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Bereits erschienen:

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Band 1

eISBN 978-3-649-62327-4

ISBN: 978-3-649-62705-0

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe

Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text and illustrations copyright © 2017 by Nicholas Gannon

All rights reserved. No part of this book may be used or reproduced in any manner whatsoever without written permission except in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews. For information address HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers, 195 Broadway, New York, NY 10007. www.harpercollinschildrens.com

Originalcopyright © 2017 by Nicholas Gannon

Originalverlag: Greenwillow Books, an Imprint of HarperCollins Publishers

Originaltitel: The Doldrums and the Helmsley Curse

Text: Nicholas Gannon

Illustration: Nicholas Gannon

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Aus dem amerikanischen Englisch von Harriet Fricke

Covergestaltung: Ortrud Müller – Die Buchmacher, Köln

Lektorat: Sara Mehring

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Nicholas Gannon

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Aus dem amerikanischen Englisch
von Harriet Fricke

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Prolog: Schneeflocken und Gerüchte

TEIL 1: EIN EISBERG IN ROSEWOOD

Kapitel 1: Raven Wood

Kapitel 2: Ein merkwürdiger Abschied

Kapitel 3: Wundersame Jahre

Kapitel 4: Im Zentrum des Labyrinths

Kapitel 5: Das Greenhorn und sein Vater

Kapitel 6: Bissen für Bissen, Stück für Stück

TEIL 2: SCHOKOLADE ALS TARNUNG

Kapitel 7: Mord sollte man ernst nehmen

Kapitel 8: Der miese Mr Mullfort

Kapitel 9: Hellseher und Schwarzseher

Kapitel 10: Auf der anderen Seite der Gartenmauer

Kapitel 11: Verschwinden, verstecken, verwandeln

Kapitel 12: Ein Botaniker vor der Blüte

Kapitel 13: König Oliver

TEIL 3: DER STURM

Kapitel 14: Das Haus der Helmsleys verschwindet

Kapitel 15: Mitten hinein in den giftigen Traum

Kapitel 16: Der lange Weg nach Hause

Für Patrick und Gannon,
für Tacker und Müllkipper.

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image SCHNEEFLOCKEN UND GERÜCHTE image

Durch Rosewood stoben die Gerüchte. Sie wirbelten in alle Richtungen, über die verschneiten Dächer hinweg und durch die engen Gassen hindurch.

»Wie kann das angehen? Es ist zwei Jahre her!«

Sie wurden in den Läden entlang der Donnerblumenstraße ausgetauscht und im Café Belmont aufgesogen.

»Glaubst du, die haben uns an der Nase herumgeführt?«

»Wovon sollen die sich denn ernährt haben?«

In den Aufenthaltsräumen der Rosewood-Schule lachte man über die Geschichten, im Süßigkeitenladen Schleck & Schmeck verdrückte man sie genüsslich.

»Waren da nicht Pinguine auf dem Eisberg?«

»Meinst du, die haben überlebt, weil sie Pinguine gegessen haben?«

Die Gerüchte türmten sich auf wie riesige Schneehaufen. Es gab Hunderte von Antworten auf eine einzige Frage:

ROSEWOOD CHRONICLE

WIE KONNTEN RALPH UND RACHEL HELMSLEY AUF DEM EISBERG ÜBERLEBEN?

Die beiden Forscher Ralph und Rachel Helmsley gehörten zu den bekanntesten Einwohnern der Stadt. Man hatte sie bereits für tot erklärt, aber nun erwartete man sie jeden Tag in dem hohen, schmalen Haus in der engen, verwinkelten Weidengasse zurück. Und es gab niemanden, der ihrer Rückkehr stärker entgegenfieberte als ihr Enkel Archer B. Helmsley.

»Archer ist gefährlich. Er hat Tiger im Museum losgelassen, weil er herausfinden wollte, ob er sie abhängen kann!«

»Ich hab gehört, er kann Kastanien mit einem Blick zum Explodieren bringen.«

»Nein, das kann keiner. Aber wenn er Durst hat, verwandelt er einen Flamingo in ein Glas rosa Limonade.«

In Wahrheit konnte Archer nichts davon. Aber mithilfe seiner beiden besten Freunde und eines Rettungsfloßes hatte er tatsächlich eine Meute Tiger abgehängt. Das war vor zwei Monaten gewesen, bei dem missglückten Versuch, seine Großeltern zu finden, die aus seinem Leben verschwunden waren, als er gerade einmal zwei Tage alt gewesen war. Seit dem Vorfall mit den Tigern wohnte Archer im Internat von Raven Wood. Seine Eltern hatten behauptet, es sei nur zu seinem Besten. Und zu allem Überfluss hatte er, kurz bevor er in den Zug Richtung Norden steigen musste, auch noch erfahren, dass seine Großeltern am Leben waren und endlich nach Hause kommen würden.

Archer hatte das erste Gerücht, das sich in Rosewood verbreitete, genauso verpasst wie die erste Schneeflocke, die auf die Weidengasse fiel. Und auch von den unzähligen weiteren hatte er nichts mitbekommen. Der Winter war in diesem Jahr so eisig, dass jeder, der die Nase krauszog, Angst haben musste, sie würde für immer kraus bleiben. Ganz Rosewood hatte sich in ein weißes Meer verwandelt und die Schneedecke wuchs mit jedem Tag.

image GLUCKERNDE HEIZUNGEN image

Im Keller der Weidengasse 376 schuftete der Heizkessel schwer und pumpte Dampf in Rohre, die sich bis in ein Zimmer im dritten Stock zogen. Dort saß Adélaïde Belmont neben der munter gluckernden Heizung und schrieb einen Brief.

… ich habe Deine Großeltern noch nicht gesehen.

Aber in Rosewood reden alle über sie …

Adélaïde hörte auf zu schreiben und schaute über die Schulter. Ihr Freund und Nachbar Oliver Glub stand ein paar Schritte vom Schreibtisch entfernt.

»Bald kann ich mit dem Schlitten zu dir rüberfahren«, sagte er, das Gesicht ans Balkonfenster gedrückt.

Adélaïde stellte sich neben ihn, und zusammen beobachteten sie, wie die Schneeflocken durch die versteckten Gärten der Weidengasse wirbelten und sich dort immer höher auftürmten.

»So viel Schnee hab ich noch nie gesehen«, sagte Adélaïde. »Die Mauern sind zwei Meter hoch, aber ich kann nicht mehr erkennen, wo ein Garten aufhört und wo der andere anfängt.«

Oliver wohnte schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Gärten. Neben seinem Zuhause stand das Haus der Helmsleys. Dort wohnte Archer. Aber in Archers Zimmer war es dunkel. So wie an jedem Tag seit dem Vorfall mit den Tigern.

»Glaubst du, er weiß, was man sich über seine Großeltern erzählt?«, fragte Oliver.

»Keine Ahnung«, erwiderte Adélaïde und ging zum Tisch zurück. »In seinen Briefen hat er nichts davon erwähnt. Und selbst wenn wir es ihm erzählen dürften, wüsste ich nicht, mit welchem Gerücht wir anfangen sollten.«

Oliver wusste es auch nicht. Jeden Tag tauchten neue auf. Eins schlimmer als das andere.

Adélaïde hatte ihren Brief inzwischen beendet und schob ihn in den Umschlag, in dem schon der von Oliver steckte. »Fertig.«

image LUSTIG, LUSTIG, TRALERALERA? image

Unten im Flur schlüpften sie in ihre Mäntel und wickelten sich dicke Schals um. Adélaïde stopfte einen zweiten Schal in ihren linken Stiefel, um die Lücke vor ihrem Holzbein zu füllen. Sie stapften die Vordertreppe hinunter und kämpften sich durch die Schneehaufen, die zu beiden Straßenseiten aufgeworfen waren. Die Sonne war fort, die Sterne prangten am Himmel und Straßenlaternen leuchteten ihnen den Weg.

»Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte Oliver, während er Adélaïde über eine Schneewehe half, »würde ich denken, wir hätten es tatsächlich zum Südpol geschafft.«

An der nächsten Ecke kamen sie an einer Gruppe von Kindern vorbei, die ein Weihnachtslied sangen.

Lasst uns froh und munter sein

und uns recht von Herzen freun!

Lustig, lustig, traleralera!

Sie bogen in die gewundene Donnerblumenstraße ein, die von kleinen Läden gesäumt war, darunter auch das Café von Adélaïdes Vater. Winterlich vermummte Ladenbesitzer standen auf hohen Leitern und schmückten Schaufenster mit Lichtern, Tannengirlanden und Sternen, während Passanten davor stehen blieben und zuschauten.

»Passt auf eure Köpfe auf!«, rief Mr Bray vom Schreibwarenladen Feder & Tinte, als Oliver und Adélaïde unter seiner Leiter hindurchschlüpften. »Das bringt Unglück!«

Als sie das Café Belmont erreichten, waren ihre Gesichter rot und taub. Drinnen war es warm und voll und überall standen dampfende Tassen. Adélaïdes Augen suchten den dicht belagerten Tresen ab. Der Mann dahinter fing ihren Blick auf und rief: »Zwei Mal heiße Schokolade, Adie?« Sie nickte und führte Oliver durch das brummende Café zu einem kleinen Tisch in der Ecke.

Oliver wickelte sich aus dem Schal und senkte den Kopf. Adélaïde tat das Gleiche. Jemand hatte eine Zeitung auf dem Tisch liegen gelassen.

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ROSEWOOD CHRONICLE

EISBERG-SCHWINDEL

Neuer Tag, neues Gerücht. Ganz Rosewood ist schon betrunken davon, wie im Rausch. Und es wird Zeit, dass Sie alle mit dem Trinken aufhören. Aber vorher bitten wir Sie, die Krüge ein letztes Mal zu heben, damit wir nachschenken können. Wie dem Rosewood Chronicle zu Ohren gekommen ist, haben Ralph und Rachel Helmsley ihr Verschwinden selbst inszeniert. Sie haben richtig gelesen: Der Eisberg war ein Riesenschwindel!

Wer hat uns diese Information zugespielt? Ein Mann, der zwar nicht so berühmt ist wie die Helmsleys, dessen Namen aber einige von Ihnen bestimmt schon gehört haben: Herbert P. Birthwhistle, der amtierende Präsident der Gesellschaft.

»Wir tragen noch Informationen zusammen«, teilte uns Präsident Birthwhistle mit, der zurzeit beim Schottland-Ableger der Gesellschaft zu Besuch ist. »Aber schon jetzt kann ich sagen, der Eisberg war kein unglücklicher Zufall. Wir wissen, dass die Helmsleys auf einen Eisberg geklettert sind und trotz intensiver Suche nicht gefunden wurden. Wir glauben, die Helmsleys wollten nicht gefunden werden.«

Für Leser, die es nicht wissen: Die Gesellschaft ist eine Vereinigung von Forschern und Entdeckern mit Hauptquartier in Barrow’s Bay.

»Ich rede nicht gern schlecht über Kollegen«, erklärte Präsident Birthwhistle, »deshalb möchte ich keine Einzelheiten preisgeben. Aber als Präsident der Gesellschaft hat Ralph Helmsley zuletzt einige wunderliche Entscheidungen getroffen. Viele Mitglieder hegten den Verdacht, dass das in die Jahre gekommene Forscherpaar den Verstand verloren hätte. Viele glaubten, sie hätten die Gesellschaft zerstören wollen. Ralph sollte sogar als Präsident abgesetzt werden. Aus Angst vor der Blamage sind die Helmsleys verschwunden, bevor es dazu kommen konnte.

»Einige berühmte Forscher wurden zu Legenden, weil sie in der Antarktis verschollen sind. Vermutlich haben sich die Helmsleys ähnlichen Ruhm erhofft«, erklärte Birthwistle in unserem Gespräch. »Ich weiß nicht, wie sie überlebt haben. Ich weiß nicht, warum sie plötzlich nach Hause kommen. Aber sie sind auf dem Weg. Die Mitglieder der Gesellschaft wurden alarmiert. Und ich betrachte es als meine Pflicht, die Bürger von Rosewood ebenfalls zu warnen. Ich sage es nicht gern, aber: Die Helmsleys sind eine Gefahr für alle.«

»Das ist übel.« Adélaïde riss den Artikel aus der Zeitung heraus, während ihr Vater sich einen Weg durch das brechend volle Café bahnte. Er stellte zwei Becher Kakao vor ihnen ab. Adélaïde und Oliver umschlossen sie mit den Händen, um sich die Finger zu wärmen.

»Schön, dass du mal wieder vorbeischaust, Otto«, sagte Mr Belmont.

»Er heißt Oliver«, verbesserte Adélaïde grinsend.

»Hübscher Name.«

Ein eisiger Wind schoss durchs Café, als eine kleine Frau in einem geblümten Mantel hereinstürzte.

»Diese Kälte!«, rief sie und warf die Tür hinter sich zu. »Diese entsetzliche Kälte! Diese schrecklich entsetzliche Kälte! In meinem ganzen Leben habe ich keinen derart kalten Winter erlebt! Das muss am Fluch liegen! Ja, mit Sicherheit liegt es am Helmsley-Fluch!«

»Der Helmsley-Fluch!«, echoten die Gäste. Der Rosewood Chronicle hatte sich den Namen ausgedacht, als Erklärung dafür, dass die Stadt auf den härtesten Winter aller Zeiten zusteuerte. »Je näher die Helmsleys kommen, desto kälter wird es«, empörte sich einer der Gäste. »Vermutlich bringen sie ihren Eisberg mit.«

»Man sollte den Hafen zusperren und sie nicht in die Stadt lassen.«

Die Frau im geblümten Mantel nickte wie wild und quetschte sich zwischen die Leute am Tresen. »Einen Vierfachen! Einen vierfachen Espresso! Und zwar richtig heiß

»Fürs Geschäft ist die Kälte kein Fluch«, murmelte Mr Belmont und eilte zum Tresen zurück.

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Oliver wischte sich den Kakaoschnurrbart weg. »Ich glaube nicht an Flüche«, flüsterte er.

Adélaïde wies ihn darauf hin, dass er den Kakaobart an seinem Kinn vergessen hatte, bevor sie erwiderte: »Ich auch nicht. Aber du musst zugeben, die ganze Geschichte ist schon sehr merkwürdig.«

»Mein Vater sagt, der Chronicle ist ein Schmierblatt«, erklärte Oliver und las den Artikel ein zweites Mal. Seinem Vater, Mr Glub, gehörte die kleine Zeitung Doldrums Press. »Archers Großeltern sollen den Verstand verloren haben? Sie wollten verschwinden?«

»Wer sollte sich so was ausdenken?« Adélaïde zwirbelte den Dampf, der von ihrem Becher aufstieg, mit einem Finger auf. »Glaubst du nicht, es könnte was Wahres dran sein?«

Oliver öffnete den Mund, um zu antworten. Doch dann nahm er lieber einen großen Schluck heißen Kakao.

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»Wir müssen los.« Oliver stürzte den letzten Tropfen Kakao hinunter. »Die Post wird gleich abgeholt.«

Adélaïde und Oliver verließen das Café und überquerten den Zickzackweg, an dem der Postkasten unter Schnee begraben lag. Oliver fegte die Klappe frei und zog sie mühsam auf. Adélaïde warf den Brief ein.

»Wie weit ist Raven Wood eigentlich weg?«, fragte sie.

»Mit dem Zug drei Stunden«, erklärte er.

Und mit dem Zug sollte auch ihr Brief reisen. Er wurde wenig später abgeholt, zum Postamt gebracht, in einen schmutzigen Sack gesteckt, zum Bahnhof von Rosewood gefahren und in den Postwaggon verfrachtet. Der Zug setzte sich in Richtung Norden in Bewegung, ratterte über eine Brücke über den zugefrorenen Kanal und verließ die Stadt. Er schlängelte sich an der felsigen Küste entlang und blies Dampf über schneebedeckte Kiefern, bis er das Dorf Stonewick erreichte. Die Briefe wurden erneut sortiert und in den Laderaum eines Postautos geworfen. Der Wagen tuckerte los, bog in einen dichten Kiefernwald ein, fuhr unter einem schiefen, schmiedeeisernen Tor hindurch und erreichte eine Lichtung, an deren Rand, gedrängt auf einem steilen Kliff, das Internat Raven Wood stand.

TEIL 1: EIN EISBERG IN ROSEWOOD

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image RAVEN WOOD image

Archer konnte nicht schlafen. Er schob eine taub gefrorene Hand unter der Bettdecke hervor und fummelte am Heizungsknopf. Es nützte nichts. Die Heizung war eine Katastrophe. Wie fast alles in Raven Wood.

Auf der anderen Seite des Zimmers schnarchte sein Mitbewohner Benjamin Birthwhistle.

Archer wickelte sich in die Decke, schlich auf Zehenspitzen zu seinem Tisch und schaute aus dem mit Eisblumen überzogenen Fenster. Die Sonne ging gerade über dem Meer auf, Schnee fiel auf Wellen, die sich an Felsen brachen. Der Anblick war nicht gerade fröhlich, aber Archer gefiel er trotzdem. Der Weg an der zerklüfteten Küste entlang führte nämlich in Richtung Rosewood.

Archer nahm einen Stift und malte ein weiteres X in seinen Kalender. »Nur noch ein Tag«, murmelte er.

Der Zug nach Rosewood sollte am nächsten Nachmittag gehen. Morgen würde er Oliver und Adélaïde wiedersehen.

Würde sonst noch jemand auf ihn warten? Seit seiner Abfahrt nach Raven Wood hatten seine Eltern nicht mit ihm gesprochen. Das wunderte ihn nicht. Aber in den zweieinhalb Monaten auf dem Internat hatte er auch von seinen Großeltern nichts mehr gehört. Sie hatten ihm ein Stück Eisberg mit der Post geschickt, doch seitdem hatten sie sich nicht mehr bei ihm gemeldet. Waren sie ins Haus der Helmsleys zurückgekehrt? Er hatte keine Ahnung. Und das beunruhigte ihn.

Hinter ihm hörte Benjamin auf zu schnarchen. Archer schaute über die Schulter.

»Archer, warum bist du so früh schon auf?« Benjamin blinzelte schlaftrunken.

»Es war so kalt. Ich konnte nicht schlafen.«

Benjamin streckte die Füße unter der Bettdecke hervor. Sie waren doppelt so dick wie sonst.

»Deine Füße sind geschwollen«, sagte Archer und setzte sich an den Tisch. »War die Spinne wieder da? Hat sie dich gebissen?«

Benjamin grinste und schüttelte den Kopf.

Gestern Abend hatten sich die beiden Jungen in ihrem Zimmer eine Schlacht mit einer riesigen Spinne geliefert. Archer hatte mit einer Lampe, drei Büchern und, zu Benjamins Entsetzen, einer Topfpflanze nach ihr geworfen, aber das achtbeinige Ungetüm war unverletzt geflüchtet.

»Das sind nur Strümpfe.« Benjamin gähnte. »Ich hab vier Paar angezogen.« Er rubbelte sich durch die langen, zerzausten Haare. Ein Blatt fiel heraus. »Aber ich frage mich, wo die Spinne herkam.«

Für Archer war die Antwort sonnenklar. Auf Benjamins Seite des Zimmers standen unzählige Pflanzen, sein Tisch war unter ihnen kaum noch zu erkennen. Es waren merkwürdige Pflanzen, ganz anders als diejenigen, die in den Gärten der Weidengasse wuchsen.

Archer beugte sich vor und stupste eine Pflanze auf Benjamins Tisch an. »Die hier sieht aus, als würde sie Spinnen ausbrüten.«

»Ist das mein Moderkraut?«, fragte Benjamin. »Oder die Didactus, die gestern ausgetrieben hat? Wenn die Blätter rosa gesprenkelt sind, dann ist es das Beißblatt.«

In den letzten beiden Monaten hatte Archer immerhin so viel von Benjamin gelernt, dass er sich sicher war, keine der drei Pflanzen vor sich zu haben. Diese hatte lange, spiralförmige Stängel, die mit kleinen Knubbeln übersät waren, als säße etwas darin, das nach draußen wollte.

»Ach.« Benjamin stakste steifbeinig zum Schreibtisch. »Das ist meine Paria glavra. Bei der musst du aufpassen. Die ist ein bisschen bösartig.«

»Bösartig?« Archer zog die Hand schnell weg.

Benjamin klappte sein Notizheft auf und inspizierte die Pflanze. »Wie viele aus der Gattung Paria ist auch die glavra am Anfang völlig harmlos«, erklärte er. »Später kann sie gefährlich werden. Manchmal sogar mit tödlicher Wirkung.«

Archer warf die Decke ab und lief zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, tot umzufallen, bevor er seine Großeltern kennenlernen konnte.

»Die Dornen sind noch nicht draußen«, rief Benjamin, der die kleinen Knubbel mit einem Stift ausmaß. »Vor denen musst du dich nämlich in Acht nehmen.«

Dornen hin oder her, Archer hätte eigentlich wissen müssen, dass er eine Pflanze erst anfassen durfte, wenn Benjamin sie für ungefährlich erklärt hatte. Er seifte sich die Hände ein, während Benjamin in seinem Notizheft die Größe der Knubbel und andere Beobachtungen notierte. Als würde er seine Hausaufgaben machen. Benjamin hatte einmal gesagt, Archer würde ihn verstehen, sobald er begriffen hatte, was Pflanzen alles bewirken konnten. Aber Archer wusste nur, dass Benjamin mit seinen langen, schlierigen Haaren und den zweigdünnen Armen und Beinen selbst an einen seiner Ableger erinnerte.

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»Nach dem Frühstück will ich in die Poststelle gehen.« Archer trocknete sich die Hände ab.

»Schon wieder?« Benjamin zog ächzend den dritten Pullover über seinen Kopf. »Deshalb konntest du nicht schlafen, oder? Das lag nicht an der Kälte, sondern an deinen Großeltern.«

Benjamin hatte recht. Archer hatte die ganze letzte Woche nicht geschlafen.

»Vielleicht haben sie mir ja endlich geschrieben.«

Benjamin setzte sich aufs Bett und band seine Schnürsenkel zu. Er schaute zu Archer, der ein Ohr an die Tür gelegt hatte. In Raven Wood wohnten nur wenige Schüler, aber wenn sie in den schummerigen, staubigen Fluren zusammenströmten, verwandelten sie sich in eine wilde Horde.

»Wir warten lieber noch«, sagte Archer. »Sonst rennen sie dich wieder über den Haufen.«

»Das war schrecklich«, erwiderte Benjamin lachend. Er zog ein weißes Hemd aus seinem Koffer. »Siehst du? Die Fußabdrücke sind immer noch nicht ganz rausgewaschen!«

Die Schüler von Raven Wood mussten sich an einen strikten Stundenplan halten. Jeder, der zu spät kam, wurde streng bestraft. Archer verspätete sich oft, aber Ärger bekam er nie.

Benjamin warf das Hemd in den Koffer zurück. »Du hast Glück, Mr Churnick mag dich.«

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Mr Churnick war der Direktor von Raven Wood. Ein eher missmutiger, stämmiger Mann mit langen Hasenzähnen, an denen häufig Reste von Käsekuchen klebten. Mr Churnick mochte Käsekuchen für sein Leben gern. Und er mochte Archer, was ein mittleres Wunder war, wenn man bedachte, wie er Archer bei seiner Ankunft begrüßt hatte.

»Üblicherweise nehme ich in meiner Schule keine Problemkinder auf, Archer Helmsley. Aber leider macht Raven Wood schwere Zeiten durch. Nur aus diesem Grund sitzt du jetzt vor mir.«

Archers Mutter hatte sich über jede Schandtat von Archer ausgelassen und nicht die geringste Kleinigkeit vergessen. Alles stand in der Akte, die aufgeschlagen vor Mr Churnick auf dem Tisch gelegen hatte: angefangen bei Archers Gesprächen mit ausgestopften Tieren bis hin zu dem Vorfall mit den Tigern.

»Du hast also Tiger im Museum losgelassen?«, grummelte Mr Churnick. »Hunderte von Menschen wären deinetwegen beinahe gestorben! Aber deine Streiche haben nur ein Opfer gefordert. Ein Glück im Unglück. Ja, hier steht, du hast eine Frau ernsthaft verletzt. Eine Mrs Murk… Mrs Murkley? Du hast Mrs Murkley k. o. geschlagen? Aber du bist so … und sie ist so – ach! Du hast sie mit einem EISBÄREN niedergestreckt?!«

Mrs Murkley war Lehrerin in Raven Wood gewesen, bevor sie in der Rosewood-Schule aufgetaucht war, wo sie Archer, Oliver und Adélaïde unterrichtet hatte. Die drei hatten keine Ahnung, warum Mrs Murkley aus Raven Wood versetzt worden war. Aber sie hatten selbst erlebt, was für ein schrecklicher Drachen die Frau war, und waren zu dem Schluss gekommen, dass sie etwas richtig Schlimmes getan haben musste – ähnlich schlimm wie eine Lehrerin unter einem Eisbären zu begraben.

»Hast dem alten Wildschwein den Hauer gezogen, was, Archer?« Mr Churnick hatte losgeprustet und war beinahe vom Stuhl gefallen. »Endlich hat sie ihre gerechte Strafe bekommen! Von dir! Aber wieso hab ich das nicht schon früher erfahren? Wahrscheinlich verbreiten sich gute Nachrichten eben doch langsamer als schlechte.«

Archer hatte den freudigen Ausbruch von Mr Churnick nicht deuten können. Benjamin war ihm auch keine große Hilfe gewesen. Er wohnte nur dann im Internat, wenn sein Vater, der Reiseführer war, für längere Zeit wegmusste. (Seine Mutter erwähnte er nie. Archer war sich nicht sicher, ob er überhaupt eine hatte.) Aber die Geschichte von Mrs Murkley hatte Archer Stück für Stück zusammengepuzzelt.

Obwohl die Einzelheiten je nach Erzähler voneinander abwichen, stimmten alle Berichte grundsätzlich überein: Ein Schüler namens Phillip war in Raven Wood vom Dach aus vier Stockwerke in die Tiefe gestürzt und hatte nur überlebt, weil er in einem Buchsbaum gelandet war, der die Form eines Raben hatte. Das hatte für einen waschechten Skandal gesorgt, in dessen Mittelpunkt Mrs Murkley gestanden hatte. Man hatte ihr zwar nichts nachweisen können, aber die meisten Eltern hatten ihre Kinder trotzdem von der Schule genommen. Raven Wood war an den Rand des Ruins getrieben worden. Und das sah man dem Internat auch an. Die Räume waren verdreckt. Das Licht ging ständig aus. Der Garten war von Unkraut überwuchert. Ganz zu schweigen vom Essen …

image BENJAMINS BRIEF image

Archer und Benjamin huschten in den Speisesaal und setzten sich in ihre übliche Ecke. Eine traurig dreinblickende Küchenhilfe stellte mit unerwartet lautem Knall Schalen vor ihnen ab. Archer zog den Löffel aus seiner und beäugte die klumpige graue Masse.

»Der Haferschleim wird von Tag zu Tag ekliger«, stöhnte Benjamin verzweifelt.

»Dachte, das geht gar nicht.« Archer leckte am Löffel und wünschte sich sofort, er hätte es bleiben lassen. »Heute schmeckt es nach Karton mit Kleister.«

»Plus ein Pfund Schmalz?«, tippte Benjamin.

Zwei große Hände legten sich von hinten auf Archers Schultern. »Morgen, Jungs.« Mr Churnick machte seine Runde. »Meine Güte, Archer! Du bist ein Eisklotz! Tut mir leid, dass wir die Heizung drosseln mussten. Ich gebe mein Bestes. Aber wir müssen nun mal sparen.« Mr Churnick beugte sich über Archer und besah sich den Inhalt der Schüssel. »Immerhin ist das Essen etwas besser geworden.«

»Dürfen wir das Frühstück ausfallen lassen?«, fragte Archer und ließ den Löffel in die Schüssel plumpsen. »Ich würde gern ins Postzimmer gehen.«

Mr Churnick sah sich verstohlen im Speisesaal um und nickte. »Aber schnell. Die anderen müssen es nicht unbedingt mitbekommen.«

»Archer, ich wollte dich was fragen«, fuhr Mr Churnick auf dem Weg zum Postzimmer fort. »Es geht um die Rosewood-Schule. Welchen Eindruck hast du von ihr?«

Obwohl Archer von der Schule geflogen war, hatte er im Grunde nichts gegen sie. »Bevor Mrs Murkley aufgetaucht ist, war es dort sehr schön.«

»Darauf wollte ich hinaus. Ich hatte etwas Wichtiges mit der Schulleiterin Mrs Littell zu besprechen, aber sie wollte mir nicht verraten, warum sie die faulige Auster eingestellt hat, nachdem ich sie rausgeworfen hatte. Ihre Entscheidung war, gelinde gesagt, zweifelhaft, und ich hatte gehofft, jemand Zweites nach seiner Meinung fragen zu können.«

»Sie könnten mit Miss Whitewood reden«, schlug Archer vor. »Sie ist die Bibliothekarin und sehr nett.«

»Danke für den Hinweis. Und versuch bitte, nicht schon wieder zu spät zum Unterricht zu kommen. Die anderen Lehrer scheinen langsam zu merken, dass sich deine Nachsitzzettel in meinem Büro immer in Luft auflösen.«

Mr Churnick schlug Archer so kräftig auf den Rücken, dass er beinahe durch die Wand geflogen wäre, und ließ die Jungen vor dem Postzimmer stehen. Es war ein winziger, schmuddeliger Raum mit Fächerregalen ringsum. Benjamin schoss vor Archer hinein und prallte gegen einen kleinen Tisch. Der Stapel Zeitungen obendrauf wackelte und fiel in einen leeren Postwagen. Archer sprang zu seinem Fach und entdeckte einen Brief und zwei Pakete.

»Ist der von deinen Großeltern?«, fragte Benjamin leicht nervös, während er einen Brief aus dem eigenen Fach zog.

»Nein, von Oliver und Adélaïde.« Archer strich über den Kakaofleck auf dem Umschlag. »Und Mrs Glub hat wieder Kuchen geschickt.«

Benjamin tat so, als würde er ohnmächtig werden.

Olivers Mutter war die beste Bäckerin in ganz Rosewood. Archer wäre in Raven Wood längst verhungert, wenn sie ihn nicht regelmäßig mit Kuchenpaketen eingedeckt hätte. Auch Benjamin war ihr dafür von Herzen dankbar.

»Sind beide Pakete für uns?«

»In einem ist Käsekuchen für Mr Churnick.« Archer begutachtete die durchgeweichte Schachtel von allen Seiten. »Hoffentlich ist er nicht total zermatscht.«

Er legte die Schachtel ins Fach zurück, nahm den Brief und das zweite Paket und lief mit Benjamin zum Vordereingang der Schule. Dort zog er einen Mantel vom Haken und gab Benjamin einen zweiten. Die Mäntel waren für Erwachsene gedacht und reichten weit bis über ihre Knie, aber das störte sie nicht. Benjamin folgte Archer durch die schwere Eichentür und über den gepflasterten Weg, der am Meer vorbeiführte.

»Ich verstehe nicht, warum ich immer noch nichts von meinen Großeltern gehört habe«, sagte Archer und rutschte beinahe auf einem spiegelglatten Stein aus. »Oder von meinen Eltern. Niemand erzählt mir was.«

»Wenigstens darfst du morgen nach Hause fahren.« Benjamin seufzte. »Ich werde den Fraß sogar Weihnachten vorgesetzt bekommen.«

Archer verzog das Gesicht. Benjamin würde die Feiertage in Raven Wood verbringen, weil sein Vater immer noch auf Reisen war. Über Mr Birthwhistle wusste Archer nicht viel, aber er wurde den Verdacht nicht los, dass er den Namen schon einmal gehört hatte. Er hatte Benjamin davon erzählt, aber der hatte vermutet, er müsse es sich einbilden.

Sie hatten die Bank mit Blick aufs Meer erreicht. Archer fegte den Schnee mit seinen überlangen Mantelärmeln weg und sie setzten sich hin. Dann öffnete Archer die Kuchenschachtel und gab seinem Freund einen Walnussmuffin. Benjamin hielt ihn auf der flachen Hand wie einen anbetungswürdigen Gegenstand. Archer lachte und riss seinen Briefumschlag auf.

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Lieber Archer,

ich hoffe, in Raven Wood ist alles in Ordnung. Bei uns ist alles wie immer. Na ja, Oliver hat ein blaues Auge. Er hat sich in der Schule mit Charlie Spindle geprügelt. Charlie hatte sich wieder mal über Dich und Deine Familie lustig gemacht und Oliver ist auf ihn losgegangen.

Ich glaube, Oliver wollte Dir von unserer neuen Nachbarin erzählen. Sie ist so alt wie wir und heißt Kana Misra. Aber das soll er Dir selbst schreiben. Nur so viel: Ich glaube, sie mag ihn! (Er wird immer wütend, wenn ich das sage.)

Deine Großeltern habe ich noch nicht gesehen. Aber in Rosewood reden alle über sie. Hast Du schon was gehört? Ich denke, sie werden bald nach Hause kommen. So wie Du.

Wir vermissen Dich,

Adélaïde

Lieber Archer,

Charlie Spindle hat sich in der Schule über Dich lustig gemacht. Adélaïde ist auf ihn losgegangen und hat mich in die Sache mit reingezogen. Ich weiß nicht mehr, was passiert ist, aber am Ende war ich derjenige, der eins auf die Nase bekommen hat. Adélaïdes Verhalten war ja schon immer selbstmörderisch, aber jetzt wird es mit jedem Tag noch schlimmer.

In meinem letzten Brief habe ich etwas vergessen: Wir haben eine neue Nachbarin. Sie ist in das Haus von Mrs Murkley gezogen: Diptikana Misra. In der Schule haben wir kein einziges Fach zusammen, aber sie hat dunkle Haare und hellblaue Fischaugen, die dich zwar anschauen, aber nicht zu sehen scheinen. Langsam macht sie mir Angst. In letzter Zeit habe ich sie oft dabei ertappt, wie sie mich anglotzt. Vielleicht spioniert sie mir sogar hinterher. Adélaïde glaubt etwas anderes, aber darüber möchte ich nicht reden.

Gute Fahrt,

Oliver

PS: An dem Abend, an dem Du zurückkommst, findet bei uns eine Weihnachtsfeier statt. Dein Vater hat meinem gesagt, dass Du kommen darfst.

PPS: Ich muss Dir etwas über Schleck & Schmeck erzählen. Aber hier ist kein Platz mehr, deshalb sage ich es Dir, wenn wir uns sehen.

Archer konnte es kaum noch erwarten, seine Freunde wiederzusehen.

»In Rosewood rede ich mal mit Mrs Glub.« Er faltete die Briefe zusammen und steckte sie in den Umschlag. »Ich schicke dir von zu Hause so viel Kuchen, wie ich kann. Und wenn ich die meisten Sachen hierlasse und einen leeren Koffer mitnehme, kann ich ihn auf dem Rückweg …«

»Ich fahre morgen auch nach Hause«, unterbrach ihn Benjamin und senkte seinen Brief. »Mein Vater hat die Reise abgebrochen und ist auf dem Weg nach Rosewood.«

»Heißt das, du kommst nach den Ferien nicht zurück?«

Benjamin nickte. Er würde wieder in seine alte Schule in Rosewood gehen, die private Lehranstalt Drabblefort. Archer war traurig, aber auch ein bisschen neidisch. Insgeheim hoffte er, seine Eltern würden ihm erlauben, nach den Ferien in Rosewood zu bleiben. Doch seine Mutter würde sich bestimmt querstellen. Und jetzt würde ihn auch noch sein einziger Freund auf dem Internat verlassen. Wenigstens Benjamin hätte sich über die gute Nachricht freuen sollen, aber der sah aus, als hätte er Bauchschmerzen.

»Stimmt was nicht?«, fragte Archer.

Benjamin biss vom Walnussmuffin ab und kaute langsam. »Ich hab über deine Großeltern nachgedacht«, sagte er schließlich. »Du erzählst über sie nur Gutes, aber was, wenn sie nicht so sind, wie du sie dir vorstellst?« Benjamin versenkte die Zähne noch einmal in den Muffin. »Es muss einen Grund geben, warum deine Mutter sie seit zwölf Jahren nicht in deine Nähe lässt.«

Archer pulte eine Walnuss aus seinem Muffin. Er war erst zwei Tage alt gewesen, als seine Eltern seinen Großeltern das Versprechen abgenommen hatten, sich bis zu seinem zwölften Geburtstag von ihm fernzuhalten.

»Meine Mutter hat was gegen ihren Beruf«, erklärte er und schnipste die Walnuss in seinen Mund. »Dass sie Forscher sind, gefällt ihr nicht. Sie will nicht, dass ich so werde wie sie.«

»Aber was ist, wenn deine Mutter in Wahrheit etwas gegen sie hat?«, fragte Benjamin. »Vielleicht sind sie keine guten Menschen. Vielleicht sind sie sogar gefährlich

Bei der Vorstellung hätte Archer beinahe laut losgeprustet, aber das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Benjamin sah ihn ernst an.

»Wieso sollten sie gefährlich sein?«

»Ich meine nur, du kennst sie doch gar nicht. Und ich glaube, du solltest auf eine Überraschung vorbereitet sein.«

Den ganzen Tag über schien Benjamin noch jede Menge anderer Sachen sagen zu wollen, aber Archer konnte noch so bohren, er rückte nicht damit heraus. Als sie abends in ihr Zimmer zurückkehrten, ging Benjamin sofort ins Bett, dabei waren es ihre letzten gemeinsamen Stunden im Internat. Er ließ sogar seine abendliche Pflanzeninspektion ausfallen.

»Warum sagst du nicht, was los ist?«, fragte Archer.

Benjamin zog sich die Decke über den Kopf.

»Ich bin nur müde, mehr nicht. Wir haben morgen eine lange Fahrt vor uns.«

Archer trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Seit ihrer ersten gemeinsamen Woche war Benjamin nicht so schweigsam gewesen. Wollte er etwa nicht nach Hause? Von seinem Vater erzählte er nur selten. Vielleicht kamen sie nicht miteinander klar. Noch mehr grübelte Archer allerdings über Benjamins Bemerkung nach, seine Großeltern könnten gefährlich sein. Wie kam er nur darauf?

Archer löschte das Licht und kroch ins Bett. Als die Uhr im Flur Mitternacht schlug, lag er immer noch wach. Gefährlich? Archer spähte durch das unheimlich stille Zimmer. Benjamin hatte weiterhin die Decke über den Kopf gezogen. Er schnarchte nicht. Benjamin schnarchte sonst immer.

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image EIN MERKWÜRDIGER ABSCHIED image

Archers letzte Stunden in Raven Wood zogen sich wie Kaugummi und Benjamins anhaltendes Schweigen ließ sie noch länger wirken. Als die Schulklingel zum letzten Mal ertönte, hatte Archer seinen scharlachroten Koffer bereits gepackt.

»Geh doch schon mal zum Bus vor«, sagte Benjamin, der in seinem Koffer Platz für die Paria glavra zu schaffen versuchte.

Also schleppte Archer seinen Koffer in den Flur und ging ins Büro von Mr Churnick. Der war nicht da, deshalb legte er ihm den Käsekuchen und die Dankeskarte auf den Tisch. Als er aus dem Zimmer kam, wäre er beinahe mit Benjamin zusammengestoßen, aber der verzog keine Miene. Sie gingen nach draußen, befolgten die Anweisungen der Lehrer und stellten sich in die Reihe der Schüler, die in den klapprigen Bus stiegen. Nachdem Archer sich auf seinen Platz gesetzt hatte, sah er Mr Churnick aus der Eingangstür der Schule stürmen. Der Direktor lief die Fenster des Busses ab und blieb vor Archer stehen. Er sagte etwas, aber der Motor dröhnte und der Bus fuhr los. Archer konnte nur noch winken, während Mr Churnick immer kleiner wurde.

Im Bahnhof von Stonewick quetschte sich die aufgeregte Schülerschar in den wartenden Zug.

»Drei Wochen schulfrei!«, rief einer. Alle johlten.

Benjamin setzte sich Archer gegenüber, wühlte in seinem Ranzen und legte ein smaragdgrünes Buch auf seinen Schoß. Er steckte die Nase in jeder freien Minute in das Buch mit den detaillierten Pflanzenzeichnungen und Beschreibungen.

»Hast du mal von der Gesellschaft gehört?«, fragte Archer. »Das ist eine Vereinigung von Forschern und Entdeckern. Sie hat ihr Hauptquartier in Rosewood. Leider bin ich nie da gewesen. Mein Großvater war dort früher Präsident. Hoffentlich kann ich in den Ferien mal hin. Du solltest mitkommen. Da gibt es bestimmt jede Menge Pflanzenleute.«

Benjamin starrte immer noch auf das Buch, aber Archer wusste, dass er nicht mehr las.

»Klingt interessant«, sagte Benjamin und blätterte um. »Und übrigens nennt man sie Botaniker.«

Archer schaute aus dem Fenster.

Während der Zug in Richtung Süden brauste, sah man draußen statt der schneebedeckten Kiefern bald immer mehr Häuser. Drei sehr lange und schweigsame Stunden später überquerten sie den zugefrorenen Kanal und fuhren in Rosewood ein. Die Schüler belagerten die Fenster, um einen besseren Blick auf die mit Lichtern gepunktete, dunkle Stadt zu erhaschen. Benjamin schob einen fremden Ellenbogen aus seinem Gesicht und grinste Archer an. Aber das Grinsen erstarb so schnell, dass Archer dachte, er müsse es sich eingebildet haben.

Im Bahnhof von Rosewood herrschte großer Trubel. Das Zugpersonal stapelte Koffer und Taschen auf den Bahnsteig. Archer und Benjamin bahnten sich einen Weg durch Familien, die sich fröhlich in die Arme fielen, und stellten sich dann neben ihre Koffer. Archer startete einen letzten Versuch, um herauszufinden, was Benjamin bedrückte.

»Wir hatten in Raven Wood eine gute Zeit, Archer«, sagte Benjamin und suchte die Menge ab. »Aber es gibt etwas, das ich dir hätte sagen sollen. Ich konnte es nicht. Du hättest mir sowieso nicht geglaubt. Aber du wirst es bald verstehen. Und dann wirst du mich hassen.« Benjamin nahm einen der Seitengriffe seines Koffers und nickte einer rundlichen Frau zu, die in ihre Richtung hetzte. »Das ist Mrs Fig. Bis mein Vater wieder da ist, wohne ich bei ihr.«

»Willkommen zu Hause, Benjamin!«, kreischte Mrs Fig und zog den Jungen an sich, als wollte sie ihn zerquetschen. Ihr knallgrüner Mantel konnte einen blind machen und ihr breites Grinsen war eher angsteinflößend. »Digby war völlig aus dem Häuschen, weil du Weihnachten mit uns feierst!«

Ihre Festtagsstimmung verflog, als sie Archer bemerkte.

»Du?« Sie nahm den anderen Griff von Benjamins Koffer und zog Jungen und Gepäckstück weg. »Du bist doch Archer Helmsley! Ja, ich erinnere mich an dich. Deinetwegen wäre mein Digby fast von einem Tiger gefressen worden! Und nun noch diese Geschichte mit deinen Großeltern …« Mrs Fig fuchtelte mit einem salamiartigen Finger vor Archers Nase herum. »Ihr solltet euch allesamt schämen! Beeilung, Benjamin. Um diese Person und seine schreckliche Familie macht man besser einen großen Bogen.«

Einen Augenblick später war Benjamin verschwunden.

Archer hockte sich auf seinen Koffer. War sein Freund verrückt geworden? Hatte er in Raven Wood eine Überdosis ekligen Haferschleim abbekommen?

»Archer! Hier! Tut mir leid, dass ich zu spät bin!«

Archers Vater schlängelte sich durch die Menge. Mr Helmsley war ein langer, dünner, bebrillter Anwalt – ein ehrbarer und angesehener Beruf, auch wenn Archers Großeltern von der Berufswahl ihres Sohnes enttäuscht gewesen waren.

»Wie wir hörten, hat die Landluft Wunder gewirkt!« Mr Helmsley umarmte Archer und betrachtete ihn von oben bis unten. »Mr Churnick lobt dich in den höchsten Tönen. Deine Mutter wollte ihm erst nicht glauben. Hast du etwa abgenommen? Hattest schon vorher nicht viel auf den Rippen!«

»Das Essen in Raven Wood war schrecklich.« Archer grinste.

Obwohl er das Gefühl hatte, es beiden Eltern nie recht machen zu können, kam er mit seinem Vater immerhin ein bisschen besser aus als mit seiner Mutter.

»Klingt, als wären da ähnliche Küchenmeister am Werk wie in meinem Internat. Ich habe heute noch Albträume von dem Essen dort.« Mr Helmsley schaute auf die Uhr. »Aber auf der Weihnachtsfeier der Glubs wird es lauter gute Sachen geben. Wir beeilen uns besser, sonst macht deine Mutter noch Suppeneinlage aus uns!«

Sie schleppten Archers Koffer aus dem Bahnhof und verstauten ihn in einem Taxi. Während der Fahrt betrachtete Archer staunend die Schneemassen. Die Haufen waren fast so hoch wie das Auto. Ganz Rosewood lag unter einer Schneedecke begraben.

»Hast du was von deinen Großeltern gehört?«, fragte Mr Helmsley, während er sich mit dem Krawattenende Schnee von der Brille putzte.

»Nein.« Archer schaute zu den Flocken, die am Fenster vorbeiwirbelten. »Sie haben mir keinen einzigen Brief geschrieben.« Plötzlich wurde ihm mulmig zumute und er schaute zu seinem Vater. »Sind sie schon zu Hause?«

»Noch nicht. Und nimm’s nicht persönlich. Seit bekannt wurde, dass sie noch leben, haben sie um ihre Rückkehr ein Geheimnis gemacht. Nach meinen spärlichen Informationen dürften sie jeden Tag vor der Tür stehen.«

image DAS SCHRECKLICHE WESEN IST ZURÜCK image

Das Taxi hielt schlitternd vor dem Haus der Helmsleys an. Archer und sein Vater schleppten den scharlachroten Koffer die vereiste Treppe hinauf und wuchteten ihn in die Eingangshalle. Mit dumpfem Plopp landete er auf dem Boden. Mrs Helmsley steckte den Kopf aus einer Tür am Ende des Flurs. Archers Mutter war eigentlich ein ruhiger und besonnener Mensch – das Musterbeispiel einer braven Bürgerin. Doch im Moment erinnerte sie eher an die zerstreute Mrs Glub.

»Ach! Ich dachte schon, sie sind es«, stöhnte sie.

»Gibt’s was Neues?«, fragte Mr Helmsley.

»Nein. Und ich weiß, du hältst es nicht für notwendig, aber lies dir bitte die Broschüren einmal durch. In diesen Einrichtungen finden sie vielleicht Hilfe.«

Mrs Helmsley trat in den Flur und näherte sich Archer, wie man sich einem Blindgänger nähert, der jederzeit hochgehen kann. Sie bückte sich, drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und musterte ihn von oben bis unten.

»Mr Churnick scheint ein echtes Wunder vollbracht zu haben«, sagte sie, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Er meinte, du wärst einer der besten Schüler, die er je hatte. Und er glaubt sogar, du hättest deine Neigungen endgültig überwunden.«

Neigungen. Das war das Wort, das Mrs Helmsley immer benutzte, wenn Archer etwas tat, das ihr nicht gefiel, wie zum Beispiel einen Gast aus Versehen in Brand stecken. Archer vermutete, es könnte auch damit zusammenhängen, dass er Ähnlichkeit mit seinen Großeltern hatte. Da er sie nie kennengelernt hatte, konnte er das natürlich nicht beurteilen.

»Heißt das, ich muss nicht mehr nach Raven Wood?«, fragte er hoffnungsvoll.

Im nächsten Moment wurde ihm klar, wie dumm die Frage gewesen war. Seine Mutter schien überzeugt zu sein, dass der Blindgänger vorerst unter strenger Beobachtung bleiben musste.

»Mr Churnick hat hervorragende Arbeit geleistet. Bei ihm bist du am besten aufgehoben. Und ich würde gern wissen, was sein Geheimnis ist«, murmelte sie.

»Aber wir haben auch Neuigkeiten, die dich freuen werden«, sagte Mr Helmsley und stupste Mrs Helmsley mit dem Ellenbogen an.

»Ja. Dein Vater und ich haben lange überlegt und sind zu dem Schluss gekommen, dass es deine Fortschritte beschleunigen wird, wenn du in den Ferien häufiger aus dem Haus gehst.«

Archer fiel die Kinnlade fast bis auf den Boden. Seit seine Großeltern verschwunden waren, hatten seine Eltern ihn praktisch wie einen Gefangenen im Haus der Helmsleys gehalten.

»Jetzt lauf nach oben und wasch dich. Du riechst wie ein muffiges Eisenbahnabteil. Die Glubs erwarten uns jede Sekunde.«

Mr und Mrs Helmsley verschwanden. Archer blieb in der Eingangshalle stehen und betrachtete die ausgestopften Tiere und Schätze seiner Großeltern. Sein alter Freund, der Dachs, stand auf einem kleinen Tisch und trug einen weihnachtlichen Pullover.

»Willkommen zu Hause, Archer«, sagte der Dachs kläglich. »Würdest du mir aus diesem Ding helfen? Warum tut sie mir das jedes Jahr wieder an?«

»Sie findet, du siehst darin aus wie ein feiner Herr«, sagte Archer und zog ihm den winzigen Pullover über den Kopf.

Der Dachs schnaubte, während Archer ihm das Fell glättete. »Ich bin im Leben weder fein noch ein Herr gewesen, und ich begreife nicht, warum sie das im Tod aus mir machen will!« Er senkte die Stimme. »Ich freue mich, dass du wieder da bist, aber ich muss dir sagen, hier gehen merkwürdige Dinge vor sich. Warum hat Benjamin gesagt, dass du ihn hassen wirst? Warum hast du nichts von deinen Großeltern gehört? Und warum war Mrs Fig so wütend auf sie? Ich habe zwar keine Ahnung, was da los ist, aber für mich klingt das ziemlich übel.«

Archer starrte den Dachs an. »Wieso weißt du das alles?«

»Weil du es weißt.«

»Was ist da los?«, rief ihnen der Strauß aus einem anderen Zimmer zu. »Seit mir jemand einen Lampenschirm auf den Kopf gesetzt hat, sehe ich nichts mehr! Ist das Wesen wieder da? Sagt nicht, das Wesen mit den schmutzigen Händen ist zurück!«

image NUR EINE WEIHNACHTSFEIER image

Das Haus der Glubs nebenan war voller Musik, Menschen und Leckereien. Alle hatten sich in dem Zimmer versammelt, das trotz abblätternder Farbe und loser Bodendielen die gute Stube genannt wurde. Adélaïde saß auf dem karierten Sofa vor dem knisternden Kaminfeuer. Drei hohe Fenster an der Seite des Sofas boten Ausblick in den verschneiten Garten. Oliver hastete ins Zimmer und pflanzte sich neben Adélaïde.

»Ich hab Holz nachgelegt«, sagte er und hielt die zitternden Hände ans Feuer. »Draußen ist es bitterkalt. Nächstes Mal gehst du.«

Adélaïde zeigte auf ihr Holzbein. Oliver verdrehte die Augen.

»Wie lange willst du noch darauf rumreiten?«