Eins

Ein ganz normaler Morgen, an dem nichts Ungewöhnliches anstand. Der Tag würde beginnen und enden wie immer. Allerdings wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sich ab hier vieles für mich ändern sollte. Aber ich fange lieber ganz von vorne an – am besten beim klingelnden Wecker, der mich daran erinnerte, dass ich meinen müden Hintern endlich aus dem Bett schwingen sollte.

„Verdammter Mist!“, fluchte ich, nachdem ich sah, dass ich mal wieder zu spät kommen würde. Ich schmiss voller Frust die Bettdecke beiseite, setzte meine Brille auf und raste ins Bad. Dort machte ich die notwendige Katzenwäsche, band meine langen, braunen Haare wie fast jeden Morgen zu einem Zopf zusammen, klaubte meine Jeans und mein schwarzes Shirt vom Boden auf, zog es über und stürmte aufgebracht in die Küche.

Daphne erwartete mich bereits mit einem spöttischen Lächeln. „Na? Mal wieder zu spät dran?“ Sie lehnte in ihrem sehr knappen rosa Morgenmantel an der Küchenzeile und hielt mir bereits einen Becher mit heißem Kaffee entgegen. Im Vorbeieilen schnappte ich danach, trank einen Schluck und trat an den Kühlschrank. „Vielen Dank“, gab ich erleichtert von mir, nachdem der Kaffee seine Wirkung zeigte. „Ich weiß auch nicht, wie das ständig passieren kann.“

„Na, ich schon“, erklärte sie spöttisch. „Wer bis spät abends mit der Nase in seinen Büchern hängt, der verpennt auch oft.“

„Toll, dass du das so im Blick hast“, spottete ich und griff nach meiner Wasserflasche.

Daphne, die ihren Namen wie die Pest hasste und darauf bestand, dass man sie nur Daph nannte, warf ihre blonden, langen Haare gekonnt nach hinten und legte seufzend den Kopf schief. Mit ihren braunen Augen musterte sie mich beinahe besorgt. „Du bist der einzige Streber, den ich kenne, der regelmäßig zu spät in die Uni kommt.“

„Und wie viele Streber kennst du?“, fragte ich, als ich atemlos an ihr vorbei sauste und meine Tasche neben der Couch vom Boden aufhob.

„Hm, nur dich, denke ich.“ Sie kicherte und beobachtete mich mit einem schelmischen Grinsen.

„Na, dann solltest du deinen nerdigen Freundschaftskreis vielleicht erweitern“, riet ich ihr, drückte sie kurz und verließ eilig die Wohnung. Mit einem Ohr vernahm ich noch ein „Ich denke drüber nach“ und schwang mich auf mein klappriges Fahrrad.

Die Stadt war wie jeden Morgen völlig überfüllt, und nur mit Mühe schaffte ich es, die Menschen, die meinen Weg kreuzten, nicht wie Kegel beiseite zu räumen. Gott sei Dank wohnte ich nicht allzu weit von der Uni entfernt, was aber keine Entschuldigung dafür war, ständig auf den letzten Drücker loszufahren. An der Uni angekommen, parkte ich meinen Drahtesel direkt vor den anderen Rädern, schloss es ab und eilte in das Universitätsgebäude. Dank der Sonneneinstrahlung spürte ich den Schweiß, der sich auf meiner Stirn sammelte. Warum musste es in Boulder auch immer so warm sein? Manch anderer hätte sich gefreut. Ich hingegen empfand das wenig abwechslungsreiche Wetter eher als lästigen Zustand.

Fluchend drängelte ich mich an schlendernden Studenten vorbei, die es sichtlich weniger eilig hatten als ich. Endlich erreichte ich den Hörsaal. Es war keine Seltenheit, dass Studenten zu spät in den Saal platzten, aber ich wusste, dass Professor Quentin mir sofort einen bescheuerten Spruch reindrücken würde, und so machte ich mich mental für seinen Empfang bereit und trat durch die Tür hinein ins Elend. Wie erwartet, unterbrach der nette Professor mit dem viel zu langen Bart seine Rede und drehte entgeistert seinen Kopf in meine Richtung. Genau wie fast alle Studenten in dem Saal. Das war so ein typischer Moment, wie man ihn aus Filmen kennt – wenn etwas Peinliches passiert und man das Gefühl hat, eine zu Boden fallende Stecknadel zu hören.

Mit hochrotem Kopf nickte ich entschuldigend in seine Richtung und suchte eilig nach einem freien Platz, der sich selbstverständlich ziemlich weit oben im Saal befand. Noch so ein typischer Filmmoment. Klasse! Ein elendig langer Weg, damit mir die anderen Studenten blöde Blicke zuwerfen konnten, dachte ich und trat schnell die Stufen empor. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, was gar nicht so einfach war, da meine Gesichtsfarbe für sich sprach.

„Und das, meine lieben Studenten, ist etwas, was mir gar nicht zusagt“, hörte ich seine zynischen Worte in meinem Nacken. „Ms Walters, das kommt in Zukunft nicht mehr vor, nehme ich an?“

Das studentische Publikum kicherte, einige verdrehten die Augen, andere spotteten. Der ideale Start in den Tag. Genervt schob ich mich auf einen der freien Plätze, legte meine Tasche auf den Platz neben mir. „Sie können annehmen, so viel Sie wollen, Idiot“, nuschelte ich leise vor mich hin und rückte meine Sachen zurecht.

„Wie bitte? Ich habe Sie nicht verstanden, Ms Walters. Ich hätte gerne eine Antwort, damit ich den Studenten, die tatsächlich etwas lernen möchten, das nötige Wissen beibringen kann.“ Der Unterton in seiner widerlichen Stimme klingelte in meinen Ohren wie ein Tinnitus. „Selbstverständlich kommt das nie wieder vor“, presste ich mit einem aufgesetzten Lächeln heraus. Seine Aufmerksamkeit mir gegenüber verebbte endlich, und so widmete er sich wieder seiner trockenen Vorlesung. Neben mir hörte ich ein leises Lachen − offensichtlich jemand, der sich über mich lustig machte. Entnervt sah ich zu ihm rüber und blickte in die vermutlich schönsten Augen, die ich jemals in meinem Leben gesehen hatte.

***

Zwei stahlblaue Augen. Lippen, die so voll waren, dass sie beinahe untypisch waren für einen Jungen. Moment, Junge war auch nicht richtig, irgendwie schien der hübsche Typ neben mir etwas älter zu sein. Er hatte noch keine Falten unter den Augen, aber Anfang zwanzig war er definitiv nicht mehr. Seine hellbraunen Haare fielen ihm etwas in die Stirn.

Skeptisch sah ich ihn an. „Was ist so lustig?“ Ich kannte es zwar zur Genüge, dennoch mochte ich es nicht besonders, wenn Leute über mich lachten. Als „Streber“, wie Daph mich gerne bezeichnete, oder als „Nerd“, wie andere mich gerne bezeichneten, war ich froh, in Ruhe gelassen zu werden und nicht der Mittelpunkt irgendeines fröhlichen Gelächters zu sein. Schon gar nicht an einer Uni, die voll von hübschen und aufgetakelten Mädchen war. Lieber saß ich alleine da, lernte, hörte zu, schrieb mit und fiel am besten gar nicht weiter auf. Heute war das irgendwie anders.

Er räusperte sich kurz und schüttelte den Kopf. „Nichts, ich finde nur, das war der perfekteste und gleichzeitig peinlichste Auftritt für jemanden, der scheinbar nicht gerne im Mittelpunkt steht. Ich danke dir dafür, so hatte man hier wenigstens kurz was zu lachen.“ Seine Stimme war warm und angenehm anzuhören. Sie gefiel mir, und ich wollte gerne noch mehr davon hören. Zumal es nicht üblich war, dass ein Typ wie er mit einem Mädchen wie mir sprach. Er lächelte immer noch, sah aber wieder nach vorne zum Professor. „Der kann dich nicht sonderlich leiden, oder?“

„Merkt man das?“, fragte ich leise und schlug meinen Block auf, den ich inzwischen aus meiner Tasche gekramt hatte.

„Geringfügig“, bestätigte er mir.

Professor Quentin mochte mich wirklich nicht. Warum, konnte ich mir in den vergangenen drei Semestern nicht erklären. Sonst stand ich immer ganz oben auf der Lieblingsstudenten-Liste der Professoren, aber er mochte mich einfach nicht. Idiot!

„Und du? Bist du einer seiner Lieblinge? Ich habe dich hier noch nie gesehen“, stellte ich fest und behielt den stinkigen Professor im Blick.

„Ja. Ich bin sozusagen neu hier. Und glaube mir, ich bin definitiv nicht sein Liebling.“

„Was heißt denn ‚sozusagen‘?“

Er kritzelte etwas auf seinen Zettel und sah dann wieder zu mir. „Ich habe vor einer ganzen Weile schon einmal hier studiert. Das ist schon ein bisschen her, und durch eine glückliche Fügung konnte ich das Studium wiederaufnehmen. Ist aber eine lange Geschichte.“

„Deswegen siehst du auch schon so alt aus“, stellte ich schroff fest, was mir aber sofort leidtat.

„Was soll das denn heißen? Ich bitte dich. Mit siebenundzwanzig ist man noch nicht wirklich alt, oder? Sehe ich so alt aus? Das gibt mir jetzt zu denken.“ Er schien etwas entsetzt über meine direkte Bemerkung und warf einen Blick in sein Smartphone, um sich eingehend zu betrachten. Er war so anders als die anderen Jungs hier an der Uni, die ich kannte und die zudem nicht so gut aussahen wie er. Lustig, aufgeschlossen und nicht herablassend. Komischer Vogel, dachte ich und lachte leise in mich hinein, beobachtete ihn jedoch von der Seite. Wieso war er so nett? Je länger er mir seine Aufmerksamkeit schenkte, umso mehr fragte ich mich das.

„Äh, Ms Walters? Ich dachte, Sie wären endlich fertig, nachdem Sie schon einmal diese Vorlesung gestört haben. Wie mir scheint, sind Sie noch mittendrin oder wie darf ich Ihr lautes Gelächter deuten?“, schaltete sich der Professor wieder ein. Ich seufzte und schüttelte den Kopf. „Lautes Gelächter …“, fluchte ich leise, aber der Typ neben mir schien das zu hören und lachte wieder. Irgendwie steckte sein Lachen mich an, und so konnte ich es mir ebenfalls nicht mehr verkneifen, lachende Laute von mir geben. Ich presste angestrengt die Lippen zusammen, aber mein Körper bebte. Unten stemmte Professor Quentin die Fäuste in die Hüften und fluchte etwas, was ich nicht verstand. Ich konnte nicht mehr an mich halten und lachte wie mein Sitznachbar laut auf.

„Sie verlassen jetzt auf der Stelle meine Vorlesung. Haben Sie gehört? Ihr Sitznachbar kann gleich mitgehen“, befahl er plötzlich entschieden lauter, sodass der Typ neben mir und ich innehielten und uns entsetzt ansahen. Ich in Schockstarre, er kurz vor einem totalen Lachanfall.

„Na los, gehen Sie!“

Die anderen Studenten drehten sich zu uns um und bedachten uns mit fragenden Blicken. Mein Gesicht gewann an Farbe, und mir wurde mit einem Mal sehr heiß. Ich wollte hier nur noch raus. Verkrampft schob ich meine Brille wieder etwas höher, packte schuldbewusst meine Sachen und erhob mich. Gott, war mir das unangenehm. Erst der Auftritt, als ich zu spät kam, und jetzt der peinlichste Abgang meines Lebens. Mit gesenktem Kopf eilte ich die Stufen herunter, die mir plötzlich ewig lang vorkamen. Dicht gefolgt von ihm – dem gutaussehenden, lustigen Typen, der mit mir aus der Vorlesung geworfen wurde. Was Professor Quentin noch von sich gab, hörte ich nicht mehr, da mir vor Aufregung das Blut in den Ohren rauschte. Das sah mir so gar nicht ähnlich. Ich, die Streberin − aus einer Vorlesung geworfen? Der Tag nahm komische Ausmaße an.

Er sollte noch viel merkwürdiger werden.

Cover

Kurzbeschreibung:

Die schüchterne Literaturstudentin Sally verbringt ihre Zeit entweder mit Büchern oder aber mit ihrer Mitbewohnerin und besten Freundin Daph, die kurz vor ihrem Auslandssemester steht. Einen Tag vor Daphs Abreise lernt sie den Studenten Brad kennen, der in den nächsten Wochen und Monaten immer wichtiger für Sally wird. Er setzt alles daran, um sie aus ihrem Schneckenhaus zu holen und ihr ein neues Leben zu eröffnen. Aber je näher er ihr kommt, desto mehr wird ihm klar, dass sie möglicherweise nicht die ist, die sie vorzugeben scheint …

Jennifer Lillian

Verliebt in deinen Freund

Roman




Edel Elements

Prolog

Freunde sucht man sich nicht aus. Freunde finden einander auf den verrücktesten Wegen. Manchmal entsteht die Freundschaft aus einem Streit, aus einer Feindschaft oder aus einem dummen Zufall heraus. Manchmal ist sie einfach da. Ein Blick, ein freundliches Lächeln reichen schon dafür aus.

Freundschaft kann man nicht erklären, und wenn sie bestehen soll, dann hält sie auch. Viele Freunde kommen und gehen, aber die wichtigsten bleiben. Und das für immer!

Doch was passiert, wenn plötzlich mehr draus wird …?

Drei

Die Gäste trafen ein. Es waren nicht viele, nur Daphs engste Freunde. Die große Party war für den Tag geplant, an dem sie wieder zurück nach Hause kommen würde. Deshalb lümmelten wir gemütlich auf der Couch und auf dem Fußboden: Lynn, die ich auf den Tod nicht ausstehen konnte und umgekehrt, Susan, Luke, Patrick und Claudia, Daph und ich. Eine lustige Runde, in der ich vortäuschte, ständig ein neues Bier zu trinken. Auf lästige Sprüche wie Warum trinkst du so wenig, mach dich mal locker oder Komm schon, auch du kannst dir mal einen reinbrennen, hatte ich keine Lust. Deshalb trank ich sehr lange an meinem einen Bier, stand gelegentlich auf, ging an den Kühlschrank und ließ es so aussehen, als hätte ich immer wieder ein neues in der Hand. An sich war der Abend ziemlich witzig, und die vernichtenden Blicke von Lynn versuchte ich größtenteils zu ignorieren. Das war ich schon gewohnt von ihr.

Wir erzählten und lachten viel miteinander. Daph unterhielt für gewöhnlich die Gruppe und schwärmte von ihren Plänen in Deutschland und was sie sich alles ansehen würde. Sie erzählte vom Brandenburger Tor und von dem Zoo, den sie dort unbedingt besuchen wollte. Sie versprach, allen regelmäßig Bilder zu schicken und uns immer auf dem Laufenden zu halten. Mir hingegen fiel es einfach schwer, auf Leute zuzugehen und Freundschaften zu schließen. Ich redete einfach zu ungerne über mich selbst und wollte keine Informationen von mir preisgeben. Deswegen beließ ich es bei den paar Kontakten, die ohnehin nicht viele Fragen stellten. Bis auf Daph und meinen Mädels in der Uni, Lisa und Charlotte, hatte ich keinen weiteren Kontakt. Sie akzeptierten mich so, wie ich war.

Irgendwann verabschiedete ich mich aus der Runde, drückte Daph kurz und schleppte mich müde ins Bett. Das Gelächter und die Musik, die aus dem Wohnzimmer zu hören waren, ließen mich erst nicht einschlafen. Außerdem kreisten viele Gedanken in meinem Kopf, die mich noch eine ganze Weile wachhielten. Wie sollte ich die nächsten Wochen ohne meine beste Freundin, die mich immer mitzog, bloß überstehen? Mit dicken Tränen in den Augen, die mein Kopfkissen benetzten, schlief ich schließlich ein.

***

Mein Wecker klingelte um sechs Uhr früh. Ich kletterte niedergeschlagen aus dem Bett. Draußen war alles still. Sollte Daphne nicht eigentlich schon längst aufgestanden sein? Ihr Flug ging doch schon bald. Ich tapste durch das Wohnzimmer auf die andere Seite des kleinen Apartments. Als ich mich so umblickte, bemerkte ich die leeren Flaschen und die Chipstüten auf dem Fußboden. Ich schüttelte genervt den Kopf. Das würde also meine Nachmittagsbeschäftigung sein: Aufräumen.

Ich klopfte an Daphs Zimmer. Es regte sich nichts. Ich öffnete die Tür. Alles war dunkel. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte ich Daph in ihrem Bett. Ihre Klamotten lagen im Zimmer kreuz und quer verteilt. Ich seufzte kurz und schüttelte den Kopf. Es war einfach typisch für meine Freundin. Was auch immer bevorstand, ein Abend mit Alkohol warf sie komplett aus der Bahn. Kichernd nahm ich Anlauf und sprang wie wild geworden auf ihr Bett.

Sie kreischte panisch auf und schlug um sich. „Was zum Teufel … Wer zum Teufel … Teufel nochmal!“

Ich lachte laut auf. „Aufstehen, du Sonnenschein. Musst du nicht bald los?“

Ich hopste immer weiter auf ihr herum und vermutlich tat ich ihr dabei auch etwas weh, da sie mich ruppig beiseite stieß.

„Was? Wie spät ist es?“

„Aua!“, keifte ich und rieb mir meinen Oberschenkel, den Daph unsanft getroffen hatte. „Es ist sechs.“

„Nein! Das darf doch nicht … Oh Mist!“ Sie wischte sich über ihr Gesicht. Dieses Mal grinste ich zynisch und knipste ihr Nachttischlicht an.

„Tja, wer abends lange säuft, der kommt morgens zu spät, nicht wahr, Daphne Bearson?“

„Spar dir deine klugen Ratschläge“, schimpfte sie und kroch halbtot aus dem Bett.

„Na los, du machst dich fertig, ich koche Kaffee und mache uns ein schnelles Frühstück“, schlug ich vor und verschwand mit einem vielsagenden Lachen im Wohnzimmer.

Der Abschied fiel uns so unendlich schwer. Wir standen eine halbe Ewigkeit Arm in Arm in unserem Wohnzimmer und kämpften gegen unsere Tränen. „Hoffentlich wird die Zeit schnell vergehen. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst, dich jeden Tag meldest und nicht schwanger nach Hause kommst, ja?“

„Das mit dem schwanger werden kann ich nicht garantieren, aber alles andere geht klar. Ich melde mich, so oft ich kann“, schniefte sie und sah mich eindringlich an. „Du kommst klar, oder?“

Ich nickte. „Klar, was denkst du denn? Endlich sturmfrei“, log ich und hob die Arme.

„Sehr gut. Ich hab dich lieb!“, sagte sie noch einmal, drückte mich und verschwand mit gesenktem Kopf durch die Tür nach draußen, wo ihr Taxi zum Flughafen bereits wartete.

„Schreib mir sofort, wenn du angekommen bist!“, rief ich ihr hinterher.

„Natürlich!“, lächelte sie zurück und winkte mir noch einmal, bevor sie im Taxi verschwand.

Nachdem ich die Haustür schloss, rannten mir die Tränen über mein Gesicht, und ich sah mich mit hängenden Schultern in unserem chaotischen Wohnzimmer um. Es würden die längsten sechs Monate meines Lebens werden.

***

Nachdem ich endlich einmal wieder pünktlich in der Uni ankam, erfuhr ich, dass die Vorlesung ausfiel. Irgendwie war ich erleichtert darüber, denn großartig konzentrieren konnte ich mich mit Sicherheit nicht. Zu tief saßen noch die Gedanken an Daph und ihrer langen Abwesenheit. So suchte ich mir draußen einen sonnigen Platz und stützte meinen Kopf auf meine Hand, da dieser sonst auf den Holztisch knallen würde. Ich vermisste Daph jetzt schon und dachte gerade darüber nach, wie ich die nächste Zeit alleine zurechtkommen sollte, als mir jemand einen heißen Becher Kaffee vor die Nase stellte.

„Himmel, du schläfst ja bald ein“, stellte Brad erschrocken fest, als er sich gegenüber auf die Bank setzte. Kurz setzte mein Herz aus bei seinem Anblick, denn ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass er mich heute überhaupt noch beachten würde. Ich griff dankend nach dem Kaffee und legte meine Hände seufzend darum.

„Zu viel gesoffen gestern? Oder einen durchgezogen? Nein, warte, sag nichts. Ich glaube, du hast wie ein wildes College-Girl die Nacht durchgetanzt und einen Typen nach dem anderen klargemacht, nachdem du was mit dem Captain der Football-Mannschaft hattest.“

„Haha“, antwortete ich und schüttelte genervt den Kopf.

Brad schwieg einen Moment und biss sich auf die Lippe, als wollte er seine Worte wieder zurückziehen. „Sorry, es ist wegen deiner Freundin, oder?“

Ich nickte stumm.

„War der Abschied sehr schwer?“, fragte er dann deutlich einfühlsamer.

„Schon ja, nachdem sie beinahe den Flug verpennt hätte. Abschiede liegen uns einfach nicht“, erklärte ich traurig.

„Aber sie kommt ja wieder.“ Er sah mich etwas mitleidig an.

„Ja, in einem halben Jahr“, antwortete ich gereizt. Typisch Männer, dachte ich. Hatten überhaupt kein Verständnis für emotionale Gefühlsausbrüche und weibliche Bedürfnisse.

Er nahm einen Schluck aus seinem Becher und bedachte mich mit einem fragenden Blick. Als er den Becher auf den Tisch stellte, fragte er schließlich: „Und was hast du so in der nächsten Zeit vor?“

„Das frage ich mich auch gerade. Weißt du, Daph ist meine beste Freundin. Wir machen alles zusammen. Wir wohnen ja auch zusammen, und plötzlich ist sie weg und ich fühle mich so alleine. Aber was erzähle ich dir das eigentlich?“, fragte ich mich selbst und vergrub mein Gesicht wieder in meinen Händen.

„Hm“, machte er und legte seinen Kopf schief. „Ich denke, du hast ein großes Problem“, stellte er dann mit ernstem Gesicht fest.

„Wow, danke. So viele Komplimente am Morgen bin ich gar nicht gewohnt“, konterte ich. Seufzend nahm ich einen Schluck und sah Brad an. „Und welches Problem habe ich deiner Meinung nach?“, fragte ich dann nach einer Weile, da es mich ja irgendwie doch interessierte, welches Problem Brad bei mir sah.

„Ich glaube, du kannst dich nicht alleine beschäftigen.“

„Oh, und wie kommst du darauf?“, wollte ich mit scharfem Unterton in der Stimme wissen. Normalerweise war ich Fremden gegenüber nicht so unfreundlich. Im Gegenteil, ich lächelte eigentlich immer, um mich nicht noch unbeliebter zu machen. Aber Brad forderte es irgendwie heraus.

„Naja, sieh dich doch mal an. Du sitzt hier und grübelst wie jemand, der wegen Mordes eingesperrt wurde“, stellte er klar, als wäre das die Erkenntnis des Jahrhunderts.

Wahnsinn. Was für ein Vergleich. Ich stöhnte etwas genervt. „Aber, ich habe die Lösung für dein Problem“, gab er etwas zu arrogant von sich und schmunzelte abwartend. Seine blauen Augen verengten sich derweil etwas.

„Na, und die wäre?“

„Ich werde dich die nächsten Wochen beschäftigen.“

Ich lachte fast hysterisch auf. „Ja genau, weil du ja auch nichts Besseres zu tun hast.“ Kopfschüttelnd nahm ich wieder einen Schluck Kaffee und ließ meinen Blick bedächtig über den Hof kreisen.

„Habe ich nicht“, gab er entrüstet von sich.

„Du kannst es ja versuchen“, presste ich nicht gerade zuversichtlich hervor und hoffte, er würde es einfach auf sich beruhen lassen. Ich brauchte kein Mitleid. Wirklich nicht.

„Glaube mir, Nerdy. Ich kann ganz schön fordernd sein“, drohte er und zwinkerte mir belustigt zu. Ich drehte mich leicht auf der Bank, um zu sehen, ob er nicht doch einem hübschen Mädchen hinter mir zuzwinkerte. Aber da war niemand. Er meinte tatsächlich mich.

Fünf

„Ist es sehr schlimm?“, wollte ich wissen und zog die Augenbrauen erwartungsvoll hoch.

„Ganz und gar nicht. Ehrlich. Hättest du schon viel früher machen sollen.“ Noch immer blinzelte ich wild, da es sich ungewohnt anfühlte, keine Brille zu tragen und dennoch sehen zu können.

Ich trug jetzt tatsächlich Kontaktlinsen. Bislang hatte ich mich nie an diese Dinger herangetraut, seitdem ich eine Brille tragen musste. Das war jetzt etwa zwei Jahre her.

Als ich mir eine Brille aussuchte, nahm ich gleich eines der größten Gestelle, um das meiste meines Gesichts dahinter verstecken zu können. Damals kam mir das ganz gelegen, dass meine Augen immer schlechter wurden und mittlerweile hatten sie sich einfach zu sehr an die Brille gewöhnt. Aber was ich da beim Optiker im Spiegel gesehen hatte, überraschte mich.

Wir gingen nebeneinander her. Brad bestand darauf, mich noch nach Hause zu begleiten, aus Angst, mir könnte durch die Kontaktlinsen etwas schummerig werden, da ich zum ersten Mal in meinem Leben welche trug. Ob das tatsächlich passieren konnte, wusste ich nicht.

„Ich muss mich wohl noch einmal bei dir bedanken“, meinte ich und deutete mit meinem Finger auf meine Augen, „dafür, dass du das alles geregelt hast mit der Sehstärke und so weiter. Das hat Ewigkeiten gedauert und du hast Stunden für mich geopfert.“ Ich seufzte, da ich mich nicht wohl dabei fühlte, irgendwie in seiner Schuld zu stehen. „Es ist noch ein bisschen ungewohnt, aber ohne dich hätte ich vermutlich wieder eine Riesenbrille gekauft“, gestand ich kleinlaut.

„Und du wolltest mich nicht dabeihaben.“ Pikiert schüttelte er den Kopf und stieß mich leicht in die Seite. „Stell dir mal vor, was die Frau getan hätte, wenn ich nicht dabei gewesen wäre.“

„Ach komm, so schlimm war es nun auch wieder nicht.“ Wir lachten beide über die peinliche Situation.

„Na, ich will es lieber nicht wissen“, musste er noch hinzufügen, als wir bei mir zu Hause ankamen.

Scheinbar merkte er, dass ich ein bisschen wehmütig auf unser Apartment blickte, denn er wurde ernster und legte die Stirn in Falten. „Hör mal, ich meine es wirklich ernst. Wenn du deine Freundin so vermisst und nicht alleine sein möchtest, leiste ich dir gerne Gesellschaft.“ Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und lächelte mich ziemlich selbstbewusst an. Wenn ich doch nur ein bisschen so sein könnte wie er.

„Hm, und was schlägst du vor? Ich habe doch nur Hobbys für Hundertjährige“, sagte ich provozierend und legte dabei den Kopf schief.

„Du sagtest doch, du hörst gerne Musik. Warum trinken wir nicht was zusammen und hören uns ein bisschen was an? Es gibt da so eine gute Bar in der Stadt, in der manchmal ganz coole Bands Gitarrenmusik, Unplugged … alles Mögliche spielen“, schlug er sehr euphorisch vor. Ich wippte von einem Bein auf das andere und wägte diese Option in meinem Kopf ab. Alleine würde mir nur die Decke auf den Kopf fallen, ohne Daph. Und wenn es mir zu blöd in der Bar sein sollte, könnte ich mich locker aus dem Staub machen. Himmel nochmal, sag einfach ja. Du scheinst da einen netten Jungen kennengelernt zu haben, der tatsächlich nur ein wenig Gesellschaft braucht, sagte meine innere Stimme. „Okay, gut. Ich bin dabei. Langweilen wir uns gemeinsam.“

***

Noch nie brauchte ich Daph dringender als in dem Augenblick, als ich verloren vor meinem Kleiderschrank stand. Ich war wirklich ein Nerd, denn ich hatte nur nerdige Sachen in meinem Schrank. Mir gefielen die Klamotten, aber sie waren definitiv nicht zum Ausgehen bestimmt. Was zog man überhaupt in eine Bar an? Jeans? Da es was anderes ohnehin nicht in meinem Schrank gab, fiel die Wahl nicht schwer. Nächste Frage: welches Shirt sollte ich anziehen? Leise fluchte ich, dass mein Kleiderschrank nichts Farbenfrohes enthielt.

„Komm schon, mach dich locker. Nimm einfach irgendwas“, redete ich auf mich selber ein. Zwar fühlte ich mich ohne meine Brille etwas besser, aber was brachte das, wenn der Rest nicht stimmte? Aber wen wollte ich beeindrucken? Immerhin war es nur Brad, mit dem ich was trinken gehen wollte. Ein normaler, gutaussehender Typ, der anhänglicher war als ein Dackel, aber mindestens genauso lustig wie die Filme 21 und 22 Jump Street zusammen. Vielleicht konnte ich in Brad einen Freund finden, mit dem ich wieder lockerer werden würde und lachen konnte. Vielleicht würde ich durch ihn wieder mehr zu mir selbst finden.

Kaum war Daph weg, wurde mir bewusst, wie schwer ich mich damit tat, auf eigenen Beinen zu stehen, und wie sehr ich das verlernt hatte. Wenn Brad nicht in mein Leben getreten wäre, wüsste ich nichts mit mir anzufangen. Vermutlich läge ich zusammengekauert in einer Ecke meines Zimmers, stopfte mir Schokolade, Kuchen und Eis gleichzeitig in den Mund und hasste mich und mein jämmerliches Leben.

Aber jetzt war plötzlich alles anders. Ich hatte jemanden kennengelernt und das ganz ohne Daphs Hilfe. Und das machte mich irgendwie ein bisschen stolz.

***

Die Haare saßen mehr schlecht als recht, als ich nach einem nervigen Sturmklingeln die Haustür öffnete. Brad grinste mich an und nahm den Finger von der Klingel, nachdem ich einen wütenden Blick drauf warf.

„Ernsthaft jetzt? Muss das sein? Einmal klingeln hätte auch gereicht“, erklärte ich ihm mit Nachdruck.

„Und einmal mehr in deinem Leben lachen schadet sicherlich auch nicht. Bist du so leicht auf die Palme zu bringen?“, begrüßte er mich und deutete auf die Uhr. „Können wir dann los?“

„Ja. Ich bin so weit.“ Entschieden schritt ich aus dem Haus und schloss nervös hinter mir die Tür.

Wir betraten die urige Bar, die ziemlich gut besucht war. Fast jeder Tisch war belegt von Cliquen, die sich mit Bier und anderen Getränken amüsierten und den Klängen der Band auf der Bühne lauschten. Ich trieb mich nicht oft in solchen Läden herum, sodass es anfangs ein wenig unangenehm für mich war. Meine Klamottenwahl mit Jeans, schwarzem Shirt und Sneakers passte überraschend gut hier rein. Ich blinzelte noch immer etwas zu oft, da das Tragen der Kontaktlinsen nach wie vor ungewohnt war. Wie lange hatte ich nicht mehr an einer Zigarette gezogen?

Wir verzogen uns in eine abgelegene Ecke, wo wir uns noch in einer angemesseneren Lautstärke unterhalten konnten. Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her und blickte mich um. Das war nicht meine Welt. Viel zu viele trinkende Menschen, laute Musik und die düstere Atmosphäre einer Kneipe. Solche Lokale standen nicht auf meiner Liste der Locations, die ich gerne besuchte. Aber ich wollte der Kneipe eine Chance geben. Wenn ich die Zeit ohne Daph meistern wollte, dann am besten mit ein bisschen mehr Offenheit und Toleranz.

Brad beobachtete mich dabei, wie ich mich in dem Laden umsah und winkte einen Kellner an den Tisch, der uns dann kurzerhand unsere Bestellung brachte. Ein Bier für Brad, ein Wasser für mich. Brad schmunzelte beim Anblick meines Getränks.

„Und? Dir gefällt es hier ziemlich gut, oder?“, wollte er von mir wissen und beugte sich dabei über den abgeranzten Holztisch, der seine guten Tage längst hinter sich hatte.

„Hattest du nicht gesagt, dass du das sein lassen wolltest?“, herrschte ich ihn an.

„Ja, sorry, hatte ich vergessen.“ Er räusperte sich. „Danke, dass du mich daran erinnerst.“ Brad nahm sein Glas und trank einen kräftigen Schluck. Der Bass im Hintergrund dröhnte laut, und die Band drehte immer mehr auf.

„Ist es denn so schlimm hier?“, fragte er und schaute, als würde er versuchen, in meinem Gesicht zu lesen.

Ich schüttelte knapp den Kopf. „Nein, ist schon okay.“ Ich nippte an meinem Wasser.

Nachdem mich Brad eindringlich gemustert hatte, sah er mich an, als würde ihm etwas Ungewöhnliches auffallen. „Du gehst niemals aus dem Haus, habe ich recht?“

Ich zuckte mit den Schultern und sah verschämt auf mein Glas. „Was soll ich sagen? Eher weniger. Meine Tage sehen eigentlich immer gleich aus. Uni, lernen, vielleicht mal mit Daph raus in die Stadt, aber dann sind das andere Läden als dieser hier.“ Ich machte mit meinem Kopf eine Bewegung, die die Kneipe einschloss. „Manchmal bekommen wir Besuch. Mal so und so.“

„Puh. Das ist hart und auch ein bisschen traurig“, gab Brad zu und verzog den Mund. „Das werden wir wohl ändern müssen. Ich kann dich ja nicht so einem langweiligen Schicksal überlassen. Da herrscht dringender Handlungsbedarf, wenn du mich fragst.“

„Ich denke nicht, Brad. Tut mir leid, aber wieso willst du mein Leben so dringend ändern? Ich meine … das hier ist vielleicht deine Welt, meine aber nicht. Warum willst du mir unbedingt … helfen oder wie du es ausdrückst: mich beschäftigen? Du könntest jetzt hier mit jemandem sitzen, der ein bisschen aufgeschlossener ist als ich und eine bessere Gesellschaft wäre. Deshalb verstehe ich das alles nicht. Ich bin dir echt dankbar für deine Ideen, aber du musst das nicht tun, und schon gar nicht aus Mitleid“, sprach ich gegen die laute Musik an.

„Ich glaube einfach nicht, dass du diejenige bist, für die du dich ausgibst“, erklärte er trocken.

Ich verzog fragend das Gesicht und fühlte mich mit einem Mal so ertappt.

„Und du kennst mich schon so gut, um das zu beurteilen?“ Ich lachte kurz auf.

„Was glaubst du, wer hinter dieser Fassade steckt?“, fragte ich und deutete mit dem Finger auf mich. „Batman? Legolas? Der Joker?“ Langsam lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und sah ihn herausfordernd an. Meine Hände waren zwar kalt, und ich spürte, wie ich heftig zu schwitzen begann, aber es war mir doch zu wichtig, zu wissen, was Brad eigentlich von mir wollte. Zumal er mich nicht wirklich kannte, aber so tat, als wären wir schon lange miteinander befreundet. Ich versuchte die Fassade zu wahren und wartete auf seine Antwort.

„Dein Auftritt gestern in der Vorlesung reicht schon als Beispiel.“

„Und inwiefern?“ Ich legte die Stirn in Falten.

„Naja, deine Art gegenüber Professor Quentin zum Beispiel. Jedes stille Mäuschen hätte den Mund gehalten, sich nur entschuldigt und ruhig auf seinen Platz gesetzt und hätte es nicht soweit kommen lassen, aus der Vorlesung zu fliegen. Aber du, du musst das letzte Wort haben.“

„Aber daran warst doch du schuld!“, schaltete ich mich rechtfertigend ein.

„Ich habe nur ein bisschen gelacht. Du hättest nicht drauf anspringen müssen“, sprach er, als wäre er das Unschuldslamm schlechthin. „Auch der Vorfall vorhin, als dich diese Tusse angerempelt hat. Du warst plötzlich so aufbrausend und aggressiv, was einfach total untypisch ist für jemanden wie dich. Du nimmst kein Blatt vor den Mund. Riskierst, dass die Leute sich zu dir umdrehen und dich provokant anschauen. Du sagst, was du denkst. Verstehst du? Du widersprichst dir in deinem Verhalten. Wer unsichtbar sein will, verhält sich auch so. Aber du bist viel zu laut, um so ein stilles Leben zu führen.“

Angespannt öffnete ich meinen Mund, schloss ihn wieder und sah auf mein Glas.

„Ein kleines graues Mäuschen hätte sich auch nicht auf jemanden wie mich eingelassen“, fügte er noch lachend hinzu. „Auch das mit deiner Brille. Von jetzt auf gleich stellst du auf Kontaktlinsen um und gefällst dir sogar dabei. Du brauchst deine Brille gar nicht, um dich dahinter zu verstecken. Und ich merke, wie viel besser du dich ohne sie fühlst. Ich kaufe dir dieses Streber-Dasein einfach nicht ab. Hinter deiner Fassade steckt was anderes, was mich einfach so fasziniert. Ich möchte sehen, was dahintersteckt. Und wenn du es nicht von alleine zeigen willst, dann möchte ich dir zumindest dabei helfen.“ Er nahm einen Schluck Bier und ließ mich dabei nicht aus den Augen. Noch immer konnte ich nicht sprechen.

„Aber Hut ab. Du spielst das sehr gut. Versteckst dich hinter deiner schlichten Kleidung, deinen streng nach hinten gebundenen Haaren und deinem schüchternen Blick, damit dich bloß niemand anspricht. Unterbrich mich bitte, wenn ich zu hart bin, denn ich will dich keinesfalls beleidigen.“

Ich hob schonend die Hand, um zu signalisieren, dass er weit über den Beleidigungsgrad hinaus war und sah kopfschüttelnd zur Seite. Meine Lippen waren angespannt aufeinandergepresst.

„Bitte, Sally. Nimm mir das nicht übel. Das ist nur eine grobe Einschätzung meinerseits. Ich meine, das ist ja auch alles nicht schlimm, verstehst du? Ich sehe das nur in dir und möchte dir einfach nur helfen, weil du mir zwischendurch immer eine lockere Art von dir zeigst. Und ich finde, die Welt hat verdient, diese Seite von dir kennenzulernen. Die andere ist langweilig. Glaub mir, davon gibt es genug. Aber die Art, die manchmal zum Vorschein kommt, die ist echt super!“

Ich mahlte mit dem Kiefer und sah auf meine Hände, die mein Glas so fest hielten, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ich sah überall hin, nur nicht in seine Augen. Er hatte ja sowas von recht.

Vier

Auf dem Weg in den Hörsaal lief er wie ein kleiner Dackel neben mir her. Wenn er doch nur nicht so gut aussehen würde! Zu gut für mich.

„Ach, komm schon, irgendetwas musst du doch gerne machen“, forderte er mich heraus. Die Mädchen, die an uns vorbeigingen, sahen erst ihn, dann mich an. Mit ungläubigem Gesicht zogen sie weiter. Wie eingebildet die doch waren, dachte ich mir im Stillen. „Ich sagte doch bereits, was ich gerne mache. Ich koche, ich backe, ich lese.“

„Sag, wie alt bist du eigentlich? Hundert? Das kann doch nicht ernsthaft dein Lebensinhalt sein. Und sonntags gehst du wahrscheinlich brav in die Kirche, oder?“

Ich rollte mit den Augen und blieb abrupt stehen. „Doch, ist es. Überraschung: Das ist mein Leben. Und du hast recht, eigentlich müsste ich Hundert sein“, zickte ich ihn an, was mir sofort wieder leidtat. Aber die Kommentare über meine Hobbys hingen mir mittlerweile zum Halse raus. Zum einen, weil ich mich ertappt fühlte, und zum anderen, weil es mich verletzte.

„Okay, aber es muss doch noch etwas anderes in deinem Leben geben“, bohrte Brad weiter und musterte mich dabei eindringlich. „Hörst du gerne Musik?“

Nachdenklich nickte ich. „Ja, Musik höre ich schon gerne.“

„Gut, darauf bauen wir auf. Und was hörst du so?“

Ich wollte gerade antworten, als ich einen Ruck hinter mir spürte und gegen Brads harte Brust geschubst wurde. Dabei fiel meine Brille auf den Fußboden.

„Oh mein Gott“, presste ich hervor und drückte mich sofort von ihm weg. Allerdings hatte er noch schützend seine Hände um meine Arme gelegt. Er war vermutlich genauso perplex wie ich gewesen. Brad ließ von mir ab und bückte sich eilig, um meine Brille aufzuheben, die durch den Fall wohl kaputtgegangen war. Verwirrt blickte ich nach links und erkannte verschwommen, dass mich eine Tussi angerempelt hatte, da ich vermutlich mal wieder im Weg stand.

„Verdammte Schlampe!“, schimpfte ich und hörte Brads empörtes Lachen.

„Wow, du kannst ja richtig aufbrausend sein. Solche bösen Wörter aus deinem Mund.“

„Tut mir leid. Aber manchmal ist man für die Zickenüberbevölkerung hier an der Uni einfach nur unsichtbar und das kann echt nerven. So ein blödes Miststück!“, fügte ich noch hinzu, als ich nach der Brille griff, die Brad mir hinhielt. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass die Gläser zersplittert waren. Ich musste, als sie mir runterfiel, noch einmal draufgetreten sein.

„Oh nein!“, wimmerte ich leise.

„Mist, das ist ärgerlich. Die ist hin“, stellte Brad fest, nachdem er sich die Brille genauer ansah.

„Scheint so.“ Seufzend schüttelte ich den Kopf. „Dann werde ich wohl mal zum Optiker eilen“, grinste ich wehmütig und wandte mich ab zum Gehen. Ohne meine Brille sah ich alles nur verschwommen, was mir nicht gerade einen eleganten Abgang bescherte und so tastete ich mich nur langsam voran.

„Warte!“, hörte ich ihn hinter mir mit einem Lachen in der Stimme. „Verdammt, so kann ich dich doch nicht auf die Menschen loslassen. Ich begleite dich dorthin.“

„Oh nein, lass mal besser. Es reicht, wenn einer von uns den Unterricht verpasst“, lehnte ich ab und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Mir war die Situation schon peinlich genug, und vermutlich war mein Gesicht bereits komplett rot angelaufen.

Wieder lachte er. „Und du glaubst, dass mir das so wichtig ist? Oh Mann, du bist nicht nur ein Nerd, sondern auch naiv.“

„Herzlichen Dank“, entgegnete ich trotzig und wandte mich wieder ab.

„Tut mir leid. Ich reiße mich ab jetzt zusammen. Keine Nerd-Witze mehr. Versprochen.“

Ich sah mich kurz hilflos um und atmete schließlich tief durch. Ohne ihn würde ich vermutlich nicht einmal den Ausgang der Uni finden. „Okay, dann los. Aber keine Witze mehr über mich, hörst du?“ Ich zeigte drohend mit dem Finger an ihm vorbei.

Er hob die Hände und zeigte sowas wie einen Pfadfindergruß. „Ich schwöre!“

***

Wir erreichten endlich den Optiker, nachdem ich mich wie eine Blinde durch die Stadt gekämpft hatte. Brad hielt mich die ganze Zeit über am Arm. Als wir dann endlich den Laden betraten, ging ich schnurstracks auf eine Frau zu, die in Schwarzweiß gekleidet war, und räusperte mich. „Entschuldigen Sie, ich brauche Ihre Hilfe“, begann ich und lächelte freundlich. Ich streckte ihr meine kaputte Brille entgegen.

Verschwommen erkannte ich, dass sie sich zu mir drehte. „Wie bitte?“

„Na, also meine Brille, die …“

„Verzeihen Sie bitte“, griff Brad plötzlich ein und zog mich beiseite. „Sie kann ohne ihre Brille leider nichts sehen“, hörte ich ihn mit einem entschuldigenden Lachen sagen.

„Oh mein Gott“, flüsterte ich, als mir klar wurde, dass ich keine Verkäuferin angesprochen hatte, sondern eine wildfremde Frau und legte erschrocken meine Hand auf meine Stirn. „Ist das peinlich“, flüsterte ich aufgeregt.

„Kein Problem“, hörte ich sie in einem mitleidigen Ton sagen und spürte wieder Brads Hand auf meinem Arm. „Komm mit, und setz dich am besten hier hin. Dann kannst du keine armen Kunden belästigen“, flüsterte er und drückte mich sanft auf einen der Besucherstühle.

„Gib mir deine Brille“, sagte er dann und ich legte sie ihm nach dem dritten Versuch endlich in die offene Hand, die er mir hinhielt.

„Mein Pass mit meinen Werten ist in dem Etui“, erklärte ich und reichte ihm auch die blaue Hülle.

„Ich bin gleich wieder da. Und du bleibst am besten hier sitzen, okay?“

Ich nickte schüchtern, und hatte das Gefühl, als würde ich nur peinliche Momente mit Brad erleben. Erst der Eklat in der Vorlesung, dann der peinliche Schubser gegen ihn in der Uni und jetzt der Vorfall mit der fremden Frau. Ich sollte einfach brav hier sitzen bleiben und mich nicht vom Fleck rühren. Was Daph wohl dazu sagen würde? Wo sie wohl gerade war? War sie schon angekommen? Wie lange flog sie überhaupt? Sie würde die Hände über den Kopf schlagen und sich vermutlich darüber amüsieren, was mir ohne sie bereits am ersten Tag passiert war. Brad hätte mich hier nicht einfach so sitzen lassen dürfen, denn so wurde mir nur wieder bewusst, wie schwierig es anscheinend für mich war, ohne Daph klarzukommen. Kaum war sie außer Landes, schon heftete ich mich an einen mir eigentlich unbekannten Typen – oder heftete er sich an mich? –, verlor meine Brille und veranstaltete dazu noch beim Optiker ein Riesenaufstand. Ich konnte es kaum erwarten, ihr alles haarklein zu erzählen. Insgeheim war ich jedoch auch ein bisschen stolz auf mich. Immerhin verlief mein Leben nicht so, wie ich es mir vor der Reise von Daph ausgemalt hatte: Trist und einsam. Im Gegenteil, ich war nicht einsam, sondern in Begleitung –, was ich noch immer nicht wirklich fassen konnte – und erlebte verrückte Dinge. Himmel nochmal, wenn ich nach Hause komme, würde ich eine ganze Menge zum Nachdenken haben.

Zwei

Als der Typ hinter mir die Tür vom Hörsaal schloss, schlug ich mir fassungslos die Hand auf die Stirn. „Du meine Güte! Das ist mir noch nie passiert. Was ist nur in mich gefahren? Das muss ich unbedingt wieder geradebiegen.“ Nervös drehte ich mich im Kreis und hielt plötzlich inne, als ich ihn mit einem schiefen Lächeln vor mir stehen sah. „Was grinst du so? Ich meine das ernst!“

„Ach nichts.“ Er lächelte weiter, als amüsiere er sich köstlich über mich. Ich kreiste weiter in dem Gang vor dem Hörsaal umher. Vereinzelt liefen Studenten an mir vorbei und musterten mich fragend, ehe sie weitergingen.

„Das hat bestimmt Auswirkungen auf meine Note. Der Idiot kann mich ohnehin schon nicht leiden. Der wird sich einen Spaß daraus machen und hat endlich einen Grund, mir einen reinzuwürgen. Was tue ich jetzt nur? Ich muss eine Hausarbeit schreiben, um das wiedergutzumachen“, schlug ich vor und wandte mich zum Gehen.

„Hey, warte mal!“, hörte ich den Typen hinter mir herrufen.

„Was?“ Etwas gereizt drehte ich mich noch einmal um, drauf und dran, meinen Weg in die Bibliothek einzuschlagen.

„Willst du mich jetzt einfach hier so stehen lassen?“, fragte er dann irritiert und sah sich etwas hilflos um.

„Ähm, ja?“, gab ich verwirrt zurück. Was dachte der sich denn? Immerhin trug er eine gewisse Mitschuld an dem Vorfall, den ich jetzt ausbaden musste. Wenn es ihm egal war, was mit seinen Noten passieren würde, war das seine Sache. Ich hingegen konnte mir so einen Vorfall absolut nicht leisten.

„Findest du das nicht ein bisschen unhöflich? Ich meine, wir sitzen ja nun irgendwie im selben Boot und du hättest ja nicht lachen müssen.“ Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und machte einen auf unschuldig. Ich legte die Stirn in Falten und sah ihn perplex an.

„Du könntest zumindest einen Kaffee mit mir trinken gehen“, schlug er freundlich vor. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Einen Kaffee?“

„Kannst gerne auch was anderes trinken. Aber wenn du jetzt eine Extraarbeit schreibst, nur um dem Prof in den Hintern zu kriechen, dann würde ich vermutlich schon etwas über dich schmunzeln“, gestand er achselzuckend.

Ich war völlig vor den Kopf gestoßen und konnte kaum antworten. Was dachte der Typ sich eigentlich?

„Also, was ist nun?“, fragte er und legte den Kopf etwas schief. „Nur einen Kaffee oder so, und wenn es nervig mit mir ist, dann lasse ich dich in Ruhe, versprochen. Aber ich finde, nach diesem Rausschmiss haben wir uns das verdient, und ich habe eine Chance, dich wieder zum Lachen zu bringen, echt verdient.“

Ich trat zögernd von einem Fuß auf den anderen. Mich fragte ziemlich selten jemand, ob ich einen Kaffee mit ihm trinken wollen würde. Irgendwie war mir die Situation zu blöd. Andererseits sollte ich vielleicht die Gelegenheit nutzen. Immerhin schien er nicht viele Leute hier zu kennen. Er saß ganz alleine in der Vorlesung. Und ich? Ich konnte mich auch nicht gerade mit einer Vielzahl an Freunden brüsten. Neue Leute kennenzulernen würde mir sicherlich guttun.

Außerdem konnte ich ja gehen, wenn es mir zu blöd werden würde. Seufzend nickte ich schließlich. „Okay, lass uns auf einen Kaffee gehen.“

***

Wir hatten uns draußen auf dem Rasen an einen Holztisch gesetzt. Die Sonne schien und der Hof war überraschend ruhig. Logisch, die meisten Studenten saßen in ihren Vorlesungen. Ich hatte das Gefühl, sämtliche Regeln zu brechen, die ich mir so mühsam auferlegt hatte.

„Und?“ Der Typ mit den schönen Augen nickte in meine Richtung. „Bist du immer so ein … naja … strebsames Mädchen?“

Ich bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Nein, bin ich nicht.“ Mit meiner rechten Hand wackelte ich etwas an meinem Kaffeebecher und beobachtete, wie der Kaffee kleine Wellen schlug. „Naja, eigentlich doch. Aber so darf mich nur meine beste Freundin nennen“, erklärte ich dann mit einem leichten Lachen.

„Verstehe. Und du bist tatsächlich noch nie aus dem Unterricht geflogen?“, wollte er dann mit unverständlichem Blick wissen. Ich schüttelte den Kopf und presste wehmütig die Lippen aufeinander.

„Puh, das ist ja fast schon traurig“, sagte er. „Und was meint deine beste Freundin dazu?“

„Daph? Hm, die hat dazu ihre ganz eigene Meinung“, lachte ich schließlich.

„Dann sollte ich mich wohl mal mit ihr kurzschließen und herausfinden, wie wir dich ein bisschen lockerer machen können. Er nahm einen Schluck aus seinem Becher, ohne seine Augen von mir zu nehmen.

„Tja, da wirst du lange warten können. Sie reist morgen nach Deutschland und macht ein Auslandssemester. Dass Daph dieses Auslandssemester machen wollte, stand schon sehr lange fest. Immerhin wollte sie Lehrerin werden und in ihrer Studienzeit auch Schulen in anderen Ländern kennenlernen. Jetzt stand erst einmal Deutschland auf ihrem Plan, wo sie an einer Schule in Berlin Kinder unterrichten würde. Ich wusste, wie wichtig dieser Teil ihrer Laufbahn war. Aber je näher der Tag ihrer Abreise rückte, desto mehr zog sich mein Magen schmerzlich zusammen. Wen hatte ich denn dann noch an meiner Seite, wenn sie weg war? Ohne sie fühlte ich mich schlichtweg allein. Nein, jetzt bloß nicht drüber nachdenken!

Ich erzählte ihm von ihren Plänen, dort an einer Schule zu unterrichten. Überhaupt fiel es mir leichter, über Daph zu sprechen als über mich. Über mich gab es ja auch nicht so viel Interessantes zu berichten. „Oh, dann … muss ich mich wohl vorerst alleine um dich kümmern“, lachte er und entlockte mir ebenfalls ein Lachen.

„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, fragte ich ihn. Immerhin verbrachten wir mittlerweile schon den halben Vormittag miteinander.

„Ich bin Brad. Brad Archer“, stellte er sich vor. „Und verrätst du mir auch deinen Namen? Oder soll ich dich einfach Nerd oder so nennen?“

„Es wäre besser für dich, wenn du das lässt. Ich bin Sally Walters“, antwortete ich und schob meine Brille wieder etwas höher.

„Sally“, wiederholte er langsam meinen Namen. „Sally, ich glaube, wir werden eine lustige Zeit miteinander haben“, grinste er mich frech an.

„Und wie kommst du darauf?“, fragte ich skeptisch zurück.

„Naja, dein Kaffee ist schon seit einer Weile leer, und du bist noch nicht abgehauen.“

***

So stürmisch ich am Morgen in die Uni gefahren bin, so stürmisch eilte ich am Nachmittag nach Hause. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange ich mit Brad draußen auf der Bank saß und einen Kaffee nach dem anderen schlürfte, aber es bescherte mir ein Lächeln auf den Lippen, wenn ich bloß daran dachte. In meiner Lage freute man sich über jedes Fünkchen Aufmerksamkeit, und zudem hatte es, zugegebenermaßen, wirklich viel Spaß mit ihm gemacht. Brad brachte mich unentwegt zum Lachen und ich fühlte mich für ein paar Momente einfach mal dazugehörig und gemocht. Obwohl der Tag nervenaufreibend angefangen hatte, nahm er mittlerweile schöne Ausmaße an. Wäre da nicht Daphs Abschiedsparty am Abend gewesen.