Fußnoten

1

Ein Konjunktiv ist, wenn man sehr umständlich redet und »Ich würde gerne cool sein« sagt statt »Ich bin cool«, weil man weiß, dass man es sowieso nicht ist.

2

Eine Parkmieze ist eine Dame, die Strafzettel verteilt, was ihr Job ist und auch von irgendwem getan werden muss, weshalb in diesem Buch Parkmiezen nicht diskriminiert* werden sollen. Es gibt sehr nette Parkmiezen. * Diskriminiert ist, wenn man sagt, dass alle Parkmiezen Miezen sind. Das Gegenteil von diskriminierend nennt man politisch korrekt, und dann würde hier Politesse stehen, wovon ich aber für Pepe die männliche Form nicht kenne.

Über dieses Buch

Als John-Marlon das lose Brett im Bauzaun beiseite schiebt und das verlassene Grundstück dahinter betritt, ahnt er noch nicht, dass dieser Tag alles verändern wird. Denn dort, hinter dem Zaun, trifft er das Mädchen Wind. Wind, die ganz allein in einem alten Bauwagen lebt. Wind, mit der er einen Sommer lang die wunderbarsten Abenteuer erlebt. Doch Wind hat ein Geheimnis. Wird John-Marlon herausfinden, wer sie wirklich ist?

 

Der neue Kinderbuch-Schmöker der großen Erzählerin Antonia Michaelis

Für unsere Wind-Kinder,

die lieber Müll im Rinnstein sammeln

und Kunst daraus machen,

als schöne, teure, ökologische Dinge

aus Spielzeuggeschäften

geschenkt zu bekommen.

1 Nymphaea pygmaea rubra

Rote Zwergseerose

Es war einer dieser absoluten Tonnentage.

Tage, die man in die Tonne kloppen kann.

John-Marlon merkte es gleich beim Aufstehen. Er stieg aus dem Bett und ging zum Fenster, einem kleinen Schrägfenster, denn das Zimmer befand sich unter dem Dach. Vierter Stock Altbau, ohne Fahrstuhl. Das Zimmer war winzig und im Sommer ein Backofen, aber er mochte es trotzdem: Es war ein guter Ort, um sich zu verkriechen, wenn alles schieflief.

»Deine Höhle«, sagte seine Mutter immer und lächelte.

An dem Tag also, an dem diese Geschichte beginnt, stand John-Marlon am Fenster und sah, dass die Sonne schien, mitten in einem saftig blauen Himmel. Das perfekte Wetter für die Sommerwettkämpfe der Schule. Laufen, Springen, Werfen, Kugelstoßen – und am Ende das sehnsüchtig erwartete Fußballturnier.

John-Marlon erwartete nur eines am Fußballturnier sehnsüchtig: sein Ende. Er hasste Fußball genauso wie Laufen, Springen, Werfen und Kugelstoßen, und er hoffte seit fünf Jahren vergeblich, es würde am Tag der Sommerwettkämpfe regnen und sie müssten ausfallen.

 

»Du könntest dich doch anstrengen«, sagte sein Vater. »Ich meine: Streng dich doch einfach mal an! Das ist keine Frage der Kraft, das ist eine Frage des Selbstvertrauens.« Er beugte sich über den Tisch, einen kleinen, wackelnden Eiscafétisch, und sah John-Marlon in die Augen.

Es war inzwischen zwei Uhr durch und die Sportwettkämpfe vorbei. Zum Glück. John-Marlons Vater hatte ihn gleich danach von der Schule abgeholt. Dies war ein Dienstag, und Dienstag war Vater-Tag. John-Marlons Vater wohnte seit Längerem nicht mehr mit John-Marlon und seiner Mutter zusammen, aber dienstags hatte er Zeit.

Er war groß, sportlich und blond. John-Marlon war mittelklein, braunhaarig und pummelig. Überflüssig zu sagen, dass er eine Brille hatte. Mittelkleine pummelige Jungen haben oft Brillen, so wie ein Unglück meistens das nächste nach sich zieht. Sonnenschein zum Beispiel Sportwettkämpfe und Sportwettkämpfe Fragen nach Ergebnissen von Sportwettkämpfen.

»Du kannst das alles«, sagte John-Marlons Vater. »Es ist in dir. Verstehst du? In dir steckt ein Tiger.« Dabei machte er ein Gesicht mit einem Grrrr zwischen den Zähnen, was ziemlich lächerlich aussah.

»Papa«, sagte John-Marlon gequält. »Ich bin in der fünften. Nicht im Kindergarten.«

Er rührte in seinem Eisbecher, der sich langsam von zwei Kugeln unterschiedlicher Farbe in einen Matsch gar keiner spezifischen Farbe verwandelte.

»Ich wollte sagen: Man muss nur wollen!«, erklärte sein Vater. »Nächstes Jahr kriegst du eine Siegerurkunde. Ach was, eine Ehrenurkunde.« Er trank seinen Kaffee in einem Zug aus, als wäre auch das ein Wettbewerb. »Hat eben dieses Jahr nicht geklappt. Mach dir nichts draus.«

Das Schlimme war, dass John-Marlon sich gar nichts draus machte. Es war ihm völlig egal, wie weit er warf oder wie schnell er lief. Er versuchte es trotzdem. Für seinen Vater. Er ging seinem Vater zuliebe sogar in den Fußballverein, denn sein Vater war der Meinung, in ihm (irgendwo neben dem Tiger) stecke ein wirklich guter Fußballer. Er selbst spielte im Verein des Firmenvorstandes, sehr erfolgreich, wie er ab und zu betonte.

»Und wie war’s Sonntag beim Fußball?«, fragte er. Als könne er Gedanken lesen.

»Na ja, ich habe nicht gerade ein Tor geschossen, aber ich war auf dem Feld«, sagte John-Marlon. »Immerhin.«

Sein Vater seufzte. »Die lassen dich immer noch am liebsten am Rand sitzen, was? Die werden schon sehen! Wenn wir beide endlich mal trainieren …«

John-Marlon sah auf. »Trainieren wir heute?«

Einerseits wollte er alles lieber als Kicken üben. Andererseits wollte er nichts lieber als etwas mit seinem Vater machen.

»Ich wünschte, wir könnten«, sagte sein Vater. »John-Marlon …« Er legte eine Hand auf die von John-Marlon, es hatte etwas Beileidsmäßiges, wie auf einer Beerdigung.

»Du kannst nicht«, sagte John-Marlon. »Es ist was dazwischengekommen.«

»Ja. Ich dachte, wir essen wenigstens ein Eis, bevor ich … Wir haben eine Sondersitzung in der Firma.«

John-Marlon betrachtete den Eismatsch in seinem Glas.

»Ist deine Mutter denn zu Hause?«

»Nee«, sagte John-Marlon. »Arbeitet. Aber ich komm schon allein klar bis abends.«

»Nächste Woche trainieren wir.« Sein Vater sah auf sein Handy und stand auf. »Himmel, ich muss wirklich. Ich zahle noch schnell drinnen … Iss du in aller Ruhe dein Eis zu Ende, das hast du dir ja verdient. Nach den Sportwettkämpfen und allem.«

Er lächelte, doch man sah genau, dass er eigentlich nicht fand, John-Marlon hätte es verdient. John-Marlon fragte sich, ob sein Vater Zeit gehabt hätte, wenn die Wettkämpfe anders gelaufen wären. Wenn er nicht, wie jedes Jahr, im Laufen, Springen und Werfen unter den Schlechtesten gewesen wäre. Beim Kugelstoßen übrigens nicht. Beim Kugelstoßen war er gar nicht angetreten, weil er sich vor dem ersten Versuch die Kugel auf den Fuß hatte fallen lassen und verarztet werden musste. Etwas, das er seinem Vater garantiert nie erzählen würde.

John-Marlon starrte in den Eismatsch, bis er hörte, wie das Auto seines Vaters sich entfernte.

Dann stand er auf, kippte den Matsch in einen Blumenkübel und ging die Straße hinunter, auf der sein kurzer Sommerschatten ihm vorauslief.

Sonne auf dem Bürgersteig, Hitzeflimmern über dem Asphalt und ein Tag für die Tonne.

Aber dann.

 

Dann ging John-Marlon einen Umweg.

Durch eine schmale Straße, durch die er sonst nicht ging, irgend so eine abgehalfterte Berliner Seitenstraße eben. Er hatte keine Lust, zu Hause anzukommen, denn da würde ihn nur die Nachbarin sehen und seiner Mutter erzählen, dass er alleine in der Wohnung gewesen war, und seine Mutter würde am Telefon mit seinem Vater streiten, weil der doch hätte Zeit haben sollen. Und John-Marlon würde denken, dass sein Vater die Firmensitzung geschwänzt hätte, wenn er, John-Marlon, ein erfolgreicher, sportlicher Sohn gewesen wäre: einer, mit dem man gerne etwas unternahm.

All diese Konjunktive[1] führten dazu, dass er durch die erwähnte Seitenstraße trödelte.

Sie führte an einer Bretterwand entlang, beklebt mit Plakaten, alle übereinander, manche halb zerrissen: Reklame für Rockkonzerte, Demonstrationen, Disco-Nächte, vegane Meditationszirkel (was immer das war), Partnerbörsen für regenbogenfarbene Frauen, Kinofilme, Theaterstücke … John-Marlon studierte eine Weile die Plakate. Das Leben, dachte er, passierte irgendwo, irgendwo ganz in der Nähe, das laute, bunte, wunderbare Leben. Nur er war nicht eingeladen.

Und dann fand er, ungefähr in der Mitte des Zauns, einen Spalt.

Neben einem halben Plakat, auf dem jemand mit herausgestreckter Zunge und bunten Kringeln in den Augen war. John-Marlon legte seine Hand neben den Spalt, nur so, und da rutschte das Plakat mit der darunter befindlichen Latte weg. Die Latte hing oben an einem Nagel, unten jedoch an keinem. Dahinter wuchs ein dicker Vorhang aus Kletterpflanzen.

Die entstandene Lücke war recht breit. Wenn er den Bauch ein bisschen einzog, dachte John-Marlon, konnte er vielleicht …

Er sah sich um. Die Straße war menschenleer. Nur an ihrem Ende, vor einem Laden mit rot-weißer Sonnenblende, stand jemand herum, guckte aber woandershin.

John-Marlon holte tief Luft, quetschte sich durch die Bretterwand und teilte den Kletterpflanzenvorhang.

Er stand in einem Urwald.

Einer duftenden, lichtdurchfluteten, grünen Welt, die so fern von der Stadt war, wie nur irgendetwas sein konnte.

Einem Paradies.

 

Seltsam, der Dschungel war gleichzeitig undurchdringlich und durchdrungen von Luft und Sonne.

John-Marlon wanderte durch eine Art Gang zwischen Holunder, Knöterich und einer Menge Pflanzen, deren Namen er nicht kannte. Dschungelpflanzen. Selbst der Knöterich wirkte hier wie ein Urwaldgewächs, er bildete armdicke Lianen, und seine weißen Blüten waren wie weiße Gischt auf grünen Wellen. Dazwischen blühte es groß und rot und trompetig, gelb und puschelig, blau und doldenförmig … Wie kamen all diese exotischen Pflanzen hierher?

John-Marlon trat auf eine Lichtung, kletterte auf einen Schutthaufen und sah sich um.

Das Urwaldgelände wurde an einer Seite von den Brettern und an drei Seiten von sehr hohen grauen Hauswänden begrenzt. Wänden ohne Fenster. Man konnte sich fast vorstellen, es wären Felswände im Dschungel.

Es gab allerdings nicht nur Dschungel hier, es gab auch Sandhügel und eingetrocknete Fahrspuren von Baumaschinen, und irgendwo ragten die verrosteten Stücke eines Baggers aus hüfthohem Gras. Wasser glänzte in einem Tümpel oder einer Baugrube, und Reste alter Mauern standen herum. Vor langer Zeit hatte hier wohl ein Häuserblock gestanden, der abgerissen worden war, danach hatte die Welt dieses Grundstück vergessen.

In den Bäumen sangen tausend Vögel, auf Kniehöhe zirpten Sommergrillen, und die Blätter über John-Marlons Kopf waren lebende Kunstwerke. Was immer John-Marlon zwischen den geheimnisvollen grünen Schatten finden würde, dachte er, eines war klar: Hier gab es keine Sportwettkämpfe.

 

Und dann fand er den Brombeerbaum. Wirklich, einen Baum, auf dem Brombeeren wuchsen, und orangerot statt lila. Lila waren dafür die Blüten der Kletterpflanze, die sich um die Äste des Baumes schlang.

John-Marlon streckte die Hand nach einer Brombeere aus – und da pfiff jemand. Über ihm.

Er erschrak so sehr, dass er zurücksprang und beinahe hinfiel. In den Ästen des Baums, zwischen orangeroten Brombeeren und violetten Blüten, saß das schönste Mädchen der Welt. Sie war weder blond noch blauäugig, noch hatte sie ein besonders feines Gesicht. Hübsch war sie nicht. Schön allerdings. Ihre braunen Haare sahen aus wie Wellen, die um ihren Kopf herumspritzten, eigensinnige Meereswellen voll aufgewirbeltem Sand. Ihr Gesicht war bedeckt von ineinanderfließenden Sommersprossen, und auf ihrer Stirn, über dem rechten Auge, strahlte ein rotes Feuermal, so ein Ding, das manche Leute wegmachen lassen. Aber auch das Feuermal war schön. Es sah aus wie eine rote Urwaldblume.

Die Arme des Mädchens waren braun gebrannt und voller Kratzer und Schrammen, ihr altes schwarz-grau gestreiftes Hemd halb zerrissen, ihre Jeans an den Knien durchgewetzt. Sie sah nicht aus, als störten die Löcher sie. Oder die Schlammspritzer auf ihrer Nase.

Gar nichts störte sie.

Außer vielleicht John-Marlon.

Sie saß da in einer Astgabel, im Schneidersitz, mit perfekt geradem Rücken, sah aus dunklen Augen zu ihm herunter und sagte: »Da bist du also.«

»Wusstest du, dass ich komme?«, fragte John-Marlon perplex.

»Natürlich.« Das Mädchen nahm etwas aus ihrem Haar, das John-Marlon zunächst für einen Skorpion hielt. Es war allerdings eine Zikade. Sie setzte sie auf ein Blatt.

»Lauf schon«, sagte sie. Und zu John-Marlon: »Natürlich wusste ich es. Jedenfalls eine Viertelstunde lang. So lange hast du gebraucht, um von der Bretterwand hierherzukommen. Rekordzeit.«

»Rekordschnell?«

»Rekordlangsam. Ich brauche dreizehn Sekunden. An schlechten Tagen.«

»Ich … äh … habe mir die Sachen angesehen«, sagte John-Marlon.

»Sachen.« Sie legte den Kopf schief. »Du bist schon eine komische Sorte von Eindringling.«

»Darf ich nicht hier sein?«, fragte John-Marlon leise.

Sie stand auf dem Ast auf und lehnte sich an den Stamm. »Eigentlich«, sagte sie, »dürften wir beide nicht hier sein. Aber es gibt einen Unterschied zwischen mir und dir. Du bist zufällig durch eine Lücke im Zaun gekrochen. Ich wohne hier.«

»Hier? Ich meine, du schläfst auch hier?«

»Nicht hier auf dem Maulbeerbaum, Dummerling«, sagte das Mädchen. »Da.«

Und sie zeigte mit der Hand irgendwo in das Wirrwarr aus Blättern hinter sich. »Komm. Ich zeig’s dir. Wenn du schon mal hier bist.«

Dann stand sie vor ihm. Sie war genauso groß wie er.

Sie roch nach Zitronen und Zucker und etwas wie einem fremden, exotischen Gewürz, und ihre Augen blitzten. Raubkatzenaugen, dachte er. Aber sie waren viel dunkler. Auf ihrem Grunde, irgendwo, er spürte es, lag ein Geheimnis.

»Das ist also ein Maulbeerbaum«, flüsterte er ehrfürchtig.

Sie nickte. »Morus nigra. Schwarze Maulbeere. Gehört nach Westasien und mag es warm. Letzten Winter habe ich ihr einen Pullover gestrickt.«

»Warum wachsen diese Dinger hier?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich nehme an, sie haben ihren Grund. Aber sie sind geheim. Ein geheimer Dschungel.« Sie seufzte. »Na, jetzt kann man es wohl nicht mehr ändern, dass du ihn auch gefunden hast.«

 

Das Mädchen tauchte vor John-Marlon ins Dickicht, und er tauchte hinterher, kam ins Schwitzen und war dankbar, als sie stehen blieb.

»Hier ist der Fluss«, sagte sie. »Merk dir den. Frisches Wasser ist wichtig.«

John-Marlon nickte. Vor ihnen floss ein kleiner Bach durch blumenbewachsenen Schlamm. »Und da – der Wasserfall.«

John-Marlon entdeckte ein Rohr, das aus einem stehen gebliebenen Stück alter Wand ragte. Irgendwo in zwei oder drei Meter Höhe fiel das Wasser aus dem Rohr, jemand hatte vielleicht vergessen, es abzustellen, nachdem das Gebäude abgerissen worden war.

»Wenn man genau hinsieht, sind da Regenbögen«, sagte das Mädchen. »Die Tiere kommen alle zum Trinken.«

John-Marlon kniff die Augen zusammen. Wirklich, wo der Wasserfall ins Wasser fiel, malte das Sonnenlicht kleine, hüpfige Regenbogen in die aufstiebenden Tropfen.

»Tiere?«

»Urwaldtiere«, sagte das Mädchen achselzuckend. »Affen, Elefanten, Tapire, manchmal ein Tiger.«

Und als sie es sagte, hörte John-Marlon die Affen in den Bäumen kreischen, er hörte in der Ferne einen Elefanten trompeten, hörte Raubkatzenschritte im Unterholz. Wie seltsam.

Er tunkte die Hand ins Wasser und trank, und es war kein Wasser aus einem rostigen Rohr, es war das klare Wasser eines Wasserfalls. Das Mädchen tauchte schon wieder ins Gebüsch. Er beeilte sich, sie einzuholen. Er war nicht wild darauf, alleine einem Tiger zu begegnen.

Nach einer Weile sagte sie: »Jetzt müssen wir über eine Brücke balancieren. Ist das ein Problem für dich?«

»Äh … nein«, antwortete John-Marlon. »Ich … balanciere gerne über Brücken.«

Die Brücke, eine ziemlich wackelige Hängebrücke, bestand aus dicken Ästen und Seil und besaß ein Geländer aus einem weiteren Seil. Sie führte über den Tümpel, den John-Marlon zuvor gesehen hatte. Nur dass er jetzt ein Urwaldsee war.

»Fall besser nicht rein«, sagte das Mädchen. »Niemand weiß, was da unten lauert.«

»Okay, dann fall ich heute mal nicht rein.« John-Marlon lachte nervös.

Sie balancierten nach der Brücke über mehrere Baumstämme, die über ein ganzes Netz aus kleinen Seen und Wasserläufen führten, und beim letzten See pflückte das Mädchen einen Strauß rosa Seerosen.

»Nehmen wir mit«, erklärte sie. »Machen sich bestimmt hübsch auf dem Küchentisch.«

Dann führte ein Trampelpfad sie durch hüfthohes Gras. Irgendwo ragten die Spitzen eines alten Astes daraus empor, aber das Mädchen flüsterte: »Schau! Antilopen!«, und John-Marlon sah, dass er sich geirrt hatte; es waren die Spitzen von Hörnern.

»Werden die Dinge so, weil du …«, begann John-Marlon. Doch in diesem Moment deutete sie nach oben, und er folgte ihrem Blick. Der Himmel war nicht mehr blau, über ihnen hingen schwere, schwarze Wolken.

»Jetzt kriegen wir unseren täglichen Regenwaldregen«, erklärte das Mädchen – und spannte einen altmodischen schwarzen Regenschirm mit Holzknauf auf, gerade in dem Moment, als der Regen auf den Urwald niederzuprasseln begann. John-Marlon hatte gar nicht gemerkt, dass sie den Schirm bei sich gehabt hatte. Das Mädchen hielt ihn über sie beide, und als sie weitergingen, wieder durch Dschungelgewirr, da gingen sie dicht nebeneinander, um zu zweit unter den Schirm zu passen. Es war schön, so dicht neben ihr zu gehen.

Leider gingen sie nicht ewig.

»Da wären wir«, sagte das Mädchen unvermittelt.

Und da waren sie: Sie standen vor einem Haus, das eigentlich keines war; es war ein Bauwagen mit einer überdachten Veranda davor, gebaut aus lauter unterschiedlich langen und dicken Brettern. Ein kaputter Schaukelstuhl knarzte in einer Brise vor sich hin. Am Dach des Bauwagens hatte jemand ein altes Balkongeländer befestigt, falls man sich da oben aufhalten wollte, und darüber bildeten Äste mit hellgrünen Federblättern ein luftiges Sonnensegel. Seitlich lief eine steinerne Wendeltreppe am Wagen nach oben – ein geschickt eingebautes Überbleibsel von einem früheren Gebäude auf dem Grundstück.

»Komm.«

Das Mädchen winkte John-Marlon ins Innere des Bauwagens, wo es dunkel war, doch als sie eine kleine Öllampe anzündete, wurde die Dunkelheit zu einem gemütlichen Zwielicht. John-Marlon nahm sehr vorsichtig auf einem Polstersessel mit unten herausguckenden Sprungfedern Platz. Der Wagen war ein Sammelsurium an merkwürdigen Möbelstücken. Da war ein fünfbeiniger Stuhl aus dicken Ästen, ein Tisch, der einmal ein Fensterladen gewesen war, ein goldbraunes Sofa, dessen Füllung hervorquoll, ein Schrank mit schiefen Türen, ein kleiner Ofen, auf dem eine gusseiserne Pfanne stand. Den Boden bedeckten abgewetzte Flickenteppiche, und an den Wänden hingen Schöpfkellen, Schraubenzieher, getrocknete Pflanzen, Zeichnungen von Blumen und Tieren, ein Geigenbogen …

Das Mädchen schob ein dickes Buch mit dem Titel Botanikführer Regenwald beiseite und stellte eine Schale mit Keksen auf eine umgedrehte Bierkiste.

»Also«, sagte sie und setzte sich auf den fünfbeinigen Stuhl, schon wieder im Schneidersitz. »Wie heißt du?«

»Ich?«

»Na, ich nicht.« Sie schob sich drei Kekse in den Mund. »Ich weiß, wie ich heiße.«

»John … John-Marlon«, stotterte John-Marlon. »Und du?«

»Wind«, sagte das Mädchen. »Hör mal, John-John-Marlon, wie kommt es, dass du rosa Blütenblätter mit dir herumträgst?«

»Tue ich das?«

Sie hob ein Blütenblatt vom Boden auf. »Das muss von dir abgefallen sein.«

»Ist wahrscheinlich im Urwald an mir hängen geblieben.«

»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf, dass die braunen Wellen nur so flogen. »Diese Sorte Blüten gibt es nicht in meinem Urwald. Und glaub mir, ich kenne sie alle.« Sie klopfte auf ein anderes Buch, eines mit einem fleckigen Ledereinband. »Ich habe von jeder Pflanze hier ein Blatt und eine Blüte gesammelt, sie gepresst und bestimmt. Diese rosa Dinger haben wir nicht. Sie muss von draußen kommen.«

»Ja … kann sein …«, nuschelte John-Marlon an einem Keks vorbei. Er war ziemlich hungrig nach der Urwaldwanderei. »Obwohl ich nicht weiß, wann ich heute an rosa Blumen vorbeigekommen wäre … außer denen.« Er nickte zu den Seerosen hin, die jetzt in einer roten Emaille-Teekanne standen. Ihre Blütenblätter sahen eindeutig anders aus als das, das Wind vom Boden aufgehoben hatte.

»Nymphaea pygmaea rubra«, sagte sie. »Rote Zwergseerose. Ich kenne sie alle, mit Vor und Nachnamen. Mit dieser Blume da … bin ich nicht bekannt. Und heute Mittag lagen ihre Blütenblätter noch nicht auf meinem Fußboden.« Sie legte den Kopf schief, als würde sie intensiv lauschen. Auf Schritte von jemandem, der rosa Blütenblätter verteilte. Doch man hörte nur den Regen aufs Dach prasseln.

»Und du wohnst immer hier?«, fragte John-Marlon. »Auch im Winter?«

»Ich habe ja meinen Ofen«, sagte Wind. »Und jede Menge Felle dahinten im Schrank. Im Winter ist es hier manchmal eine Eiswüste. Die Antarktis. Oder die Arktis. Man kann Schneehasen treffen oder Eskimos. Einmal hatte ich Eisbären auf dem Tümpel. Es ist jeden Tag anders. Du solltest es im Frühjahr sehen.« Sie sprang auf, nahm die Teekanne und zwei Tassen und goss ein. »In den ersten warmen Tagen, wenn der Schnee geschmolzen ist. All das kleine grüne Zeug, das dann wächst wie wild … Einmal war da draußen eine Alm. Mit Enzian. Und Kühen.«

John-Marlon sah die Teetasse an, die Wind ihm reichte. »Aber das … ist das Wasser von den Seerosen!«

»Ach was, das ist kalter Zitronentee«, sagte Wind. »Ich habe die Seerosen hineingestellt. Die sollen auch mal was Gutes kriegen. So, John-John-Marlon. Und warum bist du hier?«

»Weil, na ja, ich glaube, weil mein Vater keine Zeit hatte«, antwortete John-Marlon leise, nahm seine Brille ab und putzte sie ausführlich mit dem Ärmel. Aber man kann keine Brille ewig putzen, und irgendwann musste er sie wieder aufsetzen. Da sah er Wind durch die Gläser an, das schönste Mädchen der Welt, und seufzte, und dann erzählte er ihr von dem ganzen Tonnentag, von den Sportwettkämpfen und dem Fußball und seinen Eltern. Sie hörte zu, ohne zu unterbrechen, nur ab und zu streichelte sie eine Katze, die sich auf ihrem Schoß eingefunden hatte.

»Und du?«, fragte er schließlich. »Warum bist du hier? Wo sind deine Eltern und …« Der scharfe Blick ihrer glänzenden dunklen Augen ließ ihn verstummen.

»Es gibt Dinge«, meinte Wind bedächtig, »die sollte man nicht fragen.«

Die Katze sprang von ihrem Schoß und verschwand irgendwohin, und Wind nahm einen kleinen alten Wecker von einem Regal und sah darauf. Die bronzefarbenen verschnörkelten Zeiger zeigten Viertel vor zwölf. »Dann ist es jetzt Viertel vor sechs«, meinte Wind. »Sie geht sechs Stunden vor.«

John-Marlon schüttelte verwundert den Kopf. Er hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war.

»Warum stellst du sie nicht?«, fragte er.

»Man muss doch mit dem Rechnen irgendwie in Übung bleiben, wenn man alleine lebt.« Sie zuckte die Schultern. »Es regnet nicht mehr, hast Glück. Du musst gehen.«

»Ja?« John-Marlon stand widerstrebend auf. »Warum?«

»Es gibt Dinge …«, begann Wind. »Ab sechs muss ich alleine hier sein. Komm nächstes Mal früher. Dann kann ich dir was zeigen. Ein Geheimnis.«

Als John-Marlon zusammen mit dem Mädchen Wind den tunnelartigen Pfad zum Loch im Zaun zurückging, glaubte er kurz, hinter ihnen Schritte zu hören, menschliche Schritte. Doch dann waren sie fort und vielleicht nie da gewesen.

Vor der Bretterwand packte Wind John-Marlon plötzlich am Ärmel. »Du erzählst doch keinem von … dem hier?«

John-Marlon schüttelte den Kopf, und Wind nickte beruhigt.

Behutsam strich sie über ein mehrfingriges Blatt voller roter Adern. Ein Regentropfen glitzerte darauf wie ein perfekt geschliffener Edelstein. »Es ist wunderschön hier«, flüsterte sie. »Wie ein Bild von Rousseau. Aber dies ist mein letzter Sommer im Urwald. Nach dem Sommer wird es kein Mädchen Wind mehr geben. Und das alles … auch nicht mehr.«

»Warum?«, fragte John-Marlon bestürzt, und zum ersten Mal begriff er, was das Wort »bestürzt« bedeutete, er fühlte sich, als würde er aus etwas herausstürzen. Aus einem wundervollen Bild, das eben noch wirklich gewesen war.

»Geh jetzt«, wisperte Wind. »Geh jetzt, John-John-Marlon. Und wenn du willst, komm morgen um drei.«

Damit drehte sie sich um und verschwand im Unterholz.

Und John-Marlon teilte den Vorhang aus Knöterichranken, kroch durch die Bretterwand und stand wieder in der juniabendwarmen Berliner Seitenstraße.

Nur irgendwie war gar nichts so wie zuvor.

 

Am Ende der Straße hielt er bei dem kleinen Laden mit der rot-weißen Sonnenblende an. Es war ein Spätkauf, so ein Gemischtwarenladen, der auch nachts offen hat, winzig und vollgestopft mit allem Möglichen: Wasserflaschen, Handykarten, Rubbellosen, Keksrollen, Zigarettenpackungen, Bierdosen, Obstauslagen, Fladenbrot in einer leicht staubigen Glasvitrine. Daneben gab es eine Theke, die man vermutlich wegklappen konnte, um dahinterzukommen, und dort stand ein alter Herr mit einem grauen Schnauzbart und Brille. Vielleicht, dachte John-Marlon, sollte er sich später auch einen Schnauzbart stehen lassen, vielleicht würde das die Brille besser machen.

Der Herr mit dem Schnauzbart las im Stehen eine bunte Fernsehzeitschrift und offenbar gleichzeitig ein leinengebundenes kleines Dünndruckbuch und sah von beiden auf, als John-Marlon den Laden betrat und eine kleine Ladenglocke klingelte.

»Haben Sie Cola?«, fragte John-Marlon, der sich plötzlich unendlich durstig fühlte. Hatte er wirklich in einem Bauwagen Zitronentee mit Seerosen-Kompost-Geschmack getrunken? Oder hatte er sich das alles nur zusammengeträumt?

»Cola. Ich fürchte, nein«, erwiderte der Schnauzbartmann, in einer kleinen Kühltruhe wühlend. »Limca hätte ich. Das ist die indische Variante von Cola. Nein, eigentlich von Zitronenlimonade. Nur mit weniger Zitrone und mehr künstlichen Zusatzstoffen.«

John-Marlon zuckte die Achseln und legte zwei Euro auf die Theke. Die silbrige Geld-auffang-Schale hatte die Form eines Elefantenohrs. Der Mann zwirbelte nachdenklich seinen Bart und gab John-Marlon ein paar Münzen wieder. Dann sah er aufmerksam zu, wie John-Marlon trank.

»Etwas bitter, hm? Manche sagen, das Zeug schmeckt nach Seerosenstielen.«

John-Marlon verschluckte sich und hustete, und der Schnurrbärtige beugte sich über die Theke und klopfte ihm auf den Rücken. »Alles in Ordnung?«

John-Marlon kniff die Augen zusammen. »Wer ist eigentlich Rousseau?«, fragte er leise.

»Ein Maler«, antwortete der Schnurrbärtige. »Lange tot. Fragst du wegen des Kalenders?«

Er deutete zu einem der Regale, und daran hing wirklich ein Kalender. Ein Kalender mit dem gemalten Bild eines wunderschönen Dschungels, in dem eine nackte Frau sich auf einem Sofa aalte, während dahinter ein Tiger aus dem Dickicht sah, der sich vielleicht mit ihr unterhalten wollte.

»Glauben Sie, dass der Tiger echt ist?«, fragte John-Marlon. Natürlich meinte er den Tiger hinter dem Bretterzaun, den Wind erwähnt hatte.

»Das kommt ganz auf den Standpunkt der Betrachtung an«, sagte der Mann mit dem Schnauzbart.

2 Sequoiadendron giganteum

Riesenmammutbaum

Der Abend war so warm, dass sie bei offenem Fenster in der Küche aßen.

John-Marlon hatte den Tisch gedeckt und das Brot geschnitten. Als er die kleinen Tomaten betrachtete, die auf einem Teller lagen, kamen sie ihm beinahe exotisch vor. »Haben Tomaten eigentlich noch einen anderen Namen?«, fragte er.

»Einen anderen Namen?« Seine Mutter runzelte die Stirn, was ihr Gesicht noch müder aussehen ließ als ohnehin. Sie hatte den Kopf in eine Hand gestützt und rührte mit der anderen in ihrer Teetasse. John-Marlon hatte auch den Tee gekocht.

Weil ich jemanden kennengelernt habe, der Pflanzen andere Namen gibt, die viel schöner klingen, wollte John-Marlon antworten, aber dann sagte er nur: »Ach, bloß so.«

Er sah, wie sie ihren Nacken massierte, wahrscheinlich hatte sie wieder diese Verspannungen, die sich alle zwei Wochen in Killerkopfschmerzen entluden. John-Marlon wünschte, er hätte ihr helfen können. Er hätte für sie die alten Leute herumhieven oder füttern und waschen können, statt zur Schule zu gehen. Denn das war es, was sie machte, alte Leute pflegen.

Es war überhaupt nicht einzusehen, fand John-Marlon, dass alte Leute in Berlin so dick und schwer waren. In Polen, wo seine Mutter als Kind gewohnt hatte, waren die alten Leute klein und dünn, das wusste er, weil sie manchmal seine Großeltern besuchten.

Aber in Polen verdiente man als Altenpfleger zu wenig. Vielleicht zahlten sie weltweit nach Kilogramm.

»Hattest du einen schönen Tag mit Papa?«, fragte John-Marlons Mutter und biss in eine Brotscheibe. Sie hatte vergessen, etwas draufzuschmieren.

»War okay«, sagte John-Marlon.

»Was habt ihr denn gemacht?«

»Wir … wir waren im botanischen Garten«, sagte John-Marlon. »Und da hatten die Pflanzen alle diese langen Namen. Morus irgendwas für Maulbeerbaum. Die sehen aus, als würden Brombeeren auf ihnen wachsen. Und wir sind über eine sehr wackelige Hängebrücke balanciert. Es war … weißt du, es war ein wirklich schöner Tag.« Er spürte, wie er lächelte.

»Klingt gar nicht nach Papa«, murmelte seine Mutter.

»Morgen gehe ich wieder hin«, erklärte John-Marlon.

»Allein?«

»Andere Leute in meinem Alter wohnen allein. Da kann ich wohl in den botanischen Garten gehen.«

»Natürlich. Du kannst dir aus der Dose auf dem Fensterbrett das Geld für den Eintritt nehmen. Ich finde es ja wunderbar, dass du dich so für Botanik interessierst. Aber das mit dem Alleinewohnen, woher hast du das?« Sie schüttelte den Kopf. »Das tut in deinem Alter niemand. Wenn ein Kind allein ist, kommt es in ein Heim oder in eine Pflegefamilie.«

»Im Urwald vielleicht nicht«, murmelte John-Marlon.

»Na ja«, sagte seine Mutter. »Auf Papua-Neuguinea gibt es vielleicht arme bedauernswerte Kinder, die sich allein durchschlagen müssen, aber hier nicht.«

Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn, und er dachte daran, wie wenig arm und bedauernswert Wind gewirkt hatte.

Er träumte von ihrem Gesicht mit den Sommersprossen und dem Feuermal. Im Traum legte sie einen Finger an die Lippen. »Erzähl keinem von dem hier«, wisperte sie. »Noch nicht. Nach dem Sommer werde ich nicht mehr da sein. Dann kannst du es erzählen.«

 

In der Schule sah John-Marlon aus dem Fenster und träumte weiter. Fin, der neben ihm saß, wunderte sich über die Blumen, die er an den Rand seiner Hefte malte.

»Wirst du jetzt zum Mädchen?«, flüsterte er. »Ich meine: Blümchen?«

»Das ist eine Nymphaea pygmaea rubra«, zischte John-Marlon.

»Ein was für’n Ding?«

»Eine fleischfressende Urwaldseerose«, sagte John-Marlon.

»Aaach«, sagte Fin gedehnt. »Was frisst die denn?«

»Tiger«, sagte John-Marlon. »Und dazu trinkt sie Zitronentee.« Daraufhin musste er so lachen, dass die Erdkundelehrerin ihm einen komischen Blick zuwarf.

»John-Marlon Brillenschlange ist verrückt geworden«, sagte Fin laut. Die anderen kicherten, aber komisch, es machte John-Marlon gar nichts aus.

 

Diesmal musste er eine halbe Ewigkeit warten, bis die Seitenstraße leer war und niemand ihn sah. Aber schließlich schob er die Latte zur Seite, teilte den Rankenteppich und trat aus der Welt des nachmittäglichen Berlin in die Welt des Urwaldes.

Er hörte die Vögel, die Zikaden, das Rascheln der Äste. Er roch das Grün der Blätter, den Duft der exotischen Blüten. Er spürte die Erde unter seinen Füßen.

Es war alles noch da.

In einer Minute hatte er den Maulbeerbaum erreicht, in fünf weiteren Winds Behausung. Doch dort lagen nur drei zerzauste braun getigerte Katzen auf der Veranda und schliefen neben einer sorgsam ausgeleckten alten Schüssel.

John-Marlon setzte sich auf den Schaukelstuhl. Der Wind bewegte die Äste und zerpflückte die Sonnenstrahlen.

»Vielleicht«, flüsterte John-Marlon, »ist sie nicht da, weil der Wind da ist. Sie ist der Wind.«

»Ich kann mich verwandeln, das ist nicht ganz falsch«, sagte eine Stimme über ihm.

Dann landete Wind neben John-Marlon. Sie war übers Dach gekommen. Die Feuermal-Blume auf ihrer Stirn leuchtete, und ihre Wangen waren gerötet, als wäre sie gerannt. In der Hand trug sie einen kleinen weißen Plastikeimer, in dem einmal Quark gewesen war.

»Du wollest mir ein Geheimnis zeigen«, sagte John-Marlon.

Wind hielt ihm den Eimer hin, und er fuhr zurück. Darin wanden sich dicke braune Würmer.

»Das Geheimnis ist, dass du … Würmer züchtest?«

»Nein, Dummerling«, sagte Wind. »Die sind unser Geschenk für das Geheimnis. Komm.«

Während John-Marlon ihr folgte, dachte er darüber nach, was seine Mutter gesagt hatte. Dass Kinder nicht alleine wohnen konnten. Nicht in Deutschland. Wind trug das gleiche grau-schwarz gestreifte Hemd und die gleiche zerschlissene Jeans wie am Tag zuvor. Niemand schien sich um ihre Kleider zu kümmern. Sie schlenkerte mit dem Eimer und pfiff leise vor sich hin. Sie brauchte niemanden, der sich um sie kümmerte.

»Da sind wir«, sagte sie.

Sie standen am Eingang einer Höhle, die dunkel und kalt in einen Berg aus Geröll und Schutt hineinreichte, zwei stehen gebliebene Hauswände waren jetzt Höhlenwände. Es roch nach Zoo.

»Wer … wohnt hier?«, wisperte John-Marlon.

»Oh, nur ein ganz kleines Monster«, antwortete Wind. »Es frisst gerne zehnjährige Jungen.«

»Elf«, sagte John-Marlon ärgerlich. »Ich bin elf.«

»Na, dann bist du ja aus dem Schneider«, meinte Wind.

Sie zog ihn weiter ins Innere der Höhle, grünes Licht drang von draußen herein. Schließlich blieb Wind stehen und klatschte, daraufhin löste sich etwas von der Decke, und Sekunden später waren sie eingehüllt in eine flatternde, kreischende Wolke.

Doch ehe John-Marlon schreien konnte, legte sich die Wolke schon wieder. Wind stand mit ausgebreiteten Armen vor ihm, und auf diesen Armen, auf ihren Schultern und ihrem Kopf saßen jetzt lauter kleine schwarze Flecken. Fledermäuse.

Wind kniete sich vorsichtig hin, nahm ein paar Würmer aus dem Eimer und legte sie auf ihre flache Hand. Da lösten sich die Fledermäuse von ihren Armen und flatterten zu der Hand.

»Hier«, sagte sie. »Nimm auch ein paar Mehlwürmer. Sie lieben die Dinger.«

»Du … hast sie mit Mehlwürmern gezähmt?«

»Gezähmt nicht«, sagte Wind. »Wir sind nur gute Bekannte. Und einmal die Woche besuche ich sie und bringe etwas zum Tee mit.«

Sie setzte eine der Fledermäuse vorsichtig auf John-Marlons Hand, und er streichelte ihren winzigen Kopf mit dem kleinen Finger, gab ihr einen halben Mehlwurm und fühlte einen Schauer des Glücks durch sich rieseln.

»Warum hast du das gemacht? Sie gez… sie zu Bekannten gemacht?«, flüsterte er.

»Ist lange her«, antwortete Wind. »Es war mein erster Sommer hier, und ich war ein bisschen allein.«

»Und deine Eltern …?«

»Sind nicht hier, oder siehst du sie irgendwo?«, sagte Wind ärgerlich. Sie nahm ihm die Fledermaus weg, legte ihre Wange an das weiche Köpfchen und blieb einen Moment so, mit geschlossenen Augen.

»Wenn der Sommer zu Ende ist«, wisperte sie, »wird niemand ihnen mehr Würmer bringen.«

»Verschwindet denn der Urwald ganz?«, fragte John-Marlon. »Und wo wirst du sein?«

»Frag doch nicht immer so viel.« Wind hängte die Fledermaus an die Höhlendecke und nahm den leeren Eimer. »Lass uns …«

In diesem Moment raschelte etwas vor der Höhle. Wind legte den Finger an die Lippen.

»Tiger«, flüsterte sie. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zum Eingang.

John-Marlon folgte ihr. »Könnte es nicht auch ein Faultier sein oder so?«, wisperte er unbehaglich.

Doch gerade da fauchte es im Gebüsch leise und gar nicht faultierhaft.

John-Marlon spürte, wie ihm ganz kalt wurde. Er liebte Tiger. Sie waren schön und majestätisch und wunderbar … solange sie sich im Zoo befanden.

»Können wir an ihm vorbeirennen und auf einen Baum klettern?«, flüsterte er.

Wind schüttelte den Kopf. Und John-Marlon fiel ein, dass Tiger auch auf Bäume klettern konnten. Das war ein Nachteil.

Er sah, wie Wind ein Seil aus ihrer Tasche holte. Sie legte es zu einer Schlaufe wie ein Lasso, gab John-Marlon den Eimer und hob das Lasso – und dann geschah alles auf einmal. Die Zweige teilten sich. Wind warf das Seil. John-Marlon schrie und hielt sich die Hände samt Eimer vors Gesicht. Ein paar Urwaldvögel flohen kreischend. Ein Mehlwurm landete auf John-Marlons Wange. Wind sprang zurück, rang auf dem Boden mit einem Schatten – und schließlich war es still.

John-Marlon nahm den Mehlwurm von seiner Wange und die Hände vom Gesicht.

Da saß sie. Auf dem Tiger. Sie hatte ihn komplett im Seil eingewickelt.

Wind stand auf und trat zurück, um ihn zu begutachten.

»Jojo, du Blödmann«, sagte sie.

 

Jojo war kein Tiger.

Er war ein dünner Junge mit blondem Haar, abstehenden Ohren und spitzer Nase, vielleicht acht Jahre alt. Er steckte in einem blauen Kapuzenpullover mit grünen Eidechsen, vielleicht von einer Mutter genäht, die den Stoff cool gefunden hatte, obwohl ihr Sohn ihn peinlich fand.

Jetzt befreite er sich aus der Verhedderung und stand auf.

»Ich wollte dich nur erschrecken«, meinte er und grinste. »Musst mich nicht gleich erwürgen.«

»Dummerling«, sagte Wind. »Ich dachte gerade, ich zeige John-Marlon mal, wie man einen Tiger fängt.«

»John-Marlon?« Jojo musterte ihn abschätzig. »Was’n das für’n Name?« Er machte einen Handstand und lehnte die Füße gegen einen schlanken jungen Baum. »So rum sieht er schon besser aus«, erklärte er. »Aliiicia, wo steckst du? Guck dir mal diesen Jonas-Martin an.«

Daraufhin kam ein Mädchen um das Dickicht herum, in dem kein Tiger gesessen hatte. Es war ein hübsches Mädchen in einem blassrosafarbenen Sommerkleid, mit großen blauen Augen und schwarzem Haar, mit einer Schleife zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Hallo, Jonas-Martin«, sagte sie.

»John-Marlon«, murmelte John-Marlon und sah woandershin.

Jojo kam wieder auf die Beine und kletterte einen Baum hoch.

»Ich kann nicht lange bleiben«, sagte Alicia. »Ich muss Mama nachher wieder mit Britta helfen. Sie ist heute geimpft worden, dann weint sie, und Mama weint vielleicht auch aus Mitleid, und irgendwer muss ja da sein, der nicht weint.«

»Wer ist Britta?«, fragte John-Marlon.

»Ihre Schwester«, sagte Jojo, hängte sich kopfunter an einen Ast und schaukelte. »Sie ist ein Baby. Und nervt total.«

»Tut sie nicht!«, rief Alicia und boxte ihm mit der Faust auf die Nase, und Wind sagte: »Aufhören«, und stellte sich zwischen die beiden.

John-Marlon schluckte.

»Wenn du schon so viele Freunde hast«, murmelte er, »dann geh ich wohl mal …«

Doch Wind nahm seine Hand und blickte ihm in die Augen.

»Warum solltest nur du den Urwald finden und mich besuchen dürfen?«, fragte sie leise. »Ich bin bekannt mit den Fledermäusen und den Katzen – und mit den Kindern, die kommen. Das ist eben so.«

John-Marlon schluckte. »Wie viele … Kinder … sind es denn?«

»Nur fünf mit dir«, sagte Wind. »Die anderen beiden kommen heute nicht.« Dann wirbelte sie plötzlich herum und zeigte in die Äste hinauf, die sich im Wind wiegten. »Verdammt, für heute ist Sturm angesagt! Mit Sturmflut! Wir klettern besser auf den Mammutbaum, bevor es losgeht! Was, wenn die Insel wieder überspült wird, wie beim letzten Sturm?«

»Insel?«, fragte John-Marlon.

»Auf den Mammutbaum!«, schrie Jojo und ließ sich zu Boden plumpsen.

»Auf den Mammutbaum!«, rief Alicia. Damit rannten sie alle los, und John-Marlon blieb nichts übrig, als ihnen nachzurennen.

Sie tauchten aus dem Urwald und liefen über ein Feld mit hohem, gelblichem Gras, das John-Marlon zuerst klein vorkam, doch als Wind rief: »Wir müssen die ganze gräserne Insel überqueren!«, da war es auf einmal riesig. Und natürlich befanden sie sich auf einer Insel, er merkte es jetzt. Er hörte die Brandung an den Strand schlagen, hörte die Sturmwellen Sand und Erde ins Meer reißen.

Dann waren sie beim Mammutbaum, einem einsamen Baum mitten im Gras, und er war riesig.

»Der Stamm ist so dick«, keuchte Wind, »dass zehn Männer ihn nicht umfassen können.«

»Waren denn schon mal zehn Männer hier?«

»Nee«, sagte Wind. »Deswegen konnten sie ihn ja nicht umfassen.«

Sie griff nach einem Seil und kletterte daran hoch. Jojo folgte, gelenkig wie ein Äffchen, und selbst Alicia in ihrem Kleid hatte keine Schwierigkeiten. Sie stützte sich mit den Füßen am Stamm ab, ihr Kleidersaum wehte im Sturm, und es sah direkt elegant aus. John-Marlon sah zu den anderen hoch.

Der unterste Ast des Mammutbaums war unendlich weit weg. Er erinnerte sich daran, wie sie im Sportunterricht Seilklettern gehabt hatten. Er hatte es nicht geschafft, am Seil hinaufzukommen, nicht einmal zwei Meter, und jemand hatte gesagt, er wäre wohl zu schwer, um sein eigenes Gewicht hochzuziehen.

»Los, John-John-Marlon!«, rief Wind. »Die Wellen überspülen die Küste schon!«

»Ich kann nicht!«, rief John-Marlon kläglich.

Er dachte an seinen Vater. An den Tiger, den er in sich hatte. Aber der Tiger, den John-Marlon dort sah, glich eher einer ertrunkenen Katze, er ließ die Ohren hängen und war längst überspült worden.