierung in London und diese verschaffte ihr bei den Geschäften freie Bahn. Die koloniale Wirtschaft beruhte hauptsächlich auf dem Export von Textilien und Tee und dem Import englischer Industrieerzeugnisse. Unter Ausnutzung der Konflikte zwischen den verschiedenen Feudalreichen konnte die Kompanie mit Hilfe einheimischer Söldner ihren Einfluss auf fast den gesamten Subkontinent ausdehnen.

Nach einer vordergründig religiös motivierten Revolte der indischen Kolonialtruppen im Jahre 1857 wurde der indische Subkontinent vom Privatbesitz einer Handelsgesellschaft in eine britische Kronkolonie umgewandelt. In der Praxis erschöpfte sich diese Umgestaltung weitgehend darin, die Angestellten der Ostindien-Kompanie durch Regierungsbeamte zu ersetzen. Das Grundprinzip der tributären und handelspolitischen Ausplünderung blieb bestehen.

Karl Marx schrieb dazu im Jahre 1853: „Es kann jedoch keinem Zweifel unterliegen, dass das von den Briten über Hindustan gebrachte Elend wesentlich anders geartet und unendlich qualvoller ist als alles, was Hindustan vorher zu erdulden hatte. […] England hat das ganze Gefüge der indischen Gesellschaft niedergerissen, ohne dass bisher auch nur die Spur eines Neuaufbaus sichtbar geworden wäre“ (Marx 1953, S. 320f.).

Zerstörung öffentlicher Infrastruktur

Die vorkoloniale Wirtschaft, auf der der umfängliche indische Fernhandel basierte, wurde nach Ankunft der Europäer weitgehend zerstört. Zahlreiche einheimische Handwerks- und Manufakturbetriebe fielen binnen kurzem der britischen Konkurrenz zum Opfer. Neu entstandene Wirtschaftszweige waren ausschließlich auf die Interessen des „Mutterlandes“ ausgelegt und unterlagen rigiden Preisdiktaten. Die städtische Bevölkerung verarmte demzufolge massiv. Zwischen 1757 und 1947 gab es keinen Anstieg des indischen Pro-Kopf-Einkommens, eher eine deutliche Verschlechterung, verbunden mit einem Rückgang der durchschnittlichen Lebenserwartung.

Besonders desaströs wirkten sich die Folgen britischer Kolonialpolitik auf dem Agrarsektor aus. Der indische Subkontinent wurde zwar schon in der vorkolonialen Epoche regelmäßig von Dürreperioden heimgesucht. Die frühen Feudalreiche hatten jedoch durchaus wirksame Abwehrmaßnahmen gegen deren Folgen entwickelt. Ein System von Dämmen, Kanälen und Speichersystemen sorgte für eine Regulierung der regionalen Wasserhaushalte, jede Dorfgemeinschaft unterhielt außerdem Vorratshäuser, aus denen sich die Bewohner beim Ausbleiben der jährlichen Regenperiode mehrere Monate lang versorgen konnten. In Zeiten des Wassermangels konnte so ein Massensterben der Bevölkerung zumeist abgewendet werden.

Unter dem auf reine Profitmaximierung ausgerichteten Regime der Ostindien-Kompanie wurden die traditionellen Wasserregulierungssysteme gründlich vernachlässigt; es erfolgte keinerlei Investition öffentlicher Mittel mehr in deren Wartung und Instandhaltung. Nach der Umwandlung Indiens in ein britisches Vizekönigreich hatte die Regierung auch noch die dörflichen Vorratsspeicher privatisiert, also den Gesetzen des Marktes und damit der Profitgier von Händlern preisgegeben.

Gemäß dem damals gültigen liberalen Dogma von der alles regulierenden „unsichtbaren Hand“ des Marktes galten staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen generell als schädlich. Man unterstellte, die bei einer Lebensmittelverknappung unweigerlich zu erwartenden Preissteigerungen würden Hungerkatastrophen von selbst verhindern. Das Gewinnstreben der Händler sollte zusammen mit dem unter britischer Herrschaft aufgebautem Eisenbahnnetz ganz ohne regulierende Eingriffe öffentlicher Institutionen dafür sorgen, dass Getreidevorräte aus nicht von der Dürre betroffenen Regionen schnell den erhöhten Lebensmittelbedarf der Katastrophengebiete ausglichen.

Massensterben im Zeichen des Liberalismus

Man muss die blutigen Feudalfehden und die massive soziale Ungleichheit in der vorkolonialen Epoche Indiens nicht nachträglich idealisieren, um sich einen Blick dafür zu bewahren, dass die Frühphase der kapitalistischen Moderne „mit den Leichen der Armen gepflastert war“ (Davis 2005, S. 19). Schon in den Anfängen der britischen Landnahme kam es zu grauenhaften Szenen – der Hungersnot in Bengalen des Jahres 1770 fiel beispielsweise ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer. Diese waren jedoch nur erste Ausläufer dessen, was sich später abspielen sollte. Bei den weltweiten Dürrekatastrophen der Jahre 1876 bis 1879 sowie 1896 bis 1900 gab es nach verschiedenen Schätzungen zwischen zwölf und 29 Millionen Hungertote im britisch regierten Indien.

Die Kolonialadministration sah dem Massensterben zunächst tatenlos zu. Staatliche Preisreglementierungen sowie Hungerhilfe aus öffentlichen Mitteln wurden als „Anreize für Faulheit“ betrachtet. Die Leute sollten arbeiten und sich selbst helfen. Hinzu kamen sozialdarwinistische Denk- und Verhaltensweisen bei den Funktionsträgern der Kolonialverwaltung. Gemäß diesen – auf den englischen Prediger Thomas Malthus zurückgehenden Vorstellungen – galten Kriege und Hungersnöte als quasi natürliche Regulationsmechanismen gegen eine drohende Überbevölkerung.

Die Folgen der ausschließlich nach monetären Gesichtspunkten ausgerichteten Kolonialpolitik waren grausig. Die Menschen starben massenhaft im Angesicht gefüllter Getreidespeicher, weil sie sich die inzwischen ins Unbezahlbare gestiegenen Preise für eine Handvoll Korn nicht leisten konnten. Mit der Preisexplosion griff der Hunger auch auf Gebiete über, in denen es überhaupt keine Missernte gegeben hatte. Irgendwann war die Angst vor dem Hungertod dann stärker als die Knüppel der Wächter und die Gewehre der Kolonialsöldner – allein 1877 gab es in Indien 150 „Getreideaufstände“. Oft stürmten die Verhungernden bereits geleerte Speicher, da die Händler in Voraussicht dessen, was unweigerlich passieren würde, ihre Vorräte hatten abtransportieren lassen. Natürlich mit Hilfe desselben Schienennetzes, das angeblich dafür errichtet war, die Hungergebiete mit Lebensmitteln zu versorgen. Während Millionen Inder vor Hunger starben, exportierte das Land Rekordüberschüsse an Getreide.

Angesichts der Untätigkeit britischer Behörden organisierten Privatleute und Wohltätigkeitsorganisationen Lebensmittelspenden. Dies wurde ihnen mittels Haftandrohung als schädlicher Eingriff in das Marktgeschehen untersagt. Britisches Militär errichtete Straßensperren, um die in panischer Angst aus den Dürregebieten fliehenden Bauern davon abzuhalten, in Großstädte zu gelangen. Örtliche Beamte berichteten damals, die einzig Wohlgenährten in ihren Dörfern seien Hunde, die sich an den Leichen der Kinder satt fräßen.

Von der Kolonialverwaltung wurden die Hungerflüchtlinge schließlich in Lagern interniert und als Arbeitskräfte für öffentliche Baumaßnahmen eingesetzt. Ihre Lebensmittelversorgung lag wesentlich unter der schon knapp bemessenen Ration für inhaftierte Schwerverbrecher – die Menschen starben weiter massenhaft. Für den stellvertretenden Gouverneur Temple waren diesbezügliche Berichte lediglich eine Folge der „Neigung dieser Armen, das Brot der Faulheit zu essen“ (Davis 2005, S. 50).

Der damals regierende britische Vizekönig Robert Bulwer-Lytton, nebenberuflich Dichter, erwarb sich als Hauptverantwortlicher für die Hungerkatastrophe von 1877 die Bezeichnung „der indische Nero“ (Davis 2005, S. 37f.).

Sklavenarbeit und Bauernkrieg