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Die Speerschleuder

Martina Schäfer


Krimi



Gewidmet allen MitstudentInnen der Ur- und Frühgeschichte zu Köln aus den Jahren 1993 - 2003



©Martina Schäfer 2017

Machandel Verlag

Cover: Elena Münscher

Bildquelle
shutterstock.com

Haselünne

2017

ISBN 978-3-95959-078-5

Weitere Krimis der Autorin

Im Machandel Verlag ist von Martina Schäfer bereits der Krimi "Mord im Pfahlbaudorf" erschienen.

Pfahlbaudorfmord

262 Seiten

Archäologen beschäftigen sich mit Toten.
Allerdings sind diese für gewöhnlich schon sehr lange tot. Und auf keinen Fall aus ihren eigenen Reihen.
Genau das ändert sich, als Dr. Johanna Schmid und Prof. Joachim Drahm bei einer Tagung einen ihrer Kollegen ermordet auffinden. Pikanterweise genau jenen Kollegen, der gerade in seinen Ausgrabungen einen Mord in der Steinzeit festgestellt hat.
Kann es sein, dass diese beiden Morde über Jahrtausende hinweg miteinander zu tun haben?

Zwei weitere Krimis sind in Vorbereitung.


www.machandel-verlag.de

Der Machandel Verlag bietet Ihnen Regional-Krimis, Fantasy, moderne Märchen und einige Sachbuchtitel.

In der Abteilung Lesesaal auf unserer Webseite finden Sie außerdem Leseproben und Gratis-Kurzgeschichten als pdf-Downloads.

Anhang mit Erläuterungen


1 Das Zitat stammt ursprünglich von Professor Hans Werner Dämmer, Direktor des Institutes für Ur- und Frühgeschichte an der Universität zu Köln im ersten Jahrzehnt des 2. Jahrtausends n. d. Zt.: „Eigentlich gibt es nur drei wirklich wichtige Fortschritte in der gesamten Geschichte der Menschheit, die sich auch in grundlegenden sozialen, respektive gesellschaftlichen Veränderungen niederschlugen: Die Sesshaftigkeit und damit einhergehend der Beginn des Ackerbaus im Neolithikum, die Erfindung und Entwicklung der Gussverfahren zu Beginn der Metallzeiten und dann der Beginn des Informationszeitalters, den meine Generation gewissermaßen am eigenen Leibe erlebt hat. Das sind die grossen Schritte – dazwischen hat sich jeweils im Prinzip nicht viel getan wie Sie hier an den Geräten sehen können, die ich Ihnen mitgebracht habe. Die einen stammen entweder aus einer Grabung der vorrömischen Eisenzeit, datiert etwa ins 6. Jahrhundert B.C., Sie finden die dazu gehörige Literatur in Ihren Seminarunterlagen, oder diese hier aus der Auflösung eines kleinen Hofes bei Daum, die vor etwa drei Jahren stattfand.“ In einem Seminar zur Entwicklung der Gussverfahren um die Mitte des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts. „Und was ist denn mit all den Plastikgegenständen?“, fragte eine Studentin. „Nicht der Rede wert – auslaufende Epoche der Gussverfahren.“

2 nach dem Buchtitel von BECKER, Gabriele, BOVENSCHEN, Silvia, BRACKERT, Helmut: Aus der Zeit der Verzweiflung: Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. edition suhrkamp

3 Schriftenreihe des Römisch-Germanischen Zentral Museums

4 Wie und mit wem sich das Liebesleben der jungen Prähistorikerin weiter entwickelt, kann man im dritten Band dieser Reihe, „Wessexdolch“, erfahren.

Vor der Geschichte

 

Die richtige Waffe zu finden ist in diesen Zeiten nicht so einfach. Nur Narren glauben, dass man an jeder Ecke ein geeignetes Jagdinstrument findet. Aber gute, treffsichere Waffen sind rar, wenn man nicht die geeigneten Verbindungen hat, und sie müssen zudem auch zum Wild passen, das erlegt werden soll.

Und ja! Es sollte erlegt werden! Der Jäger knirschte mit den Zähnen.

Ihn führte man nicht an der Nase herum! Ihn setzte man nicht unter Druck!

Zielsicher auf einige Entfernung sollte die Waffe sein, damit er im Notfall rechtzeitig fliehen könnte. Möglichst keine oder nur wenig Spuren hinterlassen.

Zu dem Versteck, in welchem er dem Wild auflauern wollte, musste die Jagdwaffe auch passen. Im Wald schoss man nicht mit Fernwaffen, sondern stellte Fallen, während der Schuss in der Ebene nicht weit genug reichen konnte, denn anschleichen war da kaum möglich.

Der Jäger wählte mit Bedacht.

 

 

16:00

Schwatzend und lachend verließen die jungen Leute den Bibliotheksraum des Instituts für Ur- und Frühgeschichte .Johanna Schmid, die gerade das Proseminar für sie gehalten hatte – eine Einführung in die grundlegenden Methoden und Inhalte des Faches für Erstsemester – kramte derweilen ihre Folien auf dem grossen, schweren Tisch mit dunkelgrüner Tischplatte zusammen. Es war ein wahres Monstrum von Tisch, von allen nur „Grüner Tisch“ genannt, der den ganzen Raum dominierte und von dem die Sage ging, er stamme noch aus den Gründerzeiten des Institutes.

Sie schaltete Overheadprojektor und Beamer aus und schloss den Laptop, der ihr erlaubte, jederzeit auch während der Lehrveranstaltungen auf die neuesten Informationen zuzugreifen.

Ihr Magen knurrte bedenklich, da sie vor dem Seminar keine Zeit gehabt hatte, noch etwas zu essen.

Sie schaute sich um,und als sie sah, dass alle Studierenden den Raum verlassen hatten, kramte sie schnell ihren Proviant hervor und nahm einen tiefen Schluck aus der Milchtüte, ehe sie weiter ihre Unterlagen einräumte und diverse Bücher in ihre Regale zurück ordnete.

Seit der pedantische Georgi van der Matten, von allen nur Dschordschi genannt, neben seinen Aufgaben als Assistent der Altsteinzeit auch die Verantwortung für Ordnung und Sauberkeit in den Bibliotheksräumen übernommen hatte, standen sämtliche Bücher messerscharf ausgerichtet und alphabetisch überexakt an ihren Orten und Plätzen. Keines kippte schief zur Seite, keine Lücke gähnte dunkel, keine Fliegende-Blatt-Sammlung segelte den stöbernden StudentInnen entgegen, und selbst die Krümel und Kaffeetassenränder waren vom prunkvollen Grünen Tisch verschwunden, ebenso wie die halb ausgelesenen Tageszeitungen und Fußballblätter vom Boden und die Staubflusen aus den Ecken.

„Dschordschi wird`s schon richten“ war eine stehende Floskel im Institut geworden, und nicht einmal der leicht verträumte Physiker Dr. Roman Mehringer wagte es, geistesabwesend einen Schokoriegel zu knabbern, wenn ihn seine Unterrichtsverpflichtungen einmal in die Bibliotheksräume führten – klebte doch frisch laminiert und in drei Farben sowie vier Schrifttypen inklusive zweier verschiedener Unterstreichungsmodi das harsche Verbot an den Bibliothekstüren, dass ab sofort Essen, Trinken sowie das Herumliegenlassen von Gegenständen jeglicher Art verboten sei! Das mochte ja berechtigt sein, aber Johanna hielt es für reichlich übertrieben, dass diese Zettel nicht nur an beiden Außentüren der Bibliotheksräume innen wie außen hingen, sondern auch noch noch an dem Durchgang, der die Bibliothek in zwei Zimmer aufteilte.

Ganz allgemein schrieb man Dschordschis Pedanterie seinem vornehmen Elternhaus zu, auch wenn Johanna eher geneigt war, es für einen ausgewachsenen Tick zu halten. Er kam aus einer reichen Industriellenfamilie, die im 19. Jahrhundert im Ruhrgebiet ein Vermögen aus Kohle und Stahl erwirtschaftet hatte und dieses durch geschicktes Taktieren auch über die Krisenzeiten der Weltkriege und bis in die Gegenwart hinein erhalten und ausbauen konnte.

Gut – der Dschordschi war nicht da und somit auch kein vorwurfsvoller Blick zu befürchten!

Doch eigentlich war Georgis ständige Pedanterie zur Zeit ihr kleinstes Problem.

Johanna Schmid ordnete die restlichen Folien zur Chronologie des Neolithikums, welches heute das Thema gewesen war, in ihre Mappe. Sie hoffte, dass sie interessant genug vorgetragen hatte, um das Interesse der Studenten für dieses spezielle Thema zu gewinnen. Jede der drei grossen Zeitepochen wurde im Proseminar besprochen, damit die Studienanfänger möglichst früh ihre Vorlieben erkennen und sich dementsprechend im Studium spezialisieren konnten. Erfahrungsgemäß gab es je nach der speziellen Fachrichtung der Vortragenden in den Proseminaren im Semester darauf dann einen spürbaren Run entweder auf die Seminare der Altsteinzeit, die man spätestens nach diesem Proseminar als Paläolithikum zu bezeichnen hatte, oder der Jungsteinzeit, Neolithikum genannt, oder der Metallzeiten, welche mit dem Chalkolithikum begannen, der Kupfersteinzeit, sich über die Bronzezeit in die so genannte Eisenzeit weiter bewegten und die eigentlich erst, nach einem berühmten Zitat von Professor Dr. Joachim Drahm in der jüngsten Vergangenheit, mit dem Beginn des Informationszeitalters endeten1.

Als Dr. Georgi van der Matten, der zu der Zeit eine Forschungsstelle im Neandertalmuseum bei Erkrath ausfüllte, im letzten Wintersemester das Proseminar mit dem emotionalen Schwerpunkt auf der Entwicklung der Menschen von vor 6 Millionen Jahren bis eben zum Neandertaler abhielt, waren die Anmeldungen für die Seminare mit anthropologischem Schwerpunkt rapide angestiegen.

Professor Dr. Drahm seinerseits schaffte es regelmäßig, seine eigene Freude und Leidenschaft für die Metallzeiten in außergewöhnlich hohe Einschreibequoten für das Hauptseminar zu den bronzezeitlichen Gussverfahren zu verwandeln.

Johanna wiederum warb schamlos für den Charme des nordeuropäischen Neolithikums mit seinen wunderbaren großen Steinanlagen und Megalithgräbern.

Aber heute war ihre Aufmerksamkeit doch sehr geteilt gewesen. Sie hatte den unangenehmen Eindruck, dass sie es nicht geschafft hatte, den Funken der Begeisterung auf die Studierenden überspringen zu lassen, jener Begeisterung, ja geradezu Liebe, die sie den Großsteinanlagen und den Halden der Austernesser in Irland oder an anderen Küsten der Nordmeere entgegenbrachte, ihre Bewunderung der mystischen Landschaften oder geheimnisvollen Busenbergen. Die Liebe zu einer Frau hatte ihre Konzentration auf ihre Arbeit gestört, ihre Gedanken kreisen lassen um reale, zarte Brüste und feinnervige Zeichnerinnenhände. Eine Liebe, die vielleicht genau deshalb um so brennender schien, als ein Ende abzusehen war, ein Strich unter die Rechnung der Liebe gezogen wurde, eine Absage erfolgte – angeblich wegen des zu großen Altersunterschiedes.

Johanna musste sich jedes Mal die Tränen verbeißen, wenn sie sich an das verfluchte Telefonat vom Wochenende erinnerte, in dem Anna Zwingli ihr mitgeteilt hatte, dass es vielleicht besser wäre, diese Beziehung zu beenden ... zu groß sei der Altersabstand zwischen ihnen, zu lange die Zug- oder Autobahnfahrten zwischen den süddeutschen Seeuferrandsiedlungen, wo sie im Augenblick arbeitete, und der rheinischen Universitätsstadt, welche Johanna in Atem hielt, zu unterschiedlich die Temperamente ... zu groß ..., zu weit ..., zu different ...

Johanna hatte die Zeichnerin Anna Zwingli während jener Tagung zu den Seeuferrandsiedlungen kennengelernt, in deren Verlauf der freundliche Archäologe und mögliche zukünftige Chef Johannas, Professor Korlus, ermordet worden war, gerade, als sie hatte hoffen können, das Feld ihrer akademischen Tätigkeiten zu erweitern. Noch immer schien es Johanna wie gestern gewesen zu sein, und noch immer gleichermaßen unfassbar, dass eine ihrer Kolleginnen so weit gehen konnte, einen Mord zu begehen. Anna war am Boden zerstört gewesen.

Natürlich, Anna war Korlus` Verlobte gewesen und Johanna die rettende Trösterin der Trauernden . Es war fast unausweichlich gewesen, dass sie sich unter diesen Umständen näher kamen. Sehr nahe, um genau zu sein. Aber es war ja eben nicht so, dass Anna Zwingli nicht vorher auch schon Frauenbeziehungen gehabt hätte...

Wie auch immer. Johanna biss sich auf die Lippen und griff halb blind nach der Mappe mit den Folien, um sie in ihre Tasche zu stopfen – da machte es „Platsch!“ und die Milch ergoss sich in einem weißen Strom über den Grünen Tisch, gefährlich nahe allen Unterlagen, begierig, den Stick zu ertränken, den Johanna gerade aus ihrem Laptop gezogen hatte.

„Mist, verflixt!“ Schuldbewusst blickte sie zur Türe, aber da war niemand, der ihr Missgeschick hätte bemerken können. Rasch grub sie ein paar Tempotaschentücher aus ihrer Tasche, um den weißen Strom wenigstens notdürftig zu stoppen. Dann rannte sie los, nahm zwei Stufen im Treppenhaus auf einmal, um so schnell wie möglich die einzigen Toiletten des Hauses im 2. Stock, schräg gegenüber der Kaffeeecke und den Räumen der Pollenanalyse, zu erreichen.

Dort griff sie sich einen dicken Stapel Papierhandtücher aus dem Spender, befeuchtete noch rasch eines der Stoffhandtücher, die auch neben dem Waschbecken hingen, legte es obenauf und flitzte wieder nach unten, ihr blödes Missgeschick aufzuwischen.

Wieso auch konnte sie Anna nicht aus ihrem Gedächtnis vertreiben? Die schöne, sanfte, zarte Anna, klug wie neun schwarze Schwäne zusammen und solch eine lichte Ästhetik ausstrahlend, wo immer sie auftrat, wo immer sie Räume beeinflusste, Ambiente gestalten konnte, Zimmer einrichten ...

Sie hörte Schritte im Treppenhaus – möglicherweise Georgi, der aus seinem Refugium, der anthropologischen Sammlung im Dachgeschoss, herunter kam, um zu kontrollieren, ob auch alle, inklusive der Dozentin, den Bibliotheksraum so steril verließen, wie sie ihn betreten hatten.

Die Tischfläche sah wieder sauber aus, zumindest oberflächlich betrachtet. Johanna schnappte sich ihre Sachen, presste die feuchten Papierhandtücher in ihrer rechten Hand zusammen, schwang sich das nasse Handtuch über die Schulter, als müsse das so sein, und trat genau in dem Moment vor die Türe der Bibliothek, als Dr. van der Matten diese von außen öffnen wollte.

16:05


„Hallo Dschordschi, kleiner Kontrollgang, ob die Erstsemester auch keine Bücher geklaut haben?’“

„Nee, nee – ich brauch` den Ausgrabungsbericht von Bo zu Dmanisi.“ Bo war der Spitzname für den Professor der Altsteinzeit, Josche Boskarp.

„Na, den findest du sicher auf Anhieb.“

Johanna trat zur Seite und ließ Georgi vorbei. Dann war sie mit drei großen Schritten im Hiwizimmer, das links neben der Bibliothekstüre lag und ließ den pappigen Papiertücherklumpen erleichtert in den dortigen Papierkorb fallen. Das war gerade noch einmal gut gegangen! Sie mochte Georgis heimlifeisse Art, wie Anna dergleichen Verhalten nannte, nicht sehr. Anna! Da war sie schon wieder in ihren Gedanken, dieses Mal mit ihrem sanften, aber deutlichen Schweizer Zungenschlag. Kein Wunder, da ein Teil ihrer Familie aus der Schweiz stammte und sie selber lange Zeit in Zug am dortigen Ur- und Frühgeschichtlichen Museum verbracht hatte. Fast gewaltsam zwang Johanna ihre Gedanken zurück zum hiesigen Geschehen und damit zu Georgi.

Georgi van der Matten hatte kürzlich bei Boskarp seine Dissertation über die Systematik der nachträglichen Funde im Neandertal abgeschlossen. Johanna fand es immer noch etwas befremdlich, dass einer wie Georgi van der Matten, der in seinen eng anliegenden, glänzenden Hemden ein wenig wie ein etwas unterernährter Gigolo der 70-iger Jahre aussah, wochenlang auf den alten, längst zugewachsenen Abraumhügeln, die damals beim ersten Fund des Neandertalers 1856 und den folgenden Nachgrabungen entstanden waren, bei Wind und Wetter und dem berühmt feuchtnebeligen Klima des Bergischen Landes herumkroch. Sie hatte den Verdacht, dass er das die studentischen Hilfskräfte, die Hiwis, hatte machen lassen, während er sich selber in sauberen, sorgfältig gewischten Innenräumen aufhielt. Nun ja, das war nicht ihr Problem.

Das Hiwizimmer war zu diesem Zeitpunkt leer – also kein Schwätzchen mit ihrem Lieblingskommilitonen Karl Marxen, der nicht nur so hieß, sondern auch aus seiner linken, gesellschaftskritischen Position keinen Hehl machte. Nach einer Glatzkopfphase zur Zeit seines Magisterabschlusses, der etwa zur selben Zeit stattfand wie Johannas Magisterprüfung und in welcher er immer wieder betonte, dass es auch linke und somit gute Glatzen gäbe, pflegte er einen kurz rasierten Stoppelkopf und promovierte über ein Thema aus der Theoretischen Archäologie – ein Bereich, der vermutlich noch unbeliebter war als Johannas feministische Anwandlungen, wie Karl nicht müde wurde zu argumentieren. Danach hatte sie ihn ein wenig aus den Augen verloren. Zeitweilig hatte er sich irgendwo im Münsterland in einem Museum zur Zeitgeschichte aufgehalten und archäologische Befunde der Nazizeit aus einem ehemaligen Lagergelände der SS aufgearbeitet. Mittlerweile trug er die Haare in einer dichten, schwarzen Kappe, was ihm ausnehmend gut stand, lebte mit seiner Freundin, die klassische Archäologie studierte, in Fahrradnähe zum Institut und befasste sich im Auftrag des Leiters der Außenstelle „Afrika“ mit der Klassifizierung und Archivierung von Steingeräten, die noch von Grabungen in der Sahara aus den 50iger Jahren stammte. Trotzdem er seinen Arbeitsplatz also in einem anderen Gebäude hatte, tauchte er häufig im Hiwizimmer des Institutes für ein Schwätzchen auf oder, noch lieber, für eine wackere Politdiskussion, in welcher er unverfroren versuchte, die jüngeren Studierenden sowohl für den Sozialismus als auch für die Theoretische Archäologie zu begeistern.

Johanna ließ das feuchte Handtuch, wie rein zufällig, auf einem Stuhl des Hiwizimmers liegen und ging dann hinaus und ins Erdgeschoss. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Sekretariat lagen dort die Zimmer von Dr. Drahm und Dr. Sengaas, dem Professor fürs Neolithikum, der gerade auf einer Exkursion mit dem Oberseminar in England weilte.

Professor Drahm hatte eigentlich zwei Zimmer, die hintereinander lagen, so dass man nur durch das vordere, schmale in sein eigentliches Büro gelangen konnte. Dieses vordere Zimmer hatte er Johanna zur Verfügung gestellt, weshalb er sie manchmal, im Scherz, seine „Vorzimmerdame“ nannte. Er selber brauchte den langen Vorzimmerschlauch als Arbeitszimmer gar nicht, dieser hatte eine ganz andere Funktion – nämlich die Ruhe und Ungestörtheit des Institutsdirektors zu gewährleisten.

„Man kommt halt irgendwann in dieses Alter, wo man gerne ein kleines Mittagsnickerchen hält – und hier hinten stört mich niemand ungefragt.“

So bildete ein weicher, meist zurückgeklappter Ledersessel den Mittelpunkt von Drahms Büro, das zudem, im Sommer wegen der hohen Bäume vor dem Haus mit ihrem dichten Kronendach oder in der dunkleren Jahreszeit aufgrund dezent herab gedimmter Leselampen meistens in sanftes Dämmerlicht getaucht war.

Nachdem sich die Stelle in Süddeutschland infolge des tragischen Todes von Professor Korlus` für Dr. Johanna zerschlagen hatte und ihr Doktorvater Drahm ihr diese befristete Anstellung an seinem eigenen Institut beschaffte, nicht ohne dabei seinen eigenen Vorteil in Form einer fleißigen Mitarbeiterin im Auge zu behalten, war es nur naheliegend gewesen, dass ihr Schreibtisch in diese Ruheschleuse gestellt wurde. Entsprechend dankbar verteidigte Johanna die kleinen power-naps ihres Professors, wenn sie ihn selig nebenan schnarchen hörte.

Auch jetzt galt ihr erster Blick durch die Glastüre, welche ihre Räume voneinander trennte, seiner Befindlichkeit – und siehe da: Professor Dr. Joachim Drahm stärkte sich für sein in etwa zwei Stunden stattfindendes Hauptseminar durch einen kleinen Nachmittagsschlaf in seinem geliebten und im ganzen Institut berühmten Schlafsessel.

Johanna legte ihre Tasche auf den eigenen Schreibtisch, den sie so an der Wand platziert hatte, dass sie weder durch die Glasscheibe ihren Chef sehen konnte noch er sie bei ihrer Arbeit. Während sie ihre Seminarunterlagen wieder in die passenden Ordner auf dem Regal einordnete, versuchte sie, in Gedanken das vergangene Proseminar noch einmal durchzugehen auf mögliche Schwachstellen und wichtige Hinweise für die nächste Stunde, wie sie es gewohnt war.

Aber irgendwie wollte das heute nicht gelingen - und klar, kaum saß sie vor ihrem Computer, startete auch schon der Bildschirmschoner, auf dem natürlich eine wunderbare Bildfolge sanft grüner Moorgebiete, Seenlandschaften in allen möglichen Beleuchtungen des Jahres, geheimnisvoller Pfahlbauten, Einbäume in Nebelschwaden oder Vollmondschein sowie immer mal wieder dazwischen geblendet und sanft in die Bilder übergehend, Annas Porträt auftauchte.