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die Quallen spuken auf den Wegen

alle Inseln dieser Erde sind in die Asche

der Illusion gehüllt

schieben die Wolken auf dem Zweig des Dunkels

und hier das Kind angezogen wie ein Seemann

[. . .]

die Insel wendet sich von den vorbeifahrenden Schiffen ab

Einbäume aus Bruchstein unter den Hufen des Regens

 

Riel Debars, Archipel de Cardamone.



He, Nord, geht es dir nicht gut? Bist du seekrank?«

Tante Marlènes Frage löst auf dem Hof, wie zu erwarten, ein lautes, gemeines Kichern aus. Sie prusten los. Spitzes Hohngelächter, in dem gleichwohl eine gewisse Erschütterung mitschwingt.

An den Mangobaum gelehnt, der sich unter den vielen schweren Früchten biegt, hebt Désiré den Kopf und wirft ihnen einen wütenden Blick zu. Das ist nun wirklich nicht der richtige Moment. Als wäre es nicht genug, daß ihm etwas schwer im Magen liegt.

Zugegeben, sie haben ihn gewarnt. Auch wenn sie die Erstkommunion von Cousine Marjorie feiern, ist das noch lange kein Grund, sich den Bauch mit Brioches vollzuschlagen. Die eigentlich mit Eltern und Bekannten geteilt werden sollten.

Er beobachtet seine Cousine, die in ihrem bauschigen weißen Kleid wie eine Zierpuppe aussieht. Ihren mit weißen und goldenen Bändern geschmückten Korb schleppt sie überall mit hin. Sie verteilt große Brioches in hübschen bestickten Tüten und sammelt in einem Täschchen Umschläge und Geldscheine, rote, grüne, die jeder ihr zusteckt, wobei man ihre Hand mit feierlicher Miene um die Scheine schließt. Daß sie nicht teilen wird, das weiß er. Sie bringt es fertig, ihm seine Sachen wegzunehmen, ohne daß er jemals wagen würde, sich zu beschweren. Aber darauf, daß sie ihn genauso behandelt, kann er lange warten. Eines Tages, wenn er groß ist, wird er es ihr zeigen.

Jedenfalls hat er ihr viele Brioches abgeluchst. Das ist immerhin etwas. Aber selbst den Brioches hatte sie ihren Stempel aufdrücken müssen. Normalerweise mag er dieses leichte Bergamottearoma, das sie in den Teig mischen. Für ihn sind das die richtigen Brioches, die einzigen, die diesen Namen verdienen: ein weiches Inneres mit einem weißen Kreuz obendrauf, ohne diesen Hagelzucker, womit sie die Massenware bestreuen, die in den Konditoreien zu kaufen ist. Aber heute dreht sich ihm der Magen davon um. Selbst der festen Stütze des Mangobaums gelingt es nicht, dieses Karussell anzuhalten, das sich in seiner Brust immer schneller dreht und nach und nach auch auf seinen Kopf übergreift.

»Also, Nord, he, Nordver, geht es dir nicht gut? Ist dir schwindelig?«

Tante Marlène, die ihn bedrängt, und das gemeine Lachen setzen ihm zu.

Er möchte aufstehen und weglaufen, weit weg von ihren Sticheleien, dem süßlichen und widerlichen Geruch entfliehen, der aus ihren Rumgläsern aufsteigt. Aber er ist nicht sicher, ob seine Beine ihn tragen würden.

Tania starrt ihn mit großen erstaunten Augen an. Sie sieht hübsch aus in ihrem sehr kurzen rosafarbenen Kleid. Sie hat es sich von ihrer großen Schwester wieder zurückholen müssen. Er sieht ihre spitzen, vernarbten Knie. Eine richtige Draufgängerin, diese Tania. Und neugierig wie eine Manguste.

»Warum nennen sie dich so?«

Er hört ihre Stimme als verschwommenes Echo.

»Heißt du nicht Désiré? Warum nennen sie dich Nord oder so?«

Er schaut sie an. Im Weiß ihres linken Auges hat sie einen braunen Fleck. Er hat sie bisher noch nie von so nahem gesehen. Aber plötzlich verschwimmt sie. Lichtblitze flackern vor seinen Augen. Und das Karussell dreht sich schneller. In diesem Strudel wieder ihre Stimme:

»Also, antwortest du mir nicht? Was hat es mit diesem ›Nord wert‹ auf sich? Du hast mir immer Désiré gesagt. Erklärst du es mir? He!«

Er schafft es gerade noch, aufzustehen und zum Ende des Hofs zu stürzen. Unter langen Krämpfen und dem Geruch nach Bergamotte übergibt er sich auf die trockene Erde.



Vielleicht ist es so passiert. Oder anders. Denen, die ihn fragen, erzählt Désiré eine Vergangenheit ohne genaue Erinnerung. Er beschreibt nur dieses verblassende Ereignis seiner Kindheit. Von seinen Tanten, die ihn manchmal Nordver nannten oder einfach Nord.

Seine Mutter nicht. Er glaubt nicht, daß sie diesen Namen je benutzt hat. So sehr er auch versucht, es sich ins Gedächtnis zu rufen, er hört ihn nicht.

Eine Zeitlang hatte er geglaubt, es wäre vielleicht Norbert. Sie hatten immer mehrere Taufnamen, um es den Eltern recht zu machen, den Schwiegereltern, den Großeltern, jeder hatte ein Wörtchen mitzureden, wenn es um den Namen eines Kindes ging. Vielleicht war es sein zweiter Vorname auf dem Papier. Und in seiner Familie hatten sie besonderes Geschick für das Abwandeln von Aussprachen.

Aber seine Mutter benutzte niemals diesen Namen, und es schien ihr unangenehm zu sein, wenn die anderen ihn benutzten. Es war alles andere als konkret, nur eine kaum wahrnehmbare Abgeneigtheit, und dann schien sie sich in sich selbst zurückzuziehen, sich zu entfernen.

Das erste Mal, als er sie zu diesem Thema befragt hatte, war seine Mutter zu dem pfeifenden Dampfkochtopf in die Küche geeilt. Und draußen hatten seine Freunde ihn zum Drachensteigen gerufen. Es war an diesem Tag sehr windig gewesen, und die Luftströmung, die vom Berg herunterwehte, versprach schöne Flüge. Sie hatten schon das Gestänge aus biegsamen Holzstäben und die bunten Musselinpapierbögen vorbereitet. Er brannte auf Rache an dem Nachbarsjungen, der das letzte Mal die Schnur seines Roi des Airs durchtrennt hatte.

Er zögerte einen Moment. Dann lief er hinaus zu seinen Freunden, die auf ihn warteten und sich gegenseitig lauthals aufzogen, während sie versuchten, die Stäbe wieder aufzufangen, die sie hoch in die Luft warfen.

Raymonde schaut ihnen gedankenverloren nach, als sie davongehen. Fröhliches Kindergeschrei. Ein kleines Mädchen rennt ihnen hinterher. Sie ruft ihnen zu, daß sie auf sie warten sollen. Sie will bei ihrer Partie Gouli mitmachen. Sie hat einige dünne und kräftige Zweige gefunden, und sie sollen ihr helfen, sie durchzubrechen und sie über das gegrabene Loch zu legen. Dann wird sie den längsten Stab nehmen, ihn am Rand des Lochs einstecken – un deux trois, eine schnelle Bewegung mit dem Zeigefinger, um die Zweige anzuheben und sie hochfliegen zu lassen, und derjenige, der es nicht schafft, sie zurückzuspielen, ist tot, ti-rez-vous de-hors.

Ein Pfeifen.

Raymonde zuckt zusammen. Der Topf läßt einen langen Dampfstrahl entweichen, der Duft nach geröstetem Getreide erfüllt die Küche. Das kleine Mädchen ist verschwunden und Désiré ist nicht mehr als ein Fleck, ein rotes T-Shirt an der Ecke des schmalen Wegs. Sie muß ihm dieses Spiel beibringen, das sie hier vergessen haben, so wie all die anderen.



Er hatte es vergessen. Oder tat so, als ob. Nur ein entferntes Echo hallte von Zeit zu Zeit noch wider. Das unbestimmte Gefühl eines geschlossenen Augenlids, das man nicht leichtfertig öffnet.

Er mußte etwa zwanzig Jahre alt gewesen sein, als das Thema wieder zur Sprache gebracht wurde. Er glaubt sich an ein Familientreffen zu erinnern, wahrscheinlich ein Geburtstag, als die Anwesenheit der Tanten sehr hilfreich gewesen war. Er war auf die lebhaften Diskussionen im Salon aufmerksam geworden, auf die Wortfetzen rund um die Leitmotive »Heimkehr« und »Entschädigung«.

An diesem Abend hatte er es nicht erwarten können, nach Hause zu kommen. Endlich mit seiner Mutter allein, hatte er sich ein bißchen schwergetan, nach dem besten Weg gesucht, es anzusprechen. Sie war ungeduldig gewesen, ins Badezimmer gegangen und bettfertig wieder herausgekommen. Sie mußte am nächsten Tag früh zur Arbeit. Ihre Chefin plante ein großes Dîner.

»Warum nennt man mich Nordver? Ist es Norbert?«

Auf der Anrichte mit den wuchtigen Füßen tickte zwischen grünen Tassen und bunten Untertassen eines unvollständigen Teeservices, zwischen dem Pokal für Geländelauf und den Colagläsern, die sie gegen die geduldig gesammelten Kronkorken eingetauscht hatten, eine alte Uhr im Zeitlupentempo.

»Maman, ist es Norbert?«

Sie wollte an dem Sessel, in dem er saß, vorbeigehen, um in ihr Zimmer zu gelangen, stieß gegen den Wohnzimmertisch, auf dem eine von einem Engel mit weißen Augen gehaltene Seemuschel aus Plastik prunkte. Die Stille waberte in die lähmende Hitze hinein.

»Dann ist es Norbert?«

Sie drehte sich langsam zu ihm um. Im Halbdunkel konnte er ihre Augen nur erahnen.

»Es ist Nordvaer.«

»Nordvaer?«

»Das ist ein Schiff.«

Es war typisch für seine Tanten, ihn nach einem Schiff zu benennen – schon wieder eine von ihren Eingebungen. Genau wie das Nachbarsmädchen, das sie Chauve-Souris, kahle Maus, getauft hatten, weil sie sich die Augenbrauen ausgezupft hatte, um ihrer Maman nachzueifern. Diesen Namen war sie nicht mehr losgeworden, und sobald man sie ärgern wollte, nannte man sie Sosouris, Dummmaus. Er mußte wohl irgend etwas angestellt haben, das mit einem Schiff zusammenhing, an das er sich aber überhaupt nicht erinnerte.

»Die Nordvaer ist ein Schiff«, hatte sie selbstvergessen wieder angesetzt. Sie schien gar nicht mit ihm zu sprechen.

»Und weiter?«

»Das Schiff, auf dem du geboren wurdest.«

Er brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was sie gerade mit so leiser Stimme gesagt hatte, daß er sie gar nicht wiedererkannte.

»Geboren? Ich wurde auf einem Schiff geboren? Wo denn, hier? Am Strand? Wie bitte? Hattet ihr denn kein Haus?«

Er sah den Rücken seiner Mutter seufzen.

»Auf dem Meer. Du bist auf einem Schiff auf dem Meer geboren. Mitten auf dem Meer. Und nein, wir hatten kein Haus mehr. Und keine Heimat. Gar nichts mehr.«



Sie hatten ihr Haus verloren. Und ihre Heimat. Sie hat es ihm erklärt. So gut man eben etwas erklären kann, das man selbst nicht ganz versteht. Ihre Lippen und Augen hüllen sich in Schweigen. Je mehr er fragt, desto mehr zieht sie sich zurück. Ihre Augen haben ihren Glanz verloren. Statt dessen nimmt er etwas anderes wahr. Er kann nicht sagen, was genau es ist. Ein schemenhaftes Vibrieren tief in ihren Pupillen, wie die feuchte Luft, die über dem heißen Asphalt flimmert.

»Was hat es mit dieser Sache von dem Schiff auf sich?«

Sie sieht ihn an. Und sie ist ratlos. Wie soll sie es ihm erzählen? Wo soll sie anfangen? Seine Geburt, das Schiff, die Welt, die andere Welt. Die Wahrheit. Das, was ihren Kopf und ihr Herz, ihren Bauch und ihr Inneres jede Nacht durchströmt. Die Welt davor.

Vor der Angst, vor dem Nichtverstehen.

Vor der Einsamkeit und der Panik vor dem Meer.

Vor dem diebischen Schiff, das anstelle des großen Glücks Leid gebracht hat.

Vor dieser neuen Welt der hochmütigen und gleichgültigen Bergkette, der verschlossenen und verächtlichen Einheimischen.

Vor der Wut.

Vor der Resignation, die sie mimte, um zu verhindern, daß das Nichtverstehen und der ohnmächtige Zorn sich in Wahnsinn entluden.

Wie sollte sie ihrem lieben Désiré erklären, daß sie dieses Wasser nicht hatte aufhalten können?



Sie hatte sich allein in einer winzigen Kabine wiedergefunden, allein mit der Angst, ihre drei Kinder unten im Frachtraum zu wissen, ohne sie, sie selbst ganz allein mit ihrem prallen Bauch, der schwerer und schwerer wiegt und nach unten zieht. Ist das die Wirkung des Meeres und seines lähmenden Rollens?

Jede Welle, die gegen die Nordvaer schlägt, läßt eine Welle von Schmerz durch ihren Körper fahren und schaukelt sich dort auf. Oder ist es umgekehrt? Geht das immer heftigere Pulsieren von ihrem Bauch aus, dringt durch ihre Haut, durch die Wände des Schiffs, um unter Wasser um sich zu greifen, so daß es plötzlich von einem Krampf geschüttelt wird?

Es ist so heiß. Sie kann in dieser Kabine kaum atmen. Das Kleid klebt ihr auf der Haut. Sie sieht die beigefarbenen Blumen, die auf ihrem Bauch keuchen. Sie sehen schön aus auf dieser braunen Erde. Sie könnte daraus beinahe ein Bouquet für das Grab der Ahnen machen, für das Fest der Toten. Wird sie im November zurücksein? Natürlich wird sie in fünf Monaten zurücksein. So lange wird sie nicht auf Mauritius bleiben. Die Nordvaer muß zurückfahren, muß sie zurückbringen. Aber warum denkt sie an ihre Toten? Mein Gott, sind sie ihnen womöglich gefolgt ...? Sie können nicht mit ihnen an Bord des Schiffs gegangen sein. Undenkbar, daß sie inmitten all dieser Aufregung so schnell ihre Knochen und ihre Seele hatten zusammenklauben können. Unmöglich, daß sie hier sind. Auf jeden Fall wollen sie ihr nichts Böses, sie besucht sie jedes Jahr, sie weiß, wie wichtig es ist, ihre Gräber mit Blumen zu schmücken. Sie versäumt es niemals, sie wird gehen, ganz sicher, sie müssen sie einfach zurückbringen. Oder versuchen sie, ihr etwas zu sagen, nein, nein, das darf nicht der Moment sein, sie wiederzusehen, noch nicht, sie trägt Leben in sich, es ist da, sie spürt es, da, haltet es fest, berührt es, ihren Bauch, der sich bewegt, dieses Leben im Innern, das ungeduldig wird, wächst, sie drängt, in ihrem Bauch so schwer wird, herauswill.

Die Blumen erschauern. Plötzlich ist es kalt. Hat jemand das Bullauge geöffnet? Sie sieht eine Sonne scheinen. Nanu, trotzdem zeichnet sich dort hinten eine schwarze Flut ab. So ist es wohl auf dem Ozean. Alle, die es kennen, sagen, daß es ein sonderbarer und geheimnisvoller Ort ist. Wahrscheinlich deshalb, weil man dort mitten in der Nacht die Sonne sehen kann.

Ist das Meer durch das Bullauge hereingeflossen? Sie ist klatschnaß.

Die Wellen branden in immer kürzeren Abständen an, folgen immer dichter aufeinander. Sie brechen sich an den Innenwänden ihres Bauches, bündeln sich, mein Gott, diese Flut wird sie noch zerreißen! Sie hat keine Kraft in den Beinen, sie kann nicht aufstehen, ihre Ellbogen finden kaum Halt auf der harten Liege. Wieder rollt die Welle an, sie weicht zurück, wendet ihre Masse, die sich auf das Schiff stürzt, ihren Körper, mein Gott, mein Gott, Erbarmen!

Man kann sie diesem Toben nicht ausliefern. Das Meer will mich ganz verschlingen, mein Kind aus dem Bauch reißen, die Wände niederreißen, die es beschützen, es will uns alle töten, Herr, Herr, hilf uns!

Ihre Schwägerin beugt sich über sie. Mit ängstlichem Blick, die nervöse Hand hält die ihre. Die Unterlippe zittert, während ihr Mund sich öffnet und wieder schließt. Sie will ihr etwas sagen, aber was? Der stechende Schmerz in ihrem Bauch strahlt bis zu den Ohren aus. Sie konzentriert sich auf ihre Lippen, nur die Lippenbewegung, Kran-ken-pfle-ger, das sagt sie also, Krankenpfleger. Er hätte schon hier sein müssen. Es gibt auf diesem Schiff keinen Arzt, das hatte sie sie sagen hören, als man sie aus dem Frachtraum zerrte, um sie in diese Kabine zu bringen. Er muß doch nur kommen. Er ist verantwortlich dafür, daß sie dort ist. Vielleicht wagt er es deshalb nicht, aber sie wird ihm nichts tun, sie ist gar nicht in der Lage dazu. Sie müssen ihn suchen gehen, er muß kommen, er muß ihr helfen! Sie können sie doch nicht unversorgt sich selbst überlassen!

Ein letztes Mal reißt der Schmerz an ihrem Körper, ein Schrei. So hat sie schließlich entbunden.

Getragen von diesem Gefühl des abebbenden Wassers, das sie in einer seltsamen Trägheit versinken läßt, sieht sie das Kind an, das an sie gedrückt schläft, ruhig atmend, auf der Liege, die an der Wand der dunklen Kabine befestigt ist, und sie denkt an die Wiege, die sie dem Kind dort in ihrem Haus zurechtgemacht hat. Die Wiege, die vielleicht die Hennen kolonisiert haben.