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simone moro

NANGA

IM WINTER

EINE GESCHICHTE
VON EHRFURCHT,
GEDULD UND
WILLENSKRAFT

Aus dem Italienischen übersetzt
von Maria Anna Söllner

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Titel der italienischen Originalausgabe: Nanga. Fra rispetto e pazienza, come ho corteggiato la montagna che chiamavano assassina © 2016 Rizzoli Libri S.p.A. / Rizzoli, Milan

© der deutschen Lizenzausgabe: 2017 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Roberto Baldissera, Agentur für Grafik, Innsbruck, unter

Verwendung eines Bildes von © Archiv Simone Moro

Bildnachweis: Alle Abbildungen aus den Jahren 2011/2012 und 2015/2016: © Archiv

Simone Moro; Abbildungen der Expedition 2014/2015: © David Göttler

Übersetzung aus dem Italienischen: Maria Anna Söllner, München

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck

Lithografie: Artilitho, Trento (I)

Druck und Bindung: FINIDR (CZ)

ISBN 978-3-7022-3623-6 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3624-3 (E-Buch)

www.tyrolia-verlag.at

buchverlag@tyrolia.at

Inhalt

Ein Wunsch wird größer

1. Träume auf dem Papier

2. Den Berg vor Augen

3. Der Nanga Parbat

4. Lafaille kommt zu uns ins Team

5. Tom und Martina

6. Nur ein „Auf Wiedersehen!“

7. Der Broad Peak

8. Der Weg der eiskalten Erforschungen

9. Der dreifache Erfolg ist nicht genug

Das erste Mal (2011/2012)

10. Ein gutes neues Jahr!

11. Gummischuhe

12. Die Messner-Route

13. Lager 1 und 2

14. Lager 3

15. Zehn Tage Pause

16. „Die Natur hat gesiegt!“

17. Winteralpinismus: ein neues Kapitel

Das zweite Mal (2013/2014)

18. Das Abenteuer im Abenteuer

19. Ein Neuanfang

20. Ungewohnte Begleiter

21. Worin besteht Glück?

22. Die „Ablenkungen“ im Basislager

23. Lager 1

24. Lager 2

25. Dem Wetter Zeit geben

26. Lager 3

27. 7000 Meter nonstop

28. Basislagerspiele

29. Das Biwak in der Höhle

30. Versuchter Aufstieg zum Lager 3 und Rückkehr

31. Der Mazenograt

32. 2014 ist noch nicht das richtige Jahr

Intermezzo

33. Träume sind für alle da

34. Der Manaslu

35. Die „Khumbu-Challenge“

36. Ein Desaster, doch nicht nur das

Das dritte Mal (2015/2016)

37. In einen Berg verliebt

38. Die Entscheidung zu schweigen

39. Fertig, los!

40. Letzter Halt Bisil

41. Die erste Nacht im Zelt – endlich!

42. Hansjörg kehrt nach Hause zurück

43. Tamaras Enttäuschung

44. Chilas – es geht los

45. Kutgali

46. Ankunft im Basislager

47. Der Rat der Hirten

48. Ein dreißig Jahre lang geträumter Traum

49. Vollzählig im Basislager

50. Erste Bilanz

51. Höhenküche

52. Schlaflose Nacht im Lager 2

53. Verletzungen verboten

54. In einem Satz zum Lager 2

55. Tomek und Elisabeth im Lager 4

56. Messner-Route weiterhin unberührt

57. Die Einladung von Alex

58. Der gelöschte Post

59. Heimliche Aufnahme

60. Alex ist bestürzt

61. „Ich habe kein Vertrauen zu dir“

62. Der Unfall von Alex

63. Was ist im Basislager los?

64. Daniele Nardi geht

65. Eine riesige Lawine

66. Die Lawinengefahr hält an

67. Der Fuchs

68. Lager 2

69. Abstieg vom Lager 2

70. Tomek ist noch in Pakistan

71. Gabl: So ein Wetterfenster habe ich noch nie gesehen

72. Überraschung im Lager 2

73. Ein Souvenir aus dem Jahre 1962

74. Lager 3

75. Lager 4

76. Fertig, los!

77. 7600 Meter und der erste Sonnenstrahl

78. Wir teilen uns auf

79. Zum Gipfel

80. Der Gipfel

81. Glück

82. Und Tamara?

83. Ankunft im Lager 4

84. Die Nacht im Lager 4

85. Abstieg zum Lager 2

86. Das Basislager: Sieg!

Backstage

Am fünften Tag waren wir regelrechte Eismonster.

Wir aßen schnell etwas und sprangen dann gleich aus dem Zelt, denn der einzige Gedanke, den wir hatten, war: absteigen, absteigen, absteigen. Und den Abstieg wollten wir im Laufe des Tages schaffen. Wir konnten uns keine weitere Nacht fern vom Basislager erlauben, wir wussten nicht, ob wir noch weiter durchhalten konnten.

Wir legten unsere Schlafsäcke zusammen, die inzwischen wegen des Kondenswassers doppelt so viel wogen wie zu Beginn der Expedition: Eis, das tagsüber schmilzt und zu Wasser wird, um während der Nacht wieder in seinen Festzustand zurückzukehren. Eis, das an dir klebt und eine Art Sarkophag um dich herum bildet, eine Schicht zwischen dir und deinem Schlafsack.

Wir hatten es eilig, wir wollten keine Minute mehr verlieren. Wir bauten das Zelt ab, teilten die Lasten gerecht unter uns auf, auch an diesem Morgen bat Tamara um keinen Nachlass.

Um Zeit zu sparen, setzte ich das Fersenteil des Steigeisens nicht so genau auf den Absatz des Bergstiefels auf, zog fest an und hörte: Knacks!

Das Fersenteil des Steigeisens war gebrochen, was mehr oder weniger so ist, wie wenn der hintere Teil der Skibindung abbricht. Es bedeutet also nichts Gutes.

Ich bekam einen Lachanfall. Wirklich, ich begann so zu lachen, dass mich Ali mit fragendem Blick anschaute.

„Was gibt’s zu lachen?“, fragte er mich.

„Ach nichts, es ist nur ein Steigeisen kaputtgegangen!“, sagte ich.

„Aber hast du denn ein Ersatzsteigeisen dabei?“, fragte er mich, da er mich lachen sah.

„Nein, ich lache, weil mir nun nichts anderes übrig bleibt, als es zu reparieren, und wer weiß, was ich mir dazu einfallen lassen muss … aber ich werde eine Lösung finden, ich muss eine Lösung finden.“

Meine Lösungen à la MacGyver haben mich immer zum Lachen gebracht. Aber es war nicht nur deswegen. Ich lachte auch, weil ich Glück gehabt hatte. Dieser Zwischenfall war mir beim Abstieg passiert, kurz vor dem Basislager.

Wenn mir das nun beim Aufstieg passiert wäre? Wenn ich auf den Nanga Parbat hätte steigen müssen, mit einem nur mit einer Reepschnur am Stiefel befestigten Steigeisen, hätte ich es dann geschafft? Oder hätte sich der Traum, auf den Gipfel des „nackten Berges“ zu gelangen, zum vierten Mal in Rauch aufgelöst? Wegen eines kaputten Fersenteils eines Steigeisens?

Eines ist sicher, ich hätte bestimmt nicht so herzlich gelacht.

EIN WUNSCH WIRD GRÖSSER

1.

Träume auf dem Papier

Als mir der Nanga Parbat zum ersten Mal begegnete, war ich noch ein Junge, ich war vielleicht zwölf Jahre alt. Ich lernte ihn nicht „persönlich“ kennen, ich sah ihn nicht wirklich: Die Bücher, die von dem „nackten Berg“, wie man ihn nannte, sprachen, beschrieben ihn mir. Mit großer Leidenschaft las ich die Geschichten jener Helden, die mich inspirierten – die Ereignisse, durch die dieser Berg auf ewig mit den Namen von Albert F. Mummery, Hermann Buhl oder Reinhold Messner verbunden sein wird.

Der englische Bergsteiger Albert Frederick Mummery war ein echter Wegbereiter, der es in weit zurückliegenden Zeiten gewagt hatte, einen Achttausender herauszufordern. Man schrieb das Jahr 1895, als er beschloss, den damals noch unberührten und unerforschten Nanga Parbat zu besteigen. Er stürzte sich in diese Unternehmung in einem Stil, der für ihn typisch war: ohne Guide und mit der reinstmöglichen und ehrlichsten Methode. Anfangs versuchte er die Besteigung über die Rupalflanke, die höchste Steilwand der Erde, um dann festzustellen, dass der Zugang zum Berg von dort aus nicht möglich war. Er verlagerte seine Route deshalb zur gegenüberliegenden Flanke, zur Diamirflanke. Mit drei weiteren Bergsteigern kam er bis auf eine Höhe von 6100 Metern, doch dann mussten sie alle aufgeben. Er gab sich jedoch nicht geschlagen und begann eine dritte Flanke, die Rakhiotflanke, zu erforschen, an der er eine Linie zu erahnen begann, die ihn bis zum Gipfel auf 8126 Meter hätte bringen können.

Mummery starb jedoch leider bei dem Versuch, von der Diamir- zur Rakhiotflanke zu kommen. Er verschwand in einem Labyrinth von Gletscherspalten und Séracs: Man hat nie genau erfahren, ob er in einer dieser Gletscherspalten verschwunden ist oder ob er, als er über die Rakhiotflanke absteigen wollte, in den senkrechten Wänden, die die Grenzlinie zwischen den beiden Bergflanken bilden, abgestürzt ist.

Eine weitere große Legende, die ich durch den Nanga Parbat kennenlernte, war Hermann Buhl. Auch Buhl war eine Ikone des Bergsteigens (und das ist er noch heute, fast ein Jahrhundert nach seiner Geburt): Er war ein fantastischer Kletterer und ein herausragender Bergsteiger. Er war der Erste, der den neunthöchsten Berg des Planeten, den Nanga Parbat, in einer großartigen Unternehmung bestieg: Von 6900 Metern ging er im Alleingang weiter in Richtung Gipfel, eine Besteigung, die noch heute, über sechzig Jahre nach jenem 3. Juli 1953, als Aufstieg von höchster Bedeutung gilt.

Es gab noch eine dritte Person, die schuld daran war, dass ich mich in den Nanga Parbat verliebte, und die mich dazu brachte, davon zu träumen, dass ich eines Tages fähig sein könnte, den größten Berg auf diesem Planeten zu besteigen. Ja, denn der „nackte Berg“ ist, obwohl er absolut gesehen nicht der höchste Berg ist, doch der größte, wenn man die Höhendifferenz zwischen Basislager und Gipfel betrachtet: Sie ist fast doppelt so groß wie die Höhendifferenz zwischen vorgeschobenem Basislager und Gipfel des Mount Everest. Diese Person war Reinhold Messner, der Mann des Nanga Parbat. Der Mann, der über diesen Gipfel die wichtigsten und auch die dramatischsten Bücher seiner Karriere schrieb. 1970 brachte Messner alle zum Staunen, als er mit seinem Bruder Günther die unberührte Rupalwand mit ihren 4500 Höhenmetern durchstieg. Über ihre großartige Besteigung las ich in den Büchern, die daraufhin geschrieben wurden, und ich begriff, wie hoch, schwierig und kompliziert der „nackte Berg“ war. Diese außergewöhnliche Unternehmung, in der Messner die Hauptrolle spielte, hinterließ jedoch eine große Wunde in seiner Seele und trat eine Kontroverse los, die etwa dreißig Jahre andauern sollte.

Nachdem Reinhold und Günther den Gipfel gemeinsam erreicht hatten, stellten sie fest, dass der Rückweg nicht über dieselbe Wand möglich war. Sie versuchten einen verzweifelten Abstieg über die Flanke auf der anderen Seite, über die Diamirflanke. Als sie schon fast am Wandfuß angelangt waren, wurde Günther von einer Lawine erfasst und kam ums Leben. Reinhold war ein ganzes Stück vor seinem Bruder, und es gelang ihm, sich trotz schwerer Erfrierungen Richtung Tal zu schleppen. Ein paar ortsansässige Hirten fanden ihn, sie halfen ihm und brachten ihn zur Hauptstraße. Dort traf er seine Expeditionsgefährten, die sich schon auf der Rückreise befanden, denn sie waren überzeugt, dass die beiden Brüder ums Leben gekommen waren. Lange Zeit wurde Reinhold beschuldigt, er habe aus Ehrgeiz seinen Bruder geopfert und gelogen, als er erzählte, dass Günther erst am Fuße der Diamirflanke gestorben sei. Messners Version hat sich inzwischen jedoch bestätigt. Viele seiner Kritiker glaubten, dass Messners Bruder ums Leben gekommen war, noch bevor sie den Gipfel erreicht hatten.

Mit diesen Anklagen musste Messner lange leben, er verteidigte sich die ganze Zeit mit Zähnen und Klauen, versuchte seine Wahrheit hinauszuschreien. 35 Jahre später kam sie ans Tageslicht, als man die Überreste seines Bruders (durch DNA-Tests bestätigt) auf dem Gletscher unterhalb der Diamirflanke fand. Genau dort, wo sie nach Reinholds wiederholter Aussage sein mussten.

1978, im selben Jahr, in dem Messner die erste Besteigung des Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff gelang, kehrte er zum Nanga Parbat zurück und eröffnete dort im Alleingang eine unglaubliche, bis heute nicht wiederholte Route in der Diamirflanke.

2.

Den Berg vor Augen

Endlich kam der Tag, an dem ich den Berg mit eigenen Augen sah.

Bis dahin hatte der Nanga Parbat eine kraftvolle Faszination auf mich ausgeübt, die sich aus den Büchern, die von meinen Helden und ihren Unternehmungen erzählten, speiste. Beim Lesen begann ich davon zu träumen, so zu sein wie sie, eines Tages ein Forscher der Vertikalen zu werden und die Taten jener unvergleichlichen Bergsteiger der Vergangenheit nachzuahmen.

1998 war ein besonderes Jahr: Ich war gerade von der tragischen Winterexpedition zur Annapurna zurückgekommen, bei der ich Anatoli Boukrejew, meinen engsten Freund und Seilpartner, und Dimitri Sobolev, einen weiteren Klettergefährten, verloren hatte. Von dieser Expedition kam nur ich lebend zurück, ich habe nicht einmal ihre sterblichen Überreste gefunden. Die darauffolgenden Monate waren heikel: Ich musste mich einer langwierigen Rehabilitation unterziehen, da ich schwerste Verwundungen an Händen und Beinen hatte. Nach der Rekonvaleszenzzeit begann ich, über meine Zukunft nachzudenken. Ich begriff, dass ich mich von den Bergen nicht fernhalten konnte, denn dort hatte ich mein Glück gefunden. Und wenn du den wichtigsten Bestandteil deines Lebens gefunden hast, auf den du nicht verzichten kannst, tust du alles, um ihn nicht wieder zu verlieren. Meinen hatte ich in den Bergen, beim Bergsteigen, gefunden, und so beschloss ich, weiterhin zu klettern und alles, was ich bislang gelernt hatte, zu beherzigen – auch die Lektionen, die mir die Tragödie an der Annapurna erteilt hatte.

Im Sommer 1998 beschloss ich also, wieder auf Expedition zu gehen. Zum ersten Mal war ich in Pakistan, unser Ziel war die Besteigung des Broad Peak im Karakorumgebirge. Um zu diesem Berg zu gelangen, mussten wir auf dem langen, kurvenreichen Karakorum Highway (KKH) fahren, einer Straße, die Mitte der Siebzigerjahre gebaut wurde und eine Verbindung zwischen Pakistan und China darstellt. Sie schlängelt sich an den Ufern des Indus entlang bis zum Khunjerabpass auf eine Höhe von 4700 Metern hinauf. In den Büchern, die meine Träume so sehr beflügelt hatten, hatte ich gelesen, dass sich in der Nähe des Ortes Jaglot eine Stelle befand, von der aus man den Nanga Parbat in seiner ganzen majestätischen Pracht sehen könne. Sehnsüchtig wartete ich darauf, zu dieser Stelle zu kommen, ich hatte sie mir fest eingeprägt. Ich versuchte mir vorzustellen, wie diese perfekte Ansicht sein würde; ich hatte den Nanga Parbat viele Male im Geiste durch die Augen derer gesehen, die den „nackten Berg“ von eben dieser Stelle erblickt hatten.

Wir waren seit Stunden unterwegs, die Sonne ging unter, und es war glühend heiß, als wir in Jaglot ankamen. Obwohl diese wichtige Straße mitten durch den Ort führte, wirkte dieser ziemlich unzivilisiert. Der Fahrer machte Halt und rief: „Nanga Parbat!“ und deutete mit dem Arm in die Ferne.

Ich stürzte aus dem Minibus und erblickte den Giganten: Er zeichnete sich vor meinen Augen in einigen Kilometer Entfernung, aber deutlich sichtbar in seiner ganzen Größe ab. Es war wirklich ein riesiger Berg, noch größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Ein weißer, leuchtender Berg, der mir ganz eindeutig eine ausdrückliche Einladung aussprach. Ich hatte in diesem Moment eine starke Vision, was ich spürte, war eine Mischung aus Wunsch und unwiderstehlicher, fast hypnotischer Anziehung: Eines Tages würde ich auf diesen Berg steigen.

3.

Der Nanga Parbat

2003 war ein wichtiges Jahr für den Alpinismus. In dieses Jahr fiel der fünfzigste Jahrestag der Erstbesteigung des Mount Everest und des Nanga Parbat. Während sich die Feierlichkeiten auf den höchsten Berg der Erde konzentrierten, ebenso die Berichterstattung in der Presse, fiel wenig Aufmerksamkeit auf die großartige Besteigung des „nackten Berges“, die Hermann Buhl fünfzig Jahre zuvor vollbracht hatte.

Schon seit geraumer Zeit hatte ich vor, das fünfzigste Jubiläum von Buhls Erstbesteigung mit einer Sommerexpedition zu feiern. Sie sollte drei Ziele haben: Das erste sollte eben der Nanga Parbat sein, über eine neue Route, die ich monatelang auf Wandfotos studiert hatte. Das zweite Ziel sollte der Broad Peak sein, der 8047 Meter hohe Gipfel am Baltorogletscher, den ich schon einmal 1998 versucht hatte, und das dritte der K2, der zweithöchste Berg des Planeten.

Für den ersten Gipfel, den Nanga Parbat, würde sich die Expeditionsgruppe aus Mitgliedern unterschiedlicher Nationalität zusammensetzen: aus Italienern – Franco Nicolini, Mirco Mezzanotte und meiner Wenigkeit –, zwei Spaniern – den beiden Freunden Iñaki Ochoa und Oscar Gogorza –, einem Amerikaner – dem berühmten Ed Viesturs, der zusammen mit uns seinen zwölften Achttausender in Angriff nahm – und schließlich einem Franzosen – Jean-Christophe Lafaille, ein absoluter Crack, der im Basislager zu uns stoßen sollte.

Im Basislager würde sich auch eine kasachische Expedition befinden, die aus acht Bergsteigern bestand, unter ihnen mein Freund und neuer Seilpartner Denis Urubko, mit dem ich nach dem Tod von Antoli Boukrejew die zweite Phase meiner Karriere begonnen hatte. Angeführt wurde dieses Team von dem Veteranen Ervand Iljinsky, einem Bergsteiger, der in jungen Jahren zahlreiche große Bergtouren durchgeführt hatte und später Trainer der Militärsportgruppe in Almaty wurde. Als Expeditionsleiter hatte er viele nationale – und auch nationalistische – Projekte des russischen und kasachischen Alpinismus geleitet.

Außer diesen beiden Expeditionen würde noch eine dritte, aus vier Italienern bestehende Expedition vor Ort sein: Kurt Brugger, Olympiateilnehmer im Rennrodeln, mit einer großen Leidenschaft und Bergerfahrung auf höchstem Niveau, die Brüder Giampaolo und Enzo Corona, Bergführer und Mitglieder der Bergrettung, sowie Robert Gasser, ein weiterer Fan von Himalaya-Expeditionen. Zum Team würde auch die österreichische Ausnahmebergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner zählen, die eine langwierige und schwierige Unternehmung versuchte, nämlich alle 14 Achttausender ohne zusätzlichen Sauerstoff zu besteigen.

Die Kasachen kamen im Basislager mit einer Akklimatisierung an, die sich von der unseren unterschied: Sie hatten ein Training in der Höhenkammer durchlaufen, eine Art Unterdruckkabine, die künstlich von Woche zu Woche ansteigende Höhen simulierte, von 4000 auf 5000, auf 6000, 7000 und schlussendlich auf 8000 Meter. Theoretisch waren sie schon bereit, den Gipfel zu versuchen oder zumindest einige wenige Vorstöße nach oben zu machen, bevor sie den letzten Sprung zum Gipfel in Angriff nahmen.

Am Nanga Parbat wollte ich etwas Besonderes tun. Ich war nicht nur daran interessiert, zum Gipfel zu kommen, ich wollte meine Vorstellung von einem „explorativen Alpinismus“ umsetzen, der es mir ermöglichte, neue Routen zu eröffnen, Speedbegehungen durchzuführen, Enchaînements und Überschreitungen zu realisieren und unberührte Wände mit den eigenen Händen anzufassen. Das war mir nicht immer gelungen, aber es war die Spur, der ich auf meinem Weg als Bergsteiger folgen wollte. Kurz und gut, das war die Ethik, mit der ich mich in der Vertikalen bewegen wollte.

Deswegen hatte ich vor, eine neue Route an der Diamirwand, der Westflanke des Nanga Parbat, zu eröffnen: Ich war nicht auf der Suche nach neuen Rekorden, sondern nach Entdeckungen in einer Wand, die schon mehrere Male durchstiegen worden war, die aber trotzdem immer noch Ecken und Winkel für Abenteuer enthielt. Und genau diese Winkel hatte ich gefunden, als ich die Fotos betrachtete und die Berichte über frühere Versuche las: an einem Sporn entlang, links von der „Kinshofer“, der klassischen Route.

Die fixe Idee bestand also nicht nur in der Besteigung des Nanga Parbat an sich, sondern des Nanga Parbat über diese neue Route: Es ging also nicht so sehr um das „Was“, sondern um das „Wie“. Ich wollte ihn ohne zusätzlichen Sauerstoff im Alpinstil besteigen und dachte, dies mit meinem Seilpartner Denis Urubko tun zu können. In diesem Punkt gab es jedoch schon die erste Überraschung: Ervand Iljinsky, der Chef seiner Expedition, erlaubte ihm nicht, die kasachische Mannschaft zu verlassen und mit mir mitzukommen. Es war diese nationalistische Art von Alpinismus, bei der die Befehle des Chefs nach klassischer sowjetischer Manier mit militärischer Disziplin ausgeführt werden.

Ich fand mich in einer seltsamen Situation wieder: Ich hatte den Berg vor mir, ein klares Projekt im Kopf, war in guter körperlicher Verfassung, hatte aber nicht den Gefährten, mit dem ich diese neue Route am Nanga Parbat zu eröffnen hoffte, obwohl sie sich genau hier, ein paar Schritte von mir entfernt, befand.

4.

Lafaille kommt zu uns ins Team

Aufgrund unseres Vorhabens, drei Achttausender hintereinander zu besteigen, waren wir dazu gezwungen, schon Anfang Juni im Basislager anzukommen, also ziemlich lange vor den Sommerexpeditionen in diese Berge. Wir mussten sparsam mit der Zeit umgehen und versuchen, schnell zu sein. Doch da wir dort die Ersten sein würden, würden wir das Lager noch nicht eingerichtet vorfinden. Das wussten wir und organisierten uns entsprechend.

Um das Basislager zu erreichen, benötigten wir drei Tage, also relativ wenig Zeit. Wir folgten dem traditionellen Weg: Von der Straße aus, bei der man mit dem Jeep ankommt, gingen wir durch ein schmale, recht wilde Schlucht, die ein reißender Wildbach ausgehöhlt hatte. Wir machten im Dorf Ser Halt, wo wir die erste Nacht verbrachten. Tags darauf marschierten wir weiter, bis wir zu einer geschützten Stelle unterhalb einer großen Felswand aus rötlichem Granit kamen, in der Nähe der weiten Fläche von Kutgali, einer Ebene, die vor der eindrucksvollen, wuchtigen Masse des Nanga Parbat liegt.

Die Stimmung in der Gruppe war gut, wir waren alle bester Laune, heiter und zu Scherzen aufgelegt. Alles schien sich in die richtige Richtung zu entwickeln: Der starke Wunsch, den „nackten Berg“ zu berühren, ließ uns schneller gehen als sonst und trug dazu bei, dass wir die Belastung dieser ersten Anstrengungen, die uns gar nicht als solche vorkamen, nicht so sehr spürten. Bei der Annäherung ans Basislager marschierten wir nicht mehr als vier bis fünf Stunden am Tag. Uns folgten alle Träger mit den Lasten, die wir in eigens an Ort und Stelle hergestellten Plastikboxen oder Aluminiumbehältern verstaut und von Italien aus verschickt hatten. In diesen Behältern befanden sich Ausrüstung, Vorräte mit Nahrungsmitteln und alles Notwendige, um einen ganzen Monat im Basislager überleben zu können.

Nachdem sich gezeigt hatte, dass Denis nicht mit mir mitkommen konnte, machten wir uns sofort am Normalweg, an der Kinshofer-Route, an die Arbeit. Es war wichtig, dass wir uns bald gemeinsam in Richtung Höhe bewegten, um die Akklimatisierungsphase einzuleiten. Die 1962 realisierte Kinshofer-Route schlängelt sich am ausgesetztesten Teil des Berges entlang: anfangs ein Couloir von über 1000 Höhenmetern, das vom unterhalb eines Felsens gelegenen Lager 1 auf 4900 Metern in einer langen, steilen Eisrinne bis hoch zu der berühmten Felsmauer verläuft, die alle Kinshofer-Wand nennen. Das ist der steilste und technisch schwierigste Abschnitt des gesamten Anstiegs. Ist er überwunden, kommt man zu einer kleinen Terrasse, auf der man die Zelte für ein weiteres Lager aufstellen kann.

Die Rinne musste jedoch zunächst mit Fixseilen versichert werden: In mehreren Anläufen stiegen wir abwechselnd auf, immer damit beschäftigt, die schweren Seilrollen zu transportieren und die Seile zu fixieren. Ein langer Ariadnefaden, der uns nicht so sehr den Anstieg als vielmehr den Abstieg Richtung Tal erleichtern würde.

Schnelligkeit war für uns in diesen Tagen zwingend notwendig, denn wir hatten nicht genug Zeit, uns auszuruhen und den Körper langsam an die große Höhe zu gewöhnen. Die Anstrengung war deutlich zu spüren, doch jede Aktion verlief nach Plan und ohne Zeitverlust. Im Basislager waren wir viele – große Kräfte und viel Erfahrung standen also zur Verfügung, wodurch wir uns bei der Arbeit regelmäßig ablösen konnten.

Am 5. Juni kam unser siebtes Gruppenmitglied an, Jean-Christophe Lafaille. Er kam aus Nepal, wo er nur zwei Wochen vorher, am 20. Mai, im Alleingang den Dhaulagiri, mit 8167 Metern der siebthöchste Berg der Erde, ohne zusätzlichen Sauerstoff bestiegen hatte. Auch er legte sofort los: Am 6. und 7. Juni stieg er zunächst zum Lager 1 und dann zum Lager 2 auf, um danach direkt ins Basislager zurückzukehren. Er war schnell und eindeutig der Besttrainierte unserer Gruppe, dank der Akklimatisierung, die er vom Dhaulagiri mitgebracht hatte.

5.

Tom und Martina

Wir alle waren – ein jeder nach seinen Fähigkeiten, seinem Akklimatisierungsstand und seiner persönlichen Geschwindigkeit – damit beschäftigt, uns in Richtung Gipfel vorzuarbeiten, und versuchten, uns an die großen Höhen anzupassen. Mit dem Gipfelversuch durften wir nicht allzu lange warten, denn es gab noch zwei weitere Berge, die auf uns warteten: der Broad Peak und der K2.

In Jean-Christophe Lafailles Zeitplan für die Akklimatisierung war vorgesehen, dass er am 11. Juni zum Lager 2 und schon fünf Tage später auf eine Höhe von 7000 Metern aufsteigen sollte. Kaum zehn Tage nach seiner Ankunft war er also schon bereit, den Gipfel zu versuchen.

Ich war es mit Sicherheit nicht. Der menschliche Körper braucht mindestens drei Wochen, in denen er ununterbrochen großer Höhe ausgesetzt ist, um sich physiologisch daran anzupassen. Und mir war es während der Vorbereitungsphase nicht gelungen, eine wichtige Etappe meines Akklimatisierungsprogramms abzuschließen. Ich war bis zum Lager 2 gekommen, wo ich geplant hatte, die Nacht zu verbringen, um dann bis auf 7000 Meter aufzusteigen. Mit mir war Oscar Gogorza mitgekommen, dem es jedoch wirklich nicht gut ging: Er hatte starke Migräne und war extrem müde. Zudem war er auch verwirrt: Er zeigte also eindeutige Symptome eines beginnenden Hirnödems.

Ich wusste, dass der für den nächsten Tag geplante Abschnitt die Schlüsseletappe für mich war: Es war die letzte, aber auch die wichtigste Phase meiner Akklimatisierung. Auf 7000 Höhenmeter aufzusteigen und dort eine Nacht zu schlafen ist praktisch unabdingbar, wenn man dann die 8000-Meter-Marke ohne zusätzlichen Sauerstoff erreichen will.

Die Prioritäten änderten sich jedoch, anderes wurde dringlicher: Oscar ging es schlecht, es bestand die Gefahr, dass sich sein Zustand weiter verschlechtern und er sterben würde, wenn wir ihn nicht eiligst auf eine niedrigere Höhe brachten. Iñaki Ochoa und ich entschieden uns, ihm zu helfen. Anstatt im Lager 2 zu schlafen, stiegen wir wieder ab, um ihn ins Basislager zu bringen. Es war eine elende Plackerei, aber wir haben ihm sicherlich dadurch das Leben gerettet. Mitten in der Nacht kamen wir dort an – schweißüberströmt und gleichzeitig durchgefroren, aber glücklich, da wir unseren Freund nach Hause gebracht hatten. Oscar zeigte schon 500 Meter unterhalb der Stelle, an der er die ersten Symptome hatte, erste Anzeichen von Erholung. Im Basislager, auf einer Höhe von weniger als 2000 Metern, ging es ihm schnell wieder besser.

Die Tage vergingen schnell, und die Kasachen machten Meter um Meter. Die künstliche Akklimatisierung in der Höhenkammer zeigte hervorragende Ergebnisse. Schon am 17. und 18. Juni gelangten sie überraschenderweise zum Gipfel. Sieben von acht Bergsteigern erreichten in zwei Gruppen die 8126 Meter, den ersten Teil der Expedition konnten sie damit als abgeschlossen betrachten: Sie waren bereit, sich zum Broad Peak zu begeben.

Zwei Tage später, am 20. Juni, erreichten auch Gerlinde Kaltenbrunner und Iñaki Ochoa den Gipfel. Am selben Tag versuchten es auch Jean-Christophe Lafaille und ich; er hatte mit Begeisterung den Vorschlag angenommen, mit mir zusammen über die geplante neue Route aufzusteigen.

„Simone, ich fühle mich bereit, das Wetter ist gut, aber wir müssen aufbrechen, bevor es schlechter wird“, sagte er zu mir am 19. Juni.

Obwohl mir bewusst war, dass ich noch nicht akklimatisiert war, beschloss ich – in der Hoffnung, trotzdem bis zum Gipfel gelangen zu können –, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und anderntags aufzubrechen, um das Schönwetterfenster zu nutzen. Es wurden zwei fantastische Aufstiegstage in reinem Alpinstil über eine jungfräuliche, unberührte Route mit ernsthaften Schwierigkeiten, da die Steilheit anspruchsvoll war und das Gelände aus einem Mix aus Fels, Eis und Schnee bestand.

Um die Gefahr zu verringern, die von dem großen Sérac ausging, der drohend über dem Einstieg in die Kinshofer-Rinne hing und unterhalb dessen wir queren mussten, brachen wir in der Abenddämmerung auf. Schon an diesem Abend hatten wir es auf 4900 Meter geschafft. Wir hatten nur ein paar Stunden geschlafen und stiegen mitten in der Nacht mit größter Geschwindigkeit unterhalb dieses Eismonsters durch, das jeden Moment hätte abbrechen können. Am ersten Tag machten wir fast 2000 Höhenmeter und stellten unser Biwak auf 6900 Metern auf, weit über dem Punkt und der Höhe, die wir ursprünglich in dieser ersten Etappe erreichen wollten.

Die Nacht verlief ruhig, wir schliefen so lange wie nötig in unserem kleinen, rot-blauen Zelt. Wir standen über Funk in Kontakt mit dem Basislager, von dort aus verfolgten sie uns mit dem Fernglas. Am nächsten Tag standen wir früh auf und zogen wieder los. Doch wir kamen immer langsamer voran: Es gab immer mehr Schnee, wir mussten spuren. Außerdem war auch die Anstrengung der 2000 Meter zu spüren, die wir in einem Zug am Tag davor zurückgelegt hatten. Wir konzentrierten uns darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, wir versuchten, den Schnee unter unseren Bergstiefeln festzutreten. Wir arbeiteten nach dem Rotationsprinzip und wechselten uns gegenseitig an der Spitze der Seilschaft ab. Es war knallharte Arbeit, der Schnee reichte uns manchmal bis zur Hüfte. Nach einem halben Tag ununterbrochener Anstrengung kamen wir schließlich auf einer verschneiten Bergschulter an, in der Nähe des Plateaus, das sich im oberen Teil der Wand befindet. Von dort stiegen wir etwa 100 Höhenmeter ab und stießen auf die Fixseile des Normalwegs. Damit hatten wir unsere neue Route beendet und fanden uns auf der klassischen Route wieder, die die Kasachen in den vergangenen Tagen gespurt hatten.

Nachdem wir das Zelt auf fast 7000 Metern aufgestellt hatten, begegneten wir Ed Viesturs, der am selben Tag wie wir aufgebrochen war, um über die Normalroute aufzusteigen. Wir hatten vorher verabredet, an welchem Ort wir uns treffen könnten, und waren nun fast erstaunt, dass er sich so respektvoll an diese Verabredung gehalten hatte: Wir umarmten uns herzlich und nahmen die – sehr willkommenen – Gratulationen von Ed entgegen.

In diesem Moment – ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen – gaben Jean-Christophe und ich uns die Hand, gratulierten uns gegenseitig und entschieden über den Namen, den wir der Route geben wollten: Wir nannten sie seinem Sohn und meiner Tochter zu Ehren „Tom und Martina“.

6.

Nur ein „Auf Wiedersehen!“

Der 22. Juni sollte der Tag sein, an dem Jean-Christophe, Ed und ich von unserem Lager 3 auf ungefähr 7000 Metern, genau dort, wo sich das Lager 3 der normalen Kinshofer-Route befand, bis zum Lager 4 auf derselben Route aufsteigen wollten. Wir hatten vor, unser Zelt dort aufzuschlagen, wo die Kasachen ein paar Tage vorher Halt gemacht hatten, das heißt, auf 7400 Metern, bei einem dreieckigen Felsen, unterhalb dessen wir Schutz suchen wollten. Es sollte der letzte Halt sein: Am 23. Juni wollten wir den Gipfel versuchen.

Die Nacht in 7000 Metern Höhe verlief ganz gut, aber ich fühlte die Erschöpfung, ich spürte, dass ich nicht vollständig akklimatisiert war und dass mir die neue Route viel mehr Anstrengung als gewöhnlich abverlangt hatte – und zwar nicht nur rein physisch, sondern auch an Konzentration. Am folgenden Morgen setzten wir uns in Bewegung: Schon bei den ersten Schritten spürte ich die Schwere in meinen Beinen. Das war ein klassisches Zeichen dafür, dass ich, obwohl ich fit war, nicht für diese Höhe und noch weniger für einen Gipfelversuch bereit war. Ich biss beim Gehen die Zähne zusammen, aber die Müdigkeit war immer deutlicher zu spüren; ich begriff, dass sie schnell das erträgliche Maß übersteigen würde. Vielleicht hätte ich mich an diesem Tag sogar auf eine Höhe von 7400 Metern schleppen können, aber dann? Ich war keineswegs davon überzeugt, dass ich auch in der Lage war, den Gipfel zu versuchen; im Gegenteil, es hätten die gleichen Symptome auftreten können, die sich in den vergangenen Tagen bei Oscar gezeigt hatten.

Wenn du von einer derartigen Erschöpfung überrollt wirst, musst du eine Entscheidung treffen, und nur du alleine kannst diese Entscheidung fällen: weitergehen und alle Kräfte einsetzen, um so weit wie möglich nach oben zu steigen, oder dir die noch verbliebene Kraft gut einteilen, um zu dem einzigen Punkt zurückzukehren, von dem du weißt, dass du dich dort erholen kannst.

Bis auf 7250 Meter blieb ich bei Ed und Jean-Christophe, dann sah ich ein, dass der Moment gekommen war: Ich musste stoppen und ganz bewusst umkehren, um das Basislager erreichen zu können. Es war die richtige Entscheidung, das wusste ich genau, aber sie hinterließ bei mir einen bitteren Geschmack. Es war mir bewusst, dass die neue Route – oder die neue Variante, je nachdem wie man es nennen mag – ein großartiges Ergebnis war, aber es war nicht das Einzige, das ich erreichen wollte. Mein Ziel war auch gewesen, den Gipfel zu erreichen. Bei diesem Versuch mit Ed und Jean-Christophe würde ich jedoch nicht mit dabei sein.

Ich stieg fast 3000 Höhenmeter in einem Zug ab. Es zeigte sich, dass diese Entscheidung die einzig richtige war, denn während ich Schritt für Schritt weiter nach unten kam, spürte ich, wie meine Kräfte allmählich zurückkehrten, und in der Nacht, die ich im Basislager verbrachte, erholte ich mich vollständig.

Am 23. Juni erreichten Ed und Jean-Christophe wie geplant den Gipfel. Währenddessen war ich zum Stillstand gezwungen, um mich zu erholen. Für Viesturs war es der zwölfte Achttausender, für Lafaille der zehnte, den er wenige Wochen nach dem Dhaulagiri bestiegen hatte. Nach den Kasachen, nach Gerlinde und Iñaki hatten auch sie den Gipfel erreicht: Der Einzige aus der Gruppe, der nicht das erhoffte Ergebnis erzielt hatte, war ich. Sicher, es gab eine neue Route, mit der man zufrieden sein konnte, doch ich wollte neben der Eröffnung dieser schönen Route von 2100 Metern auch den Gipfel.

Ich hätte einen erneuten Versuch starten können, doch den hätte ich im Alleingang unternehmen müssen. Die anderen beiden Italiener mussten nach Hause zurück, denn Franco Nicolini hatte sich während der Akklimatisierungsphase Erfrierungen an den Füßen zugezogen. Und Oscar Gogorza war wegen des Hirnödems, das ihn im Lager 2 erwischt hatte, außer Gefecht gesetzt. Ich war allein, doch ich hatte unglaublich große Lust, zum Gipfel zu kommen; so beschloss ich, das erste Schönwetterfenster abzuwarten und es noch einmal zu versuchen. Doch dieses Fenster kam leider nicht. Es gelang mir ein einziger Vorstoß nach oben, dann musste ich kapitulieren. Inzwischen warteten alle im Basislager auf mich, die Tage vergingen, und ich wollte nicht das ganze Team aufhalten, nur um selbst den Gipfel zu erreichen. Ich bin noch nie dieser Typ Mensch gewesen, von anderen so viel Rücksicht zu verlangen, und ich hatte auch keine Lust, ausgerechnet an diesem Tag so einer zu werden.

7.

Der Broad Peak

Ich verabschiedete mich vom Nanga Parbat mit einem „Auf Wiedersehen!“

Wir verließen das Basislager, um uns zu den anderen beiden Zielen zu begeben: dem Broad Peak und dem K2. An einem einzigen Tag stiegen wir wieder das Tal hinunter, das zwischen Nanga Parbat und der Schotterstraße liegt, die zum Dorf Diamiroi führt. Von dort fuhren wir im Jeep nach Chilas, wo wir den Karakorum Highway nehmen wollten. Unsere körperliche Verfassung war definitiv eine andere als zu Beginn der Expedition: Dank der Akklimatisierung erschien uns alles einfacher, sodass wir wie die Bergziegen abstiegen, ohne jegliche Anstrengung von einem Felsblock zum anderen sprangen und unterwegs sangen. Wir waren alle glücklich, sogar ich! Inzwischen war die Wut darüber, dass ich den Nanga Parbat nicht bestiegen hatte, verraucht: Ich konnte in mir das Glücksgefühl über die mit Jean-Christophe neu eröffnete Route zulassen.

Bevor wir die neue Unternehmung in Angriff nahmen, machten wir zwei Tage in dem Städtchen Skardu Halt, wohin wir nach einer eintägigen Fahrt von Gilgit aus gekommen waren. Von dort startet man zum Gebirgszug des Karakorum, zu dem vier Achttausender zählen: der K2, der Broad Peak, der Gasherbrum I und der Gasherbrum II. Wir hielten bei dem Resort Shangrila an, das einem General des pakistanischen Heeres gehörte. Es bestand aus vielen gleichaussehenden Häuschen, die im Kreis um einen kleinen Bergsee errichtet waren. Zahlreiche Tretboote und kleine Boote standen den Gästen dort zur Verfügung. Wir schwammen sogar: Es war fast wie am Meer, jedoch mit Bergen um uns herum, die – einer schöner als der andere – diese Art von Arena, in der wir uns befanden, begrenzten.

Während dieser kurzen Pause hatte sich die Agentur, die mit der Organisation unserer Expedition beauftragt war, darum gekümmert, Nahrungsmittel und Träger zu beschaffen und die Jeeps für unseren Transport zu buchen. Schließlich wurden wir zum Ort Askole gebracht, und dort begannen wir das lange Trekking, das uns zum Basislager des Broad Peak führen sollte.

Am 12. Juli erreichten wir unser Ziel. Wir hatten sehr wenig Zeit gebraucht – ein Zeichen dafür, dass uns der Nanga Parbat wirklich gutgetan hatte. Auch wenn ich den Gipfel nicht erreicht hatte, war ich so weit akklimatisiert, dass ich zur Überraschung aller schon nach drei Tagen auf dem Gipfel des Broad Peak stand. Ich gönnte mir eine Art von Revanche: Ich stieg in weniger als 24 Stunden auf. Am Nachmittag des 14. Juli brach ich auf und stand um elf Uhr morgens des folgenden Tages auf dem Gipfel. Ed Viesturs und Jean-Christophe Lafaille waren einen Tag vor mir losgezogen, nach einer Nacht im Lager 3: Ich holte sie auf dem Gipfelgrat ein, als sie gerade mit dem Abstieg begannen, eine Viertelstunde, nachdem sie den Gipfel erreicht hatten. Als wir uns begegneten, zeigte ihr Gesichtsausdruck eine Mischung aus Erstaunen und Freude. Ed Viesturs gratulierte mir, feuerte mich an, noch ein paar Minuten aufzusteigen, und stieg weiter ab. Aufgrund des Windes und der Kälte war es an diesem Morgen für alle sehr schwierig, an dem langen, ausgesetzten Grat entlangzugehen, der vom Vorgipfel zum Hauptgipfel des Berges führt.

Eine Expedition kann man erst für beendet erklären, wenn man mit heiler Haut wieder zuhause oder vielmehr im Basislager angekommen ist. So war also das Unternehmen am Broad Peak noch nicht beendet, als ich den Gipfel erreicht hatte. Nach unserer Begegnung auf dem Gipfelgrat setzten Jean-Christophe und Ed den Abstieg gemeinsam fort, während ich die letzten anstrengenden Minuten des Aufstiegs in Angriff nahm, um zum Gipfel zu kommen. Jean-Christophe begann – so erzählte es mir später Ed – mit immer größer werdender Müdigkeit weiterzugehen, er zeigte die ersten eindeutigen Symptome eines Hirnödems. Seltsam und unerklärbar, denn er hatte eben erst den Dhaulagiri und den Nanga Parbat bestiegen und hätte eigentlich sehr gut akklimatisiert sein sollen. Wahrscheinlich war es die enorme Anstrengung dieser drei Besteigungen in Folge, die nun ihren Tribut forderte.

Dass sein Zustand bedenklich war, bestätigte sich, als er in der Nähe des Lagers 3 in eine Gletscherspalte fiel. Nach diesem Zwischenfall beschloss Lafaille erschöpft, im Lager Halt zu machen, um sich auszuruhen. Ed blieb die ganze Nacht bei ihm im Zelt und stand ihm bei.

Ich hatte keine Ahnung von den Dingen, die sich ereigneten, ich hatte weder etwas gesehen noch gehört. Vom Basislager hatte ich keine Mitteilungen bekommen und stieg deshalb direkt zum Lager 2 ab. Ich bemerkte nicht, dass meine beiden Expeditionsgefährten im Lager 3 für die Nacht Halt gemacht hatten. Zwar hatte ich gesehen, dass im letzten Lager Zelte aufgestellt waren, aber ich wusste, dass andere Bergsteiger dort auf ihrem Anstieg übernachten wollten. Deshalb setzte ich meinen Weg nach unten fort.

Unter den Bergsteigern, die im Lager 3 waren, befand sich auch Denis Urubko. Er beschloss am nächsten Tag, anstatt weiter in Richtung Gipfel zu gehen, Lafaille beim Abstieg zu helfen. Ein echter Rettungseinsatz begann: Ed schulterte so viele Materialien von Jean-Christophe wie möglich, und so begannen sie den Abstieg.

Am selben Tag war Barbara, meine Freundin, im Lager 2 angekommen. Es ging ihr körperlich ziemlich gut, sie hatte vor, einen Gipfelversuch zu unternehmen. Als ich auf dem Gipfel war, hatten wir miteinander gesprochen, ich hatte ihr gesagt, dass sie nichts mitzunehmen brauche, da sie meine Ausrüstung benutzen könne. Sie sollte mir nur mit einer schönen Flasche Coca-Cola entgegenkommen, da ich nach dem 24-Stunden-Lauf von 4900 auf 8047 Meter wirklich dehydriert war.

Barbara war pünktlich und führte meinen Wunsch großzügig aus. Wir trafen uns im Lager 2, und mit unbeschreiblichem Vergnügen trank ich das köstliche, mit Kohlensäure versetzte Getränk, das bis hierher transportiert worden war. Kurz danach brach ich wieder auf, in Richtung Basislager. Barbara blieb im Zelt, um den Aufstieg fortzusetzen. Nachts kamen Ed und Denis im Lager 2 an, sie hatten Lafaille weiter beim Absteigen unterstützt. Es war ein verzweifeltes Unterfangen, denn der Zustand des Franzosen hatte sich deutlich verschlechtert: Obwohl er sich im Lager 3 ausgeruht hatte und weiter nach unten gekommen war, schien er immer erschöpfter und die Symptome des Hirnödems immer deutlicher zu werden. Er war am Ende, kurz davor zusammenzubrechen, was jederzeit geschehen konnte, aber er hielt durch, denn er wusste, dass er erst mit Ankunft im Basislager gerettet wäre. Barbara verzichtete auf die Besteigung und schloss sich der Gruppe an, die an der Rettungsaktion beteiligt war. Sie verabreichten Jean-Christophe eine Dexamethason-Injektion, und gleich danach stiegen alle weiter ab.

Am Wandfuß angekommen war noch der Gletscher zu queren. Für Jean-Christophe war es wirklich eine Qual, alle notwendigen Kräfte zu mobilisieren, um sich irgendwie über diesen letzten Streckenabschnitt schleppen zu können. Im Basislager indessen war die Rettung in Bereitschaft. Die Agentur, die sich um die Expedition kümmerte, hatte dringend einen Hubschrauber für die sofortige Evakuierung angefordert. Ein Hirnödem kann tödlich sein: Das einzige Gegenmittel, um die altitude sickness, wie diese durch Höhe verursachte Krankheit auf Englisch heißt, ist der sofortige Abstieg auf eine sehr niedrige Höhe, egal mit welchen Mitteln.

Als der Helikopter kam, verabschiedeten wir uns von Jean-Christophe, der nun diese Erfahrung nicht weiter mit uns teilen konnte. Mit ihm habe ich mich sehr wohl gefühlt. Alle darauffolgenden Polemiken wegen der neuen, gemeinsam eröffneten Route am Nanga Parbat – er schrieb sich die ausschließliche Urheberschaft zu, da ich ja den Gipfel nicht erreicht hatte – waren meiner Ansicht nach aufgrund von Druck von außen entstanden. Und ich habe auch so eine Idee, wer dahinterstecken könnte … Ich erinnere mich sehr gut daran, wie sehr sich sein Verhalten am Broad Peak im Vergleich zum Nanga Parbat verändert hatte. Wie auch immer sich die Dinge entwickelt haben, ich habe schöne Erinnerungen an ihn und an die Momente, die wir zusammen erlebt haben. Ich erinnere mich auch an die Dinge, die wir zueinander gesagt haben, und auch an alles andere. Die Ansichten anderer und die verschiedenen Versionen über unseren Anstieg am Nanga Parbat, die in schriftlicher oder mündlicher Form wiedergegeben wurden, darüber, wer den Verlauf der neuen Route und die Strategie gewählt hatte, sind das Werk von Personen, die sich damals nicht im Basislager befanden und noch viel weniger bei der Begehung der Route dabei waren.

8.

Der Weg der eiskalten Erforschungen

Am K2 lief es für alle schlecht: Keiner kam zum Gipfel. Uns gelang es nur, zum Lager 4 und auf eine Maximalhöhe von 7700 Metern zu kommen. Die Wetter- und Schneebedingungen am Berg waren extrem schlecht und trugen zum Scheitern des dritten Vorhabens der Expedition bei; sie musste also leider auf diese Weise enden. In der Saison 2003 gelang es übrigens niemandem, den K2 zu besteigen, ebenso wenig wie im Jahr zuvor.

In meiner Bilanz dieser Erfahrung konnte ich also die mit Jean-Christophe Lafaille neu eröffnete Route und die Besteigung des Broad Peak innerhalb von weniger als 24 Stunden als positiv verbuchen; dem gegenüber stand, dass ich den Gipfel des Nanga Parbat nicht erreicht hatte und wie alle anderen am K2 gescheitert war. Doch zum ersten Mal hatte ich den „nackten Berg“ berührt, hatte eine Beziehung zum Nanga Parbat aufgebaut, seine Dimensionen, den Fels, das Eis begriffen und „geschmeckt“. Ich hatte wirklich meinen Spaß gehabt und mich in den Nanga Parbat verliebt, doch ich musste gute acht Jahre warten, bis ich ihm – aus der Nähe – wiederbegegnete.

In den darauffolgenden Jahren sah ich ihn wieder, als wir uns bei anderen Expeditionen nach Pakistan auf dem Karakorum Highway von einem Ort zum anderen begaben. Jedes Mal, wenn ich dort vorbeifuhr, konnte ich nicht anders, als den Kleinbus oder den Jeep, mit dem ich unterwegs war, anzuhalten und diesen beeindruckenden Berg durch das Fernglas zu bewundern und zu fotografieren. Wenn ich jedoch konnte oder es die Wetterbedingungen erlaubten, flog ich im Direktflug von Islamabad nach Skardu, anstatt die unendlichen Kurven und Kehren auf den gefährlichen pakistanischen Straßen auszufahren: ein großartiger Flug, gerade weil man über den Nanga Parbat fliegt. Wenn ich auf seine Höhe kam oder sogar noch höher, erschien der Berg nicht kleiner, sondern im Gegenteil: majestätischer, gigantischer, beeindruckender, unermesslicher.

Mit dem Winteralpinismus, der für mich immer die strengere und einsamere Form des Bergsteigens darstellte, habe ich mich schon sehr früh in meiner Laufbahn befasst. Schon die zweite meiner bislang über fünfzig Expeditionen habe ich in einem Winter der Südhalbkugel, im August 1993, auf dem Aconcagua auf 6962 Metern zu einem glücklichen Ende gebracht. 1997, wenige Jahre nach meinen ersten Erfahrungen im Himalaya, beschloss ich, den Weg des Winteralpinismus auch über 8000 Meter einzuschlagen: Dies sollte zur tragischsten, dramatischsten und extremsten Erfahrung meines Lebens führen. Die Annapurna war der Berg, der zur Kulisse für die dramatischen Ereignisse wurde, die mit dem Tod meiner beiden Expeditionsgefährten Anatoli Boukrejew und Dimitri Sobolev endeten. Darüber habe ich schon mehrfach gesprochen und davon erzählt auch mein erstes Buch „Cometa sull’Annapurna“.

Nachdem die Expedition nach Pakistan in diesem Sommer beendet war, verfolgte ich erneut mit Elan den Weg, der mich zu Erforschungen der Eiseskälte in über 8000 Metern Höhe führen sollte.

Im Winter 2003/2004 nahm ich den Shisha Pangma in Angriff, einen Berg, der noch nicht in der Wintersaison bestiegen worden war. Mit mir waren drei Polen mitgekommen, die der Schule entstammten, die diese Art von Bergsteigen – einen schwierigen, harten und bedingungslosen Alpinismus – begründet hatte. Mir fiele auch das Wort „extrem“ ein, das man hinzufügen könnte, auch wenn ich es nicht besonders mag.