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© 2017 Regine Reichwein

Umschlaggestaltung, Innenteil: Angela Herold, HEROLDDESIGN
Foto: www.pixabay.com

Verlag: tredition GmbH, Hamburg ISBN

Paperback:978-3-7439-6564-5
Hardcover:978-3-7439-6565-2
e-Book:978-3-7439-6566-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

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REGINE REICHWEIN

DER VERBORGENE ORT

SYMBOLIK UND ERINNERUNG

Über die Autorin

Regine Reichwein lebt mit ihrem Kater Valentino in Berlin und Portugal. Sie hat Mathematik und Physik, aber auch Psychologie, Philosophie, Pädagogik und Politik studiert und war mehr als zwanzig Jahre Professorin an der Technischen Universität Berlin.

Durch die Arbeit mit den Studierenden wurde ihr bewusst, dass sie zusätzliche Qualifikationen brauchte, um ihren eigenen Ansprüchen an ein umfassenderes Angebot für diese zu genügen.

In diesem Zusammenhang hat sie sich unter anderem intensiv mit den neuesten Ergebnissen der Biophysik und Hirnforschung auseinandergesetzt und eine Ausbildung als Gestaltpsychotherapeutin gemacht.

Inzwischen arbeitet sie als Trainerin, Beraterin und Supervisorin für Einzelpersonen, Gruppen und Institutionen. Außerdem malt sie, entwirft und näht Kleider und schreibt.

Seit 2010 sind zusammen mit diesem fünf sehr unterschiedliche Bücher von ihr erschienen.

Für Miriam

Inhalt

Vorwort

Gefährlicher Zorn

Verlorenes Selbst

Nichts füllt die Leere

Rhythmus der Einsamkeit

Selbstgenügsamer Halt

Schmerzendes Selbst

Tröstliche Phantasien

Vernichtender Weg

Keine Antworten

Misslingendes Verschlingen

Angst vor dem eigenen Leuchten

Vermeidendes Verständnis

Tödliche Grenze

Keine Fragen

Lustloser Körper

Anziehende Abgründe

Ausweglose Kreise

Todesangst auf dem Seil

Bequeme Ausreden

Blutiges Meer

Bedrohliches Spiel

Sterbende Sonne

Verurteilung zum Leben

Goldenes Kind

Sichere Trennung

Eingewickelt

Zwei Seiten des Flusses

Geschlossene Türen

Tötung der Spinne

Angst vor Zerstörung

Gläserne Kraft

Sehnsucht nach Verschmelzung

Drohende Rettung

Sichtweisen

Alpträume

Erzwungener Weg

Land der Wahrheit

Böse sein

Lieb sein

Verantwortlich sein

Leugnen

Nicht denken

Verdrängen

Weggeworfen

Gespalten

Festhalten

Splitter einer grünen Flasche

Verbotene Lust

Gelbes Schneckenhaus

Geheime Bündnisse

Nie zu spät

Sinnlose Fragen

Wer bin ich schon

Nirgendwer in Nirgendwo

Verlorene Wünsche

Verweigerungen

Versuchungen

Verständnis

Abhängigkeiten

Ablehnungen

Gleichgültigkeit

Gläserne Wände

Literatur

Weitere Veröffentlichungen und Bestellhinweise

Vorwort

Dieses Buch habe ich geschrieben, weil ich geträumt habe, ich hätte es geschrieben. Leider hatte ich im Traum das Buch nur in einer französischen Ausgabe in der Hand, mit noch nicht aufgeschnittenen Seiten, so dass ich das Buch nicht aufschlagen konnte, um zu erfahren, wovon es handelt. Ich wusste im Traum nur, dass es DER ORT heißt. Beim Aufwachen dachte ich, wenn ich schon träume, dass ich ein Buch geschrieben habe, welches DER ORT heißt, dann muss ich es auch schreiben. Aber wovon handelt es? Ich wusste es nicht.

Wochen später las mir eine Freundin aus einem anderen Text von mir den folgenden Satz vor: „Wenn ich das täte, dann käme ich an den Ort, wo ich schon einmal war und da will ich nie wieder hin“, und fragte mich, welchen Ort ich denn damit meinte.

Im gleichen Moment – und der ist jetzt schon viele Jahre her – wusste ich, wovon das Buch DER ORT handelt und habe angefangen, es zu schreiben.

Es handelt von den abgespaltenen und verdrängten schmerzhaften Erfahrungen von kleinen und großen Kindern und den zerstörerischen Wirkungen des Verhaltens der Erwachsenen gegenüber diesen Kindern. Der Ort selbst ist die Leere, in die sich die traumatisierten Kinder zum Schutz zurückziehen, nur das diese Leere nicht wirklich leer und der Schutz kein Schutz ist.

2010 ist dieses Buch unter dem Titel KINDERSEELENLND – ein Vorschlag von Barbara Strohschein – im Amani-Verlag erschienen. Für diese neu überarbeitete Fassung habe ich mich jedoch entschlossen, wieder den ursprünglichen Titel DER ORT zu verwenden. Allerdings gibt es inzwischen ein anderes Buch mit diesem Titel und so nenne ich mein Buch jetzt DER VERBORGENE ORT.

In meiner langen Arbeitszeit als Hochschullehrerin und als Gestalttherapeutin haben mir viele Menschen ihre schrecklichen Kindheitserlebnisse und deren Auswirkungen auf ihr Leben erzählt, aber ich hatte leider auch viele Gelegenheiten, Studierende, Lehrende, Eltern und andere Erwachsene in ihrem gedankenlosen, missachtenden und verächtlichen Umgang mit Kindern zu beobachten, wobei ihnen ihr eigenes destruktives Verhalten meist nicht einmal bewusst war und Mitgefühl ein ihnen unbekanntes Gefühl zu sein schien.

Diese Verhaltensweisen hängen in ihrer Entstehung eng mit den Lebenserfahrungen einer Person zusammen und sind als ihr Selbstausdruck zu verstehen.

Auf der Basis verinnerlichter kultureller Überzeugungen werden sie – wenn auch immer wieder leicht verändert – von Generation zu Generation weitergegeben.

Leider führen unsere kulturellen Vorstellungen darüber, wie Menschen sind und wie Menschen miteinander umgehen, leicht zu missachtenden, verachtenden, destruktiven und aggressiven Verhaltensweisen gegenüber anderen.

So glauben wir in unserer Kultur überwiegend an eine einzige, von allen in gleicher Weise erkennbare Wirklichkeit. Sowie ein Kind etwas anderes wahrnimmt als die es umgebenden Erwachsenen, wird die Wahrnehmung des Kindes angezweifelt. Wenn es nur eine einzige gemeinsame Wirklichkeit gibt, dann kann im Zweifelsfalle nur einer recht haben. Und entsprechende Streitereien kann man tagtäglich in vielen verschiedenen Situationen beobachten.

In einer einzigen Wirklichkeit gibt es eben nur eine Wahrheit und die Welt wird aufgeteilt in richtig und falsch, in gut und böse, in schuldig und unschuldig und andere Gegensätze.

Außerdem glauben wir in unserer Kultur meistens nicht daran, dass die Verhaltensweise eines Kindes nur sein momentaner Selbstausdruck ist, stattdessen beziehen wir sein Verhalten auf uns und reagieren erfreut oder verärgert, je nachdem ob der Selbstausdruck des Kindes in unsere Erwartungswelt passt oder nicht. Für das Entstehen dieser Gefühle machen wir die Kinder verantwortlich und entwickeln Tendenzen, die Kinder dafür zu bestrafen.

Und wir gehen davon aus, dass wir die Verhaltensweisen eines Kindes steuern können und sind stolz auf uns, wenn es uns gelungen zu sein scheint, dass ein Kind uns gehorcht. Dabei übersehen wir, dass es stets die Entscheidung des Kindes ist, ob es tut, was wir erwarten oder nicht, auch wenn es nur aus Angst gehorcht. Wir wissen das Entgegenkommen der Kinder nicht zu schätzen.

Gleichzeitig schränken wir aktiv die Erfahrungsmöglichkeiten von Kindern ein und erwarten, dass sich die Kinder in die Welt der Erwachsenen einpassen.

Und vor allem favorisieren wir in unserer Kultur Täter-Opfer-Strukturierungen. Häufig gehen wir davon aus, andere Menschen hätten uns verletzt oder geärgert, wütend oder traurig gemacht, provoziert oder verunsichert, gelangweilt, beleidigt oder unterdrückt. Aber auch bei den sogenannten positiven Gefühle, wie glücklich oder angeregt sein, einen Orgasmus haben, sich amüsieren usw., werden oft die anderen als „Verursacher“ definiert.

Sowie wir beginnen, auf unseren Sprachgebrauch zu achten, wird uns bewusst, wie oft wir die anderen für unsere eigenen Prozesse verantwortlich machen. Wenn eine Person einer anderen mit ihren Worten und Handlungen die Verantwortung für die eigenen Prozesse übergibt, tut sie so, als hätte die andere Person Macht über sie. Wenn die andere Person die Zuschreibung annimmt, denkt auch sie, sie hätte die Macht, die andere Person in ihren Gefühlen, Gedanken, Entscheidungen und Handlungen zu manipulieren und damit zu kontrollieren. Macht über andere Menschen zu haben, ist eine Versuchung, anderen Menschen Macht über sich zu zuschreiben, ist eine Entlastung.

Und genau diese Entlastung leisten sich die Erwachsenen seit einer Reihe von Generationen auf Kosten der Kinder, sie stellen sich als die Opfer der Kinder dar und versuchen, den Kindern die Täterrolle zuzuschieben. Sie werden damit zu den Kindern ihrer Kinder und nehmen ihre Eltern- oder Erwachsenenrolle nicht mehr wahr.

Die Kinder wachsen sozusagen mutter- und vaterlos auf, allein gelassen mit ihren vielfältigen schmerzhaften Gefühlen darüber, wenn die Erwachsenen ihnen wieder einmal deutlich machen, dass sie in Bezug auf ihre Erwartungen versagt haben.

Für viele Erwachsene liegen diese Schmerzen, diese Gefühle von Hilflosigkeit, Wut, Hass, Verzweiflung und Trauer ebenso wie ihre Gefühle von Verlassenheit und Einsamkeit tief in ihrem Inneren verborgen, sie sind ihnen meist nicht mehr bewusst. Viele sind überzeugt, sie hätten eine schöne Kindheit gehabt. Dies ist sicher im Interesse des Überlebens der einzelnen Personen.

Das dadurch entstehende Problem aber liegt darin, dass die erwachsen gewordene Person ihren Kindern wiederum das antut, was ihr selber angetan wurde. Sie tut dies meist ohne zu ahnen, welche schmerzhaften Gefühle dabei im eigenen Kind entstehen.

So setzen sich verstörende und zerstörerische Wechselwirkungen zwischen Eltern und Kindern von einer Generation zu nächsten fort und verstärken sich dabei in ihren immer wieder unbewusst arbeitenden Wirkungen. Die unbewusst gewordenen Erfahrungen haben Einfluss auf unsere Alltagskultur und damit auf unseren Umgang mit anderen Menschen, insbesondere in Bezug auf unseren Umgang mit unseren Kindern.

Konkret bedeutet dies, dass wir nicht nur unsere eigenen Entscheidungen und Handlungen, sondern auch unsere Interaktionen mit anderen immer wieder so strukturieren, als sei unser Gegenüber ein Täter und wir sein Opfer oder umgekehrt. Wir nehmen an, sie würden uns ärgern und verletzen, sie würden uns beleidigen oder verunsichern. Wir fühlen uns von den anderen kontrolliert, diffamiert, gedemütigt, an die Wand gedrückt, übergangen oder im Stich gelassen und wir gehen mit dem jeweiligen Gegenüber dann entweder aggressiv um oder ziehen uns zurück.

Dementsprechend bewegen wir uns zwischen angreifen, rechtfertigen, verteidigen und zurückziehen hin und her. Damit glauben wir der vermeintlichen Unterwerfung durch andere zu entgehen oder Macht über sie zu gewinnen.

Unbewusst wollen wir unsere eigenen Verdrängungen behalten und dann dürfen wir auch durch die Lebendigkeit unserer Kinder nicht an unsere schmerzhaften Erfahrungen erinnert werden. Das bedeutet, wir müssen versuchen, uns die Kontrolle über die Lebendigkeit und Autonomie der Kinder durch ihre Unterwerfung zu sichern.

Wir wiederholen damit immer wieder die Vermeidung unserer kindlichen schmerzhaften Erfahrungen, ohne zu ahnen, dass wir unseren Kindern dadurch genau das zufügen, unter dem wir selbst so gelitten haben.

Unterstützt werden solche Prozesse der Vermeidung, Leugnung und Verdrängung durch die in unserer Kultur verbreiteten Vorstellungen, man könne, wenn man nur gut genug sei und genug wisse, nicht nur mechanische, sondern auch lebendige Prozesse kontrollieren. Eine Mutter, deren Kind abends endlich im Bett bleibt, denkt, sie habe das durch ihr geschicktes Verhalten geschafft; ein Lehrer, dessen Klasse endlich ruhig ist, glaubt, er selbst habe die Kinder dazu gebracht; ein Vater wird wütend und bestrafend, weil er annimmt, sein Sohn habe ihn so provoziert und er müsse dem durch Strafen ein Ende setzen usw.

Wir reden auch mit unseren Kindern so, als hätten sie die Verantwortung für unsere Gefühle und unseren Gesundheitszustand: „Du machst mich ganz nervös“, „ Du machst mich noch krank“, „Du brichst mir das Herz“ oder „Du könntest mich so glücklich machen“.

Wir reagieren gereizt, wenn unsere Kinder nicht unsere Gedanken lesen und nicht unsere Erwartungen und Wünsche erraten, sondern ihren eigenen Interessen nachgehen: „Kannst du nicht mal von allein auf die Idee kommen, mir zu helfen?“, „Alles muss man dir sagen!“ Wir werfen ihnen vor, dass sie unser Verhalten und unsere Entscheidungen bestimmen: „Deinetwegen komme ich immer zu spät“, „Wegen dir ist Papa jetzt böse“, „Du hast uns das ganze Wochenende verdorben!“

Wir sichern uns oft den passiven Teil an den Interaktionen mit unseren Kindern: „Du zwingst mich doch dazu, solche Maßnahmen zu ergreifen“, „Was soll ich bloß mit dir machen“, „Immer musst du dich durchsetzen!“

Jedes Mal, wenn solche Sätze fallen, signalisieren die Eltern ihren Kindern, dass sie sich als Opfer ihrer Kinder empfinden und ihren Kindern die Verantwortung für die eigenen Empfindungen, Gefühle, Gedanken, Wünsche, Handlungsimpulse und Entscheidungen übergeben. Die Kinder werden damit, wie schon gesagt, in eine Täterrolle geschoben und erleben sich als unzureichend, als ungeliebt, als böse, als schuldig oder als generell überfordert.

Die Inhalte der Botschaften können variieren und von den Kindern als sehr freundlich oder als sehr aggressiv empfunden werden, die strukturelle Botschaft aber bleibt gleich: Vater/Mutter sind die Opfer des Kindes. Damit werden die Eltern ihrer Rolle als Mutter und als Vater nicht mehr gerecht, stattdessen geraten die Kinder in die Elternpositionen und die Eltern verhalten sich wie deren Kinder. Man kann sich vorstellen, dass dies erhebliche Wirkungen auf die betroffenen Kinder hat.

Noch zerstörerischer für ein Kind ist jedoch, wenn eine Bezugsperson das Kind benutzt, um aktiv seine eigenen Verdrängungen aufrechtzuerhalten. Jede Regung des Kindes wird dann so interpretiert, dass sich der Erwachsene nicht zu erinnern braucht, ohne Rücksicht darauf, was das Kind gefühlt, gedacht oder gewollt hat. Die Persönlichkeit des Kindes, seine Sehnsüchte, Hoffnungen und Wünsche, aber auch seine Worte und Handlungen werden entweder gar nicht wahrgenommen oder zugunsten der Schutz- und Abwehrmechanismen des Erwachsenen interpretiert.

Solche Mystifizierungen sind in unserem Alltag weit verbreitet.

Schon allein, wenn wir einem Kind, welches hingefallen ist und weint, sagen, es wäre doch alles nicht so schlimm, es würde doch gar nicht so weh tun, mystifizieren wir das Kind, um unsere eigene Hilflosigkeit nicht zu spüren.

Auch wenn wir unsere Phantasien darüber, was eine andere Person denkt, fühlt oder will, für wahr halten und unser eigenes Verhalten darauf aufbauen, respektieren wir die Andersartigkeit der anderen Person nicht. Kinder sind in viel stärkerem Maße als Erwachsene darauf angewiesen, in ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit und damit in auch ihrer Andersartigkeit akzeptiert zu werden.

Ergebnisse der Hirnforschung weisen nun darauf hin, dass wir die inneren Zustände anderer Menschen, ihre Empfindungen, Gefühle und Gedanken nicht erkennen können. Wir können immer nur von unseren eigenen Erfahrungen ausgehen. Das bedeutet, dass wir zwar mit Hilfe der Simulationen unserer Spiegelneuronen raten können, was ein Kind fühlt oder denkt, aber wir können es nicht wissen. Wenn wir etwas von den Kindern wissen wollen, müssen wir die Kinder fragen, andere Möglichkeiten scheint es nicht zu geben.

Vieles ist darüber gearbeitet worden und lässt sich an anderer Stelle nachlesen. Hier will ich nur darauf hinweisen, dass es heute wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass sich lebendige Wesen – als selbstorganisierende Systeme – nicht von außen gezielt beeinflussen oder kontrollieren lassen. In diesem Sinne lebt jedes Lebewesen in seiner von ihm selbst immer wieder neu gestalteten Wirklichkeit, die von außen nicht gezielt beeinflussbar ist.

Menschen haben – als sozial lebende Wesen – besondere für sie existentiell wichtige Wünsche aneinander. Die Erfüllung dieser existentiellen Wünsche, wie „dazuzugehören“, „wahrgenommen und geachtet zu werden“, „wichtig zu sein und eine Bedeutung zu haben“, „eine Wirkung zu erzielen und beim anderen eine Spur zu hinterlassen“ und „in der eigenen Besonderheit wertgeschätzt zu werden“, bedingt die Qualität der sozialen Beziehungen. Die Nichterfüllung dieser existentiellen Wünsche wird als schmerzhaft erlebt, man fühlt sich verletzt und wird dann oft auch wütend.

Aber es ist schwierig, die existentiellen Wünsche eines anderen zu erfüllen, wenn die Sehnsucht, die eigenen Wünsche erfüllt zu bekommen, so groß ist und man sich selbst so verletzt und bedürftig fühlt.

Und leider sind die Erwachsenen jeder Generation selbst auf vielfältige Weise verletzte und gekränkte Wesen, einfach dadurch, dass sie in eine Kultur, in der Herrschaftsansprüche und Kontrollillusionen favorisiert werden, hineingeboren wurden.

Auf sehr unterschiedliche Weise haben viele Erwachsene daher in ihrer Kindheit sehr gelitten und aus Selbstschutz ihr Leiden abgespalten, geleugnet oder verdrängt.

Jedes Erinnern aber tut weh und die Kinder mit ihrer Lebendigkeit und mit ihren Wünschen, sich ihre Welt anzueignen und zu gestalten, gefährden – wie gesagt – die Verdrängungen der Erwachsenen. Daher kämpfen wir gegen unsere Kinder mit dem uns nicht bewussten Ziel, unsere eigenen Verdrängungen aufrechtzuerhalten.

Aber wir kämpfen immer dann auch gegen uns selbst, wenn schmerzhafte Erinnerungen drohen, bewusst zu werden und verhindern damit unsere Heilungsprozesse.

Mit diesem Buch möchte ich versuchen, den Prozess des Erinnerns zu erleichtern, damit wir nicht unbewusst immer wieder das mit anderen wiederholen, was wir selbst so schmerzhaft erlebt haben. Ich hoffe, dass dadurch Menschen mehr Verständnis für ein ihnen vielleicht sonderbar vorkommendes Verhalten entwickeln und begreifen, dass jeder Mensch anders als jeder andere ist und für sein eigenes Fühlen, Denken und Handeln stets für ihn bedeutsame Gründe hat.

Ich möchte auch, dass Menschen, die mit anderen Menschen arbeiten, mit Hilfe dieses Buches Einblicke in die sie vielleicht verstörenden inneren Prozesse ihrer Klienten gewinnen können, um ihre eigenen Vorstellungen über menschliche Möglichkeiten von Gedanken- und Gefühlswelten zu bereichern.

Solange wir für uns jedoch den Weg der Aufrechterhaltung unserer eigenen Verdrängungen wählen und den Glauben an die eigene Macht oder Ohnmacht nicht aufgeben wollen und solange uns die vermeintliche Kontrolle über uns selbst und andere wichtiger ist als alles andere, solange werden wir Erwachsenen unsere Kinder wieder und wieder opfern.

Erst wenn wir uns erinnern und beginnen, sowohl unsere eigene Bedürftigkeit ernst zu nehmen als auch die der anderen Menschen und bereit sind, die Akzeptanz und Liebe, die wir uns von anderen wünschen, anderen zu geben, haben wir und die Kinder der nächsten Generationen eine Chance.

Gefährlicher Zorn

„Ich weiß, sie wird an den Ort kommen“, sagte die Hexe zum Raben, traurig und wütend zugleich, „sie will mit der Welt und sich selbst nichts mehr zu tun haben.“

„Sie träumt“, sagte der Rabe, „und vielleicht begreift sie, was sie sich antut, wenn sie aus Angst das hergibt, was sie zum Handeln braucht.“

„Sie wird es nicht begreifen. Mitleid und Ekel waren noch nie ein guter Boden für Erkenntnis“, sagte die Hexe, „aber ich will mit dir zusammen hoffen. Was träumt sie denn?“

„Sie träumt den Traum vom Prinzen, der seinen Zorn verschenkte“, sagte der Rabe.

„Das kann doch nicht gut enden“, sagte die Hexe.

„Warte es ab“, sagte der Rabe. Aber die Hexe funkelte ihn nur böse an.

Ich stehe mitten in der Sonne. Es ist sehr heiß. Ich sehe mich um. Kleine Hütten aus Lehm lehnen sich an eine hohe Mauer. Dahinter ist eine große Burg, auch aus Lehm, mit sehr kleinen Fenstern und hohen Türmen zu sehen. Es ist staubig, und der gelbe Boden, auf dem ich stehe, scheint das Licht um mich herum noch gelber zu machen. Nur ein alter Mann ist zu sehen. Er sitzt neben dem Tor an der Mauer. Es wird immer heißer. Ich denke, es ist einer der Tage, die nicht zu Ende zu gehen scheinen, weil keinerlei Bewegung den Fortgang der Zeit mehr anzeigt. Der Mann sitzt auch unbeweglich da. Ich blicke ihn an und weiß, er will, dass ich näher komme. Ich gehe auf ihn zu und erschrecke mich. Große schwarzgrüne Fliegen kriechen über ihn hinweg. Sie sitzen selbst auf seinen Augäpfeln. Ich finde den Anblick entsetzlich und ekelhaft.

„Warum jagst du die Fliegen nicht fort?“, frage ich den alten Mann. „Wozu?“, fragt dieser zurück. „Stören sie Dich denn nicht?“, frage ich. „Nein“, antwortet der alte Mann, „mich stört oder ärgert gar nichts mehr. Sieh mich an, ein Bündel Lumpen bin ich geworden, älter, als ich zu sein brauche, ohne Willen und ohne Widerstand. Kinder verhöhnen mich und Erwachsene werfen mit Steinen nach mir, und alles muss ich mir gefallen lassen.“ „Ich verstehe das nicht“, sage ich, „wirst du denn nicht zornig?“ Und dabei fällt mir mein eigener ungeheurer Zorn ein, den ich oft meinem Vater und meiner Mutter gegenüber fühle und vor dem ich Angst habe. Ich wundere mich, dass mir das in diesem Moment einfällt. „Ich habe meinen Zorn irgendwie verloren“, sagt der Alte zu mir, „und ich wünschte mir, jemand würde mir seinen schenken.“ Dabei sieht mich der Alte ganz merkwürdig an. „Für manche Menschen“, fährt er fort, „ist Zorn sehr gefährlich.

Er kann so groß werden, dass sie damit das Liebste, was sie haben, töten“, und dabei sieht er mich wieder so an, als würde er diese Worte nur für mich sagen. Wir sehen uns schweigend an, und es ist, als würde ich mit mir selber kämpfen.

Plötzlich sagt der Alte: „Willst du mir nicht deinen Zorn schenken? Du wirst der Herrscher dieses Landes sein, Zorn ist für dich nur gefährlich. Nicht du brauchst ihn, deine Untertanen brauchen ihn, und ich habe von allen deinen Untertanen am wenigsten davon. Ich brauche es, zornig sein zu können, um zu überleben. Ohne eigenen Zorn kann mich jede Fliege quälen, wie du siehst. Du aber brauchst nur zu befehlen. Gib mir deinen Zorn, du weißt selbst, wie zerstörerisch und gefährlich er ist. Für dich und für die Menschen, die du liebst. Es wäre besser, du wärest ohne ihn.“

Ich wundere mich über das, was der Alte sagt, und gleichzeitig gebe ich ihm recht.

Ich erinnere mich. Auch heute am frühen Morgen habe ich vor meinem Vater gestanden und nur denken können: „Ich bringe ihn um, ich bringe ihn um.“ Und wie oft habe ich mir schon gewünscht, meine Mutter wäre tot.

Ich sehe den alten Mann an. Die Fliegen kriechen auf seinem Gesicht herum. Zwei Fliegen paaren sich an seinem linken Mundwinkel, und ich ekele mich über das, was ich da sehe. Ich kann es nicht mehr ertragen. Und ich sage zu dem alten Mann: „Ich schenke dir meinen Zorn“.

In diesem Moment verwandelt sich alles um mich herum in eine graue Düsternis. Ich höre ein noch höhnisches Gelächter, es ist der Alte, der so lacht, und dann werde ich gleichgültig, entsetzlich gleichgültig. Ich merke kaum, dass Hände mich anfassen, aufheben und wegtragen.

Plötzlich sitze ich an einem Fenster in einem großen, kostbar eingerichteten Raum. Ich bin viel älter. Ich weiß, ich bin König. Mein Vater ist gestorben, meine Mutter in ein Kloster gegangen. Ich weiß auch, die Menschen in meinem Land leben in Armut und Unfreiheit und erwarten von mir, dass ich anfange zu handeln, statt alles den Beratern meiner Eltern zu überlassen, die mich bisher erfolgreich immer wieder lächerlich gemacht, mich entrechtet und gedemütigt haben. Aber ich sitze da und betrachte mein Bild im Fenster. Gleichgültig sehe ich die Schattierungen von grau, die mich umgeben, obwohl die Sonne scheint und der Himmel blau ist. Ich bin dumpf und stumpf, denke ich und beschäftige mich eine Zeitlang damit, ob dumpf und stumpf mit f oder mit pf geschrieben werden, obwohl ich es genau weiß. Ich will aufstehen, ich muss irgendetwas tun. Aber ich weiß, ich kann es nicht. Meine Arme sind schwer, ich kann sie nicht anheben. Selbst meine Augenlider erscheinen mir wie dicke Fleischlappen, über die ich keine Kontrolle habe.

Ich atme kaum. Ich spüre nur eine innere Unruhe, die mir zeigt, dass mein Körper noch zu mir gehört. „Ich sitze mit dem Rücken zur Welt“, sage ich zu mir, und während ich diesem Gedanken noch verloren nachhänge, geschieht etwas, das mich erschreckt. Mein Rücken teilt sich längs meiner Wirbelsäule, ein langer heller Spalt entsteht, und aus dieser Spalte heraus kommt ein leuchtender Nebel, der sich langsam verdichtet. Ich habe den Eindruck, ich könne sehen, was sich aus dem Nebel herausbildet. Ich sehe eine Sonne entstehen, und während sie sich von mir entfernt, bilden sich Planeten. Sie beginnen mit der gleichen langsamen Bewegung, mit der der Nebel aus meinem Rücken fließt, sich um die immer kleiner werdende Sonne zu drehen. Einer der Planeten ist die Erde. Ich erkenne sie an der Form ihrer Kontinente, die vage durch die weißen Wolken schimmern. Je länger ich hinsehe, desto deutlicher kann ich alles erkennen.

Ich sehe Berge und Flüsse, Bäume und Sträucher, bis ich sogar Tiere und Menschen erkennen kann. Menschen, die miteinander sprechen, lachen und sich streiten, die sich begegnen und wieder auseinandergehen. Eine solche Fülle von Bildern alltäglicher Situationen entsteht aus dem hellen Nebel, der immer weiter aus meinem Rücken dringt, dass mir jetzt schmerzlich bewusst wird, nur ich sitze mit dem Rücken zu diesem lebendigen Geschehen.

Meine Augen wandern in den grauschwarzen Schattierungen des Raumes und des Fensters umher. Auch im spiegelnden Glas des Fensters kann ich nichts davon erkennen, was für mich ganz deutlich spürbar und sichtbar aus meinem Rücken herausfließt und sich ohne mich lebt. Ich versuche, mich umzudrehen, aber ich merke, dass mein Körper mir nicht gehorcht. Allmählich verblasst das Leben, das aus meinem Rücken herausfließt. Ich sehe diese lebendigen Bilder nicht mehr, und ringsherum ist wieder nur das schwarzgraue Belanglose.

Ich sitze allein in diesem Zimmer und habe das Gefühl zu schrumpfen. Meine Augen ziehen sich immer mehr in das Innere meines Kopfes, wie auf einen gemeinsamen Punkt, zurück. Mir scheint, mein unvermeidlicher Tod steht mir unmittelbar bevor. Die Angst, die ich fühle, wird immer größer und immer unerträglicher und verwandelt sich schließlich in eine unendliche, graue Gleichgültigkeit, die sich langsam in mir ausbreitet.

Ich erinnere mich an das bunte und vielfältige Leben, welches sich aus dem hellen Nebel meiner gespaltenen Wirbelsäule entwickelte und von dem ich mich so ausgeschlossen fühlte. Ich war doch fast ein Schöpfer, zumindest eine Quelle des Lebens. Ich weine, ohne zu spüren, dass ich traurig bin.

Warum habe ich dem alten Mann meinen Zorn geschenkt. Ich weiß nur noch, dass ich seine Bewegungslosigkeit und sein Hinnehmen der grünschwarzen Fliegen nicht mehr ertragen habe. Und jetzt, denke ich, bin ich genau wie er. Die Menschen des ganzen Landes haben unter den bösartigen Ratgebern meines Vaters zu leiden, und ich tue nichts dagegen. Stattdessen sitze ich bewegungslos in meinen Gemächern und starre in ein graues Schwarz oder schwarzes Grau, was gar nicht da ist. Ich sollte irgendetwas tun, denke ich.

Warum kommt eigentlich niemand, frage ich mich und denke zugleich, es ist ja auch noch nie jemand zu mir gekommen. Plötzlich glaube ich, mich zu erinnern, weshalb ich meinen Zorn verschenkte. Er war mir zu groß und zu vergeblich erschienen. Ich war ja fast erleichtert, ihn loswerden zu können. Nur, warum war mir mein Zorn so gewaltig, so gefährlich und so vergeblich erschienen. Das weiß ich nicht mehr.

Ich stehe auf und gehe zu der rotseidenen Klingelschnur, die neben meinem Bett hängt, und läute. Und als einer der Diener kommt, gebe ich ihm den Auftrag, die weisesten Männer meines Landes ins Schloss rufen zu lassen, weil ich eine Frage an sie habe.

Wieder wechselt die Szene, und ich denke, ich träume. Offensichtlich geht der Traum weiter, denn jetzt befinde ich mich in einem riesigen Saal, in dem sich eine Unmenge sehr unterschiedlich gekleideter alter Männer versammelt hat. Ich sitze auf einem erhöhten Thronsessel, und die alten Männer sehen mich ehrerbietig an. Ich frage sie: „Woher kann es kommen, dass ein Mensch seinen Zorn als so groß und so vergeblich erlebt, dass er ihn am liebsten hergeben möchte oder es sogar tut?“ Ich sehe, wie die alten Männer erst erstaunt sind über die Frage und dann beginnen, darüber nachzudenken. Einige bleiben auf dem Platz sitzen, einige stehen auf und wandern hin und her, gehen zu den Fenstern und werfen Blicke hinaus. Manche fangen an, mit anderen zu reden, und ich sehe, wie heftig sie gestikulieren, sich teilweise sogar anschreien, ohne viel davon zu hören.

Dann kommt einer auf mich zu. Er ist wohl der Älteste von allen, und drei etwas jüngere gehen mit großem Respekt ein paar Schritte hinter ihm her. Der älteste sagt zu mir: „Verehrter Herrscher, es gibt viele Möglichkeiten, die dazu führen, dass ein Mensch seinen Zorn für zu groß und zu vergeblich hält, so dass er ihn hergeben möchte. Sage nun, Prinz, ob es sich bei diesem Menschen um einen Mann oder um eine Frau handelt, denn wir glauben, dass dieses einen großen Unterschied macht.“

Ich bin verwundert, denn obwohl ich in diesem Traum ein Mann bin, habe ich keinen großen Unterschied festgestellt, was mein Fühlen anbetrifft und mein Denken. Ich überlege, und dann sage ich, sie sollen es sowohl für eine Frau als auch für einen Mann herausfinden.

Und jetzt kann ich wieder beobachten, wie die weisen Männer miteinander beraten. Anscheinend strengen sie sich ganz gewaltig dabei an, denn kaum bringen die Diener riesige Platten mit Essen und große Krüge mit Wein und Säften, ist alles schon wieder aufgegessen und ausgetrunken.

Schließlich werde ich ungeduldig und sage ihnen, ich möchte jetzt ihre Ergebnisse hören. Wieder kommt der Älteste der Weisen auf mich zu und bittet um die Erlaubnis, sprechen zu dürfen. Ich nicke, und er beginnt mit den Worten, „Gnädigster aller Herrscher, verzeiht uns, aber wir haben uns nicht einigen können. Wenn Du gestattest, werden wir Dir nacheinander unsere Ansichten mitteilen. Wir haben beschlossen, der Älteste solle beginnen und der Jüngste enden. Und daher bitte ich um Deine Erlaubnis, anfangen zu dürfen.“

Ich nicke wieder, wundere mich insgeheim über die Sprechweise des Alten, beruhige mich aber damit, dass ich ja träume und höre zu. Und der Alte beginnt: „Es steht geschrieben, der Mensch solle sich die Erde untertan machen, und so erweckt Ungehorsam im Manne den größten Zorn. Und auch Gott, der ein Mann ist, wurde zornig, als Adam und Eva ihm gegenüber ungehorsam waren, und er vertrieb sie aus dem Paradiese.

Daher wird einem Manne, der keinen Gehorsam findet, sein Zorn allmählich immer gewaltiger und immer größer und schließlich, wenn ihm immer noch niemand gehorcht, auch vergeblich erscheinen. Eine Frau dagegen soll, so steht es geschrieben, dem Manne untertan sein. Daher wird ihr Zorn umso größer, je länger sie niemanden findet, dem sie untertan sein kann, bis auch ihr schließlich ihr Zorn als vergeblich erscheint.

Somit ist also das unbefriedigte Verlangen nach Gehorsam beim Mann und das unbefriedigte Verlangen nach Unterwerfung bei der Frau die Quelle des Zornes.“

Ich schweige und weiß nicht, was ich dazu denken soll. Darauf erhebt sich der Zweitälteste und beginnt zu sprechen: „Erhabenster Herrscher, die Erfahrung kriegerischer Auseinandersetzung zeigt, dass allein das unbefriedigte Verlangen nach Anerkennung der eigenen Stärke und Überlegenheit den größten Zorn im Manne erregt, und auch dieser Zorn kann, wenn ein Mann oder ein ganzes Volk in der Auseinandersetzung um diese Anerkennung unterliegt und verliert, in der Vergeblichkeit enden.

In einer Frau dagegen weckt es den größten Zorn, wenn der von ihr gewählte Mann nicht stärker ist als sie und andere und wenn er ihr und anderen nicht überlegen ist und wenn sie niemanden findet, der stärker ist als sie und ihr überlegen, dann wird ihr Zorn ihr, je älter sie wird und ihre Schönheit schwinden sieht, allmählich vergeblich erscheinen“

Auch hier schweige ich und denke, was für merkwürdige Begründungen, und darauf erhebt sich der Dritte und spricht: „Großer König, Gehorsam und die Anerkennung von Überlegenheit bedingen einander. Wieso sollte ich jemandem gehorchen, von dem ich weiß, dass er mich nicht zwingen kann, und wenn er mich zwingen kann, wäre Einsicht in das Unvermeidliche und nicht Zorn das, was als vernünftig und angemessen betrachtet werden kann.

Und der Mensch, Mann wie Frau, ist ein vernünftiges Wesen. Nichts erregt den Zorn eines Mannes mehr, als das Handeln eines anderen wider die Vernunft. So geht das Streben des Mannes dahin, der Vernunft zum Sieg zu verhelfen, und lebt er in Zeiten der Unvernunft, so wird sein Zorn darüber vielleicht vergeblich sein. Die Vernunft, so steht es geschrieben, ist wie die Natur des Weibes, sie kann nur geben, nachdem sie empfangen hat. Daher wird ein Weib zornig, wenn der Mann sie nur mit seinem Samen, aber nicht auch mit seiner Vernunft befruchtet, da er ihr dadurch die Erfüllung eines vernünftigen Lebens verweigert und sie den natürlichen Zweck ihres Daseins, der Vernunft des Mannes zu dienen, nicht erfüllen kann.“

Ich schweige weiter, und allmählich kommt mir die Frage, ob diese weisen Männer wohl auch so reden würden, wenn sie wüssten, dass ich eine Frau bin, die nur in diesem Traum als Prinz auftaucht. Aber ich gehe der Frage nicht weiter nach, weil sich schon der nächste erhebt und sagt: „Gütigster aller Könige, es geht nicht um Gehorsam, Überlegenheit oder Vernunft. Der Angriff auf die Ehre eines Mannes ist das, was seinen größten Zorn hervorruft, und ein ehrlos gewordener Mann wird seinen Zorn als vergeblich erkennen. Eine Frau hat nur ihren Ruf zu verlieren, und es gereicht ihr zur Ehre, über einen Angriff auf ihren Ruf zornig zu werden. Und hat sie ihren Ruf verloren, so wird auch ihr Zorn darüber vergeblich sein.“

Ich schweige immer noch, und deshalb spricht auch gleich der nächste weiter: „König der Weisen, im Kampf um die Wahrheit entsteht der größte Zorn. Der Mann wird zornig, wenn er die Wahrheit nicht vertreten kann. Die Frau, wenn man ihr eine Lüge nachweist.“

Und ich schweige, und einer der weisen Männer nach dem anderen erhebt sich und redet. Sie reden von gebrochenen Versprechen, von verletzten Prinzipien, von missbrauchter Moral, von Freiheit und Sklaverei, von unerwiderter Liebe und Eifersucht.

Und jedesmal stelle ich verwundert fest, dass es in den Köpfen dieser Männer große Unterschiede zwischen Mann und Frau gibt. Sie sagen, ein Mann brauche Freiheit wie das liebe Leben, eine Frau fühle sich dadurch nur bedroht.

Ein Mann würde sein Leben auf Grundsätzen aufbauen wie ein Haus auf Felsen. Eine Frau würde stets versuchen, sie zu zerstören und zornig, wenn es ihr nicht gelänge, während der Mann schon zornig würde, wenn man ihre Festigkeit bezweifelte. Ein Mann würde zornig, wenn man ihm Grenzen setzte, eine Frau genau dann, wenn es niemanden gibt, der sie begrenzt.

Ein Mann würde zornig, wenn andere Männer seine Frau begehrten, eine Frau, wenn ihr Mann von keiner anderen Frau gewollt wird.

Ich höre mir die Argumente an. Es gibt heftige Streitereien zwischen den weisen Männern, was wohl die Wahrheit sei.

Und während ich mir das so anhöre, scheint mir, als ob Männer auf der Suche nach der Wahrheit in den heftigsten Zorn geraten.

Ich fühle mich von den Aussagen der weisen Männer ziemlich unberührt, und ich bin überrascht über mich selbst, als ich mich erhebe und sage: „Weise Männer meines Reiches, ich habe gehört, was Ihr zu sagen hattet. Nun will ich hören, was die weisen Frauen meines Landes zu meiner Frage sagen werden.“

Wäre ich nicht der Prinz, ihr erhabener Herrscher, wäre ein Sturm der Entrüstung losgegangen. So aber erhebt sich nur der Älteste, verneigt sich und sagt: „Erhabener Prinz, ich bedaure, Euch enttäuschen zu müssen, aber weise Frauen gibt es in Deinem Lande nicht.“

„Und wieso nicht?“, frage ich.

„Es hat sie noch nie gegeben“, sagt der Alte, „die einzigen, die es gibt, sind Hexen. Sie sind nicht weise, sondern böse und gefährlich, und deswegen warne ich Euch vor ihnen.“

Ich frage, wo ich eine Hexe finden könnte. Sie sagen, sie wüssten es nicht, denn die Hexen würden sich vor ihnen verbergen. Hexen wüssten genau, dass sie verfolgt, gefangen und verbrannt würden.

Ich schweige. Irgendwie erscheint mir alles sinnlos. Alles, was die weisen Männer gesagt haben, kommt mir so bekannt vor und gleichzeitig so falsch.

Auf einmal stehe ich wieder allein in meinem Raum vor dem großen Fenster und blicke in den Park. Draußen ist es dunkel, ich kann kaum etwas erkennen. Dafür sehe ich mich selbst in dem spiegelnden Glas. Die Fenster gehen bis auf den Boden, und im unteren Teil ist ein schmiedeeisernes Gitter angebracht. So kann ich mich vollständig sehen. Ich sehe bleich aus, und ich erkenne mich nicht.

Mein Spiegelbild sieht mich kalt und verächtlich an. Es wird immer deutlicher und tritt plötzlich durch das Glas hindurch in mein Zimmer. Ich bin kaum erschrocken. Wir mustern uns stumm. Schließlich sagt das Spiegelbild: „Einer von uns beiden muss gehen; und da du sowieso schon fast verschwunden bist, gehst du.“

Ich fühle mich erleichtert. Ohne ein Wort zu sagen, drehe ich mich um und gehe. Niemand scheint mich zu sehen, während ich durch die Gänge und Treppen zu dem großen Tor gehe, an dem ich vor so langer Zeit den alten Mann getroffen habe.

Ich gehe hinaus und lasse alles zurück. Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Ich gehe einfach die Wege, die mir unter die Füße kommen.

Ich gehe die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag und wieder die ganze Nacht wie in Trance. Es ist sehr heiß, und meine Füße müssten mir weh tun, ich müsste Hunger und Durst haben, aber ich spüre nichts. Ich gehe und gehe, bis mir schwarz vor Augen wird und ich ohnmächtig werde.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Rücken in einer steinigen, hügeligen Landschaft und höre eine Stimme unter mir. Sie sagt: „Merkst du eigentlich nicht, wie sehr du uns belastest?“

Ich setze mich auf und drehe mich um, um zu sehen, woher die Stimme kommt. Die Steine, auf denen ich lag, haben alle Gesichter und kleine Stummelarme mit Händen, die anklagend auf mich weisen. Ich erhebe mich, um weiterzugehen, da höre ich die Grasbüschel zwischen den Steinen am Wegesrand schreien: „Zu uns brauchst du gar nicht erst zu kommen, du machst sowieso alles kaputt.“

Irgendwie kommen mir die Sätze bekannt vor.

Ich gehe vorsichtig zwischen den Steinen und den Gräsern auf die großen Bäume zu, die ich in einiger Entfernung stehen sehe, und dabei höre ich von überall her Stimmen. Die Blumen flüstern mir zu: „Geh weg, du riechst, du verdeckst unseren Duft.“ Und die Schmetterlinge, Bienen und die anderen Insekten werfen mir vor, dass ich sie erschrecke, dass ich sie vernichte und dass ich ihnen ihre Lebensgrundlage, die Blüten, zerstöre. „Wo du lang gehst, da wächst kein Gras mehr“, sagt eine der Stimmen. Und eine andere: „Du nimmst wirklich auf nichts Rücksicht.“ „Du kannst einem wirklich alles verderben“ höre ich und wieder „Du machst aber auch alles kaputt“. Diese Vorwürfe habe ich schon oft gehört, aber ich weiß nicht mehr, wann oder von wem.

Als ich schließlich bei den großen Bäumen ankomme und mich in ihrem Schatten ausruhen will, hören die Vögel in den Zweigen auf zu singen: „Wir singen nicht für dich. Unser Lied wird traurig, wenn du uns zuhörst.“

Der Jasminstrauch, der am Rand der großen Bäume wächst, klagt: „Meine Schönheit schwindet, wenn du mich ansiehst.“

Und dann höre ich die großen Bäume zu mir sprechen: „Unser Schatten ist nicht für dich. Er wird schwül und drückend, wenn du dich in ihm aufhältst. Geh weg.“

Der kleine Hase, der plötzlich neben mir sitzt, meint: „Warum nimmst du nicht deine Füße in deine Hände und rennst weg. Was willst du hier? Alles ist dir hier feindselig. Wenn du so mutig wärest wie ich, wärest du schon lange verschwunden.“

Ich wende mich ab und flüchte aus dem Schatten der großen Bäume. Ich renne und renne, während mich die vielen Stimmen ununterbrochen darauf aufmerksam machen, dass ich alles andere als willkommen bin. Ich halte erst inne, als ich die Schwingungen, welche die Stimmen in meinem Körper erzeugen, nicht mehr ertragen kann. Ich stehe still, und alle Stimmen scheinen sich zu einer einzigen zu vereinigen. Sie sagt mit einem tiefen Dröhnen zu mir: „Gehe mir aus meinem Licht und gehe in den Schatten.“ Es ist die Sonne, die zu mir spricht. Mit Widerspruch in der Stimme und voll Trotz sage ich: „Ich komme aus dem Schatten, und auch da will mich niemand haben. Wo soll ich denn noch hin?“

Und die Sonne antwortet mir: „Hier ist kein Platz für dich, denn dies ist deine Welt.“

Ich erstarre. Ich kann das nicht begreifen, was sie mir mit diesen Worten sagen will.

„Wieso ist in einer Welt, die meine ist, kein Platz für mich?“, frage ich.

„Weil du sie so geschaffen hast“, ist die Antwort.

Ich verstehe nicht, was mir da gesagt wird. Wieso ist in einer Welt, die ich geschaffen haben soll, kein Platz für mich, frage ich mich laut, ohne eine Antwort zu erwarten. Ich wundere mich aber trotzdem kaum, dass die Sonne zu mir sagt: „Weil du deinen Zorn verschenkt hast.“

„Ich habe doch nur dem alten Mann helfen wollen“, rechtfertige ich mich.

„Nein“, sagt die Stimme, „du hast dir selbst helfen wollen.“

„Ich verstehe dich nicht“, sage ich zu ihr.

„Du wirst mich noch verstehen“, ist die Antwort.

„Was soll ich denn bloß tun?“, frage ich.

„Finde mich“, sagt die Sonne, überschüttet mich noch einmal mit ihren unerträglich heißen, blendenden Strahlen und verschwindet dann hinter dem Horizont. Da sehe ich auf einmal den Mond am Himmel stehen.

„Du wirst sicher auch gleich etwas zu mir sagen“, denke ich, aber der Mond schweigt.

„Warum sagst du nichts zu mir. Etwa, dass du gleich zum Neumond wirst, bloß weil ich dich ansehe, oder so was Ähnliches.“

Der Mond schweigt weiter.

„Vielleicht willst du mir vorwerfen, dass du in meiner Gegenwart nicht sprechen kannst“, sage ich zu ihm.

Der Mond schweigt.

„Wahrscheinlich willst du auch, dass ich verschwinde“, schreie ich.

„Ich bin nur der Widerschein deiner Welt“, sagt der Mond plötzlich, „und diese deine Welt bleibt, ob du da bist oder verschwindest, denn da sie so beschaffen ist, dass für dich kein Platz in ihr ist, kann sie auch existieren ohne dich. Meinetwegen kannst du bleiben oder verschwinden, für mich ändert sich nichts. Ich spiegele deine Existenz genauso wie deine Nichtexistenz, denn du hast die Sonne in deinem Universum gelassen und damit meine Existenz gesichert. Nur für dich hast du nicht gut gesorgt.“ Und dann schweigt der Mond.

Stattdessen fangen die Stimmen wieder an. Eine klagt mich an, ich würde sie unglücklich machen.

Eine sagt, ich sei zu schwer, eine andere, ich sei zu leicht.

Ich sei zu dick, ich sei zu dumm, ich sei zu viel, ich sei zu wenig.

Ich schweige. Ich fühle mich gelähmt, ohnmächtig und leer. Ich spüre, wie das Leben aus mir herausrinnt wie kalter Schweiß.

Da versinkt auch der Mond hinter dem Horizont. Es wird dunkel um mich.

Ich sage mir, ich muss aufwachen, ICH MUSS AUFWACHEN.

Aber ich weiß nicht mehr, wohin ich aufwachen will. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

Etwas ist geschehen, etwas, das nicht geschehen sein kann. Ich weiß es nicht mehr, ich kann es ja auch nicht wissen, weil es nicht wahr ist. Es ist nicht wahr, und ich bin nicht wahr. Ich weiß gar nichts mehr. Aber auch das will ich nicht wissen, ich will gar nichts mehr.

Verlorenes Selbst

„Was meinst du, wohin sie aufwachen wird?“, fragte die Hexe den Raben.

„Du weißt es doch“, sagte er traurig, „manchmal willst du das Schreckliche wohl auch nicht wahr haben.“

„Ja“, sagte die Hexe, „und vielleicht ist es mir sogar recht, wenn sie am Ort aufwacht. Solange sie am Ort ist, habe ich mit ihrer entsetzlichen Welt auch nicht viel zu tun.“

„Vergiss nicht“, sagte der Rabe, „ihre Welt ist auch unsere, und erinnere dich, wie lange wir alle schon warten.“ Da lachte die Hexe und sagte: „Ich habe schon fast vergessen, worauf.“ „Grund genug, dich nicht zu erinnern, hättest du“, sagte der Rabe, „bei all dem, was dir als Hexe widerfahren ist.“

„Sei stille“, sagte die Hexe, mit Tränen in den Augen.

Das Einzige, woran ich mich noch erinnere, ist das Geräusch einer sich leise schließenden Tür.

Und nun bin ich hier. Ich will hier nicht sein, aber ich bin hier. Ich weiß gar nicht genau, was das ist, was ich mit „hier“ bezeichne. Ich weiß nur, dass ich in alle Richtungen blicke und nichts sehe außer Schwarz. Ich weiß nicht, was oben ist und was unten.

Aber ich habe es schließlich und endlich geschafft. Ich habe beschlossen, dass das, wo mein Rücken ist, hinten ist. Wo mein Bauch ist, ist vorne. Wo meine Füße sind, ist unten. Wo mein Kopf ist, ist oben. Es hat lange gedauert, bis ich mich dazu entschlossen habe, dieses so festzulegen, weil es außer mir nichts gibt, woran ich mich orientieren kann. Aber dann habe ich gedacht, ich bin alles, was mir noch geblieben ist, und dann nehme ich eben einfach mich selbst.

Und ich gucke in die Richtung, in der ich meine Füße vermute, und bin glücklich darüber zu wissen, da ist unten. Und ich lege meinen Kopf in den Nacken und gucke nach oben, obwohl ich nichts erkennen kann, und sage mir, da ist oben. Und ich strecke zitternd vor Angst den Arm an meiner Rechten zur Seite in dieses Dunkle aus und sage mir, da ist rechts, und dann mache ich dasselbe mit meinem linken Arm und sage mir, da ist links.

Ich bin total erschöpft, ich glaube, kaum jemand kann sich vorstellen, was dies für eine Anstrengung für mich war. Aber ich habe es geschafft, ich weiß jetzt, wo „oben“ und „unten“ und „rechts“ und „links“ und wo „hinten“ und wo „vorn“ ist.

Ich weiß zwar nicht, was hinter mir und was vor mir ist, was über mir und unter mir und rechts und links ist, aber ich weiß zumindest, welche Richtung es ist, und das ist schon sehr viel. Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe, und jetzt weiß ich es.

Ich habe es einfach bestimmt.

Ich wundere mich, woher weiß ich eigentlich, dass meine rechte Hand meine rechte Hand ist. Irgendwie muss ich mich erinnern, dass das, was rechts ist, auch rechts ist. Ich frage mich, woher ich diese Begriffe habe, aber ich werde es sicherlich irgendwann oder irgendwo – wobei ich nicht weiß, was es gewesen sein könnte – , gehört haben.

Ich denke nach, über das, was ich gerade getan habe. Ich denke, ich darf das nicht tun. Ich darf doch nicht von mir aus bestimmen, was oben und was unten ist. Es muss doch etwas außerhalb von mir geben, was mir sagt, was oben ist und was unten.

Aber soviel ich auch gucke, es gibt nichts um mich herum. Das Einzige, was ich sehe, ist ein dunkelgraues Schwarz, was auf seltsame Art und Weise flirrt, als bestünde es aus lauter winzig kleinen Teilchen, die ab und an leuchten. Mehr kann ich nicht erkennen.

Ich fühle keinen Druck auf irgendetwas von mir. Es gibt nichts, was ich als Schwerkraft betrachten könnte. Ich fühle mich weder schwer noch leicht, ich bin einfach, irgendwo.

Ich glaube, es bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als mich auf mich selbst zu verlassen, und auf meine Füße unten und meinen Kopf oben. Ich merke, dass meine Augen tränen vom ununterbrochenen in die Gegend starren, ob ich nicht doch irgendetwas erkenne, aber es ist nichts zu sehen. Es gibt keine Konturen, nur dieses merkwürdige Staubteilchenchaos um mich herum, was ich nicht durchdringen kann, was weit zu sein scheint und gleichzeitig ganz nah. Irgendwie gibt es keine Entfernung. Die einzige Entfernung, die ich merken kann, ist die von meinem Kopf bis zu meinen Füßen. Und je nachdem, ob ich mich zusammenziehe oder ob ich mich ausstrecke, wird die Entfernung größer oder kleiner zwischen mir und mir oder meinem Anfang und meinem Ende.