Barbara
Beuys

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HILDEGARD
VON
BINGEN

Kämpferisch und
barmherzig

Mit zahlreichen Abbildungen

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Insel Verlag

IHR LEBEN
Immer in Bewegung, Grenzen überschreitend

Hildegard von Bingen ist im Jahre 1098 nahe Alzey in der Pfalz, südwestlich vom heutigen Mainz, in eine adlige Familie geboren worden und 1179 im biblischen Alter von einundachtzig Jahren als Äbtissin in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg oberhalb von Bingen gestorben. Als christliche Prophetin, als Schriftstellerin, als Kennerin von heilenden Kräften, die in der Natur stecken und als Komponistin hat diese Frau seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im westlichen Europa, in den USA sowie in Australien eine steile Karriere gemacht.

Es gibt keine Persönlichkeit des 12. Jahrhunderts – schon gar keine weibliche –, die bis in unsere Tage so präsent und populär ist wie Hildegard von Bingen. Über achthundert Jahre nach dem Tod der Prophetin erhoffen sich viele Menschen aus ihren Büchern spirituelle Wegweisung. Unter ihrem Namen werden Kosmetik und Medizin verkauft, Ratschläge zur gesunden Ernährung gegeben. Die CDs mit ihren Gesängen sind längst keine Rarität mehr in den Musikläden.

Hildegard von Bingen war ein Multitalent. Mit ihrem schriftstellerischen Werk übertrifft sie nicht nur alles, was Frauen bis dahin und für viele folgende Jahrhunderte in der europäischen Geschichte – man kann sogar sagen: weltweit – geschaffen und hinterlassen haben. Nur von wenigen männlichen Berühmtheiten des Mittelalters ist ein so umfangreiches Textwerk überliefert.

Als Prophetin sieht Hildegard von Bingen in lichterfüllten Visionen Geheimnisse, die alles übertrafen, was die alten Seher schauen durften. Nachdem sie in ihren Büchern mit diesen Visionen an die Öffentlichkeit geht, strahlt ihr prophetischer Ruf weit über die Grenzen des Deutschen Reiches hinaus. Als Äbtissin korrespondiert sie mit Königen und Päpsten, Fürsten und Erzbischöfen. Hildegard von Bingen belässt es jedoch nicht dabei, himmlische Visionen aufzuschreiben und zu veröffentlichen.

Im Vorwort zu »Scivias«, ihrem ersten Buch, heißt es: Plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testaments. Wie skandalös dieser Anspruch aus dem Mund einer Frau ist, lässt sich nur vor dem Hintergrund der Kirchengeschichte verstehen. Nach einem berühmten Wort des Apostels Paulus haben Frauen in der Gemeinde – und damit in der Öffentlichkeit – zu schweigen. Deshalb besaßen bis in Hildegards Jahrhundert – und für die achthundert folgenden – ausschließlich zu Priestern geweihte Männer das Monopol auf die Auslegung der Bibel und anderer heiliger Schriften.

Und Hildegard von Bingen ging noch weiter: Die Äbtissin legte die Bibel nicht nur in ihren Büchern aus, sondern brach im hohen Alter sogar zu Predigtreisen quer durch Deutschland auf. Ein radikalerer Verstoß gegen Traditionen und kirchliche Vorschriften ist in der katholischen Kirche für eine Frau bis heute kaum denkbar.

Ihr Talent als Komponistin ragt ebenfalls weit aus ihrer Zeit heraus. Die rund siebzig Gesänge nebst einem Musik-Drama, die von Hildegard überliefert sind, machen sie zu einer der kreativsten Komponistinnen. Im Mittelalter selbst gibt es keinen Musiker, von dem so viele Kompositionen überliefert sind.

Eine Prophetin ist keine Insel. Faszinierend ist, wie sehr ihre außergewöhnliche Persönlichkeit und die bahnbrechende Zeit, in der sie lebte, zusammengehören. Denn ihre Epoche ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas, bedeutender noch als die Renaissance.

Es gibt keinen Bereich im 11. und 12. Jahrhundert, in dem nicht tiefgehende Veränderungen stattfanden, die sich alle wechselseitig beeinflussten. Das Klima erwärmte sich, und die Bevölkerung in Nord- und Westeuropa wuchs dramatisch. Die Bauern nutzten in der Landwirtschaft neue, produktivere Techniken; Wälder wurden gerodet, Weinberge angelegt, zahlreiche Dörfer gegründet. Die ersten mittelalterlichen Städte entstanden. Dort entwickelte sich eine Bürgerkultur, wuchsen bürgerliche Freiheiten, individuelle Risikobereitschaft und ein neues Wirtschaftsmodell, das vom Wettbewerb und vom Handel geprägt wurde.

Glaube und Frömmigkeit, die im Mittelalter nicht am Rande, sondern im Zentrum stehen und alle Bereiche des Menschen durchdringen, sind Teil des allgemeinen Aufbruchs und erfahren ebenfalls wesentliche Veränderungen. Traditionelle Riten, kirchliche Institutionen und Autoritäten werden nicht mehr fraglos akzeptiert. Sie müssen sich den persönlichen Empfindungen und Erwartungen der Gläubigen stellen. Innerhalb der Kirche wird der Ruf nach Reformen unüberhörbar. Eine neue Frömmigkeit bricht sich Bahn, die sich vom traditionellen Herrscher-Gott abwendet. Jetzt suchen die Christen in Jesus, dem menschgewordenen Gott, ihr Heil und finden im irdischen Leiden des Gekreuzigten Trost für die eigenen Bedrängnisse.

Vor allem Frauen öffnet sich erstmals in der Kirchengeschichte ein Zeitfenster mit der Chance, ihre religiösen Bedürfnisse in vielfältigen Formen leben zu können. Sie schließen sich Wanderpredigern an, gehen als Eremitinnen in die Einsamkeit und leiten eigene geistliche Gemeinschaften. Frauen drängen wie nie zuvor in die Klöster, die bisher in ihrer übergroßen Mehrheit den Männern vorbehalten waren. Dabei treffen sie auf Bischöfe und Äbte, die die religiöse Selbstverwirklichung der Frauen ernst nehmen und fördern. Aus zahlreichen traditionellen Klöstern der Benediktinermönche werden Doppelklöster, in denen Frauen als Nonnen Aufnahme finden und mit den Mönchen zusammen Tag und Nacht in der Klosterkirche zum Lob Gottes zusammenkommen. Hildegard von Bingen profitiert von diesem Zeitgeist.

Mit vierzehn Jahren, 1112, übergeben die adligen Eltern ihre Tochter Hildegard einer kleinen religiösen Gemeinschaft von jungen Frauen, die im Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg westlich von Sobernheim, wo der Glan in die Nahe fließt, Aufnahme findet. Ihre Leiterin ist die charismatische Jutta von Sponheim, die bald zu einer gefragten Ratgeberin weit über das Kloster hinaus wird. Nach ihrem Tod 1136 ernennt der Abt Hildegard zur geistlichen Leiterin der Nonnengemeinschaft, Magistra heißt ihr offizieller Titel.

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Nur noch Ruinen: Das Benediktinerkloster Disibodenberg, südwestlich von Bad Kreuznach, nimmt die 14-jährige Hildegard von Bingen 1112 mit anderen adligen Frauen als religiöse Gemeinschaft auf. Sie lebte dort bis 1150.

Seit ihrer Kindheit ist Hildegard immer aufs Neue ein strahlendes Licht erschienen. Es ist Gottes Sendbote, der ihre Augen für den Kosmos und den Himmel öffnet und sie eindringliche visionäre Bilder erleben lässt. Zugleich ist das Kind durch Krankheiten wie in ein Netz von Schmerzen verstrickt, die sie ebenfalls ihr Leben lang begleiten werden. Als Magistra auf dem Disibodenberg aber hört Hildegard erstmals im Zusammenhang mit den Visionen eine Stimme, die ihr befiehlt: Schreibe nieder, was du siehst und hörst. Es ist das erste Mal in der jüdisch-christlichen Geschichte, dass eine Frau einen solchen göttlichen Auftrag bekommt. Mose, Jeremia, Jesaia und Elia waren eindrucksvolle Propheten in Israel, denen Gott erschienen ist und die auch im Christentum verehrt werden.

Kein Wunder, dass Hildegard sich dem göttlichen Befehl erst verweigert. Als ihre Schmerzen daraufhin unerträglich werden, wagt sie sich an diesen gefährlichen Auftrag. Denn es ist völlig ungewiss, ob die kirchlichen Autoritäten ihren Worten Glauben schenken. Wie kann Hildegard beweisen, dass ihre Visionen von Gott kommen und nicht des Teufels sind?

Doch die Kirchenmänner sind von den schriftlichen Proben ihrer Visionen überzeugt. Schließlich erhält Hildegard den Segen der allerhöchsten Autorität auf Erden. Im Jahre 1147 kommt der Papst aus Rom zu einer Synode nach Trier. Er wird über die Prophetin aus Deutschland informiert, bestätigt, dass ihre Visionen göttlichen Ursprungs sind und ermuntert sie, alles aufzuschreiben.