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MATTHIAS SCHICKHOFER

SCHWARZ BUCH ALPEN

WARUM WIR UNSERE BERGE RETTEN MÜSSEN

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INHALT

„MEINE“ ALPEN

DIE EROBERUNG DER ALPEN

DIE ALPEN IM KLIMASTRESS

BEDROHTE ALPENWÄLDER

PATIENT SCHUTZWALD

WILDE, VERWILDERTE ALPEN

STREIT UM DIE ALPENFLÜSSE

ZERSIEDELTE, VERKEHRSGEPLAGTE ALPENTÄLER

GESUNDE LEBENSMITTEL AUS DEN ALPEN?

WOHIN GEHT DIE WINTERREISE?

ZUKUNFTSPFADE FÜR DIE ALPEN

QUELLEN

„MEINE“ ALPEN

In die Berge bin ich schon fast immer gefahren. Das erste Mal mit sechs Jahren. Es ging nach Schladming, zu Sepp und Elsa im Untertal. Damals war das noch eine recht lange Fahrt. Ich erinnere mich noch, wie wir im Untertal ankamen und ich das erste Mal den Dachstein sah. Wir hielten an, am Rohrmoos, von wo man den riesigen Kalkstock gut sehen kann. Als Kind des Waldviertels waren mir solche Höhen bis dahin unbekannt. Die riesigen Berge stellten mein gewohntes Landschaftskonzept auf den Kopf. Ich war verzaubert. Und bin es noch heute.

Für mich war das Gebirge eine fremdartige, leere, freie, wilde, verwunschene Landschaft. Ich erfuhr von den dort lauernden Gefahren, ich erlebte mein erstes (furchterregendes) Gebirgs-Gewitter in einen Regenponcho gehüllt auf den Schultern meines Vaters. Und ich lernte, dass mit den Abgründen nicht zu spaßen ist. Es war meine erste Erfahrung mit so etwas wie „Wildnis“.

Die Alpen waren für mich ein Übergang zu einer wilderen, freieren Welt, wo es Wind und Licht, Hitze und Kälte, hartes Gestein und weiche Matten (mit stechenden Gräsern) und jede Menge frische Luft, angereichert mit dem Duft der Berge, gibt.

Ich verbrachte die meisten meiner kleinkindlichen Urlaube in den Niederen Tauern, winters wie sommers. Den Geruch des alten Holzhauses oder des heimelig flackernden Herds im Zimmer (es gab noch keine Zentralheizung) habe ich heute noch in der Nase. Die Heimfahrten waren stets von Trauer begleitet. Und ich sehnte mich nach der nächsten Alpenfahrt.

Seitdem bin ich den Alpen treu geblieben – als Gast, als Umweltschützer und als Fotograf. Im Zuge vieler familiärer Aufenthalte, Bergtouren, Skiurlaube und beruflicher Reisen konnte ich beobachten, wie sich die Alpen veränderten, und gewann Einblicke in ihr Innenleben. Als Greenpeace-Campaigner und -Aktivist erhielt ich Einsicht in die vertrackte Problematik der alpinen Verkehrsmisere. Gemeinsam mit Einheimischen organisierte ich Proteste entlang der Transitachsen. Das Problem ist längst nicht entschärft.

Für Natur-Reportagen begab ich mich auf die Suche nach den letzten ursprünglichen Winkeln in den Alpen. Und wurde fündig: In abgelegenen Hochtälern und Gebirgszonen haben Urlandschaften überlebt, die heute teilweise unter Schutz stehen. Das gilt leider nicht für alle „wilden“ Orte. Für Naturschutzfachleute gehören die Alpen zu einem der bedeutendsten Hotspots der Biodiversität in Europa. Gleichzeitig gelten sie als eines der am gefährdetsten Gebirgs-Ökosysteme der Welt.

Die Naturschätze der Alpen sind auch ein wertvolles Kapital für die hier lebenden Menschen: Dezentraler, „sanfter“ Naturtourismus ist für viele Talschaften vermutlich die einzige Chance, die Abwanderung zu bremsen.

Im Februar 2017 besuchte ich Zermatt. Das ehemalige Bergdorf unter dem Matterhorn ist nur durch eine Art Gebirgs-S-Bahn von Großparkplätzen weiter unten im Tal erreichbar. Eine Großstadtszenerie am Rande der bewohnbaren Welt. Die Gornergrat-Bahn brachte mich auf über 3000 Meter. Dort steht ein Gebäudekomplex aus Hotel, Shoppingmall und Gastronomie. Drinnen werden Messer und Uhren verkauft, im Selbstbedienungsrestaurant gibt es teuren Cappuccino (und vertrocknete Lasagne).

Draußen wehte ein Föhnsturm. Eine chinesische Touristin sprach mich an. Sie sei hier mit ihrer Familie. Für einen Tag. Um „den Berg“, das Matterhorn, zu sehen. „Der Berg“ war allerdings unter dicken Föhnwolken verborgen. Die Gruppe trug Straßenschuhe, fror und alle waren im Gesicht dick mit Sonnencreme beschmiert. Jeder im Taktverkehr eintreffende Zug spülte weitere Selfies schießende Städter auf den Gornergrat, die dann etwas verloren an diesem grandios-unwirtlichen Ort herumstanden. Rundum herrschte Pistenbetrieb. Auf etlichen Graten waren Liftstationen zu sehen.

Hier waren die Grandezza und die Crux der Alpen auf einem Bild versammelt: die an sich nutzlose Schönheit der wilden Berge und der Versuch, sie der geschäftigen Menschheit zugänglich zu machen. Die Menschen sind hier aber ganz offensichtlich nur Gäste. Wenn die Elemente hier ungnädig werden, dann ist der Spuk schnell wieder vorbei. Technische Großanlagen sind besonders verwundbar. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es hier in 30 Jahren aussehen könnte – wenn Gletscher- und Permafrostschmelze ihre unheilvollen Spuren vertieft haben werden.

Dieses Buch ist keine umfassende oder wissenschaftliche Aufarbeitung der Situation der Alpen. Vielmehr eine subjektive Zusammenstellung von aktuellen Schlaglichtern auf einige Themen, die mir wichtig erscheinen. Über Lösungen wurde viel nachgedacht und geschrieben. Die Materialien, die in Zusammenhang mit der Alpenkonvention erarbeitet wurden, bieten eine Unzahl von mehr oder weniger konkreten Ansätzen. Es gibt keine Patentlösung. Aber vielversprechende Modelle für einen besseren Umgang mit unseren Bergen und für ein gutes Leben in dieser einzigartigen Region.

Die Alpen verdienen einen radikalen Wandel in unserer Wahrnehmung und in unserem Umgang mit ihnen. Möge dieses Buch einen Anstoß dazu geben.

DIE EROBERUNG DER ALPEN

Am Beginn stand eine gewaltige Kollision: Vor 230 Millionen Jahren bildete sich zwischen Eurasien und Afrika ein seichtes Meer, die Tethys. Diese Senke füllte sich langsam mit abgestorbenen Lebewesen und Schutt. Daraus wurde später das Kalkgebirge. Dieser Vorgang spielte sich in vier Sedimentationsbecken ab, dem „Helveticum“, dem „Penninikum“, dem „Ostalpin“ und dem „Südalpin“. Die Namen geben Hinweise auf die Alpengebiete, in denen sich diese Sedimentgesteine heute befinden.

Vor 100 Millionen Jahren begann die afrikanische Platte gegen den eurasischen Kontinent zu driften. Die riesigen Landmassen schoben sich in extremer Zeitlupe übereinander, durch diese Verfrachtungen entstanden verschiedene Gesteinsdecken und die Sedimentablagerungen wurden nach Norden bewegt.

Vor etwa 30 Millionen Jahren setzte die alpidische Hebung ein: Die afrikanische Platte drückte stärker gegen die eurasische Landmasse und aus den Alpen wurde allmählich ein Hochgebirge. Flüsse und Eiszeitgletscher modellierten die alpinen Tallandschaften. Die Bewegung der Kontinentalplatten ist nicht zum Erliegen gekommen: Jedes Jahr rückt Rom einen halben Zentimeter näher an den Bodensee.

Wasser und Eis (Eiszeiten) bewirken eine beständige Abtragung der Alpen, ohne sie wären die Alpen wesentlich höher, zwischen 8000 und 10.000 Metern.

Zum Ende der letzten Eiszeit, vor etwa 12.000 bis 10.000 Jahren, waren die Alpen sehr wild und fast menschenleer. Damals wichen die riesigen, ganze Täler füllenden Gletscher, die viele Kilometer in das Alpenvorland vordrangen, wieder zurück und hinterließen zunächst eine Kältesteppe.

Bis vor etwa 10.000 Jahren lebten in Europa noch fantastisch anmutende Tiere wie das Woll-Mammut oder das Woll-Rhinozeros. Große Pflanzenfresser wie Wisente und Elche waren auch in den Alpen heimisch. Wisent-Knochen wurden im Alpenraum bis in große Höhenlagen gefunden.1 Noch im Frühmittelalter waren Wisente in Europa verbreitet.

Die einst vorherrschenden größeren Pflanzenfresser in den Alpen – Wisente, Elche, Steinböcke – wurden (bis auf Hirsche und Gämsen) ausgerottet oder stark dezimiert. Steinböcke waren bis in die Jungsteinzeit in verschiedenen Bergregionen das vorrangige Jagdwild. Um 1800 gab es nur mehr etwa 100 Tiere im italienischen Gran-Paradiso-Nationalpark. Im letzten Moment konnten diese Tiere geschützt und ein völliges Aussterben abgewendet werden. Mithilfe von Wiederansiedlungsprogrammen gelang es, den Steinbock in vielen Alpen-Gebieten wieder heimisch zu machen.

Als das Eis zurückwich, setzte auch die kontinuierliche Wiederbesiedlung durch die Menschen ein. Die frühen Siedler lebten als Jäger und Sammler. Aber schon früh begann die industrielle Nutzung der Alpen: Wie neue Forschungen ergeben haben, begann der Salzabbau in Hallstatt vermutlich deutlich früher als bisher angenommen. Bereits um 5000 v. Chr. wurde die Landschaft in diesem Gebiet intensiv bewirtschaftet. Hallstatt ist eine der ältesten Kultur- und Industrieregionen der Welt.

In der Jungsteinzeit bildeten sich sesshafte Bauernkulturen. Um die Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr. wurde der zentrale Alpenraum für die Menschen auch als Dauersiedlungsraum interessant. Das führte zu einer zunehmenden Nutzung und Abholzung von Wäldern, zunächst im Einzugsbereich der Siedlungen. Auf den gerodeten Flächen wurde Ackerbau betrieben, im Wald weidete das Vieh.

Die bekannteste Gletschermumie, der „Ötzi“, stammt aus dem Zeitraum um 3200 v. Chr. Damals lebten die meisten Menschen bereits von Ackerbau und Viehzucht.

In der Bronzezeit (ca. 2200 v. Chr.) verdichtete sich die menschliche Präsenz. Die Menschen stiegen bereits auf die Berge, entfernten alpine Waldbestände und nutzten die frei werdenden Flächen als Sommerweiden. Davon zeugen Funde von Werkzeugen und Felsbildern in großen Höhen.

Die Römer begannen die Alpen systematisch zu erschließen und schufen ein erstes, großes Wegenetz. Das war die Grundlage für die Ausbreitung des Handels und der „Zivilisation“. Der Brennerpass wurde bereits im 2. Jahrhundert mit einer Straße gebändigt. Gehandelt wurde mit Salz, Holz oder Wein. An den Wegen entstanden Orte mit Herbergen, an den Kreuzungen und bei wichtigen Rohstoff-Abbaugebieten bildeten sich Städte.

Salz war im Mittelalter die begehrteste Handelsware. Viele alpine Ortsnamen mit dem Wort „Hall“ (das keltische Wort für Salz) zeugen von der Bedeutung der Salzgewinnung, etwa Reichenhall, Hallein oder Hall in Tirol. Ausgehend von den Salinen und Salzbergwerken in den Alpen entstanden Salzstraßen – Handelswege für den Salztransport zu den großen Städten.

Die Salzproduktion veränderte die Landschaft: Wälder wurden als „Salinenschläge“ abgeholzt, um Holz für die Befeuerung der Siedepfannen zu gewinnen. Das Holz für die Salinen musste „leicht“ sein, was die Anpflanzung von Fichten begünstigte.

Salzgewinnung und Bergbau brachten auch große Veränderungen für die Gesellschaft: An etlichen Orten schürften Tausende Knappen nach den begehrten Bodenschätzen. Das förderte auch die Ausbildung relativ fortschrittlicher Sozialsysteme. Bergbau-Städte wuchsen und wurden reich. Insgesamt entwickelte sich die Urbanisierung im Alpenraum aber viel langsamer als im europäischen Tiefland.

Die Landschaft der Alpen, wie wir sie heute kennen, wurde maßgeblich durch die Landwirtschaft geprägt: Die Täler und Almen der Alpen sind eine alte Kulturlandschaft mit lange zurückreichenden bäuerlichen Traditionen. Bergbauernhöfe wurden selbst in hoch gelegenen, oft nur schwer zugänglichen Lagen errichtet. Der Süden – die romanische Region – und der Norden – die germanischen Regionen – unterscheiden sich hinsichtlich der Bewirtschaftungsformen: In der romanischen Bergbauernwirtschaft haben Ackerbau und Milchwirtschaft den gleichen Stellenwert. Die sonnigen Lagen werden für den Ackerbau genutzt, auf schattigen und höher gelegenen Flächen finden sich Weiden. Es gibt Winter-, Sommer- und Almsiedlungen. Dank Realerbteilung bestehen die Siedlungen aus kleinen, verwinkelten Steinhäusern, die als „Haufendörfer“ auf den oft steilen Sonnenhängen kleben. Die romanischen Bergbauern waren wirtschaftlich autark. Nur Salz, zur Konservierung von Lebensmitteln, musste zugekauft werden.

Der Norden der Alpen weist ein feuchteres und kühleres Klima auf, was den Anbau von Getreide erschwert. Die germanische Berglandwirtschaft hat sich daher auf Grünland- und Viehwirtschaft spezialisiert. In den Nord- und Ostalpen fehlen somit Ackerterrassen. Weide und Wald gehören zum Hof, Allmende-Flächen (gemeinschaftlich bewirtschaftete Wälder oder Almen) gibt es im Unterschied zum romanischen Raum nicht. Almwirtschaft ist nur wenige Wochen im Jahr möglich. Meist erbt nur ein Sohn, daher dominieren über die Hänge verstreute, stattliche Bauernhöfe, die oft aus Holz gebaut sind. Die Bevölkerungsdichte in der romanischen Region ist viel höher, weil Ackerbau mehr Menschen ernähren kann.

Im späten 18. Jahrhundert entdeckte man die ästhetischen Reize der alpinen Welt. Die Alpen waren längst eine überwiegend vom Menschen geprägte Kulturlandschaft, mit Ausnahme der Zonen im Hochgebirge und der Steilhänge, die für die Nutzung ungeeignet waren. Das tat der Begeisterung der ersten Touristen für diesen – im Vergleich zum übrigen Europa – relativ naturnahen und daher faszinierenden Raum keinen Abbruch.

Die „Entdeckung“ der Alpen durch den städtischen Tourismus führte zu einem Umbruch in der Wahrnehmung und Bewertung dieses Gebirges in der Mitte Europas. Für die Bewohner waren die Alpen ein mit Gefahren und Mühsal verbundener, aber „alltäglicher“ Lebensraum. In den Städten hingegen dominierte das Bild der „schrecklichen“ Berge, die von mehr oder weniger kulturlosen (weil fernab der kulturellen Zentren lebenden) Menschen bewohnt werden. Der Alpenforscher Werner Bätzing spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zerrbild, das mit der Realität dieses Gebirges wenig zu tun hat“2, weil bereits das Leben in diesem Raum eine hohe Kulturleistung darstellte.

Die Bewertung der Alpen als „schreckliches Gebirge“ wandelte sich zum ästhetisch verklärten Bild der „schönen Alpen“. Bätzing zufolge verlor die Natur aufgrund der „Herausbildung der modernen Naturwissenschaften“ und der „rationalen Weltsicht in Form der Aufklärung“ ihren Schrecken. Es entstand eine neue ästhetische Deutung einer „schrecklich-schönen“ Gebirgswelt, ein verklärtes, ländliches Idyll vor einer bedrohlichen, alpinen Kulisse. Laut Bätzing ist dieses neue „romantische“ Alpenbild ebenfalls ein Zerrbild, weil die Landschaft der Alpen nicht überall schön sei, man denke etwa an Geröll- und Schuttlandschaften.

HEILE, ROMANTISCHE ALPEN-WELT

Die einsetzende Natur- und Alpenbegeisterung in den urbanen Zentren wurde auch genährt durch Veröffentlichungen wie jene des Schweizer Naturforschers Horace-Bénédict de Saussure, der als Pionier der Alpenforschung und Wegbereiter des Alpinismus gilt: Er bestieg als Erster das Klein Matterhorn und führte eine erste wissenschaftliche Besteigung des Mont Blanc durch, bei der er den Berg als höchsten Gipfel Europas vermaß.

Der frühromantische Bestseller „Julie oder Die neue Heloise“3 des Genfer Schriftstellers, Naturliebhabers und Gesellschaftskritikers Jean-Jacques Rousseau spielte eine wichtige Rolle in der Verbreitung eines neuen, naturaffinen Alpenbildes: Natur und Ursprünglichkeit als Gegenentwurf zur städtischen Welt.

Die ersten Pioniere des Tourismus kamen vor allem aus England. Die meisten Alpen-Bewohner werden das Eintreffen der ersten Touristen mit Kopfschütteln quittiert haben. Doch das neue Phänomen bot auch wirtschaftliche Chancen: Quartiergeber, Gastronomen, Bergführer, Transporteure usw. konnten damit Geld verdienen; die Tourismusindustrie entstand. Die Alpen wurden zur Projektionsfläche für das Geschäft mit der (Wochenend- und Ferien-)Massenflucht aus dem naturfernen, ungesunden, städtischen Alltag. Dabei geht das Substrat der Sehnsucht – die unversehrte Landschaft – zusehends verloren. Die heile Alpenwelt wird gerade dort, wo sie besonders wirkungsvoll ihre Anziehungskraft entfaltet, Opfer derselben.

Im späten 19. Jahrhundert entstand der Begriff der Heimatliteratur. Diese Gegenbewegung zum Naturalismus stellte der um sich greifenden Modernisierung eine heile Welt des ländlichen Raums, der Natur und der Berge mit traditionellen, moralischen Menschen gegenüber. Besonders erfolgreich war Ludwig Ganghofer, dessen Bücher Millionenauflagen erzielten, und die fortan als Modelle für unzählige, mehr oder weniger kitschige Nachahmungen dienten.

Ganghofers narrative Elemente fanden auch Eingang in „Heimatfilme“, die ab 1910 produziert wurden. Die Filme von Arnold Franck („Die weiße Hölle vom Piz Palü“, 1929) lieferten wichtige Impulse. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Heimat-Sujets in der Blut-und-Boden-Literatur und in zahlreichen Filmen ideologisch missbraucht. Die Nationalsozialisten förderten die Naturverklärung in ihrer kulturpolitischen Propaganda. Allen voran der Südtiroler Luis Trenker wurde berühmt dafür, Heimat und erhabene Bergwelt als idealisierte Projektionsfläche mit der Dekadenz des Stadtlebens zu kontrastieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam in Deutschland eine Welle an meist recht schlicht gestrickten Heimatfilmen auf, die den noch mit den Folgeschäden des Krieges kämpfenden Menschen ein wohliges, stereotypes Bild von vertrauter Heimat präsentierten.

Im Alpinismus entwickelte sich zwischen den beiden Weltkriegen ein „heroisches“ Zeitalter. In den italienischen Dolomiten wurden sehr schwierige Erstbegehungen im VI. Grad frei geklettert. Herausragend war die Besteigung der bis dahin als unbegehbar eingestuften überhängenden Nordwand der Großen Zinne im Jahr 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen Trend zur technischen Erschließung vieler Alpenwände (mit viel Eisen versicherte Routen), der in den späten Sechzigerjahren durch ein Revival des Freikletterns abgelöst wurde. Reinhold Messner und sein Bruder Günther knüpften an die Tradition der Dreißigerjahre an und eröffneten neue Schwierigkeitsgrade, etwa am Heiligkreuzkofel in den Dolomiten (1968).

VERKEHRSERSCHLIESSUNG UND TOURISMUS

Die Alpen verhindern zweifellos „die freie Sicht aufs Mittelmeer“: Sie sind eine gewaltige Barriere im europäischen Zentrum. Die einsetzende Moderne machte sich daran, diese verkehrstechnisch zu überwinden. Auch die „Reliefenergie“ der Alpen – zur Energieerzeugung – kam ins Blickfeld. Ende des 19. Jahrhunderts begann man in Frankreich und der Schweiz mit der industriellen Erschließung der Alpen für die Energiegewinnung.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der Bau von alpinen Eisenbahnen ein. 1854 wurde die Semmeringbahn eröffnet, die erste gebirgsquerende Bahn der Welt. 1871 ging die erste Bergbahn Europas in Betrieb: auf die Rigi über dem Vier-waldstättersee. Ein paar Jahre später erreichte das Schienennetz den gegenüberliegenden Pilatus – bis heute die steilste Bahnstrecke der Welt. Mit den Bahnen kamen die Touristen, um 1900 entstanden in der Schweiz etliche Grandhotels. 1898 erreichte die Gornergrat-Bahn bei Zermatt eine Höhe von 3089 Metern. Noch höher hinauf schaffte es 1912 die Jungfraubahn mit in Europa unerreichten 3454 Metern. 1908 startete bei Grindelwald die erste Bergschwebebahn auf das Wetterhorn. Die hing noch an vier Seilen, heute schweben Seilbahnen an nur einem.

Ab den 1950er-Jahren waren die Berge selber dran: Technische Aufstiegshilfen machten steile Wände auch für Unerfahrene begehbar und der alpine Skitourismus kam auf Touren. Pisten wurden angelegt, Skilifte und Seilbahnen errichtet. Die Zahl der Skifahrer stieg rasant.

In den späten 1950er-Jahren kamen die Alpen als Hindernis für den Straßenverkehr ins Visier. Die Brennerautobahn, eine der ersten Gebirgs-Schnellfahrstrecken der Welt, wurde in den 1960er-Jahren mit gigantischem Aufwand in Beton gegossen bzw. (in Italien) durch den Fels gebohrt. Ab 1971 strömte der Verkehr. Fast zehn Jahre später, 1980, öffnete auch die Schweiz mit dem Gotthard-Straßentunnel die Schleuse für Laster und Autos.

Der Fremdenverkehr spielte auch eine Rolle für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. 1948 entstand die Idee, den Tourismus durch niedrig verzinste ERP-Kredite zu unterstützen.4 Die französische Nachkriegspolitik wollte ganz Frankreich nach Savoyen in die Skiferien lotsen. Dafür musste Skifahren leistbar sein, also errichtete der Staat große Gebäudekomplexe mit vielen kleinen, billigen Wohnungen. Die ähnelten nicht zufällig den Vorortsiedlungen: Sie wurden von den gleichen Architekten geplant. In Savoyen steht heute der größte Skizirkus der Welt, Trois Vallées, mit 600 Kilometern Piste und 144 Liften. Der Drang zum „Größten“, „Höchsten“, „Schnellsten“ im Skitourismus ist ungebrochen. Ein Strudel aus Investition und Verschuldung ist entstanden – und dreht sich immer weiter. „Man ist in einer Wachstumslogik gefangen“, erklärt Verena Winiwarter, Umwelthistorikerin am Institut für Soziale Ökologie der Universität Klagenfurt.5

Mit 460 Millionen Nächtigungen pro Jahr sind die Alpen heute eine der beliebtesten Urlaubs-Destinationen weltweit. Noch in den frühen 1990er-Jahren überwog der Sommer-Tourismus, dann wurde der Winter das Zugpferd für die Branche. Doch hier stößt man zusehends an Grenzen, nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels. Also wird verzweifelt nach Alternativen gesucht. Aber was tun mit den hässlichen Wintersport-Arealen? Wer will da noch bergwandern? Fieberhaft werden alternative Nutzungen für die vielen Seilbahnen in der zunehmend schneefreien Zeit ersonnen. Der Adrenalin-Faktor ist wichtig, meinen Marketing-Fachleute. Also kommen Downhill-Mountainbiking, Paragliding, Sommerrodelbahnen, Skywalks, Seilbrücken oder Seil-Gleitfluganlagen auf die Angebotspalette.

DIE ALPEN ALS SPASSKULISSE

Eines haben all diese „Angebote“ gemeinsam: Die Alpen werden zum Sportgerät und zur Spaßkulisse degradiert. Wichtig ist vor allem, dass ausreichend Geld an den verschiedenen Kassen und Chipkarten-Lesegeräten in der verbauten Landschaft hängen bleibt. Und die Anlagen müssen massentauglich sein.

Die Beliebtheit der alpinen Spaß- und Sporteinrichtungen ist eine der Ursachen für die wachsende Not der alpinen Ökosysteme. Das betrifft nicht nur das Skifahren, sondern auch andere Trendsportarten im sogenannten Outdoor-Be-reich. Die Alpen sind in dieser Hinsicht weltweit einzigartig: Keine andere Bergregion wird von erlebnishungrigen Menschen so beansprucht wie die Gipfel und Täler zwischen Nizza und Wien.

Früher waren vor allem Bergwandern und Bergsteigen angesagt. Die extremeren Auslegungen des Alpenerlebnisses waren einer überschaubaren Gruppe von Könnern vorbehalten. Das Streben nach Nervenkitzel und Angstlust treibt Touristiker und ihre Kundschaft immer weiter in bisher kaum berührte Naturlandschaften. Dort erhofft man sich intensive Körper- und Landschaftserlebnisse durch Canyoning, Mountainbiking, Paragliding, Rafting, Caving, Freeriding oder Klettern. Bisher kaum gestörte Orte wie Felswände, Schluchten oder Höhlen kommen mehr und mehr unter Druck.

Ein Beispiel dafür ist die „Area 47“, eine Erlebniswelt am Eingang zum Tiroler Ötztal. Der alpine Vergnügungspark macht in seinen Werbetexten klar, um was und wen es geht: „Wildwasser und Stromschnellen, steiler Fels, tiefe Gumpen und Berghöhlen ziehen dich magisch an? Mit den erfahrenen Guides der AREA 47 eroberst du das nasse Element im Raftingboot. Spürst das Herzklopfen im Hals, bevor du in der Schlucht nach unten springst. (…) Geh an deine Grenzen, mit der geeigneten Tour für Einsteiger, Familien und eingefleischte Bergabenteurer.“

Die Area 47 bietet einen 20.000 Quadratmeter großen Wasserpark. Zahlende Gäste können „Wakeboarden“ oder sich beim Blobbing oder auf der Wasserschanze austoben. Rafting auf dem Inn, Canyoning, ein Hochseilgarten oder Höhlentouren sorgen für die Steigerung des Nervenkitzels – mit Sicherheitsnetz. Fachleute haben dafür einen neuen Anglizismus erfunden: das „Thrilling“, die Lust an der Angst. Ein Urlaub muss heute mehr bieten als nur ein Urlaubsziel oder eine Sportart. Also werden bekannte Angebote „neu verpackt“ und frisch inszeniert.

Die Gebirgslandschaft allein ist nicht genug, sie wird nun „bespielt“. Um die touristischen „Produkte“ unter die Leute zu bringen, werden „Marken“ kreiert und „positioniert“. Natürlich geht es dabei um „Wertschöpfung“, also Einnahmen. Beim guten alten Wandern bzw. Radfahren und einem eher kontemplativen Naturaufenthalt verbleibt halt weniger Geld in der Gegend.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) stellt dazu kritisch fest: „Der Natur wird keine Atempause mehr gegönnt.“ Ihre Belastungsgrenzen seien aber in vielen Bereichen bereits überschritten. „Von der Eventisie-rung halten wir nichts, das sind Geschmacksverstärker, die den Blick von der Schönheit der Natur ablenken“, meint Hanspeter Mair vom Deutschen Alpenverein.6

DIE ALPEN IM KLIMASTRESS

Am stärksten sind die Veränderungen dort sichtbar, wo es am kältesten ist: beim Eis. Die Gletscher sind daher eine Art Klima-Alarmanlage. Gletscher sind fremdartige Zonen, eine Welt aus Kälte, Eis, Schutt, Lawinen, Moränenseen, reißenden Bächen und heimtückischen Spalten. Gletscher werden im Schnee geboren: Unter den meterhohen Schneeauflagen in ihren am höchsten gelegenen Bereichen verwandeln sich die Schneekristalle unter Druck in körnigen Firn, der allmählich zu Eis verdichtet wird. Aus 80 Zentimeter Schnee wird etwa ein Zentimeter Eis. Das gewaltige Eigengewicht lässt das Eis langsam abwärts gleiten. Wenn ausreichend viel Eis ausreichend schnell von oben nachschiebt, können Gletscher bis tief in die grünen Talzonen hinabreichen. Früher stießen einige der größten Alpengletscher bis in die Bergwaldzone vor. Doch dieses Phänomen ist heute auf nicht einmal eine Handvoll Gletscher beschränkt, wie den sich ausdünnenden Aletsch- und den Morteratschgletscher in der Schweiz oder das französische Mer de Glace am Mont Blanc.

So bedrohlich Gletscher wirken mögen, haben sie doch stets hilfreiche Dienste für die Bewohner der tiefer gelegenen Bereiche der Alpen geleistet. Ihr wichtigster Beitrag: Oben, in ihrem „Nährgebiet“, nehmen sie Wasser in Form von Eis auf und geben es nach vielen Jahren unten, im „Zehrgebiet“, wieder ab. Gletscher sind also gigantische Pufferspeicher, die den Winterniederschlag verzögert im Sommer in die Flüsse speisen. Diese sogenannte „Gletscherspende“ garantiert auch im Sommer eine reichliche Wasserführung in vielen großen Alpenflüssen. In heißen, trockenen Sommern, wenn der Winterschnee auf den Bergen fast vollständig verschwindet, fällt diese Wasserzufuhr dank Schmelzwasser besonders groß aus. Noch. Denn die Alpengletscher schwinden seit mehreren Jahrzehnten kontinuierlich dahin.

Bedingungen wie im extremen Hitzesommer 2003 könnten in wenigen Jahrzehnten der Normalfall sein. Dann wird der sommerliche Wassersegen der Gletscher nicht mehr für eine Linderung der Wassernot sorgen, weil die Gletscher weitgehend abgeschmolzen sein werden. Die Alpenflüsse könnten dann im Hochsommer extremes Niedrigwasser führen – bedingt durch das Ausbleiben der Gletscherspende in Kombination mit früher Schneeschmelze in den Bergen und fehlenden Niederschlägen. „Mit den versiegenden Bächen und Flüssen sinken auch See- und Grundwasserspiegel im Unterland und die erhöhte Verdunstung trocknet die Böden aus. Der Bedarf an Wasser für die Landwirtschaft steigt, aber um die Nutzung des verbleibenden Wassers entstehen ernste Konflikte.“7 Wasser werde ja auch gebraucht als Trink- und Brauchwasser, ist lebensnotwendig für Fische in Gewässern, für die Stromerzeugung und die Kühlung von Kernkraftwerken oder für das Löschen von (in Zukunft wahrscheinlich häufigeren) Waldbränden.

Der Bericht „Klimaänderung und die Schweiz 2050“ des „Beratenden Organs für Fragen der Klimaänderung“ OcCC nennt beunruhigende Zahlen: „Drei Viertel der Wasservorräte, welche in den Gletschern langfristig gebunden sind, werden alleine bis 2050 wahrscheinlich verschwinden: Dies sind etwa 40 Kubikkilometer Wasser.“8 Es sei daher zu erwarten, dass während Trockenperioden eine stärkere Konkurrenz ums Wasser entsteht.

Das Schmelzwasser aus dem vereisten Hochgebirge hat noch einen anderen Effekt: Es ist kälter und wird von entsprechend angepassten Arten bewohnt. Gletscherbäche transportieren außerdem Unmengen an Gesteinsmehl, das die zig Tonnen schweren Gletscher im Zuge ihrer Abwärtsbewegung an ihrer Unterseite vom Fels abschleifen. Diese „Gletschermilch“ setzt sich als Sediment im Flachland ab.

Gletscher und gefrorene Schutthalden (Blockgletscher) bewegen große Gesteinsmassen. Aber sie tun das langsam und meistens berechenbar. Steinschlag, Bergstürze, Lawinen, Muren und Hochwässer bedrohen Siedlungsräume stärker. „Seit der historischen Besiedlung der Gebirgsräume hat der Mensch versucht, mit diesem Risiko sinnvoll umzugehen. Er ist dabei davon ausgegangen, dass Klima und Natur in engen Grenzen relativ konstant bleiben – eine Annahme, die für die kommenden Jahrzehnte kaum mehr gelten kann.“9

Die Gletscher sind aber auch abseits ihrer technischen „Funktion“ von Bedeutung. Sie sind die weiße Krone der Alpen. Ihr Anblick lockt jedes Jahr Hunderttausende Touristen in das Gebirge. Besucher-Hotspots wie die Franz-JosefsHöhe beim österreichischen Paradegipfel Großglockner oder der Gornergrat bei Zermatt sind Schlüssel-Attraktionen. Der Pasterze-Gletscher unter den Wänden des Großglockners löst sich jedoch zusehends auf: Der kilometerlange Talgletscher ist bereits weitgehend von seinem Nährgebiet abgeschnitten. Im „Hufeisenbruch“, wo noch vor einigen Jahren bizarre Eisgebilde die steilen Talflanken überzogen, klafft jetzt eine offene Wunde aus Stein. Der Großteil des Eisbruchs ist weg. Wissenschaftler geben der unteren Pasterze nicht mehr viele Jahre; in Zukunft wird es dort nur mehr schuttbedecktes „Toteis“ geben.

In den letzten 150 Jahren haben die Alpengletscher bereits mehr als die Hälfte ihrer früheren Ausdehnung eingebüßt. In höheren Lagen, wo Felswände das Eis beschatten oder Lawinen für ausreichend Nachschub sorgen, wird sich das Eis länger halten. Aber auch hier schmilzt in heißen Sommern fast der ganze „Altschnee“ ab und das Eis ist der Sonne ausgesetzt. Wird der stolze „Glockner“, Österreichs höchster Gipfel, in ein paar Jahrzehnten ein kahler Steinberg sein?