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Emmanuel Carrère

Brief an eine Zoowärterin aus Calais

Aus dem Französischen
von Claudia Hamm

Mit Fotografien von
Raymond Depardon

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Inhalt

Mai 2017

So sehr es auch überraschen mag: Das Hotel Meurice in Calais ist das Mutterhaus des berühmten Palace-Hotels in Paris, nicht umgekehrt. Die alte Poststation ist sogar eine Vorgängerin der Luxushotellerie in ganz Europa – mit einem Luxus allerdings, der inzwischen ziemlich abgeblättert ist, für lange Zeit jedoch zu Ibis-Preisen englische Touristen angezogen hat. Das Problem ist, dass sich die englischen Touristen, wie Ihnen jeder Händler in Calais erklären wird, aus Angst vor den Migranten und allgemeiner vor dem Chaos in der Stadt verdünnisiert haben.

Herr Cossard, der Besitzer des Meurice, würde seinen Laden gern verkaufen – nur leider verkauft sich in Calais rein gar nichts mehr. Er würde auch gern die Bereitschaftspolizisten als Gäste gewinnen, immerhin sind eintausendachthundert davon rund um den Tunnel und den Hafen stationiert – ein Glücksfall für alle Geschäftsführer von Ibis, Novotel und Formule 1 –, doch die Leute, die im Innenministerium darüber entscheiden, halten die verfallene Bürgerlichkeit des Meurice, seine Toile-de-Jouy-Stoffe, seine wackligen Chaiselongues und seinen verstaubten Nippes wohl für schwer vereinbar mit der rauen Mission der Ordnungskräfte.

Und doch gibt es seit einigen Monaten eine neue Kundschaft. Sie besteht zu einer Hälfte aus Journalisten, zur anderen aus Filmemachern und Künstlern aus ganz Europa, die kommen, um über das Elend der Flüchtlinge zu berichten. Zuweilen könnte man meinen, man befinde sich im legendären Holiday Inn von Sarajewo, wo während der härtesten Zeit der Belagerung sämtliche Kriegsberichterstatter logierten. Nach dem Frühstück zieht sich jeder eine warme Daunenjacke über die Multipocket-Weste, schnappt sich seine Kamera und steigt in sein bei Avis an der Place d’Armes geliehenes Mietauto, um in den »Dschungel« zu fahren, so wie man sich anderswo an die Front begibt.

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Ich selbst fahre nicht in den Dschungel – noch nicht. Ich bleibe in der Stadt. Doch noch bevor ich das Haus verlasse, wird mir ein Brief ausgehändigt, der heute Morgen an der Rezeption für mich abgegeben wurde und dessen erste Zeilen lauten:

»Nein, Sie nicht!

Heute Nachmittag war Laurent Cantet da, letzte Woche Michael Haneke, auch Charlie Winston hatten wir schon, insofern, Herr Carrère, nein, nicht auch noch Sie! Wir hier sagen uns: Wir haben die Nase voll von diesen Promis, entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, die hier in Calais ihre Schäfchen ins Trockene bringen und uns, die wir in seinen Mauern eingeschlossen sind, als Laborratten betrachten. Was wollen Sie hier? Zwei Wochen zwischen Das Reich Gottes und Ihrem nächsten Opus, um im Meurice zu nächtigen, ein paar Seiten für XXI zu schreiben und Ihre persönliche Wahrheit über unsere Stadt zum Besten zu geben? Sie werden bemerkt haben, ich sage ›unsere Stadt‹, als würde ich mich selbst als Calaiserin betrachten. Doch wissen Sie, Herr Carrère, in den drei Jahren, die ich in diesem Loch wohne, habe ich jede Woche mindestens eine Anfrage von Leuten von außen erhalten, die, wie Sie, über das, was sie gesehen haben, schreiben, einen Film machen oder in ein Mikro sprechen wollen – möglicherweise im Glauben, es besser zu können als alle anderen davor, und mit dem Wunsch, das gewiss dringende Bedürfnis nach einer persönlichen Stellungnahme zu stillen. Calais ist zu einem Zoo geworden, und ich bin eine der Kassenfrauen in diesem Zoo. Ich kenne den Rundweg, und so frage ich mich: In welche Falle werden Sie tappen? Welche Atmosphäre werden Sie einsaugen? Die des Channel (ich habe Sie dort gesehen)? Des Betterave (auch dort habe ich Sie gesehen)? Des Minck (wo man Sie sicher dazu gebracht hat, den Leuten die Hand zu schütteln)? Ich weiß es nicht, es gelingt mir nicht, meine Gedanken auf den Punkt zu bringen, aber eines bin ich mir gewiss: Ihr Unternehmen ist zum Scheitern verurteilt.«

Acht Seiten in diesem Stil, acht eher traurige als bösartige Seiten, sehr gut geschrieben und mit einem Namen unterzeichnet, der nach einem Pseudonym aussieht: Marguerite Bonnefille – das brave Mädchen. Nach der Lektüre mache ich mich natürlich recht nachdenklich auf den Weg ins Café du Minck. Zu Fuß, was in diesem so verarmten Département, dass es seine Steuereinnahmen vor allem aus Kfz-Zulassungen bezieht, selten praktiziert wird.

Ich laufe die Rue Royale hinauf, die Hauptverkehrsader von Nord-Calais – das praktisch eine Insel ist und bis ins 19. Jahrhundert ganz Calais war. Die Rue Royale wird wegen der vielen Bars, die sie säumen, auch »Rue de la Soif«, Straße des Dursts, genannt. Hier wird sich Samstagabends ordentlich geprügelt. Morgens sind die Bars geschlossen und ein Teil der Läden auch – letztere jedoch ohne die Aussicht, auch wieder zu öffnen, zum einen, weil es immer weniger Leute in Calais gibt, die irgendetwas kaufen könnten, zum anderen, weil man für Einkaufsbummel, aber auch für Freizeitbeschäftigungen oder Kinobesuche, falls man für solche das nötige Kleingeld hat, in die Cité Europe geht, das große Einkaufszentrum in der Nähe der Tunneleinfahrt in der Nachbargemeinde Coquelles.