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Impressum

Leo Hillinger – Konsequenz, Konsequenz, Konsequenz!

1. Auflage

© Copyright 2017

egoth Verlag GmbH

Untere Weißgerberstr, 63/12

1030 Wien

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

ISBN: 978-3-903183-03-2

eISBN: 978-3-903183-57-5

Lektorat: Lisa Krenmayr

Coverbild: Wolfgang Prummer

Bilder: Privatarchiv Leo Hillinger, Armin Faber, Puls 4/Lisa-Maria Trauer, Sascha Wurzinger, ORF/Milenko Badzic, Gerry Frank, Heike Witzgall, Pixabay

Grafische Gestaltung und Satz: Clemens Toscani/www.toscani.at

Gesamtherstellung: egoth Verlag GmbH

LEO HILLINGER

KONSEQUENZ,
KONSEQUENZ,
KONSEQUENZ!

WINZER · FAMILIENVATER · QUALITÄTSFANATIKER · TV-STAR
SPORTLER · MARKETING-STRATEGE

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Vor allem eines: Weinbauer

Der Mann, der frühmorgens auf der anderen Seite des Tisches sitzt, sieht abgehetzt aus. Er ist übernächtigt und am Ende seiner Kräfte. Doch zuweilen flackert sein Blick auf, geben seine Augen den Weg zu seinem Seelenleben frei. Er ist unheimlich stolz auf das, was er in den vergangenen Stunden geleistet hat. Er weiß, seiner Berufung gerecht geworden zu sein.

Der Mann ist Weinbauer Leo Hillinger und er kommt nicht von einem rauschenden Fest, einer TV-Show oder einer langen, kräftezehrenden Radausfahrt.

Es ist der 21. April 2017. In der eben vergangenen Nacht hat er mit seiner Mannschaft gegen den Frost in seinen Weingärten in Rust, Jois und Oggau angekämpft. Tags zuvor hatte er noch für eine TV-Serie gedreht, am Abend Mitarbeitergespräche geführt, Kunden aus Bangkok empfangen und sich dann aufs Ohr gelegt, für zwei oder drei Stunden. Ab zwei Uhr nachts war er wieder im Einsatz, wie 50 seiner Mitarbeiter. Erinnerungen an 2016 wurden wach, damals hatte der Frost 80 Prozent der Ernte vernichtet. Doch für das „Retourmatch“ hatte Hillinger mit seinem Außenbetriebsleiter und anderen Winzern in der Region die richtige Strategie ausgearbeitet: Strohballen anzünden, dann mit Wasser tränken. Durch die Rauchentwicklung und die Rauchwolken würde sich die Temperatur um just diese ein, zwei Grad Celsius erhöhen, die den angekündigten Frost, wenn nicht wirkungslos, so doch harmloser werden lassen. Hillinger steht in der ersten Reihe, legt Feuer und löscht, zündelt und nässt selbst, fährt von einem Weingarten zum anderen, koordiniert und motiviert seine Leute. „Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bilden meine zweite Familie“, sagt er und sinniert, dass er diese eigentlich öfter sieht als seine erste.

Er hätte doch im Bett bleiben und sich am nächsten Tag berichten lassen können. Er lächelt müde. Ein Unternehmer muss immer alles wissen, muss vor Ort die richtigen Entscheidungen treffen: gerade dann, wenn es um Leben und Tod der Traube, und im übertragenen Sinne des Unternehmens, geht. Deswegen kontrolliert er – denn die Zahlen müssen stimmen – und versucht zugleich kein Kontrollfreak zu sein – denn diese Attitüde verunsichert die Mannschaft. Sicherlich kennen auch Sie die Bilder und die Sprüche, welche die Unterschiede zwischen Chef und Leader thematisieren. Ersterer sagt: „Ich“, letzterer postuliert: „Wir“, ersterer befiehlt: „Macht!“, letzterer meint: „Lasst uns machen!“. Hillinger ist einer, der vorausgeht, der sich die Hände schmutzig macht, der persönlich bis zum Umfallen für seine Sache, und die Sache all seiner Mitarbeiter, kämpft. Er ist ein Leader. Er baut sein Eigenheim erst, nachdem er seine Firma von allen Schulden befreit hat und stellt das Wohl seines Unternehmens über all seine anderen Tätigkeiten. Es hat keine Flüge in der Business Class gegeben und keine Ferien. Er versteht nicht, dass Chefs auf Urlaub fahren können, obwohl sie den Betrieb schrumpfen und treue Angestellte entlassen. In den Zeiten der Wirtschaftskrise hat er keine einzige Kündigung ausgesprochen (darauf ist er sehr stolz), sondern nur darauf verwiesen, dass in harten Zeiten jeder und jede für alle anfallenden Aufgaben zur Verfügung stehen muss. In mageren Jahren heißt es durchbeißen, in fetten Jahren gibt es Prämien und Boni. Das Wohl der Firma, sagt er, ist das Allerwichtigste für einen Unternehmer. Wenn es dieser gut gehe, könne man immer noch weiterschauen, was man machen wolle.

In der Nacht vom 20. auf den 21. April ist Hillinger mit ein paar Schrammen davongekommen. 99 Prozent der gesetzten Maßnahmen haben ihre Wirkung nicht verfehlt, der Frost wurde zurückgeschlagen. Es blitzt in den Augen des Winzers, er ist zufrieden aber nicht gelassen – absolute Sicherheit gibt es keine. „Das Wetter kann man nicht kontrollieren“, meint er, „und deswegen ist der europäische Weinbau so herausfordernd. Da haben es Berufskollegen in Australien oder in den USA leichter. Na gut, die werden eben andere Probleme haben.“

Hillinger ist Familienvater, TV-Star, Marketing-Stratege (oder gar Marketing-Guru?). Doch vor allem ist er eines: Weinbauer mit Herz und Seele. Es mag kitschig klingen, wenn man sagt, dass aus seinen Flaschen auch Herzblut mitgetrunken wird – nichtsdestotrotz hat dieser Satz seine Richtigkeit. Denn nichts ist dem Burgenländer wichtiger als die perfekte Frucht, die zum edlen Tropfen verarbeitet wird. Dafür steht Leo Hillinger auch bei Frost und Kälte mitten in der Nacht zwischen den Reben, die für ihn seit Jahrzehnten die Welt bedeuten.

Jois/Wien, im Sommer 2017

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Inhalt

1Der „Schläger“ von Krems

2Der Verrückte von Sonoma Valley, Kalifornien

3Der Neue auf der „Vinova“

4Der Quälgeist des Bankers

5Der Geschäftspartner der Mafia

6Der Liebling

7Der Sport-Süchtler

8Der Dauer-Angeklagte

9Der Helfer vom Flat Lake

10Der Bio-Winzer

11Der Auserwählte

12Der TV-Star

13IDSQIsuBjUKnDCguKliKvEDhTN7oPxi3Jm

14Der Mann am Zenit, oder kommt da noch mehr?

Anhang

Zeittafel

Meine Weine

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Der „Schläger“ von Krems

Als ich im Dezember 1967 auf die Welt kam, hatte meine Mutter Stunden zuvor mit einer Gehilfin noch Flaschen etikettiert. Dann wurden die Schmerzen größer und sie fuhr, obwohl alle fünf Minuten die Wehen kamen, selbst nach Eisenstadt. Um halb vier Uhr früh war sie im Krankenhaus und eine halbe Stunde später ich auf der Welt. Die Geburt verlief unkompliziert und reibungslos, und da ich der erste Junge in der Familie Hillinger war, war es ein großes Fest für den Papa.

Meine Großeltern väterlicherseits waren Katharina (geborene Weber) und Martin Hillinger, Wagnermeister und Weinhändler. Meine Eltern waren ebenfalls im Weingeschäft tätig, führten einen gut gehenden Heurigen und hatten bereits eine Tochter, die den Namen der Mutter erhalten hatte, Martha. Eineinhalb Jahre nach mir kam mein Bruder Gerhard auf die Welt und Catharin war eine Nachzüglerin. Von den drei großen Kindern war ich somit das Mittelkind, und die haben es immer ein bisschen schwieriger. Zudem war ich der erste Sohn, trug den Namen meines Vaters, Leopold. Das verpflichtet, und mein Vater ließ es mich sein Leben lang spüren.

Mit dem Blick zurück verklärt sich zuweilen die Vergangenheit und man behält des Öfteren nur die positiven Aspekte in Erinnerung. Diesem Trend kann ich mich nicht verschließen, denn es gab in meiner Kindheit sehr viele schöne Ereignisse. Ich war ein schlaues, gewitztes Kind, wusste mit zweieinhalb Jahren, wie ich mich unter dem Tor des elterlichen Betriebs in Jois in die Gasse hinausstehlen konnte und war meinem jüngeren Bruder Lehrmeister. Ja, wir wuchsen wie Zwillinge auf. Ich spielte Fußball mit Freunden und alle waren wir an Autos, Motorrädern und Maschinen aller Art interessiert.

Kindergarten und Volksschule besuchte ich in Jois, die Hauptschule in Neusiedl am See, und ich muss zugeben, dass ich nicht der allerbeste Schüler war. Meine Legasthenie verbesserte diesen Umstand genauso wenig wie mein Interesse für alles andere als schulische Materien. Alles andere war eben wichtiger und hätte es meine Mutter nicht gegeben, die ein Auge auf meine Hausaufgaben hatte, dann wäre der Tag wie folgt abgelaufen: Schulzeit, dann nach Hause, raus auf die Straße und mit Freunden unterwegs bis zum Abend. Sagen wir so: Ich kämpfte und trickste mich nicht unerfolgreich durch die Schuljahre. Meinen Eltern hatte ein Lehrer die allergrößte Sorge genommen. „Frau Hillinger“, sagte dieser einmal zu meiner Mutter, „ich sage Ihnen mal was: um das Kind brauchen Sie sich keine Sorgen machen.“

Autofahren habe ich schon mit sieben oder acht Jahren gelernt. Zuweilen nahm mich mein Vater mit auf die Jagd, ließ mich fahren – und schimpfte dann lautstark in einem fort, was ich alles falsch machte: zu langsam, zu schnell, zu hoher Gang, zu niedriger Gang. Er brüllte die ganze Zeit, nicht nur mit mir, sondern prinzipiell. Er schlug mich, mit Händen, mit Gegenständen, ins Gesicht, auf den Rücken, überall hin, und er demütigte mich, stellte mich in die Ecke oder ließ mich auf einem Holzscheit knien. Doch war er einerseits hart und brutal, so war er andererseits warmherzig und rücksichtsvoll. Es gab Momente, in denen er mich abgöttisch liebte und in denen er wahnsinnig stolz auf mich war. Bis zum nächsten Schreianfall, der mir, einem anderen seiner Kinder oder seiner Frau galt.

Ich ging noch zur Hauptschule, als mein Vater einmal von einer Weinlieferung nach Hause kam. Der Lastwagen stand noch auf der Gasse und bis zu diesem Tag war nur er in der Lage gewesen, den 5,5-Tonner durch das enge Haustor in den Hof zurückzuschieben. Meine Eltern unterhielten sich gerade in der Küche, als sie ein Motorengeräusch hörten und sahen, wie der Laster sich in Bewegung setzte. „Wer fährt denn da durch das Tor?“, schimpfte mein Vater, war dann aber ganz gerührt, als er mich am Steuer sitzen sah. Ich hatte den Lastwagen rückwärts dorthin eingeparkt, wo er hin sollte und es waren Aktionen wie diese, die das Vertrauen meiner Eltern, oder besser: meiner Mutter, in mich wachsen ließen.

„Leo, du kannst ohnehin Auto fahren. Fahr du“, hatte meine Mutter während meiner Schulzeit einmal zu mir gesagt. Sie befand sich im vorweihnachtlichen Stress mit dem Etikettieren der Flaschen und hatte einfach keine Zeit, meinen Bruder und mich nach Neusiedl in die Schule zu bringen. Ein Skikurs stand an, und so packten wir unsere Ausrüstung zusammen, setzten uns ins Auto und fuhren die fünf, sechs Kilometer in den Nachbarort von Jois. In der Schule angekommen, musste ich natürlich damit prahlen. Ich ließ den Autoschlüssel um meinen Zeigefinger kreisen und erklärte jedem, der das hören wollte, und jedem, dem es egal war, dass ich heute mit dem Auto gekommen sei. Wenig später klingelte bei meiner Mutter das Telefon.

„Hallo, Frau Hillinger, hier spricht der Schuldirektor. Wie geht es Ihnen?“

„Danke, gut. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Hören Sie, ich habe da was gehört. Kann das wahr sein, dass der Leo heute mit dem Auto in die Schule gefahren ist?“ „Ja, das stimmt schon. Ich habe keine Zeit und er kann ja eh fahren.“

„Kommen Sie bitte sofort und holen Sie das Auto ab!“ „Werde schauen, was ich tun kann. Wie gesagt, ich habe eigentlich keine Zeit.“

Mama kam dann doch und stellte die natürliche Ordnung – Eltern fahren, Kinder fahren nicht – wieder her. Klar hätte ich mich nicht an das Steuer setzen sollen und dass meinem kleineren Bruder nicht ganz wohl bei der Sache gewesen war, hatte Mama auch nicht bedacht. Aber es ist alles gut gegangen und klarer Weise hätte ich den Rückweg auch alleine geschafft.

Weil vieles andere eben wichtiger war, habe ich mit 13 schon den ersten Kunden für unseren Wein nach Hause gebracht. Ein Geschäftsmann, der eine VW-Werkstatt leitete und mit dem wir noch heute Kontakt haben, hatte mich gefragt, wo er denn hier guten Wein bekäme. „Einfach dem Schulbus hinterherfahren“, hatte ich geantwortet, „ich bring dich hin“. Und so stand sein Mercedes in unserer Einfahrt und wir hatten jahrelang einen guten Kunden. Es war die Zeit, in der die österreichische Weinszene vom Glykolskandal heftig getroffen worden war – weswegen sich ein burgenländischer Winzer sogar das Leben genommen hatte – und das Vertrauen der Konsumenten war erschüttert, die Umsätze brachen ein. Jeder Kunde zählte. Und leutselig war ich schon immer. Im Heurigen meiner Eltern half ich beim Bedienen mit und verdiente mir mein so Taschengeld. So groß das Vertrauen der Mama in mich war, so schwer hatte ich es, den Vorstellungen meines Vaters gerecht zu werden. Leopold senior hatte nicht wirklich eine fundierte Ausbildung im Wein- und Winzerwesen genossen, und eventuell hat ihn dieser Mangel an theoretischem Wissen verunsichert. Doch er war ein Mann, der sich mit jedem unterhalten konnte, vom Generaldirektor abwärts, und der, wenn er einen Raum betrat, automatisch die Blicke und das Interesse auf sich zog. Er erschien.

Wenn ich heute ein selbstbewusster Mann bin, dann habe ich diesen Charakterzug wohl mehr durch meine Mutter, aber sicher auch von meinem Vater übernommen. Ich glaube an dich, motivierte sie mich. Du bist ein Taugenichts, ein Verlierer, aus dir wird nichts, hat er mir hingegen immer wieder gesagt. Vater hat mich richtiggehend fertiggemacht, und wenn man Negativ-Sätze wie ein Mantra immer und immer wieder hört, dann fängt man auch an, sie selbst zu glauben. (Oder man denkt sich: Dir zeige ich es noch. Ich bin nicht so schlecht, wie du mich machst.) Dass ich in den Jahren, in denen seine Erniedrigungen am schlimmsten waren, auf die Weinbauschulen in Krems und Eisenstadt ging und meine schulischen Leistungen schlecht waren, hat die Sache nicht vereinfacht. Nach Niederösterreich kam ich auf Empfehlung meines Onkels Franz, der Geistlicher ist, aber ich glaube, dass mein Verwandter eine Zeit lang nicht sonderlich erbaut war von dem, was ihm zu Ohren kam. In Krems herrschte zur damaligen Zeit ein erbittertes Konkurrenzdenken zwischen Burgenländern und Niederösterreichern. Klar, zuweilen waren wir Schüler alle auf der gleichen Seite gegen das pädagogische Personal, und es bildeten sich auch Freundschaften, die bis heute halten. Vom Bruder eines Mitschülers, der jetzt im Ruhestand ist, kaufte ich das Weingut in Oggau. Mit anderen Schulkameraden habe ich ebenfalls Kontakt, wir tauschen uns aus und sind füreinander da. Doch es gab auch Raufereien und Schlägereien. Als ich einmal „dreckiger Kroate“ geschimpft wurde, rutschte mir die Hand aus. Himmel, öffne dich: Leo Hillinger, der „Schläger“ von Krems.

Etwa 25.000 bis 30.000 Menschen im Burgenland bekennen sich heute noch als Kroaten. Sie sind in sechs von sieben burgenländischen Bezirken beheimatet, stellen aber in keinem die Mehrheitsbevölkerung. Die größte Zahl Kroatisch sprechender Burgenländer lebt in den Bezirken Eisenstadt-Umgebung und Oberpullendorf. Aber ich war keiner von ihnen – und wenn doch: Hätte man mich tatsächlich beleidigen müssen?!

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Daheim stellte mich meine Mutter zur Rede.

„Was hat denn dein Mitschüler danach zur dir gesagt.“

„Hat gesagt, dass er Sterne gesehen hat.“

„Und was dein Vater?“

„Der hat gemeint, dass ich ihm noch ein paar Ohrfeigen mehr geben hätte sollen …“

Es war eine Ungerechtigkeit, aber was soll’s: Ich flog von der Schule und lernte in Eisenstadt weiter. In vertrauter Umgebung lief es besser und ich machte meinen Abschluss. Heute freut es mich, wenn Kinder und Jugendliche meiner ehemaligen Schulen das Weingut besuchen. Damals waren alle froh, wenn sie mich losgeworden sind, grinse ich dann in mich hinein, nun wollen mich alle sehen. Ganz so falsch ist mein Leben also doch nicht verlaufen – auch wenn ich ein Taugenichts war, ein Verlierer, ein „aus dir wird eh nichts“-Typ.

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Nicht oft genug unterstreichen kann ich die Tatsache, dass meine Mutter Martha bedingungslos an mich und das Gute, Schöne, Erfolgreiche in mir glaubte. Meinen Ideenreichtum und mein Durchsetzungsvermögen habe ich sicherlich von ihr. Mama kommt aus einem Nachbarort, hat mit 18 geheiratet und ist bei den Schwiegereltern in ein absolut konservatives Ambiente eingezogen. Sie hatte eigentlich nichts zu sagen, nur zu arbeiten, zu kochen, Kinder zu bekommen. Fünf Jahre später war sie schon dreifache Mutter und hatte einen Bandscheibenvorfall. Ihre Schwiegermutter war eine richtige Bäuerin, der Schwiegervater zuerst wie erwähnt Wagner und Innungsmeister des Burgenlandes und später Weinhändler. Sie hat es alles andere als leicht gehabt und dennoch versucht, ihren eigenen Weg zu gehen. Als sie in den 1970er-Jahren einmal einen Hosenanzug trug, warder Teufel los: So geht man nicht, so kleidet man sich nicht, das macht man nicht. Wäre sie nicht verheiratet gewesen, hätte man sie wahrscheinlich vor die Tür gesetzt. Was andere sagten, war ihr einerlei. In Jois war sie rasch als Person mit eigener Meinung bekannt, und wenn man so will, als Außenseiterin verschrien. Wurden sie und ich von Lehrern oder Lehrerinnen vorgeladen, verteidigte sie mich immer mit gezogener Klinge. Sie muss sich vorgekommen sein wie die Hauptangeklagte, und dennoch verteidigte sie tapfer ihren Standpunkt: „Das war ein Bubenstreich, nicht mehr, nicht weniger. Warum verurteilt ihr den Leo jetzt deswegen so?“

Meine Mutter trage ich auf Händen. Sie ist für mich und meine Familie da. Wann immer ich kann, schaue ich bei ihr vorbei – was leider viel zu selten der Fall ist, und wenn ich einmal bei ihr bin, läutet meistens auch gleich das Telefon – oder binde sie in meinen Aktivitäten ein. Lade sie ein nach Südafrika, meine zweite Heimat. Versuche, sie heute noch (mit Erfolg!) zu überraschen. Als Vater gestorben war, wollte sie das Familienauto, einen Mercedes verkaufen. „Dafür bekommst du nichts mehr“, sagte ich ihr. Also behielt sie ihn. Als wir wenig später in Neusiedl unterwegs waren und sie einen VW Beetle Cabrio sah, meinte sie: „Das war immer mein Traumauto, aber dein Vater hat abgeblockt. In sowas setze ich mich nicht rein, meinte er immer.“ Ich versprach, ihr das Auto zum 70. Geburtstag zu kaufen, aber es waren noch Jahre bis dorthin. Überraschung: Wenig später stand das Traumauto meiner Mutter im elterlichen Hof. Im ersten Moment dachte sie, dass es für ihre Schwiegertochter, meine Frau, wäre, und sie zwischendurch damit fahren dürfe. „Es ist für dich, Mama.“ „Aber ich bin doch gar nicht 70.“ „Aber fahren kannst schon vorher damit.“ Ihre Freude war unübersehbar. Geteilte Freud’, doppelte Freud’.

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Unangepasstheit an sich, so wie sie meine Mutter an den Tag legte, führt nicht a priori zu Selbstbewusstsein. Sie kann auch in Einsamkeit enden. Doch gegen den Strom zu schwimmen, einfach zu ergründen, was machbar ist, hat seinen Reiz. Wenn das Experiment aufgeht, wächst der Glaube an sich selbst. Sollte es scheitern, nun denn: zurück an den Start. Meine Mutter wollte nicht, dass ich nur das machte, was mein Großvater schon praktiziert hatte und mein Vater ausübte. Sie wollte uns Kinder herausreißen aus dem üblichen Trott eines kleinen burgenländischen Dorfes, das seine Faszination und seinen Charme hatte, beruflich aber ein limitiertes Angebot besaß. Meine Eltern nannten nicht ganz ein Hektar an Weingärten ihr Eigen, mit anderen Worten: für einen Weinbauern gar nichts. Größer waren die Schulden, sie beliefen sich auf rund sechs Millionen Schilling, heute 400.000 Euro. Und die Verzinsung war halsabschneiderisch: 17 Prozent. Es war quasi unmöglich, aus dem Schuldenkreislauf auszubrechen, wenn man die Dinge machte, wie man sie immer gemacht hatte.

Ehe ich mich mit den negativen Kontoständen auseinandersetzen musste, brachte meine Mutter familienintern ihren Wunsch durch, ihre Kinder in die große weite Welt zu schicken, damit sie was lernen, damit sie was sehen. Mir ist es lieber, wenn sie anderswo glücklich sind, als zu Hause und unglücklich, sagte sie. Ihr Wunsch und ihre Beharrlichkeit waren mein Glück. Wäre sie der gleichen Meinung wie mein Vater gewesen oder hätte sie zurückgesteckt, mein Leben wäre ganz anders verlaufen.

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Der Verrückte von Sonoma Valley, Kalifornien

Auch wenn ich Weinbauschulen besuchte und in den Ferien Praktika machte, unter anderem bei einer Genossenschaft in Donnerskirchen in der Nähe von Eisenstadt – bis ich 18 Jahre alt wurde, habe ich selbst keinen Wein getrunken (außer dem, den ich mit Almdudler mischte!) und mehr noch: Ich hatte auch wenig Ahnung davon. Was ich in den Schulen hörte, ging bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus. Der Schritt nach Deutschland war das, was im heutigen Neudeutsch als „game changer“ bezeichnet wird. Ich sollte ein dreimonatiges Praktikum antreten, geblieben bin ich drei Jahre. Es war jene Zeit, in der ich zu einem Winzer und Weltbürger reifte.