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Maria Leitner

Hotel Amerika

Roman

Maria Leitner

Hotel Amerika

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962810-56-6

null-papier.de/478

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Inhaltsverzeichnis

Au­to­rin

1

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6

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Dan­ke

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Autorin

Ma­ria Leit­ner (1892–1942) war eine deutsch­spra­chi­ge un­ga­ri­sche Jour­na­lis­tin und Schrift­stel­le­rin. Die Toch­ter ei­ner deutsch­spra­chi­gen jü­di­schen Fa­mi­lie leb­te seit 1896 in Bu­da­pest, be­vor sie 1910-13 in der Schweiz stu­dier­te.

Ge­gen Ende des Ers­ten Welt­krie­ges grün­de­te sie den Kom­mu­nis­ti­schen Ju­gend­ver­band Un­garns mit und wur­de Mit­glied der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei.

Zwi­schen 1925 und 1930 reis­te sie mehr­mals nach Nord-, Mit­tel- und Süd­ame­ri­ka. Ihre So­zi­al­re­por­ta­gen aus Ame­ri­ka hat Ma­ria Leit­ner in der Re­por­ta­gesamm­lung »Eine Frau reist durch die Welt« zu­sam­men­ge­fasst.

Als be­ken­nen­de Mar­xis­tin mach­te sich die Au­to­rin schnell das Drit­te Reich zum Feind. Schon früh wur­de sie mit Ver­öf­fent­li­chungs­ver­bo­ten be­legt. Ihre Lage war ex­em­pla­risch für vie­le der lei­der ver­ges­se­nen Au­to­ren nach der Bü­cher­ver­bren­nung am 10. Mai 1933.

Nach dem Sturz der Rä­te­re­pu­blik zog sie über Wien nach Ber­lin. 1933 floh sie von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten über Prag nach Frank­reich.

Nach­weis­lich kehr­te sie mehr­fach il­le­gal nach Deutsch­land zu­rück und be­rich­te­te u. a. über die ge­hei­men Kriegs­vor­be­rei­tun­gen. Durch ihre Pub­li­ka­tio­nen ver­mit­tel­te sie dem Aus­land we­sent­li­che Tat­sa­chen über die Ver­hält­nis­se im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land.

Im Mai 1940 wur­de Ma­ria Leit­ner von den fran­zö­si­schen Be­hör­den zu­sam­men mit an­de­ren deut­schen Exilan­ten in­ter­niert. Ihr ge­lang die Flucht, doch ret­ten konn­te sie sich nicht mehr. Auf der Flucht vor den Na­zis wur­de sie vor Er­schöp­fung in den Tod ge­trie­ben.

1

Shir­leys Kopf hängt schräg aus dem schma­len Bett. Eine un­be­que­me Lage. Doch ihre schla­fen­den Züge sind von ei­nem Lä­cheln be­lebt. Shir­ley hat an­ge­neh­me Träu­me …

Sie tanzt und schwebt da­hin auf ei­ner Spie­gel­flä­che, die tau­send­fach ihr Bild zu­rück­wirft. Sie sieht sich so, wie sie es sich im­mer ge­wünscht hat: schön, strah­lend, in ei­nem wun­der­voll flie­ßen­den Kleid, ge­schmückt mit Stei­nen, in de­nen sich das Licht in al­len Far­ben herr­lich bricht.

Sie schwebt da­hin am Arm ei­nes jun­gen Man­nes, der sie nun be­hut­sam eine brei­te, glit­zern­de Mar­mor­trep­pe hin­ab­führt. Blu­men leuch­ten an ih­rem Wege.

Un­ten er­war­tet sie ein Auto – so groß, wie sie noch kei­nes ge­se­hen hat. Und Kof­fer sind hin­ten im Auto auf­ge­türmt! Sie ha­ben die merk­wür­digs­ten For­men; alle sind far­big, und Shir­ley weiß im Traum: sie sind voll­ge­packt mit den schöns­ten Sa­chen, die alle ihr, nur ihr ge­hö­ren. Sie weiß, sie wird durch die gan­ze Welt ja­gen mit die­sem Un­ge­heu­er von Auto.

Shir­ley fühlt – je­mand hält ih­ren Kopf zwi­schen den Hän­den und flüs­tert lei­se ih­ren Na­men. Sie lä­chelt. Sie wird ge­liebt …

Shir­leys Kopf ruht wie­der auf dem Kis­sen.

Ihr Name dringt jetzt lau­ter in sie.

»Shir­ley, du musst auf­ste­hen, du kommst zu spät zur Ar­beit.«

Sie möch­te wei­ter­träu­men, will nichts hö­ren von der Au­ßen­welt, aber von al­len Sei­ten rüt­teln die Geräusche an ihr – sie muss die Au­gen öff­nen.

Zu­erst sieht Shir­ley eine große, star­ke Hand, die sich warm und ein biss­chen rau auf ih­ren Arm ge­legt hat, eine Hand mit vie­len di­cken Adern und ei­ner von Lau­ge zer­fres­se­nen Haut. Die Hand strei­chelt leicht ih­ren Arm. Sie muss auf­bli­cken und in das brei­te, ru­hi­ge Ge­sicht ih­rer Mut­ter se­hen.

Ce­les­ti­na trägt ein blau­weiß ge­streif­tes Ar­beits­kleid, das die Art ih­rer Be­schäf­ti­gung hier im Ho­tel ver­rät; sie ist Scheu­er­frau. Wie­der flüs­tert sie Shir­ley auf­mun­ternd zu.

»Komm, du musst ma­chen, dass du aus dem Bett kommst. – So ein Faul­pelz!«

Wenn Shir­ley er­wacht, ist das fast im­mer ihr ers­ter An­blick: die Mut­ter, die an ih­rem Bett sitzt und sie aus dem Bett zu ja­gen ver­sucht.

Aber sie möch­te wei­ter­träu­men und nicht die­ses Zim­mer se­hen. Wie gut sie es kennt, wie sie es hasst!

Erst sieht sie die Fah­nen­stan­ge auf dem fla­chen Vor­sprung des Da­ches. Bei star­kem Wind knarrt die Stan­ge, und Shir­ley hat dann das Ge­fühl, als flö­ge das Zim­mer wie der Raum ei­nes Luft­schif­fes zwi­schen den Wol­ken­krat­zern. Sie schei­nen ganz nahe zu sein. Man­che der Ge­bäu­de sind wie mäch­ti­ge Ber­ge, an­de­re, die schma­len wei­ßen Tür­me, ra­gen wie über­ge­wal­ti­ge Eis­blö­cke in die Luft.

Das Zim­mer ist sehr hell, hier im höchs­ten Stock­werk des Ho­tels Ame­ri­ka. Der Trakt des Per­so­nals be­fin­det sich in ei­nem ab­seits ge­le­ge­nen Teil des Dach­ge­schos­ses, fern vom pom­pö­sen Dach­gar­ten.

Shir­leys Au­gen keh­ren zu­rück von den Wol­ken­krat­zern. Dicht ne­ben dem Fens­ter be­merkt sie die alte Nan­ny, die äl­tes­te Scheu­er­frau des Ho­tels. Auch die­sen An­blick ist sie ge­wöhnt. Im­mer, wenn Shir­ley er­wacht, sitzt Nan­ny da, auf­recht, mit stei­fem Rücken, als wäre sie aus Holz ge­schnitzt, aus ei­nem dun­kel­brau­nen, sehr har­ten Holz. Sie hält eine Tas­se in der Hand und tunkt von Zeit zu Zeit lang­sam ein Stück Brot in den Tee. Nan­ny kocht schon um vier Uhr mor­gens ih­ren Tee und sitzt nun da, den Tee­topf in der Hand, und war­tet auf das Klin­gel­zei­chen, das sie zur Ar­beit ruft. Dann er­wacht sie erst wirk­lich. Nan­ny ist schon fünf­zig Jah­re Scheu­er­frau, aber im­mer noch kann sie ar­bei­ten; wie eine Ma­schi­ne reibt und wischt und wringt und bürs­tet sie. Nach der Ar­beit wird ihr Kör­per wie­der höl­zern; dann sitzt sie be­we­gungs­los und starrt auf die Wol­ken­krat­zer.

Shir­leys Bli­cke fal­len auf Pa­tri­zia. Je­den Mor­gen bie­tet auch die­se Zim­mer­ge­nos­sin den glei­chen An­blick. Sie kniet, Ge­be­te flüs­ternd, vor ih­rer Kom­mo­de, auf der sich Hei­li­gen­bil­der und eine Fo­to­gra­fie des Paps­tes be­fin­den. Shir­ley kann die großen Füße in den aus­ge­tre­te­nen, schie­fen Schu­hen se­hen und den dün­nen, klei­nen Haar­kno­ten, der et­was ver­rutscht auf ih­rem Kopf sitzt. Und je­den Mor­gen drin­gen die glei­chen sä­gen­den Lau­te aus der Rich­tung des Bet­tes, in dem das Nacht­stu­ben­mäd­chen Bes­sie, er­löst von der Ar­beit und von ei­nem al­ten Pan­zer­kor­sett, zu­frie­den sei­ne Lei­bes­fül­le aus­brei­tet.

Ce­les­ti­na möch­te Shir­ley wie­der dar­an er­in­nern, dass es Zeit sei, auf­zu­ste­hen, aber sie wagt es nicht.

So kalt, so voll Hass wan­dern die Au­gen Shir­leys wei­ter.

Sie prü­fen jetzt das Bett. Die Wä­sche ist zer­ris­sen. Das Per­so­nal auf der letz­ten Stu­fe in der Rang­fol­ge der An­ge­stell­ten be­kommt Bett­zeug, das nicht mehr aus­ge­bes­sert wer­den kann. Die auf­ge­ris­se­ne Ma­trat­ze zeigt die See­gras­fül­lung durch zer­ris­se­ne La­ken. Das Pols­ter, hart wie Stein, blickt gleich­falls neu­gie­rig aus dem Über­zug. Das Ge­stell des schma­len Bet­tes, das auf klei­nen Rä­dern steht, ist ver­bo­gen.

Shir­ley muss la­chen, wenn sie die­ses Bett sieht, aber es ist ein har­tes, ein bit­te­res La­chen. Im Zim­mer hat sie nur auf die­ses Bett und auf ein Fach des ei­ser­nen Schran­kes ein An­recht. Die Kom­mo­de dür­fen nur die bei­den äl­tes­ten Mit­be­woh­ne­rin­nen, Nan­ny und Pa­tri­zia, be­nut­zen. Bes­sie hat einen Schau­kel­stuhl, in den sie sich nur mit Schwie­rig­kei­ten hin­ein­zwän­gen kann; Ce­les­ti­na ver­fügt über einen klei­nen Tisch.

Shir­ley muss sich schüt­teln. Hier hat­te sie nun sechs Jah­re lang ge­lebt!

Un­ter den Bet­ten la­gern di­cke Staub­flo­cken. Scha­ben wan­dern, trotz der Hel­lig­keit, ge­mäch­lich um­her. Kein Wun­der! Das Per­so­nal hat wohl eine ei­ge­ne Be­die­nung – je­doch eine Frau rei­nigt hun­dert Zim­mer in sie­ben Stun­den! Kei­ne der Be­woh­ne­rin­nen aber hat Lust, wenn sie von der Ar­beit kommt, das Zim­mer noch selbst in Ord­nung zu brin­gen. Wozu? Und dann muss man noch um Be­sen bet­teln und um Scheu­er­lap­pen. Wozu? Hier ist ja nur der Trakt des Per­so­nals. Hier kann es schmut­zig sein, hier darf es dre­ckig blei­ben.

Shir­ley setzt sich plötz­lich auf, ver­schränkt die Arme über dem Kopf und jauchzt: »Heu­te der letz­te Tag. Gott sei Dank, der letz­te Tag!«

Alle bli­cken sie er­staunt an, so­gar Pa­tri­zia wen­det den Kopf von den Hei­li­gen ihr zu.

Ce­les­ti­na aber ist erst ganz starr, sie be­greift nicht, wor­auf Shir­ley ab­zielt. Hat ihre Toch­ter et­was vor, was sie ihr nicht ver­ra­ten will, ver­heim­licht sie et­was vor ihr?

Die Mut­ter beugt sich über Shir­ley, sie dringt in sie. »Was willst du denn tun, Shir­ley? Glaubst du, ich weiß nicht, du hast es schwer hier, dass ich dir nicht et­was Bes­se­res gön­ne? Du kannst mir doch sa­gen, was du vor­hast!«

Shir­ley be­dau­ert schon, dass sie ge­spro­chen hat. Sie hat­te sich fest vor­ge­nom­men zu schwei­gen; nun, mehr wird man aus ihr nicht her­aus­be­kom­men.

»Ich habe das nur so ohne Sinn her­ge­sagt.«

Ce­les­tinas Miss­trau­en ist da­mit nicht be­sei­tigt, doch sie will nicht wei­ter fra­gen. Pa­tri­zia aber winkt Ce­les­ti­na mit den Au­gen, wäh­rend sie wei­ter ihr Ge­bet mur­melt. Ihre Au­gen schie­len un­ter Shir­leys Bett. Sie scheint mehr zu wis­sen als die Mut­ter.

Ce­les­ti­na folgt ih­rem Blick und ent­deckt nun auch einen Papp­kar­ton.

Sie zieht ihn schnell her­vor, be­vor noch Shir­ley sie hin­dern kann, öff­net ihn und sieht ein mit Flit­ter dicht be­sä­tes Abend­kleid, gold­far­be­ne Abend­schu­he und eine Fo­to­gra­fie, auf der Shir­ley la­chend, am Arm ei­nes jun­gen Man­nes, in die­sem ver­heim­lich­ten Ko­stüm ab­ge­bil­det ist.

Shir­ley springt blitz­schnell aus dem Bett und reißt die Fo­to­gra­fie und das Kleid aus Ce­les­tinas Hän­den.

Die­ses Kleid üb­ri­gens, das am Abend sie noch ent­zückt hat­te, er­scheint ihr hier im hel­len Licht recht arm­se­lig, ja lä­cher­lich; aber sie wird bald an­de­re ha­ben, die kein Ta­ges­licht zu scheu­en brau­chen. Oh, man soll nur ru­hig über sie la­chen.

Ce­les­ti­na denkt an­ge­strengt nach. Der jun­ge Mann auf dem Bild scheint ihr be­kannt, si­cher ist es ein Gast aus dem Ho­tel. Was will der von Shir­ley?

»Kannst du hier nicht ge­nug Män­ner fin­den, die dei­nes­glei­chen sind?« Ce­les­ti­na ver­sucht, Shir­leys Bli­cke ein­zu­fan­gen.

Aber Shir­ley schaut in die Luft, wäh­rend sie in das Zim­mer hin­ein­schreit:

»Soll ich viel­leicht mit ei­nem Tel­ler­wä­scher oder ei­nem Haus­mann das­sel­be Le­ben wei­ter­füh­ren, das ich hier ge­nie­ße? Dan­ke, ich bin nicht ganz auf den Kopf ge­fal­len.«

Pa­tri­zia hat jetzt ihre Ge­be­te be­en­det; in ei­nem Ton, als mur­me­le sie sie wei­ter, wen­det sie sich an Ce­les­ti­na: »Du hät­test dei­ne Toch­ter heu­te früh se­hen sol­len, wie sie nach Hau­se kam. War die gu­ter Lau­ne! Ich wet­te, ihr Galan hat nicht mit Al­ko­hol ge­spart. Ja, die Mäd­chen, die nur an ihr leib­li­ches Wohl den­ken, kön­nen sich ein gu­tes Le­ben leis­ten. Aber was ge­schieht spä­ter mit ih­rer See­le?«

Shir­ley hat ihr rosa Ar­beits­kleid mit dem großen wei­ßen Kra­gen an­ge­zo­gen, die Uni­form der Wä­scher­mäd­chen. Ihre dunklen Haa­re fal­len weich auf den Kra­gen, ihre Haut ist straff und jung, ihre Ge­stalt schlank. So steht sie vor Pa­tri­zia, die ein Ge­sicht wie eine alte ge­dörr­te Pflau­me hat, und sieht sie erst wü­tend aus dunklen Au­gen an, dann aber muss sie la­chen.

»Du hast si­cher Au­gen in dei­nem Dutt, denn nichts ent­geht dir, ob­gleich du im­mer nur dei­ne Hei­li­gen an­starrst. Ich wet­te, ich wer­de nie so­viel Sün­den ha­ben, dass ich die gan­ze Nacht be­ten muss, um sie ab­zu­bit­ten. Ihr seid ja nur nei­disch, weil euch kei­ner mehr will.«

Ce­les­ti­na ver­sucht, Shir­ley an sich zu zie­hen: »Shir­ley, du weißt, was ich von dem Ge­schwätz der Pa­tri­zia hal­te, aber wozu brauchst du mit Gäs­ten aus­zu­ge­hen? Du lernst nichts Gu­tes von ih­nen, sie la­chen dich nur aus, ohne dass du was da­von merkst. Du hast dir si­cher was Dum­mes in den Kopf ge­setzt.«

Shir­ley ver­stopft sich mit den Fin­gern die Ohren. »Alle Mäd­chen ge­hen aus, wenn man sie ein­la­det – wir wol­len doch auch et­was vom Le­ben ha­ben. Wie konn­te ich es nur so lan­ge zwi­schen euch vier al­ten Frau­en aus­hal­ten? Über­lass nur mir, was ich tue! Ich will her­aus aus die­sem Dreck, ich will, und es wird auch ge­lin­gen.«

Ce­les­ti­na ist hart­nä­ckig. »Ich will nur wis­sen, was du vor­hast.«

Aber Shir­ley be­ar­bei­tet schon ihr Ge­sicht mit Cre­me, pu­dert sich und zeich­net ihre Lip­pen nach, wäh­rend sie einen halb er­blin­de­ten Spie­gel vor das Ge­sicht hält.

Sie ist froh, als In­grid, das klei­ne schwe­di­sche Stu­ben­mäd­chen, das mit Ce­les­ti­na auf der glei­chen Eta­ge ar­bei­tet, ins Zim­mer tritt.

»Heu­te ar­bei­test du in mei­ner Sek­ti­on, Ce­les­ti­na.« In­grid ist noch nicht lan­ge in Ame­ri­ka. Sie sucht Wär­me wie ein klei­nes ver­las­se­nes Tier.

»Komm her, In­grid, ich zei­ge dir, wie man sich schmin­ken muss«, ruft Shir­ley. »Hast du dich noch nie ge­schminkt? Willst du, dass alle Leu­te gleich se­hen, dass du eine Ein­ge­wan­der­te bist? Ich wer­de dich hübsch ma­chen. Gleich siehst du bes­ser aus. Wirst du oft ein­ge­la­den von den Gäs­ten? Die al­ten Da­men hier är­gern sich, wenn wir Mäd­chen mal tan­zen ge­hen. Was sa­gen dir die Her­ren?«

»Ich ver­ste­he sie oft nicht, sie spre­chen so schnell, dann kom­me ich mir im­mer sehr dumm vor. Aber jetzt gehe ich in die Abend­schu­le und ler­ne Eng­lisch.«

Die Glo­cke in dem Trakt des weib­li­chen Per­so­nals schrillt laut auf. Es ist das Zei­chen, dass es an der Zeit sei, je­den Ge­dan­ken an das Pri­vat­le­ben aus­zu­lö­schen.

Shir­ley zieht In­grid schnell aus dem Zim­mer. Sie will den fra­gen­den Bli­cken ih­rer Mut­ter ent­flie­hen.

Alle Tü­ren im Trakt des weib­li­chen Per­so­nals sind ge­öff­net. Man ver­sucht, auf die­se Wei­se Luft in die über­füll­ten Räu­me zu be­kom­men. Die Tü­ren kön­nen of­fen­ste­hen; nie­mand hat Ge­heim­nis­se zu hü­ten, und es ist auch voll­kom­men gleich­gül­tig, ob ein hal­b­es Dut­zend oder ei­ni­ge tau­send Frem­de zu­se­hen, wie man sich an- und aus­klei­det.

In al­len Zim­mern ist ein aben­teu­er­li­ches Durchein­an­der. Alle sind zwar mit den glei­chen Bet­ten voll­ge­stopft, in al­len ste­hen die glei­chen Blech­schrän­ke, doch auf den Kom­mo­den und auf den Bet­ten häuft sich der weg­ge­wor­fe­ne Tand aus den glän­zen­den Räu­men des Wol­ken­krat­zer­ho­tels. Man sieht groß­ar­ti­ge, aber schon völ­lig ver­welk­te Blu­men­ar­ran­ge­ments, Pfau­en­fe­dern, die ir­gend­ei­ner Mo­de­da­me als Schreib­fe­der dienten, zer­bro­che­ne Kris­tall­va­sen, zer­ris­se­ne Abend­klei­der in groß­ar­ti­ger Auf­ma­chung, eben­so zer­ris­se­ne Bro­kat­schu­he mit Strass­ab­sät­zen, fan­tas­ti­sche So­fa­kis­sen mit großen Brand­fle­cken, zer­drück­te, zer­bro­che­ne Bon­bon­nie­ren. Die­ses far­bi­ge Ge­rüm­pel sticht ko­misch ab von den ärm­li­chen Hab­se­lig­kei­ten des Per­so­nals, den bil­li­gen Klei­dern, den Hei­li­gen­bil­dern und den al­ten Post­kar­ten.

Die Kor­ri­do­re sind er­füllt von be­ängs­ti­gen­dem Lärm, von em­si­ger Ge­schäf­tig­keit, von Schrei­en und La­chen.

Tau­sen­de schwir­ren her­um. Bun­te Far­ben flim­mern durch­ein­an­der. Die Wä­sche­rin­nen tra­gen blaue, die Lauf­mäd­chen aus der Wä­sche­rei rosa, die Scheu­er­frau­en ge­streif­te, die Stu­ben­mäd­chen wei­ße, die Kell­ne­rin­nen in der So­daquel­le ocker­gel­be, die in dem Tee­raum flie­der­far­be­ne Ar­beits­klei­der.

Die Frau­en und Mäd­chen kom­men aus al­len Tei­len der Stadt, aus ih­ren dunklen, trost­lo­sen Quar­tie­ren, aus der Ne­ger­stadt Har­lem, aus Chi­na­town, aus den ita­lie­ni­schen und spa­ni­schen, aus den deut­schen und iri­schen Vier­teln. Alle Na­tio­nen der Welt sind ver­tre­ten.

Man hört die gut­tu­ra­len Lau­te der Ne­ge­rin­nen, den sin­gen­den Ton­fall der Ita­li­e­ne­rin­nen, die wei­chen Zischlau­te der Spa­nie­rin­nen. Ein Sprach­for­scher könn­te hier alle Dia­lek­te der Sla­wen ent­de­cken, aber auch hin­dus­ta­ni­sche und ar­me­ni­sche, grie­chi­sche und ja­pa­ni­sche Spra­chen ver­neh­men.

Zwi­schen­durch un­ter­hal­ten sie sich auch in ge­bro­che­nem Eng­lisch und wer­fen sich gäh­nend, mit noch schlaf­trun­ke­ner Stim­me, im­mer die glei­chen Sät­ze zu.

»Ein schö­ner Mor­gen heu­te.«

»Ja, wenn man spa­zie­ren ge­hen könn­te …«

»Huch, die ver­fluch­te Ar­beit!«

»Ach, ich möch­te noch schla­fen.«

»Kei­ne Nacht hat man sei­ne rich­ti­ge Ruhe.«

»Ich wünsch­te, ich könn­te die­sem dre­cki­gen Läu­se­nest adieu sa­gen.«

»Habt ihr euch gut amü­siert ges­tern Nacht?«

»Oh, ich habe ge­tanzt.«

»Ihr habt es gut, jun­ges Blut, ich bin nach der Ar­beit zu müde.«

Shir­ley zieht In­grid mit sich. »Kann man das aus­hal­ten, ein gan­zes Le­ben lang?«

Ce­les­ti­na hat die bei­den ein­ge­holt. »Du musst mir jetzt sa­gen, was du da­mit ge­meint hast: ›heu­te der letz­te Tag‹.«

Shir­ley reißt In­grid mit sich, sie nimmt ein­fach Reiß­aus, sie will nicht ant­wor­ten.

Aber weil sie sich doch aus­spre­chen möch­te, flüs­tert sie ge­heim­nis­voll In­grid zu: »Ich will heu­te fort aus dem Ho­tel, nur als Gast kom­me ich wie­der; pass auf, ich wer­de reich wer­den. Du wirst von mir ein ex­tra schö­nes Ge­schenk be­kom­men. In Ord­nung?«

In­grid löst ihre Hand aus Shir­leys Arm.

»Ich glaub das nicht, du machst nur Spaß, willst mich nur uzen.«

»Du wirst schon se­hen, ich wer­de wirk­lich ge­hen, noch heu­te, al­les dalas­sen, dies gan­ze häss­li­che, schwe­re Le­ben. Möch­test du das nicht auch?«

»Ja, ich möch­te auch an­ders le­ben, aber nicht so wie du sagst, als Gast hier im Ho­tel.«

Auf dem Wege an dem Bar­bier­la­den für das männ­li­che Per­so­nal des Ho­tels vor­bei be­geg­nen die bei­den Mäd­chen Sal­va­to­re Me­nel­li.

Sei­ne glän­zen­den schwar­zen Haa­re sind sorg­fäl­tig aus der schö­nen Stirn ge­kämmt. Die dunklen Au­gen un­ter den re­gel­mä­ßi­gen Bo­gen der Brau­en lä­cheln wohl­ge­launt. Blitz­blank sieht er aus in sei­ner Pa­gen­uni­form.

Sal­va­to­re geht zu den Schuh­put­zern, mit spit­zem Mund vor sich hin­pfei­fend, und legt den Fuß auf eine Mes­sing­plat­te. Er stemmt die lin­ke Hand ge­gen sei­ne schlan­ke Hüf­te, wäh­rend er mit der rech­ten Geld­stücke in die Luft wirft, die er mit großer Ge­schick­lich­keit im­mer wie­der auf­fängt.

»Er spielt nur Thea­ter«, flüs­tert Shir­ley ih­rer Kol­le­gin zu. »Er är­gert sich, dass ich mir nichts mehr aus ihm ma­che.«

In­grid kann sich nicht ent­hal­ten, Sal­va­to­re einen be­wun­dern­den Blick zu­zu­wer­fen.

»Willst du wirk­lich fort­ge­hen und auch ihn ganz auf­ge­ben?« In­grid weiß, dass Sal­va­to­re frü­her Shir­leys Freund ge­we­sen ist.

Shir­ley macht eine weg­wer­fen­de Be­we­gung. »Ich kann mir ganz an­de­re aus­su­chen als die­sen klei­nen Zucker­bäcker­sohn aus dem ita­lie­ni­schen Vier­tel. Aber du kannst ihn ja trös­ten, er ge­fällt dir, ich habe das schon be­merkt.«

In­grid spürt ein Er­rö­ten. Die­se Shir­ley ist schreck­lich; man weiß nie, ob sie das, was sie sagt, auch ernst meint. Aber sie will hoch hin­aus, das ist si­cher. Alle im Ho­tel sa­gen es von ihr.

Zum zwei­ten Mal er­tönt die Glo­cke in al­len Ab­tei­lun­gen des Per­so­nals. In der Luft schwir­ren Num­mern, man hört das Knar­ren der Kon­troll­uh­ren, das Klir­ren der Schlüs­sel. Im Wä­sche­raum be­gin­nen elek­tri­sche Näh­ma­schi­nen zu sur­ren, die Haus­män­ner sind schon da­bei, die Wä­sche für die drei­ßig Stock­wer­ke in große Roll­wa­gen zu ver­stau­en, die Stu­ben­mäd­chen bin­den ihre Schlüs­sel um die Tail­le, die Haus­häl­te­rin­nen se­hen die Lis­ten mit den Zim­mer­num­mern durch. Über­all wer­den Be­feh­le er­teilt, das tä­ti­ge Le­ben hat schon voll be­gon­nen.

»Wir kom­men zu spät zum Früh­stück.« In­grid blickt in den Spei­se­saal des weib­li­chen Per­so­nals un­ters­ter Stu­fe, der gleich­zei­tig auch als Kü­che und Ab­wasch­raum dient. Er ist von fast un­über­sicht­li­cher Aus­deh­nung.

Ein­ge­zwängt zwi­schen Wol­ken­krat­zern, nahe dem Kel­ler, liegt er wie in ei­nem end­los tie­fen Schacht und bleibt im­mer dun­kel und luft­los. Man müss­te sich platt auf den Bo­den le­gen, um ein Stück­chen Him­mel zu er­spä­hen. Es riecht hier im­mer un­an­ge­nehm nach ran­zi­gem Fett und Spül­was­ser.

Im Saal ist schon all­ge­mei­ner Auf­bruch; die lan­gen, leh­nen­lo­sen, nur ge­ho­bel­ten Bän­ke sind leer, die Holz­ti­sche ab­ge­räumt. Es ste­hen nur noch ei­ni­ge Grup­pen zu­sam­men.

»Ich schen­ke mein Früh­stück der Di­rek­ti­on«, sagt Shir­ley. »Na, ich brau­che ja nicht mehr lan­ge die­sen Fraß in mich zu zwin­gen, ich habe ja auch heu­te Nacht gut ge­ges­sen. Aber du, hast du Hun­ger?«

»Ei­gent­lich nein, ich ma­che mir nichts dar­aus, dass ich kein Früh­stück habe. Nachts bin ich im­mer hung­rig und kann kaum ein­schla­fen. Aber mor­gens, wenn ich er­wa­che, dann ist es weg, das Hun­ger­ge­fühl. Ich den­ke dann gar nicht mehr gern ans Es­sen.«

Es hat schon zum drit­ten Mal ge­läu­tet. Der Raum vor den für die An­ge­stell­ten be­stimm­ten Auf­zü­gen ist auch schon ent­völ­kert. Er sieht dun­kel und un­ge­pflegt aus. Die Auf­zü­ge funk­tio­nie­ren meist nicht ein­wand­frei. Jetzt sind die Klin­geln nicht in Ord­nung, und man muss schrei­en, um sich den Auf­zug­füh­rern be­merk­bar zu ma­chen.

»Hin­auf!« ruft In­grid.

»Hin­ab!« schreit Shir­ley, die in die Wä­sche­rei hin­un­ter­fah­ren muss.

Die Ver­bin­dungs­tü­ren, die sonst sorg­fäl­tig ab­ge­schlos­sen sind und die zu dem ei­gent­li­chen, für die Ho­tel­gäs­te be­stimm­ten Teil die­ses Stock­wer­kes füh­ren, sind weit auf­ge­schla­gen, und man kann den un­te­ren Ball­saal über­se­hen, einen präch­ti­gen, durch sinn­reich an­ge­brach­te Spie­gel gren­zen­los wir­ken­den mar­mor­nen Saal.

Shir­ley er­in­nert sich, dass der im Traum ge­se­he­ne Saal Ähn­lich­keit mit die­sem hat.

In­grid starrt neu­gie­rig hin­ein.

»Was sie hier wohl fei­ern wer­den?«

Es wer­den jetzt präch­ti­ge Bäu­me hin­ein­ge­tra­gen, exo­ti­sche, üp­pi­ge Bäu­me, über­schüt­tet mit ro­ten Blü­ten, li­la­far­be­ne Sträu­cher, die be­täu­bend duf­ten, Blu­men mit merk­wür­di­gen gel­ben Dol­den. Man sieht, die Vor­be­rei­tun­gen zu der Aus­schmückung des Saa­l­es ha­ben erst be­gon­nen, aber schon jetzt hat er Ähn­lich­keit mit ei­nem un­wirk­li­chen, traum­haf­ten Feen­gar­ten.

Shir­ley lacht. Sie könn­te der klei­nen In­grid nä­he­re Aus­kunft ge­ben, wenn sie nur woll­te; sie weiß mehr als die an­de­ren. Aber jetzt sagt sie nur:

»Man wird hier eine große Hoch­zeit fei­ern. Siehst du, so hei­ra­ten die rei­chen Mäd­chen. Sie ist die Toch­ter ei­nes Mil­lio­närs, ich weiß ei­ni­ges über sie – na, aber ich schwei­ge.«

Shir­ley lacht über die er­staun­ten Au­gen In­grids.

Die­se be­ginnt wie­der zu ru­fen: »Hin­auf!«, und Shir­ley schreit: »Hin­ab!«

Und in dem Fahr­stuhl, der in die Wä­sche­rei fährt, der lang­sam hin­ab­sinkt in die Tie­fe, zu den er­sti­cken­den Dämp­fen, denkt sie: es ist heu­te zum letz­ten Mal, zum letz­ten Mal hin­ab – mor­gen schon wird sie stei­gen …

2

In der Früh­stücks­bar des Ho­tels Ame­ri­ka sitzt an dem braun po­lier­ten Holz­tisch, der in ei­nem Halb­kreis durch den gan­zen Raum läuft, Herr Fish, ein jun­ger Mann mit ge­pfleg­tem Äu­ßern, und löf­felt sei­ne Gra­pe­fruit. Die an­de­ren, ho­hen run­den Stüh­le sind noch leer. Herr Fish ist der ers­te Gast und ge­nießt dem­zu­fol­ge auf­merk­sams­te Be­die­nung.

Der Kell­ner stellt ihm jetzt mit ele­gan­ter Hand­be­we­gung Ha­fer­brei mit Sah­ne auf den Tisch und bleibt dann in an­ge­mes­se­ner Ent­fer­nung vor ihm ste­hen.

Herr Fish ist leut­se­lig und mit­teil­sam.

»Ein fei­ner Mor­gen heu­te, ein schö­ner Tag, ganz ent­schie­den.« Er reibt sich die Hän­de.

Dann ent­fal­tet er die Zei­tung und be­ginnt, die Bör­sen­mit­tei­lun­gen zu stu­die­ren. Wäh­rend des Le­sens re­det er fort­wäh­rend auf den Kell­ner ein: »Mil­lio­nen, wo­hin man blickt, Mil­li­ar­den, und was al­les hin­ter die­sen Mil­li­ar­den steckt! In Bra­si­li­en sprie­ßen Gum­mi­wäl­der, echt ame­ri­ka­ni­sche, mein Lie­ber. Ja, man wird Eng­land ein Schnipp­chen schla­gen, Ame­ri­ka, das mäch­tigs­te Land der Welt. Hier se­hen Sie: ›Wall Street fi­nan­ziert Kana­li­sa­ti­ons­ar­bei­ten im Su­dan‹, ›Hun­gers­not in China‹ soll fi­nan­zi­ell aus­ge­beu­tet wer­den. ›Ra­tio­na­li­sie­rung in Deutsch­land be­fes­tigt das dort an­ge­leg­te ame­ri­ka­ni­sche Ka­pi­tal‹. Man muss Bör­sen­kur­se le­sen kön­nen, mein Lie­ber, die sind in­ter­essan­ter als der fan­tas­tischs­te Ro­man.«

»Hehe«, ki­chert dis­kret hin­ter der hoch­ge­ho­be­nen Ser­vi­et­te der Kell­ner. Er fin­det den Gast reich­lich merk­wür­dig. Man liest Bör­sen­kur­se, spricht aber nicht so­viel.

Der Gast re­det im­mer wei­ter.

»Man muss nur schlau sein, dann kann man auch sei­nen Teil aus dem trü­ben fi­schen.«

Der Kell­ner, der sei­nen Spitz­na­men »der schö­ne Alex« ger­ne hört, be­ginnt auf­zu­hor­chen. Aus dem trü­ben fi­schen – hm, das lässt sich hö­ren. Man kann nie wis­sen, ob man nicht auch ein­mal brauch­ba­re Tipps be­kommt, ob­gleich es be­kannt ist, dass die Klei­nen im­mer über den Kamm ge­scho­ren wer­den. Man kann nie vor­sich­tig ge­nug sein. Der Kerl ist viel­leicht ein Agent, der gern Ak­ti­en los­wer­den möch­te.

Von mei­nen sau­er ver­dien­ten Dol­lars be­kommst du nichts, denkt der »schö­ne Alex« und geht in die Kü­che, um dem ge­sprä­chi­gen Gast sei­ne ver­lo­re­nen Eier auf Toast und den Kaf­fee zu brin­gen. Herr Fish ist an­schei­nend noch mit sei­nen hoch­flie­gen­den Ge­dan­ken be­schäf­tigt.

»Das Gan­ze durch­schau­en, das ist al­les! Das Cha­os ana­ly­sie­ren, dann fin­det sich auch ein Weg, der rich­ti­ge Weg für den ei­ge­nen Ge­brauch und zum ei­ge­nen Nut­zen.«

Der »schö­ne Alex« denkt weg­wer­fend: Man muss nur wis­sen, was man will, das ist die Haupt­sa­che, man muss ein be­stimm­tes Ziel ha­ben. Das hat er auch. Er will eine Flüs­ter­knei­pe in der 81. Stra­ße New York-Ost, das ist sein Traum. Ja, er kennt die 81. Stra­ße im Os­ten bes­ser als sei­ne Wes­ten­ta­sche. Er hat ei­gent­lich eine schö­ne Kar­rie­re ge­macht: Kell­ner sein in dem feins­ten Ho­tel der Stadt ist kei­ne Klei­nig­keit. Und trotz­dem spürt er Heim­weh, wenn er an die al­ten Zei­ten denkt, ob­gleich man ihm übel mit­ge­spielt hat. Aber er wird Ra­che neh­men. Er sieht sich wie­der in der »Bar Lo­hen­green« (wirk­lich mit zwei »ee« ge­schrie­ben). Frei­lich, da stell­te er mehr vor als einen Kell­ner. Er war die rech­te Hand der Be­sit­ze­rin, der Wit­we Lo­hen­green, ja, mehr als die rech­te Hand: er war die große Lie­be der Wit­we, und der »schö­ne Alex« sah sich schon als Be­sit­zer, als »Lo­hen­green« selbst, ent­ho­ben dem har­ten Kampf der Ab­hän­gi­gen.

Herr Fish hängt gleich­falls sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken nach und trinkt den Kaf­fee in ganz klei­nen Schlu­cken.

Der »schö­ne Alex« durch­lebt wie­der ein­mal die de­mü­ti­gen­den Mi­nu­ten sei­nes Stur­zes. Die Wit­we Lo­hen­green über­rasch­te ihn bei ei­nem Ver­gnü­gen mit ei­ner klei­nen hüb­schen Kell­ne­rin. Statt ein­zu­se­hen, dass er, der »schö­ne Alex«, ein Mann sei, den man nicht mit ge­wöhn­li­chem Maße mes­sen kön­ne, gab sie ihm noch am sel­ben Abend sei­nen Lohn mit den dür­ren Wor­ten: »Mor­gen brau­chen Sie nicht mehr zu kom­men.« Das ihm, dem »schö­nen Alex«! Wenn er an die Flüs­ter­knei­pe denkt, die er ein­mal in der 81. Stra­ße New York-Ost ha­ben wird, träumt er zu­gleich von Ra­che.

Herr Fish be­ginnt jetzt wie­der zu re­den, der »schö­ne Alex« kann sei­nen Ge­dan­ken nicht län­ger nach­hän­gen.

»Ha­ben Sie auch manch­mal die­ses kit­zeln­de Ge­fühl, hin­ein­se­hen zu wol­len in alle Häu­ser, in alle Woh­nun­gen, Lo­ka­le, Ge­schäf­te, in die Wa­ren­häu­ser, Fa­bri­ken, Wol­ken­krat­zer, Ho­spi­tä­ler, hin­ein­se­hen in al­les: die Ge­där­me, das Herz, das Ge­hirn, das gan­ze In­ne­re, die Trieb­fe­der, die Hin­ter­grün­de se­hen, ent­de­cken, er­ken­nen kön­nen? Über­kommt Sie nicht auch manch­mal die­se Neu­gier­de?«

Der »schö­ne Alex« mur­melt et­was Be­ja­hen­des. Er sagt sich, dass im Ho­tel Ame­ri­ka die Gäs­te im­mer recht ha­ben, aber er ist zu­frie­den, dass er selbst nie so ver­stie­ge­ne Ge­dan­ken wie die­ser Herr da hat; er weiß, was er will, und das ist die Haupt­sa­che, wenn man wirk­lich et­was er­rei­chen will. Wenn er das Geld für sei­ne Flüs­ter­knei­pe zu­sam­men­hät­te, so wüss­te er schon, den Be­trieb nutz­brin­gend zu füh­ren. Er wür­de sich ge­gen­über der »Bar Lo­hen­green« an­sie­deln – sie wür­de bald plei­te ge­hen, die Wit­we. Nun, sie könn­te ja zu ihm ar­bei­ten kom­men; der »schö­ne Alex« wür­de es ihr so­gar an­bie­ten. Und dann ei­nes schö­nen Ta­ges wür­de er ihr den Lohn aus­zah­len und sa­gen: »Mor­gen brau­chen Sie nicht mehr zu kom­men.« Ja, sein ei­ge­ner Herr sein, Leu­te weg­schi­cken kön­nen, das möch­te er auch …

»Sie ver­die­nen hier wohl gut«, fragt der neu­gie­ri­ge Gast; er macht kei­ne An­stal­ten, mit sei­nem Früh­stück fer­tig zu wer­den.

»Na, es geht so lala; Sie wür­den stau­nen, Herr, wie oft die vor­neh­men Leu­te Trink­gel­der zu ge­ben ver­ges­sen.«

Ja, der »schö­ne Alex« hält nicht viel von fei­nen Ge­gen­den. Auch wenn er von sei­nen Ra­che­plä­nen ab­sieht, möch­te er sich nicht in den »to­ben­den Vier­zi­gern« an­sie­deln, in den Stra­ßen zwi­schen 40 und 50 an bei­den Sei­ten des »Wei­ßen We­ges«, wie man den Broad­way dort nennt, wo er Ver­gnü­gun­gen bie­tet. Die dort flo­rie­ren­den Nacht­klubs, ge­hei­men Ab­stei­ge­quar­tie­re und Tanz­lo­ka­le sind nicht das Ziel sei­ner Sehn­sucht; da­für braucht man klot­zi­ge Gel­der, und im üb­ri­gen ist al­les in ei­ni­gen we­ni­gen Hän­den; der Au­ßen­sei­ter wird schnell zer­malmt. Aber in der 81. Stra­ße New York-Ost, da könn­te es auch noch der klei­ne Mann zu et­was brin­gen. Er sieht die Stra­ße dun­kel und schmal im East Ri­ver ver­en­den. Die Gäs­te ih­rer Knei­pen sind arm­se­li­ge Bur­schen, Leu­te, de­nen es schlecht geht, die Heim­weh ha­ben, die schon halb ver­kom­men sind, Leu­te mit ge­hei­mem Kum­mer, Ein­wan­de­rer, die sich noch nicht rich­tig ver­stän­di­gen kön­nen. Mit ei­nem Wort, lau­ter Men­schen, de­nen es ganz dre­ckig geht. Aber ge­ra­de an sol­chen Men­schen ist et­was zu ver­die­nen, stellt Alex fest. Die an­de­ren, die fest im Sat­tel sit­zen, die sind so scheuß­lich wach, so­gar dann, wenn sie viel ge­trun­ken ha­ben. Sie sind im­mer nur auf ih­ren ei­ge­nen Vor­teil be­dacht. Ja, so un­glaub­lich es auch scheint, gut ver­die­nen kann man nur an Leu­ten, die in der Pat­sche sit­zen. Vor Alex’ Au­gen tau­chen die Be­trun­ke­nen auf, die das Pflas­ter der 81. Stra­ße be­sä­en und zwi­schen de­nen die Po­li­zis­ten fried­lich da­her­wan­deln.

Herr Fish aber hat sich wäh­rend die­ser Über­le­gun­gen des »schö­nen Alex« in Be­geis­te­rung ge­re­det.

»Im­mer­hin, was Sie hier al­les se­hen kön­nen …! Ha­ben Sie schon dar­über nach­ge­dacht, was für eine un­ge­heu­re Stadt die­ses New York ist? Sie kön­nen sich große Rei­sen er­spa­ren, wenn Sie sie nur ge­nau stu­die­ren. Un­garn und Chi­na, Schwe­den und Ja­pan, bit­te, hier sitzt al­les zu­sam­men. Die Aus­ge­sto­ße­nen aus al­len Tei­len der Welt ha­ben sich in die­ser Stadt ein Ren­dez­vous ge­ge­ben. Sie kön­nen hier im Ho­tel Ame­ri­ka glän­zen­de Stu­di­en ma­chen. Wie?«

»Nun, man tut sei­ne Ar­beit, da hat man kei­ne Zeit zu Stu­di­en, mein Herr, und dann hat man auch sei­ne ei­ge­nen Sor­gen und küm­mert sich nicht so­viel um die der an­de­ren.«

Aber der »schö­ne Alex« be­ginnt doch auf­zu­mer­ken. Ob er hier Stu­di­en macht? Das klingt gut. Aber es scheint, dass die­ser merk­wür­di­ge Gast et­was Be­stimm­tes von ihm will. Man wird ja se­hen.

»Sie ha­ben hier im Ho­tel al­lein ein Dut­zend Re­stau­rants, nicht wahr?«

Der »schö­ne Alex« winkt zum Zei­chen der Be­ja­hung mit sei­ner Ser­vi­et­te.

»Sie be­die­nen wohl auch abends ge­le­gent­lich im großen Ball­saal?«

Der »schö­ne Alex« be­ginnt auf­zu­hor­chen. Jetzt komm­t’s doch, man wird ja hö­ren, was der ge­sprä­chi­ge Mann will.

»Na ja, es kommt schon vor.«

»Heu­te Abend?«

»Mag schon sein, müss­te mal nach­se­hen.«

Der »schö­ne Alex« langt nach sei­nem No­tiz­buch und über­legt. Man muss schlau sein. Dem jun­gen Mann da, der gar so­viel spricht, geht es wahr­schein­lich nicht so gut, wie er den An­schein ge­ben möch­te. Men­schen, de­nen es gut geht, re­den nicht so­viel mit ei­nem Kell­ner, man hat schon so sei­ne Er­fah­run­gen. Aber mit Men­schen, de­nen es schlecht geht, kann man wie­der­um gute Ge­schäf­te ma­chen.

Er blät­tert in sei­nem No­tiz­buch.

»Ja, heu­te Abend ist große Hoch­zeit.«

»Die Hoch­zeit Mar­jo­rie Strongs mit Ed­gar Sed­wick?«

»Mich in­ter­es­sie­ren die Na­men nicht, aber es wird schon stim­men.«

»So et­was aus der Nähe zu se­hen, das wür­de mich in­ter­es­sie­ren – ich mei­ne als dienst­ba­rer Geist, nicht als Gast.«

Der »schö­ne Alex« ist jetzt ganz Ohr.

»Hm, hm, so was lässt sich aber nur schwer durch­füh­ren. Und warum ge­hen Sie nicht als Gast, mein Herr? Las­sen Sie sich doch eine Ein­la­dung ge­ben. Ich muss schon sa­gen, ich möch­te mir so ein Fest lie­ber als Gast an­se­hen, das wür­de mir mehr Spaß ma­chen.«

»Nun, ers­tens, se­hen Sie, ist das auch mit ei­ner Ein­la­dung nicht so ein­fach, und dann, wie ich Ih­nen schon ge­sagt habe, möch­te ich ein­mal ein sol­ches ge­sell­schaft­li­ches Er­eig­nis aus ei­ner an­de­ren Per­spek­ti­ve, von der an­de­ren Sei­te an­se­hen.«

»Was Sie sich wohl den­ken, Herr? Da­bei gibt es doch gar nichts zu se­hen. Wenn man ar­bei­tet, hat man kei­ne Zeit zum Se­hen und auch kein In­ter­es­se da­für. Ha­ben Sie eine Ah­nung, mein Herr, wie es bei uns zu­geht, wie viel man ren­nen und wie man auf­pas­sen muss!«

»Na, se­hen Sie, des­halb will ich doch eine Ah­nung von der gan­zen Sa­che be­kom­men.«

»Aber warum wen­den Sie sich ge­ra­de an mich? Wie soll­te ich Ih­nen denn hel­fen?«

»Man hat mich zu Ih­nen ge­wie­sen, Sie sind als fi­xer Kerl be­kannt, mein Lie­ber; man hat mir er­zählt, dass Sie nicht ab­ge­neigt sind, klei­ne Ne­ben­ein­nah­men zu er­zie­len, ohne Ri­si­ko, ver­steht sich.«

»Ich möch­te wohl wis­sen, wer Ih­nen das von mir er­zählt hat; da hat man Sie schön an­ge­führt, Herr.«

»Also, ich könn­te auf Sie nicht rech­nen, mei­nen Sie? Ich habe na­tür­lich auch Adres­sen von an­de­ren Kell­nern.«

»Habe ich Ih­nen viel­leicht ›n­ein‹ ge­sagt? Kann man über­haupt ›ja‹ oder ›n­ein‹ sa­gen, wenn man nicht weiß, um was es sich han­delt?«

»Sie sind zu klug, als dass Sie nicht er­ra­ten hät­ten, was ich will. Lei­hen Sie mir Ihre Ar­beits­kar­te und Num­mer für heu­te Abend, das ist al­les, ver­ste­hen Sie jetzt?«

»Ver­ste­hen kann ich nicht, wie je­mand zu so et­was Lust ha­ben kann. Eine Hoch­zeit ist kein Spaß, für nie­man­den, mein Herr, aber für die Kell­ner schon ganz ge­wiss nicht. Sie wol­len also Kell­ner spie­len, dar­auf läuft wohl Ihr Vor­schlag hin­aus?«

»Pas­sen Sie auf, Sie kön­nen heu­te einen frei­en Abend ha­ben und mich zur Aus­hil­fe schi­cken – und der Ver­dienst ge­hört doch Ih­nen.«

»Dass ich nicht lach, mein Herr, mei­ne Stel­lung soll ich aufs Spiel set­zen und nicht mehr ha­ben als das, was Sie ver­die­nen kön­nen? Glau­ben Sie denn, es ist so leicht, Kell­ner zu wer­den, dass es nicht auch eine Kunst ist, die ge­lernt wer­den muss.«

»Be­ru­hi­gen Sie sich, ich wer­de schon mei­ne Sa­che gut ma­chen, ich war schon Kell­ner, ich war schon al­les. Sie wür­den schwer einen Be­ruf aus­fin­dig ma­chen, den ich nicht schon aus­ge­übt hät­te.«

»So, Sie wa­ren frü­her Kell­ner? Vor­hin er­zähl­ten Sie et­was von ei­ner Per­spek­ti­ve, die Sie stu­die­ren möch­ten. Wenn Sie schon Kell­ner wa­ren, warum wol­len Sie jetzt wie­der ei­ner sein? Wenn man den Dreh kennt und nicht un­be­dingt Geld zum Le­ben braucht, hat man kei­ne Sehn­sucht, noch ein­mal an­zu­fan­gen.«

»Ich habe Ih­nen schon ge­sagt, ich will die­ses be­stimm­te ge­sell­schaft­li­che Er­eig­nis von der Hin­ter­trep­pe aus se­hen.«

Alex über­leg­te schnell. Was will ei­gent­lich der Bur­sche? Ju­we­len steh­len? Ar­mer Mensch, der wür­de sei­ne Ent­täu­schung er­le­ben. Auf je­den Gast kommt ein De­tek­tiv und auf je­den Kell­ner zwei. Da könn­te er schon leich­ter Ju­we­len auf der Fifth Ave­nue klau­en. An­de­rer­seits: Unan­nehm­lich­kei­ten könn­te ich ja doch nicht ha­ben, wenn ich ihn auch wirk­lich ein­schmug­gel­te; ich wüss­te schon, wie ich mich aus­re­den wür­de. Und es wür­de ihm schon Hö­ren und Se­hen ver­ge­hen, wenn ihn un­se­re »Ka­pi­tä­ne« hin und her kom­man­die­ren.

Er lässt sei­ne Au­gen über Herrn Fish auf und ab wan­dern.

»Mein Herr, Sie glau­ben, es ist so leicht, im Ho­tel Ame­ri­ka als Kell­ner ein­ge­stellt zu wer­den. Ich bin nicht ein­ge­bil­det, aber se­hen Sie sich mal mei­ne Fi­gur an, se­hen Sie sich mein Pro­fil an. Wer Kell­ner im Ho­tel Ame­ri­ka wer­den will, noch dazu Aus­hilfs­kell­ner bei ei­ner erst­klas­si­gen Hoch­zeit, der muss über ein ta­del­lo­ses Äu­ße­res ver­fü­gen, mein Herr. Ein Te­nor kann einen Bauch ha­ben, ein Lieb­ha­ber auf der Büh­ne krum­me Bei­ne, aber ein Kell­ner im Ho­tel Ame­ri­ka muss aus­se­hen, dass die Leu­te Ap­pe­tit be­kom­men, wenn sie ihn er­bli­cken. Wenn Sie nur eine Pus­tel ha­ben, schickt Sie der Ober nach Hau­se.« Der Kerl ist un­ver­schämt, denkt Herr Fish. Aber er lässt sich auf kei­ne wei­te­re Dis­kus­si­on mehr ein.

»Also hö­ren Sie, Sie lei­hen mir heu­te Abend Ihren Frack, Ihre Num­mer und Ihre Ar­beits­kar­te. Ich wet­te, kei­ner wird mer­ken, dass ein an­de­rer Kell­ner zur Ar­beit an­ge­tre­ten ist, trotz Ihres voll­kom­me­nen Pro­fils. Ma­chen Sie sich also kei­ne Sor­gen.«

»Mein Herr, Sie den­ken, Sie kön­nen nur so ohne wei­te­res über mich ver­fü­gen, das Gan­ze muss noch ge­nau über­legt wer­den. Wie soll es sich mit mei­nem ent­gan­ge­nen Ver­dienst ver­hal­ten?«

»Wie viel pfle­gen Sie an sol­chem Abend ein­zu­neh­men?«

»Na ja, 25 Dol­lar ist das we­nigs­te«, – der »schö­ne Alex« ist der Mei­nung, dass es nichts scha­den kann, wenn er sei­ne Ver­dienst­mög­lich­kei­ten ver­grö­ßert – »mul­ti­pli­zie­ren wir die­sen Be­trag mit sechs, und dann will ich noch über die An­ge­le­gen­heit nach­den­ken.«

»Sie wol­len mich ganz aus­plün­dern?«

»Wir brau­chen über die Sa­che ja nicht wei­ter zu re­den.«

»Also mit vier.«

»Mit fünf, oder ich spre­