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Divina Michaelis

Fluch der Bestimmung - Sammelband





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Fluch der Bestimmung - Sammelband

 

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Fluch der Bestimmung

 

 

 

 

 

 

Überraschung

 

Akribisch überprüfte ich noch ein letztes Mal mein Aussehen im Spiegel, bevor ich mich frisch geduscht in meiner neuen Unterwäsche auf dem Sofa drapierte. Thomas musste jeden Augenblick von der Arbeit kommen und ich war gespannt, wie er darauf reagieren würde, denn so hatte ich ihn noch nie empfangen. Mein Herz hüpfte in freudiger Erwartung. Er war zwar nicht der große Hengst, aber das hier konnte ihn kaum kalt lassen.

Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, hörte ich bereits den Schlüsselbund am Hauseingang klimpern. ‚Pünktlich wie die Maurer‘, dachte ich erfreut. Das war eine seiner herausragendsten Eigenschaften: Ich konnte mich immer auf ihn verlassen, und dafür liebte ich ihn. Seine Bodenständigkeit bot mir Halt und bewahrte mich vor unliebsamen Überraschungen, wovon ich in meiner Vergangenheit bereits genügend gehabt hatte.

Meine Spannung stieg, während ich wartete. Noch einmal schaute ich nach unten, betrachtete meine Brüste in ihrer wundervollen Verpackung: schwarze Spitze auf roter Seide, sündhaft teuer, aber jeden einzelnen Cent wert. Der dazu passende Stringtanga verdeckte nur das Nötigste, was umso mehr Appetit auf das machen sollte, was sich dahinter verbarg.

Schnell strich ich mir meine langen Haare nach hinten, damit meine Vorderseite noch besser zur Geltung kommen konnte. Sollte ich das rechte Bein ein wenig über das linke legen oder doch lieber dahinter? Und wohin mit meinem Arm?

Das typische Geräusch, wenn der Schlüssel in das Schloss gesteckt und umgedreht wurde, drang an meine Ohren, dann das der Tür, die geöffnet wurde und schließlich zurück ins Schloss fiel. Gleich würde er kommen, mich sehen und dann …

„Sabrina, Schatz, ich bin wieder da!“ rief er.

Ich entschloss mich, die Beine übereinander zu legen und die Füße etwas zu strecken. Das war zwar nicht besonders bequem, sah aber bestimmt toll aus. Den Arm legte ich entspannt auf meine Seite, mit dem anderen stützte ich meinen Oberkörper ab, um mich richtig in Szene zu setzen.

„Ich bin im Wohnzimmer!“ Mit meiner Aufregung stieg auch meine Erregung. In Gedanken stellte ich mir vor, wie er hereinkam, stutzte, ihm ein Grinsen ins Gesicht stieg und er sich schnell seiner Klamotten entledigte. Ob er mich hier gleich auf dem Sofa nehmen würde? Und würde er den String tatsächlich ausziehen oder ihn einfach nur der Einfachheit halber zur Seite schieben? Egal, ich war bereit für jede Schandtat!

Etwas war anders. Normalerweise entledigte er sich zuerst seiner Jacke, aber entgegen seiner sonstigen Gewohnheit kam er direkt auf die Tür zu. Ich hörte es an den Schritten auf den Fliesen. Ahnte er etwas? Die Klinke senkte sich und sein strahlendes Gesicht erschien im Türspalt – bis er mich sah.

In seiner Miene konnte ich mehrere Emotionsdurchläufe beobachten: Verwirrung, Erkenntnis, Berechnung. Nichts davon hatte in meinem Erwartungsplan gestanden. Enttäuschung überflutete mich und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. War etwa alles für die Katz? Meine Überraschung schien jedenfalls misslungen.

„Oh, gut, dass du nichts anhast. Dann kannst du dich schneller fertig machen“, brachte er schließlich rüber und ging in den Flur zurück, um seine Jacke jetzt doch aufzuhängen. Er schien nicht einmal ansatzweise begriffen zu haben, was ich mit meiner Aufmachung bezweckt hatte. Oder er hatte es begriffen, aber keine Lust.

Ich hätte mich sogar mit einem kleinen Quickie begnügt, irgendetwas, das mir gezeigt hätte, wie sexy er mich findet. Stattdessen sollte ich mich fertig machen. Ernüchtert sah ich ihm mit großen Augen hinterher. „Fertig machen? Was meinst du?“ Natürlich konnte Thomas nichts dafür, dass ich solche Erwartungen in ihn gesetzt hatte, ich wusste ja, dass er nicht der große Romantiker war und das war auch vollkommen in Ordnung. Dennoch hätte ich wenigstens gerne etwas Anerkennung bekommen.

Erneut zeigte er sein Gesicht in der Tür. Er wirkte so aufgeregt, wie ich es noch vor ein paar Minuten gewesen war. Seine Wangen waren gerötet und die Augen leuchteten regelrecht vor Freude, was aber definitiv nicht meinem Aussehen geschuldet war, denn er sah mir nur ins Gesicht und schien meine Aufmachung gar nicht mehr wahrzunehmen. „Du glaubst gar nicht, was mir heute passiert ist!“

Da mir die Lust auf meine Überraschung vergangen war, setzte ich mich auf, legte meine Ellenbogen auf den Beinen ab und stützte meinen Kopf auf die Hände. „Was denn?“ Gab es denn etwas Wichtigeres, als über die Verlobte herzufallen, wenn sie sich ihm schon so anbietet?

Sofort begann er zu erzählen: „Mein Chef kam ins Büro und hat mich zu einer Dinnerparty eingeladen – noch heute Abend. Also los, zieh dich an! Am besten ein Abendkleid. Es soll dort sehr förmlich zugehen.“

Okay, das klang zumindest nicht unwichtig, aber was sollte ich da? Skeptisch zog ich meine Augenbrauen in die Höhe, ohne mich weiter zu bewegen. „Er hat dich eingeladen und dann muss ich mich anziehen?“

Thomas kam ungeduldig auf mich zu, ergriff meine Hand und zog mich hoch. „Nein, eigentlich hat er gesagt, dass er mich einlädt und ich dich unbedingt mitbringen muss. Also mach endlich. Wir haben noch eine weite Strecke vor uns und es fängt bald an. Weißt du eigentlich, was für eine einmalige Gelegenheit das für mich ist? So eine Chance muss ich nutzen. Ich darf einfach nicht zu spät kommen.“

Ergeben seufzte ich. Also wurde es nichts mit einem wundervollen Abend nur mit uns beiden. Und dann sollte es ausgerechnet noch ein Abendkleid sein. Davon hatte ich ja auch so viele.

 

Ärger

 

Zweifelnd stand ich vor meinem Schrank und betrachtete das einzige Abendkleid, das meine Garderobe ausmachte. Es war bisher erst ein Mal zum Einsatz gekommen – vor drei Jahren auf einer Hochzeit. Eigentlich war es ein Traum in dunkelroter Seide und viel zu schade, um sein Dasein im Schrank zu fristen. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich da noch hineinpassen würde. Damals saß es zwar etwas locker, aber ich hatte seitdem ein bisschen zugenommen.

Während Thomas damit beschäftigt war, seinen jetzigen dunklen Anzug gegen einen festlicheren, sowie seine Krawatte gegen eine Fliege auszutauschen, entledigte ich mich meines BHs, stieg in das Kleid und drehte mich vor dem Spiegel. Wie erwartet, störte der Stringtanga. Was auf dem Sofa noch so vorteilhaft ausgesehen hatte, bildete nun unschöne Einschnitte in dem ansonsten so fabelhaft an mir hinabfließenden Stoff. Das konnte so nicht bleiben.

Kurzerhand entledigte ich mich des Slips und war gleich darauf von dem Anblick mehr als begeistert. Niemand würde wissen, dass ich rein gar nichts darunter trug, was das Ganze ein kleines bisschen aufregender für mich machte. Ob ich Thomas wohl unterwegs darauf hinweisen sollte? Innerlich grinste ich mir einen. Er hätte dann zumindest einen Grund, die ganze Zeit wie auf Kohlen zu sitzen – eine kleine Revanche für meine Enttäuschung vorhin. Aber vielleicht störte es ihn ja auch nicht. Nach meinem missglückten Überraschungsversuch war ich mir nicht mehr so sicher, dass es ihn überhaupt berührte. Vielleicht würde er sich sogar nur für mich schämen. Zuzutrauen wäre es ihm.

Erst jetzt warf mir Thomas einen Blick zu und wirkte zufrieden. „Sehr schön. Bist du dann fertig?“

Mehr kam von ihm nicht? Sehr schön und das war’s? Banause! Das Kleid hatte er vorher noch nie an mir gesehen und ich sah nicht nur sehr schön, sondern sogar fabelhaft aus. Nicht auszudenken, wenn er auf das Hochzeitskleid in vierzehn Tagen genauso reagierte. Andererseits hatte ich ihn mir ausgesucht, also musste ich damit wohl leben. Man konnte nicht alles haben. Ich schüttelte den Kopf. „Gleich. Ich muss nur noch etwas Make-up auflegen, aber das geht schnell.“

„Mach zu, wir wollen los!“, drängelte er und ging voraus in den Flur. Ich hörte, wie er bereits seine Jacke vom Bügel nahm und den Autoschlüssel aus der Schublade holte.

Er wollte los, nicht ich. Aber was nahm man nicht alles für den zukünftigen Ehegatten in Kauf.

Auch wenn ich wirklich schnell im Schminken war – mehr als fünf Minuten brauchte ich nicht, um mich aufzuhübschen – war das ungeduldige Tappen seines Schuhs auf den Fliesen nicht zu überhören. Das half nicht gerade dabei, meine Laune zu heben. Ich war versucht, das Ganze noch etwas mehr in die Länge zu ziehen, nur um ihn zu ärgern, konnte mich aber gerade noch beherrschen.

„Du hättest mich auch anrufen können“, rief ich ihm aus dem Badezimmer zu. „Dann wäre ich schon fertig gewesen. Jetzt musst du halt etwas warten.“

„Kein Netz“, war seine lausige Erklärung.

Wahrscheinlich hat er nur wieder einmal nicht die richtigen Tasten gefunden‘, dachte ich verärgert, weil er nie zugeben wollte, wenn er etwas nicht konnte. „Es gibt auch Festnetz“, rief ich. Zumindest hätte mir ein Anruf die Enttäuschung erspart. Nun sollte ich auf eine Dinnerparty gehen, zu der ich überhaupt keine Lust hatte. Schließlich kannte ich da niemanden und die Kleiderordnung ließ auf staubtrockene Konversation schließen. Mit Bedauern blickte ich auf meine neue, teure Unterwäsche, die ich auf dem Stuhl abgelegt hatte. Dann musste sie eben zu einem anderen Zeitpunkt zum Einsatz kommen. Aufgeschoben bedeutete nicht aufgehoben. Dieser Gedanke versöhnte mich etwas mit meinem Schicksal.

Ich steckte mir ein paar Creolen durch die Ohrlöcher und nickte meinem Spiegelbild schließlich anerkennend zu. Eine hübsche Frau schaute mir entgegen. Ich fand schon, dass Thomas froh sein sollte, dass er mich für sich gewinnen konnte. Obwohl auch er alles andere als hässlich war. Aber viele Frauen würden in ihm einen Langweiler sehen, nur weil er Verlässlichkeit verinnerlicht hatte – eine Eigenschaft, die für mich den Grundpfeiler einer stabilen Beziehung ausmachte. Was machte es da, wenn er nichts für Romantik übrig hatte, oder wenn er die Gelegenheit auf eine Beförderung ausschweifendem Sex vorzog? Ich hätte mich in dieser Situation vielleicht nicht anders verhalten.

„Sabrina, mach doch bitte etwas schneller!“

Als ich zu meinem Zukünftigen in den Flur kam, stieg ich in ein paar hohe Stilettos, die hervorragend zu dem Kleid passten. Zudem ließen sie meine Beine länger und mich ein bisschen größer wirken. Nun konnte ich dem ungeduldig wartenden Thomas wenigstens gerade auf die Nasenspitze schauen und er musste sich beim Küssen nicht mehr so tief bücken. Er dachte allerdings nicht daran, mich zu küssen, sondern schwebte mit seinen Gedanken bereits irgendwo in seinem zukünftigen Posten.

 

Fahrt aufs Land

 

„Und wie kommt es nun zu dieser Einladung?“, fragte ich meinen Verlobten, als wir endlich im Auto saßen und er in hohem Tempo stadtauswärts fuhr. „Das hat dein Chef doch noch nie gemacht.“

„Keine Ahnung. Ich nehme an, er hat mich für eine Beförderung vorgesehen und will sich nun überzeugen, dass er mit mir den richtigen Mann bekommt.“

„Einfach so?“

„Wie gesagt: Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass er sesshafte Männer bevorzugt.“

„Sesshaft?“ Ich wusste, dass Thomas es nicht mochte, wenn ich immer wieder nachfragte. Aber er kam ja nicht mit der Sprache heraus, und da das Ganze hier so ungewöhnlich war, konnte ich mir die Fragerei nicht verkneifen.

„Na ja, wahrscheinlich deswegen, weil gebundene Männer eher Skrupel haben, ihren Arbeitsplatz zu wechseln, weil sie zu Hause noch jemanden versorgen müssen.“

„Klingt trotzdem merkwürdig. Außerdem bin ich durchaus in der Lage, mich selbst zu versorgen“, konterte ich. „Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Erzähl mal genauer, wie das abgelaufen ist.“

Genervt seufzte er. „Also gut: Er kam in mein Büro, legte ein paar zu bearbeitende Akten auf den Tisch, sah dein Bild, das, was du mir erst gestern gerahmt und mitgegeben hast, und hat mich dann in ein Gespräch über unsere Beziehung verwickelt. Nachdem ich ihm gesagt habe, dass wir verlobt wären und in vierzehn Tagen heiraten wollten, meinte er, dass er es gut findet und ich solle heute Abend mit dir zu seiner Dinnerparty kommen. Er nannte mir die Uhrzeit und sagte, dass Abendgarderobe erwünscht ist. Mehr war da nicht.“

Inzwischen hatten wir die Stadt, ein paar Dörfer und auch die Hauptstraße hinter uns gelassen und fuhren auf einer abgelegenen Straße durch ein Waldgebiet. Der Kerl wohnte ganz schön fernab vom Schuss, fand ich, und wurde immer nervöser, weil wir hier offensichtlich am Arsch der Welt gelandet waren. Die Straße machte eher den Eindruck eines Wirtschaftswegs.

„Bist du sicher, dass du richtig bist?“, erkundigte ich mich.

Thomas nickte. „Das Navi sagt ja, und ich vertraue dem Ding.“ Dann deutete er nach vorne und grinste. „Da ist auch schon das Tor zu seinem Anwesen. Und wir sind pünktlich.“

Als ich seinem Fingerzeig mit den Augen folgte, überzog mich eine Gänsehaut. Das hier war beinahe wie in einem Gruselfilm: eine mit Efeu überwachsene Mauer mit einem schmiedeeisernen Tor mitten im Nirgendwo. Danach folgte allem Anschein nach eine weitere Strecke durch den Wald.

Warum fühlte ich mich auf einmal besorgt? Je näher wir unserem Ziel kamen, desto unruhiger wurde ich. Was war nur los mit mir? So etwas kannte ich gar nicht. Adrenalin pumpte durch meine Adern, mein Herz schlug schneller. Das hier fühlte sich alles andere als richtig an!

Ängstlich legte ich meine Hand auf Thomas‘ Bein. „Bitte Thomas, lass uns umdrehen und nach Hause fahren. Ich habe hier kein gutes Gefühl!“, versuchte ich ihn zu überreden.

Doch er lachte nur. „Und mir diese Gelegenheit entgehen lassen? Ich wäre verrückt, mich auf ein komisches Gefühl von dir zu verlassen! Was soll schon groß passieren?“

Das Tor öffnete sich, wir fuhren hindurch und nach gut einem weiteren Kilometer sahen wir das riesige Herrenhaus.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte ich zu dem Gebäude, vor dem bereits mehrere hochwertige Autos standen. Es sah eigentlich wundervoll aus und ich konnte selbst nicht erklären, was mit mir los war, aber alles in mir warnte mich davor, auch nur einen Fuß in das Haus zu setzen.

Meine Angst übermannte mich und ich krallte mich so in Thomas‘ Bein, dass er schließlich meine Hand packte und sie fluchend in meinen Schoß schleuderte.

Wütend brachte er den Wagen vor dem Haus zum Stehen und sah mich böse an. „Was ist nur los mit dir? Bist du verrückt geworden?“

Unwillkürlich zuckte ich zusammen. War ich verrückt geworden? Nein, das nicht. Aber ich hatte eine unbestimmte Ahnung. Ohne den Blick von dem hochherrschaftlichen Gebäude zu wenden, schüttelte ich den Kopf. „Ich will da nicht rein, Thomas. Ich habe das Gefühl, wenn ich dort hinein gehe, komme ich nicht wieder raus.“

Er senkte den Kopf und massierte sich angestrengt die Stirn. „Das ist albern, Sabrina! Wie kommst du dazu, so etwas zu glauben? Hast du in letzter Zeit zu viele Gruselromane gelesen, oder was? Wir gehen da jetzt rein, unterhalten uns ein bisschen und gehen in ein paar Stunden auch zusammen wieder raus. Versprochen!“

„Und wenn ich im Auto bleibe und warte?“ Das schien mir sogar eine annehmbare Option zu sein.

Sein Blick war verärgert, als er mich wieder anschaute. „Sabrina, es reicht jetzt. Du kannst nicht wirklich ein paar Stunden im Auto hocken wollen, während wir alle drinnen sind. Außerdem – was soll mein Chef davon halten? Willst du unbedingt meine Beförderung torpedieren? Er hat dich ausdrücklich dabei haben wollen. Da kann ich kaum sagen, dass meine Verlobte sich nicht ins Haus traut.“

Stumm presste ich meine Lippen zusammen und nickte. Offenbar hatte ich keine Wahl. Ich schloss noch mal meine Augen und holte tief Luft, bevor ich die Tür öffnete und aus dem Wagen stieg.

 

Durchdringende Präsenz

 

Die Abendluft war wundervoll lau und Vögel zwitscherten um die Wette. Große Rosenbüsche zeigten sich in voller Blüte und überfielen mich mit ihrem sinnlichen Duft. Schmetterlinge flatterten über einem prächtig angelegten Beet und teilten sich den Nektar der Blüten mit etlichen anderen Insekten. Eigentlich war es still und friedlich hier, wie um mir zu beweisen, dass meine Befürchtungen absolut unbegründet waren. Um das kitschige Bild abzurunden, spielte eine Hasenfamilie nicht weit vom Haus entfernt auf dem hervorragend gepflegten Rasen.

Und dennoch konnte ich nicht umhin, mich zu fürchten. Dabei hatte ich nicht einmal Angst um mein Leben oder das meines Verlobten. Ich blickte zu Thomas, neben dem ich die Treppe hinaufging und der offensichtlich nichts bemerkte. Nein, ich hatte Angst um meine Beziehung. Ich ahnte – nein, ich wusste, dass sich mit dem Betreten des Gebäudes alles ändern würde.

An der Tür empfing uns ein Butler, der mir meine Stola abnahm und dann auf eine Doppeltür wies, aus deren Richtung Stimmen zu vernehmen waren.

Das Haus, oder zumindest das, was wir bisher davon sehen konnten, war einfach wundervoll. Es war groß, hell und geschmackvoll eingerichtet. Eigentlich gab es nichts, was meinen Befürchtungen Nahrung geben sollte, und trotzdem steckte mir ein dicker Kloß im Hals, wodurch ich außerstande war, irgendeinen Ton von mir zu geben.

Thomas zog mich mit sich, tätschelte mir beruhigend die Hand, schritt auf die angegebene Tür zu und öffnete sie.

Bereits ein kurzer Blick durch den sich öffnenden Türspalt reichte aus, mir seiner Präsenz bewusst zu werden. Der Mann stand am Ende des Raumes vor einem riesigen Fenster in einer Gruppe, und unterhielt sich mit den Leuten. Doch zum gleichen Zeitpunkt, in dem ich ihn bemerkte, hob er seinen Blick und sah mir direkt in die Augen.

Es war, als würde der Raum auf nur wenige Meter zusammenschrumpfen und er direkt vor mir stehen. Seine bernsteingelben Augen durchdrangen mich, lockten mich. Etwas wie Erkennen blitzte darin auf und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.

Entsetzt sah ich, wie er sich bei den anderen entschuldigte und auf uns zukam. Mein Herz klopfte bis zum Hals und ich starrte ihn an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Meine Knie wurden weich. Ich hatte Angst, hier vor aller Augen umzukippen. Krampfhaft hielt ich mich am Arm meines Verlobten fest.

Thomas schien nichts von alldem zu bemerken. Er tätschelte weiterhin die Hand, mit der ich mich bei ihm eingehakt hatte, und wartete, bis der Mann heran war.

„Sabrina, das ist Markus von Welten, mein Chef. Herr von Welten, das ist meine Verlobte Sabrina Keller.“

Markus von Welten war groß und selbst in seinem Jackett konnte man erkennen, dass er eine gute Statur besaß. An seinem rechten Ohr fehlte oben ein Stück. ‚Jagdunfall‘, schoss mir durch den Kopf, als hätte er mir eine Erklärung direkt ins Hirn gesetzt. Aber so etwas war unmöglich, also bildete ich mir das einfach nur ein. Seine Haare waren dunkel mit einem leichten Stich ins Graue, ohne dass er alt wirkte. Und er schien vor Selbstbewusstsein nur so zu strotzen. Er wusste, welche Wirkung er auf Frauen hatte – oder zumindest auf mich.

„Ich bin sehr erfreut, Sabrina. Schön, dass Sie es einrichten konnten“, sagte er mit einer Stimme, die samtig meine Gehirnwindungen umwickelte und mich in einer Welt aus Watte zurückließ. Die Art, wie er das „r“ in Sabrina rollte, drang mir durch Mark und Bein.

Herr von Welten streckte mir seine große, schlanke Hand entgegen, doch ich war außerstande, sie zu nehmen.

Thomas beugte sich zu meinem Ohr und flüsterte ärgerlich: „Du bist unhöflich! Muss das sein?“

Doch ich konnte weder darauf antworten, noch anderweitig reagieren. Ich fühlte mich wie ein Insekt in einem Stück Harz gefangen – hypnotisiert durch seinen Bernsteinblick.

Der Hausherr ließ dagegen nur ein leises Lachen hören und zog seine Hand wieder zurück. Stattdessen machte er einen leichten Diener. Anschließend verzog er die Nase, als würde er schnuppern. Ich fühlte seine Augen an mir hinabgleiten. Sie verhielten in Höhe meines Schrittes. Natürlich konnte ich mich täuschen, aber ich war mir sicher, dass er wusste, dass ich kein Höschen trug. Sein Lächeln bekam etwas – Wölfisches.

Mein Kopf hätte eigentlich knallrot sein müssen, so wie mir die Hitze ins Gesicht schoss, aber niemand ging darauf ein. Erst als Herr von Welten seinen Blick von mir abwandte und er Thomas stattdessen betrachtete, löste sich meine Starre. Nichtsdestotrotz schlug mein Herz immer noch so laut und schnell, dass ich glaubte, dass jeder es hätte hören müssen.

„Lassen Sie es gut sein, Herr Klaska. Es ist in Ordnung. Sie muss mir nicht die Hand geben, wenn sie nicht will.“ Mit ausholender Geste wies er in den Raum und beschrieb die Gegebenheiten. „Wie Sie sehen, finden Sie hier alles, was das Herz begehrt. Die Cocktailbar ist dort drüben, ein kleines Buffet auf der anderen Seite, und ab und zu reicht jemand Kanapees oder Erfrischungsgetränke herum. Sollten Sie austreten müssen, finden Sie die Waschräume über den Flur auf der rechten Seite. Und wenn Sie sonst noch einen Wunsch haben, wenden Sie sich einfach an das Personal. Ich werde mich jetzt erst einmal wieder um meine anderen Gäste kümmern.“ Er verbeugte sich ein weiteres Mal formvollendet vor mir und ließ ein raues „Sabrina“ mit rollendem „r“ verlauten, um sich vorerst zu verabschieden. Dann wandte er sich um und ging zu der Gruppe zurück, mit der er vorher gesprochen hatte.

Die nächsten Stunden verbrachte Thomas damit, von einer Gruppe zur nächsten zu gehen und langweilige Fachgespräche zu führen. Ich hörte bald nicht mehr hin, denn zum einen verstand ich sowieso nichts davon, zum anderen war ich von Herrn von Weltens Präsenz so abgelenkt, dass ich nicht einmal einen Versuch machen brauchte, das Gesagte zu verstehen.

Es war schon merkwürdig, denn egal wo er sich im Raum aufhielt, selbst wenn ich ihm den Rücken zugedreht hatte, wusste ich immer, wo er war. Jedes Mal, wenn ich unauffällig zu ihm hinsah, blickte er gerade in eine andere Richtung, schaute jemand anderen an, unterhielt sich. Und dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mich genau beobachtete. Es fühlte sich nicht unangenehm an, im Gegenteil, aber es machte mich schwach und erinnerte mich stets an meine verruchte Nacktheit unter diesem Kleid. Wenn Thomas nicht so vernünftig wäre, würde ich mich nach einer ruhigen Ecke hier im Haus umsehen, nur um mich dort von ihm einmal kräftig durchvögeln zu lassen und damit endlich wieder auf andere Gedanken kommen zu können. Doch dann dachte ich an die gelbbraunen Augen des Hausherrn, an seine schlanken Hände, die sich unter mein Kleid wühlen und mir Befriedigung verschaffen würden, und mir stockte der Atem. Nein, ich musste das endlich aus dem Kopf bekommen. Das gehörte sich nicht. Ich gehörte zu Thomas!

Ich umklammerte seinen Arm, als wäre es eine Versicherung für mich, dass sich nichts ändern würde. Mit aller Macht musste ich ihn festhalten und so dafür sorgen, dass alles beim Alten blieb und wir in zwei Wochen heiraten konnten. Mit Sorge blickte ich zu den Fenstern, hinter denen sich die Dunkelheit der Nacht herabsenkte.

Auf einmal wich das Angstgefühl von mir. Verstohlen schaute ich mich um. Unser Gastgeber war verschwunden. Zumindest hielt er sich nicht mehr in diesem Raum auf. Schnell entspannte ich mich. Das erste Mal in dieser Nacht konnte ich an etwas anderes denken als daran, wie er mich nicht nur mit seinen Bernsteinaugen verschlang und ich das auch noch genoss.

In diesem Augenblick sah Thomas auf mich herab. „Schatz, dir muss doch furchtbar langweilig sein. Es sind noch andere Damen hier. Vielleicht würde es dir besser gehen, wenn du dich mal mit denen unterhalten würdest.“

Natürlich hatte er recht. So im Nachhinein betrachtet, kam mir meine Angst nur noch albern vor. Sein Vorschlag klang vernünftig, also löste ich mich von seinem Arm und versuchte, mich den anderen Frauen anzuschließen. Doch bereits nach kurzer Zeit musste ich erkennen, dass die Themen, über die sie sprachen, keinesfalls meine waren. Klatsch, Tratsch und die neueste Mode waren nun einmal nicht mein Ding.

Da ich sowieso auf die Toilette wollte, verließ ich den Saal. Noch in der Tür stehend lauschte ich in das Haus, aber kein Markus von Welten war in Sicht noch in irgendeiner Art und Weise spürbar. Hatte ich mir das alles vielleicht nur eingebildet?

 

Die Schwester des Hausherrn

 

Auf dem Weg zum Waschraum grübelte ich darüber nach. Normalerweise war ich kein besonders sensibler Mensch und ich glaubte weder an Vorahnungen noch an sonstigen esoterischen Kram. Sehr gerne las ich Bücher, in denen Fantastisches über Geister, Vampire, Zauberer, Hexen, Gestaltwandler und andere Figuren mit besonderen Fähigkeiten ein Thema war. Aber bis zum heutigen Tag hätte ich so etwas wie Vorahnungen in den Bereich der Fantasie verbannt, wo es auch hingehörte. Sollten sich die Autoren doch daran austoben, damit sie die Leser hinterher in fremde Welten entführen konnten.

Und dennoch war das Gefühl die ganze Zeit beinahe greifbar gewesen. So etwas war mir vorher noch nie passiert und das ängstigte mich. Fühlte es sich so an, wenn man verrückt wurde? Oder lag es, wie Thomas bereits vermutet hatte, an den Büchern, die ich so gerne las? Färbten die nun doch auf mich ab?

Der große Waschraum war leer, als ich ihn betrat, und leise Musik spielte im Hintergrund. Das Licht war unaufdringlich gedämpft und der Spiegel leicht getönt, sodass alle Farben darin etwas dunkler wirkten. Das schmeichelte definitiv dem Teint.

Jedes Detail im Haus und auch hier im Raum wies auf Reichtum hin und wirkte dennoch nicht protzig. Entweder hatte der Hausherr einen hervorragenden Geschmack, oder er hatte jemanden damit beauftragt, der sich auf Raffinesse verstand.

Gerade hatte ich die Tür zur Toilette verschlossen, als ich jemanden in den Waschraum kommen hörte. Ängstlich hielt ich in der Bewegung inne, lauschte. Doch kein komisches Gefühl bemächtigte sich meiner. Entweder hatte ich mir vorher alles nur eingebildet, oder aber der zusätzliche Besucher des Waschraumes war nicht Herr von Welten. Das beruhigte mich wieder.

Umständlich schob ich mein Abendkleid in die Höhe, immer darauf bedacht, Knitterfalten zu vermeiden. Jetzt war ich froh, dass ich keine Unterwäsche trug, denn damit ersparte ich mir das Herunterschieben des Slips.

Nach dem Geschäft tupfte ich mich sorgfältig trocken, spülte, ließ das Kleid einfach herunterfallen und öffnete die Tür zum Waschraum.

Eine wirklich schöne, groß gewachsene Frau stand vor dem Spiegel und richtete sich Frisur und Make-up, während ich meine Hände säuberte. Ihr Spiegelbild sah meines an und lächelte. Die Augen wirkten dunkel und geheimnisvoll.

„Hi, ich heiße Joanna. Du bist Sabrina, nicht wahr?“

Überrascht nickte ich, antwortete mit einem kurzen „Ja“ und trocknete mir dabei die Hände an einem der wunderbar flauschigen Handtücher, die für die Gäste aufgerollt auf einem Stapel bereitlagen. Woher wusste sie meinen Namen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie überhaupt im Saal gesehen zu haben, geschweige denn, ihr vorgestellt worden zu sein.

Als sie mir ihre Hand reichte, griff ich zu. Dann sah ich ihr direkt in die Augen. Bernsteinfarben. Erschrocken hielt ich inne.

Sie warf den Kopf zurück und lachte. „Ja, die Familienähnlichkeit ist verblüffend. Markus ist mein älterer Bruder und ich freue mich wirklich, dich kennenzulernen. Er hat mir viel von dir erzählt.“

Hatte ich mich gerade verhört? „Er hat von mir erzählt? Er kennt mich doch gar nicht.“

Noch immer lächelte sie. „Nur das, was er von deinem Verlobten erfahren hat. Offensichtlich hat ihn das sehr beeindruckt. Wir werden uns mit Sicherheit gut verstehen.“

Nun war ich noch verwirrter. Warum meinte sie, dass es für mich oder auch für sie von Belang wäre? Herr von Welten war der Chef meines Zukünftigen, und sie tat geradewegs so, als würden wir uns demnächst öfter sehen. Trotzdem lächelte ich sie an. „Wie kommen Sie darauf? Also nicht, dass ich Sie nicht nett finden würde, aber mein Verlobter und ich werden nicht mehr lange bleiben, Frau von Welten.“

„Joanna und du, bitte. Ich habe gesehen, dass Thomas sehr beschäftigt ist. Du hast dich dagegen gelangweilt, was ich dir nicht verdenken kann. Ich verstehe nicht die Hälfte von diesen Geschäften, und wenn möglich, vermeide ich auch den Kontakt zu den anderen Weibern.“

Weiber wäre nun nicht gerade der Begriff gewesen, mit dem ich die anderen Frauen bedacht hätte, aber im Grunde musste ich ihr zustimmen.

Ich sah ihr zu, wie sie sich über den Waschtisch zum Spiegel beugte und geschickt ihre Lippen nachzog. Anschließend nahm sie sich ein Kosmetiktuch, um die überschüssige Farbe loszuwerden.

Normalerweise hielt ich mich nicht so lange in Waschräumen auf, aber da ich nichts anderes bei dieser Dinnerparty zu tun wusste, wartete ich einfach ab, ob sich wenigstens mit ihr noch ein interessantes Gespräch entwickeln würde.

„Es tut mir leid“, meinte sie allerdings kurz darauf, „ich habe noch etwas im Auftrag meines Bruders zu erledigen. Wir sehen uns später wieder, und dann können wir gerne länger reden. Du musst da aber nicht wieder in den Saal, wenn du nicht möchtest. Du kannst dir gerne das Haus anschauen.“

Wie eine Erscheinung verschwand sie durch die Tür und ließ mich verwirrt zurück.

Später?‘ Später war ich auf dem Weg nach Hause. Da war sicherlich keine Zeit mehr, um sich noch zu unterhalten. Als ich die Tür öffnete und zum Flur hinausschaute, war von ihr nichts mehr zu sehen.