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Joachim Reiber

GOTTFRIED
VON
EINEM

Komponist der Stunde null

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www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01093-1

Copyright © 2017 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus

Unter Verwendung eines Fotos aus dem Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Vorderseite) und von Peter Schramek/Musikverein (Rückseite)

Lektorat: Paul Maercker

Satz und typografische Gestaltung: Sophie Gudenus

INHALT

I. DANTONS TOD

II. ZWISCHENAKT. ÜBERGÄNGE, NETZWERKE, FREUNDSCHAFTEN

III. DER PROZESS

IV. DER ZERRISSENE

V. ZWISCHENAKT. ZU SCHÖN, UM WAHR ZU SEIN?

VI. DER BESUCH DER ALTEN DAME

VII. KABALE UND LIEBE

VIII. JESU HOCHZEIT

IX. EPILOG. UNSTERBLICHKEIT, VERGÄNGLICHKEIT, VERGANGENHEIT

ANMERKUNGEN

„Mein Leben war und ist so unordentlich
wie die Zeit, in der ich lebte und lebe.“
1

„Wer die Libretti meiner sieben Opern liest,
kann daraus ablesen, wer ich bin.“
2

I. DANTONS TOD

„DER EINZELNE NUR SCHAUM AUF DER WELLE“. EIN ANFANG UND DIE OFFENE FRAGE

Anfang. So viel liegt an ihm. Und so viel in ihm. Nahezu alle Modalitäten können in ihm stecken: das Anfangenmüssen wie das Anfangenwollen, das Anfangendürfen und -können. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam alles zusammen. Das Ende, das viele als Zusammenbruch erlebten, machte den Anfang notwendig. Not und Hoffnung begegneten einander. Auch die große Sehnsucht war da, die in allem Anfang liegen kann. Bei „halbwegs glücklichem Verlauf“, sagt der Kulturhistoriker Rüdiger Safranski, ist die „Zeit des Anfangens (…) der lichterlohe Moment, da man sich mit der Zeit im Bunde fühlt“.3

Ein solch lichterloher Moment ereignete sich in Salzburg am 6. August 1947. Der frenetische Schlussapplaus im Großen Festspielhaus galt einem Anfang, der strahlender nicht hätte ausfallen können. Die Uraufführung einer Oper, „Dantons Tod“ von Gottfried von Einem, wurde als Sensation gefeiert. „Die großartige Aufführung (…) brach den Bann, der die Festspiele bisher von moderner Musik trennte. (…) Den Künstlern dankte langanhaltender, begeisterter Beifall, der sich beim Erscheinen des Komponisten zu herzlichen Ovationen steigerte.“4 In der Festspielbilanz stand „Dantons Tod“ als internationaler Erfolg fest: „Das Weltecho übertrifft alle Erwartungen.“5

Neues war gewagt worden, und man empfand, dass es mit der Zeit im Bunde stehe. Man lobte Salzburg dafür, „den Kontakt mit dem pulsierenden und neuen Leben“6 hergestellt zu haben, man spürte in diesem Werk den „neue(n) Geist, der sich allenthalben regt“.7 Es war ein potenziertes Anfangsglück: Erstmals in ihrer Geschichte hatten die Salzburger Festspiele die Uraufführung einer Oper aufs Programm gesetzt. Und sie wählten einen Komponisten, der den Anfang schlechthin verkörperte. Er war 29 und hatte noch nicht das, was man einen Namen nennt. Zu Recht stellte man in den Zeitungen die Frage: „Wer ist Gottfried Einem?“8

Ein unbeschriebenes Blatt – es taugt am besten für den Neubeginn. Aber man beschrieb es rasch und beschrieb ihn, den Neuen, in kräftigen Zügen. „Eine grosse, schlanke Gestalt“ – so der Verlag, der die Oper herausbrachte, in einer PR-Broschüre zur Vorbereitung auf die Premiere –, „der Kopf von betonter, fast greifbarer Charakteristik; das Haar dunkel, mit Mühe geordnet, die Stirn hochgewölbt und breit. Die heftig vorspringende Nase beherrscht das scharf geschnittene Profil. Was hier Kontur ist, findet in den grossen, scharf zupackenden Augen Ergänzung: dort Klarheit, zeichnerische Plastik, hier, in den Augen, die Erfüllung durch geistige Vertiefung. Das bestätigt der Wille, der in den schmalen, wie in heftiger Abwehr geschlossenen Lippen sich ausdrückt. Und wie eine neuerliche Betonung der Klarheit wirkt das Kinn (…). Er ist Gottfried Einem, der Komponist der Oper ‚Dantons Tod‘.“9 Wille, Plastik, Kontur und so viel Schärfe, so viel Klarheit, dass sie gleich mehrfach genannt werden mussten. War er das? War das Gottfried von Einem?

In der Tagespresse wurde er als Repräsentant einer ganzen Generation vorgestellt. Er sei, las man in der „Österreichischen Zeitung“, „Exponent einer aus dem zweiten Weltkrieg mit knapper Not heil davongekommenen Jugend“.10 Über die Details wurden unterschiedliche Angaben gemacht. Wie knapp war die Not und wie schwierig der Weg, heil davongekommen zu sein? „Krieg und Naziterror“, hieß es im „Österreichischen Tagebuch“, „haben Gottfried Einem übel mitgespielt (…).“11 Die „Welt am Montag“ hob lieber den österreichisch-patriotischen Aspekt hervor und präsentierte den „noch nicht einmal Dreißigjährigen (…) als Sohn eines altösterreichischen Generals“. Sein künstlerisches Renommee wurde mit dem Verweis auf Einems Opus 1 herausgehoben, das Ballett „Turandot“: „Ueber dessen Qualität sagt die Tatsache der Uraufführung durch ein Institut vom Range der Dresdner Staatsoper wohl genug.“12 Eine andere Tatsache – hier nicht erwähnt – war das Datum dieser Uraufführung. Sie fand am 5. Februar 1944 statt.

Die „New York Times“ sprach von einem merkwürdigen Fall („It’s an odd case“). Wie konnte es zugehen, fragte sich das Blatt noch vor der „Danton“-Premiere, dass ein Komponist so wenig vorzuweisen habe – und einen so steilen Aufstieg nahm? Ohne Widersprüche sei das schwer vorstellbar. „This story of sudden and wide recognition in the face of paucity of output and infrequency of performance is only one of a series of contradictions in the larger story of Gottfried von Einem.“13 Der junge Mann, der da einen so starken Anfang setzte, beschäftigte die Medien, auch international.

Wer an einer lebensnahen Geschichte interessiert war, dem blieb das Interview. Der junge eloquente Komponist stand zur Verfügung. Auch eine Homestory machte er möglich. Im „Alpenjournal Salzburg“ erschien der atmosphärisch fein ausgeschmückte Bericht eines Besuchs bei den Einems in St. Jakob am Thurn. Das junge Paar – Einem hatte 1946 Li-anne von Bismarck geheiratet – lebte hier, höchst bescheiden und hoch oben, im vierten Stock eines Turms. Bevor sie den Leser auf steilen Stiegen hinaufführt, beschwört die Autorin im pathetischen Präludium ein Verlangen nach dem Neuen. Die alte Sprache, auch die der Musik, tauge nicht mehr. Gesucht werde einer, der „nach unserem Ohr, nach unserem Herzen schreibe“, einer, der „dieses un-erhörte Zeitmaß, Kommen, Gehen, Stürmen, Wehen, Innehalten und Verweilen nach unseren Gesetzen fassen müßte, der diese Klänge in Melodien bindet, die – nicht singen, sondern aussagen.“ Am Ende verlässt die Autorin den Einem-Turm in der Gewissheit, das Ersehnte gefunden zu haben: „(E)ine Kunst, die einfach aussagen will, verdichten, wie es ist, wie es für uns Heutige ist; eine Musik, über der geschrieben sein müßte, wonach es uns drängt, die wir ohne Vorbild, ohne Hilfe, ohne Transposition von Anbeginn wieder leben müssen (…).“14 Nichts weniger als das wurde Gottfried von Einem attestiert: dass er ausdrücke, „wie es für uns Heutige ist“, dass er der Generation eine Sprache gebe, die „von Anbeginn“ wieder leben musste.

Was anfangen? Wie und wo? Im Salzburger Bahnhof drängten sich Heimatlose, Vertriebene, Flüchtlinge. Mehr als 66.000 waren im Mai 1945 in die 85.000 Einwohner zählende Stadt gekommen: „ehemalige Kriegsgefangene, deutsche Armeeangehörige, Bombenevakuierte, Überlebende aus den Konzentrationslagern, Fremd- und Zwangsarbeiter, vertriebene Volksdeutsche, Reichsdeutsche, Angehörige faschistischer Verbände und Kollaborateure verschiedenster Nationalitäten, Staatenlose und Zivilisten auf der Flucht vor der Roten Armee“.15 Mehr als zwanzig Lager in Salzburg Stadt und Land nahmen die Massen mehr schlecht als recht auf. Im Lager Glasenbach, dem „Camp Marcus W. Orr“, saßen noch Anfang 1947 mehr als 8000 Menschen als Inhaftierte der amerikanischen Besatzungsmacht: ehemalige SS-Leute, Wehrmachtsangehörige und Parteifunktionäre, die auf ihre Verfahren warteten. Am 5. August 1947 – es war der Tag vor der „Danton“-Premiere – wurde das Lager feierlich an die österreichischen Behörden übergeben. 1948 verließen die letzten Internierten das Camp. Viel länger, bis zum Jahr 1956, hielt sich ein Lager südlich von Thurn, in Puch bei Hallein. Dort waren bis zu 1300 jüdische Flüchtlinge untergebracht, „Displaced Persons“, wie sie im kühlen Jargon der Zeit genannt wurden.

Die Festung stand noch, es gab – schon seit 1945 – wieder die Festspiele, über den Domplatz hallten die „Jedermann“-Rufe, und im Mirabellgarten blühten die Blumen wie je zwischen den plätschernden Brunnen. Doch „was nützt es“, fragte einer, der im Sommer 1947 durch die Festspielstadt streifte, „wenn sich ringsum auf die Bänke fast ausnahmslos Leute drücken, die nicht den freundlichen Anblick, sondern nur die Bank suchten, um ein Stündchen zu schlafen, ein paar Bissen zu essen und zu warten, bis es für sie Zeit ist weiterzugehen“.16 Weitergehen. Doch wohin?

Die „Dissonanzen“, notierte der nostalgische Festspielflaneur des Jahres 1947, „sind so grell und laut, daß du der stillen Harmonie der Stadt nicht mehr gewahr wirst, beim besten Willen nicht“.17 Die Zeit, „unsere Zeit“, sei „zerrissen von den Nachwehen des Krieges; täglich, stündlich prallen die Mächte von gestern mit jenen von morgen aufeinander“.18 Dieser Zeit, fand man, habe der nicht einmal dreißigjährige Komponist zum Ausdruck verholfen. Gottfried von Einem war der Mann der Stunde.

Doch was nahmen die Zeitgenossen wirklich wahr? Was machte diesen „Danton“ zum Ausdruck ihres Lebensgefühls? Sie hörten tatsächlich Dissonanzen – ein eher dem Boulevard zugehöriges Blatt wollte gar „grell aufeinanderstoßende Dissonanzen“ vernommen haben, „die in ihrer Härte dem Ohr des Hörers viel zumuten“.19 Die Expertenurteile sahen moderater aus – die Musikfachleute in den Kulturredaktionen notierten beflissen, dass Einems Musik mit Schönberg nicht das Geringste zu tun habe, sich von der Dodekafonie fernhalte und auch (sonst) nicht durch Kakofonie verstöre.20 Doch das war nicht der Punkt. Was als Dissonanz wahrgenommen wurde, war die Eigenständigkeit von Gesungenem und Gespieltem, von Stimme und Orchester. Sie schienen nicht mehr aufeinander bezogen, sie fügten sich nicht mehr ineinander, um kongruent, ja kommentierend füreinander da zu sein. Das fiel auf. Und die Musikkenner registrierten es wie die Laien. „Die Singstimmen auf der Bühne und die Instrumentalstimmen aus dem Orchester gehen durchaus eigene Wege, haben auch vollkommen getrennte Aufgaben, ja noch mehr als das, sie werden immer wieder zum Kampf gegeneinander geführt.“21

Dass Einem solchen „Kampf“ zuließ, dass er den Konflikt nicht glättete und das Gegensätzliche ohne harmonisierende Puffer aufeinanderprallen ließ, das wurde stark empfunden. Ja, mancher vermisste wohl den Seelenkitt der alten Oper. „Die Musik ist von erbarmungsloser Härte“,22 wurde gesagt, die „Glut des Herzens“ fehle,23 aber man ging weiter und sah genau in dieser kühlen Distanziertheit die Signatur der Zeit. Die „Verstandesklarheit“, die sich hier zeige – meinten die „Salzburger Nachrichten“ –, sei „das Wesen der Gegenwart, weil nahezu alle Werte zu blaß erscheinen, um sich für sie zu erwärmen“.24

Wenn aber Werte nicht mehr bindend sein konnten, was hielt das Ganze dann zusammen? Wo war, bei Einem und seinem „Danton“, der Dreh- und Angelpunkt? „Seine Durchführungsstrenge“, las man dazu, „wölbt über das Geschehen eine Kuppel von erbarmungslosem Fatalismus.“25 Fatalismus: Das war das Schlüsselwort, ein Wort, in dem die Zeit sich wiederfand: „(…) mit gellenden Posaunenstößen und schrill orchestrierten Akkorden schreitet das Fatum einher, ja es ist, als ob das unerbittliche Gesetz hörbar wird, das jede Revolution zwingt, ihre eigenen Kinder zu fressen.“26

Schicksal, Fatum, unerbittliches Gesetz – war es nicht genau so? Millionen Menschen hatten im Krieg sinnlos ihr Leben verloren, nun waren Millionen auf der Flucht, Displaced Persons und zerstörte Existenzen allerorten – und selbst die, die „noch einmal davongekommen“ waren, standen vor Abgründen. War es da nicht naheliegend, sich als Objekt zu sehen? Ausgeliefert einer dunklen Macht, einem undurchschaubaren Gesetz preisgegeben?

„Der Stoff ist hoch politisch, auch die Worte sind es“, hieß es in einem Beitrag der „Österreichischen Musikzeitschrift“ zu „Dantons Tod“ 1947. Und dann wurde, bezeichnend genug, das „hoch Politische“ im Fatalistischen gesehen: „(D)er Mensch ist Marionette, Spielball im Shakespearschen Sinne des ‚The world is a stage‘.“27 Doch man brauchte gar nicht erst zu Shakespeare zurückzugehen. Bei Georg Büchner selbst steht das Wort: Fatalismus! Er selbst wählte es, als er – in einem Brief an seine Verlobte – auf sein Drama „Dantons Tod“ zu sprechen kam. Und genau diese Passage stellte Gottfried von Einem seiner Partitur voran: „Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das Muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, stiehlt, mordet?“

So Georg Büchner 1834, zitiert von Gottfried von Einem 1947. Büchner war 21, als er das schrieb. Einem zählte 28, als er seinen „Danton“ beendete.

„Ich habe mit diesem Stück keine ‚Meinung‘ von mir geben wollen.“28 Diesen Satz schrieb der Komponist in einem Text nieder, der als Grundlage für die PR-Arbeit zur Opernpremiere gedacht war. Der Satz wurde noch im Manuskript gestrichen. Aber klar war, was er damit auszudrücken versuchte: dass er nicht Partei ergreifen wollte. Wie Büchner wollte er das Geschehen ablaufen lassen – hart und klar und ohne jede Illusion, dass an der brutalen Mechanik der Macht etwas zu ändern wäre durch Sentiment und Sympathie.

Das mag umso nähergelegen haben, als sich eben erst brutal erwiesen hatte, was es heißen konnte, (in der) Partei zu sein. Einems Oper hob stärker heraus, was in Büchners Drama angelegt ist: die Masse im Bann der Macht, ihre Manipulierbarkeit, ja ihre bodenlose Willfährigkeit, einmal für diesen, einmal für jenen Partei zu ergreifen. „Heil!“ Das „Volk brüllt“, so schrieben es Einem und sein Librettist Boris Blacher ausdrücklich ins Textbuch. In diesem Punkt gingen sie über Büchner hinaus. Zu stark gellten die Schreie noch in ihren Ohren.

Die ausdrückliche historische Parallele wagte er in jenem Kommentar, der im Mai 1947 an Hans Rutz ging, den für die Verlagsarbeit engagierten Autor. Es war ein vorläufiger Text, vertraulich hingeschrieben, auf dass Rutz das Ganze noch redigiere. „Robespierre“, heißt es hier, „sehe ich wie eine Art Hitler oder Stalin. Nicht ‚gut‘, nicht ‚schlecht‘.“29 Man war zweifellos gut beraten, den Satz so nicht an die Öffentlichkeit zu tragen. Denn allzu leicht wären die Anführungszeichen weggeblieben, und nur sie machten klar, worauf Einem hinauswollte. Das Grausame sollte nicht moralisierend gebrandmarkt werden, sondern sich erweisen, sich selbst demaskieren im Räderwerk der Macht.

„Ich wollte Wirklichkeit zeigen, beschönigen wollte ich sie nicht.“30 So fasst Gottfried von Einem seine Intention zusammen. Und weiter: „Wenn mein Stück dazu dient, den Menschen, die den inneren und äusseren Terror der letzten Jahre erlebt haben, die Augen über den Sinn dieses Erlebens zu öffnen (…), dann glaube ich, hat es seinen moralischen Sinn, abgesehen von seinem musikalischen, erfüllt.“ In diesen Schlusssatz verhakte sich der Widerspruch. Denn was wäre er wirklich gewesen, der „Sinn dieses Erlebens“? Die Einsicht in die Sinnlosigkeit? Erkenntnis des „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“, gemäß dem Büchner-Wort? Wissen ums „lächerliche Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich“?

Klarer wirkt da Einems Hinweis auf die Atmosphäre, die er aufnahm. „Damals, als ich die Oper komponierte, stand ich wie Millionen anderer Menschen in diesem Land unter einem fast unerträglichen seelischen Druck. Wir alle sassen wie in einem engen Raum mit schwitzenden Wänden, die noch dazu Ohren hatten. Ich glaube, meine Musik war unter dem Drang entstanden, mit ihren Mitteln zu sagen, was wir brauchen: Erlösung von der Angst, in der wir ständig leben! (…) Ständige Spannung, Schrei nach Erlösung von ihr, hält in Atem. Oft und oft habe ich mir vorgenommen, Pausen zu machen, Aufenthalte zu nehmen: es ging nicht. Ich stand wie gebannt unter dem Zwang des Stoffes. Das Werk brannte ab mit mir, mit meiner Musik.“31

Hier spricht der Künstler. Aus dieser Passage bricht das Element hervor, ohne das Kunst nicht packen kann: Feuer. Einem hatte es, und es loderte im „Danton“. Was an dieser Oper von Anfang an faszinierte, hatte viel mit der Spannung zu tun: Es war kalte Materie, die der Stoff bot, das eiskalte Spiel der Macht – aber gerade daran entzündete sich die Glut. Im jungen Einem ebenso wie im jungen Büchner. Er spürte die Nähe und sprach es aus: „Die fast archaisch wirkende Zeichnung der Büchnergestalten ermöglichte es mir, über die 100 Jahre weg dieses glühende Herz schlagen zu fühlen (…).“32

Eiskalt und feurig: Aus solchen Extremen nährt sich die Leidenschaft. Und darauf waren beide aus, Büchner wie Einem. Zielstrebig steuerte der junge Komponist darauf zu, und gleich im ersten Satz wählte er das Wort, als er seinen „Danton“ erläutern sollte. „Die Politik ist eine Leidenschaft wie jede andere. Wie Liebe, Hass. Jedenfalls wenn sie im Menschen brennt, (…) ihn über sich hinaushebt, ihn schliesslich vernichtet. Viele Leidenschaften brennen in den Opern der Weltliteratur ab. Nur selten die der Politik.“33 Mit der sogenannten „politischen Oper“, führt Einem aus, habe das nichts zu tun, nichts also mit Werken, in denen die Politik den Kontext und Hintergrund bilde. Einzig Mussorgskijs „Boris Godunow“ sei eine „Oper der politischen Leidenschaft“. Dorthin zog es auch ihn.

Politik als Leidenschaft – Theaterinstinkt und persönlicher Drang, Not und Affekt kamen da zusammen. Und einmal mehr war „brennen“ das passende Wort. „Ich liebte“, so Einem über seine Titelfigur, „die Fülle, die Vitalität, das gewisse laisser vivre des Danton, seinen abgründigen Hass gegen die vergottete Staatsgewalt. Derselbe Hass brannte in mir gegen eine Staatsmaschinerie, die alles Lebendige unter ihre Füsse trat um sich immer mehr zu erhöhen.“34

Der Büchner-Text aber, den Einem seiner Oper voranstellte, mündet in eine Frage. „Was ist das, was in uns lügt, stiehlt, mordet?“

Eine Frage von immenser Tragweite. Sie blieb offen – so wie „Dantons Tod“, als Oper der Stunde null, eine große Frage offenließ. Keine geringere als die, ob es sie nicht doch gegeben habe: die Verantwortung? Die moralische? Die ganz persönliche?

Dass sie offenblieb, mag Teil der Erfolgsgeschichte gewesen sein. Die Oper trat einen Siegeszug an, der quer durch Europa bis nach Amerika führte. Besonders stark war ihre Resonanz im Nachkriegs-Deutsch-land und -Österreich. Allein für die ersten zwanzig Jahre, bis 1967 also, verbucht die Aufführungsstatistik Produktionen in Salzburg und Wien/Staatsoper (1947), Brüssel und Hamburg (1948), Köln (1954), Kassel (1955), Bielefeld, München und Oldenburg (1956), Nürnberg (1957), Gelsenkirchen, Hannover und Münster (1958), Lübeck und Ulm (1959), Graz, Antwerpen und Düsseldorf (1960), Linz und Dortmund (1961), Berlin und Wien/Festwochen (1963), Detmold, Charleroi, Szeged und Wiesbaden (1964), Bordeaux (1965), Brünn, Kiel und New York (1966), Braunschweig, Magdeburg, Prag, Schwerin und Wien/Staatsoper (1967).35

Eine Frage blieb nicht offen. Die nämlich, wie es nach diesem fulminanten Anfang für den 29-jährigen Gottfried von Einem weitergehen sollte. „Die Uraufführung“, resümierte er später lapidar, „wurde entgegen vielen Voraussagen ein Erfolg. Im Anschluss daran wurde ich in die Salzburger Festspieldirektion berufen.“36

KEHRT HOFMANNSTHAL WIEDER? NEUBEGINN IN SALZBURG

Wo anfangen? Und wie? Wer beginnt, versichert sich gern und geht zurück: auf Anfänge, die schon geglückt sind. In Salzburg war es so. „Als man nach Beendigung des Krieges wieder daranging, den Salzburger Festspielen die internationale Bedeutung zurückzugewinnen, war es allen, die mit der Leitung der Geschicke dieses Unternehmens betraut wurden, klar, daß man wieder dort anfangen müsse, wo Reinhardt begonnen hatte.“37 Gottfried von Einem war es, der diesen Anfang so beschrieb – einen Anfang im Zeichen des Anknüpfens –, und er tat es in prominenter Funktion, als Sprecher des Ganzen.

Dazu passte, dass er Post dieser Art erhielt: „Herzlich Max Reinhardt“,38 grüßte ihn freundlich ein Briefschreiber. Der legendäre Regisseur und Mitbegründer der Salzburger Festspiele war schon 1943 gestorben – es konnte sich also nur um einen Gag handeln, und der war umso klarer, als jener „Max Reinhardt“ auch den Adressaten schon entsprechend titulierte: „Lieber Hofmannsthal!“ … Oscar Fritz Schuh war es, der hier als „Max Reinhardt“ unterschrieb, und Gottfried von Einem war der „liebe Hofmannsthal“. Eine kumpelhafte Maskerade, die tief blicken lässt – erst recht hinsichtlich der Rollenzuteilung. Dass Oscar Fritz Schuh, einer der großen Regisseure der Nachkriegszeit, sich als Reinhardt II. sah, liegt auf der Hand. Aber Gottfried von Einem? Hätte man ihn, den Komponisten, nicht eher als Richard Strauss II. sehen müssen? Man tat es nicht, ganz entschieden, und so spiegelt sich im Scherz der Ernst: Einem war als Ideengeber und Präzeptor der Festspiele wirklich mehr Hofmannsthal denn Richard Strauss, er war treibende Kraft und prägender Kopf in dieser Phase des Anfangs. Der 30-Jährige hatte Esprit und Energie, zündende Ideen und das Feuer, sie in Form gießen zu können. Große Erwartungen lagen auf ihm: „(L)angsam muss unsere ‚Clique‘ enger geschmiedet werden, sei Du der Schmied, ich kann mir keinen besseren vorstellen“, schrieb ihm der Bühnenbildner Caspar Neher Ende 1948. Salzburg, meinte er, „kann zu einem Weimar werden, des 20sten Jahrhunderts. Natürlich“ – auch der Nachsatz sollte wichtig bleiben – „darf man sich nicht täuschen über die verschiedensten Dinge.“39 Neher hatte 1947 die Uraufführungsproduktion des „Danton“ ausgestattet, Schuh war der Regisseur gewesen. Drei Künstler hatten sich hier gefunden, die nach dem „lichterlohen Moment“ des Anfangens zusammenbleiben und zusammenwirken wollten. Sie waren der Kern der „Clique“, die Salzburg, nach ihren Vorstellungen, zu einem neuen geistigen Zentrum machen wollte.

Ein Weimar des 20. Jahrhunderts? Auch mit dieser Vision folgte man den Spuren Reinhardts und Hofmannsthals, denn auch Hofmannsthal hatte, als er anfing in Salzburg, die Verbindung zu Weimar, dem Zentrum der deutschen Klassik, gesucht. Doch noch weiter und tiefer ging das Verbindende der Festspielschöpfer von einst und jetzt. Prägend war, für die einen wie für die anderen, die Nachkriegssituation. Als „eminentes Friedenswerk“40 sah Reinhardt das Festspielprojekt schon 1917, noch mitten im Ersten Weltkrieg, und Hofmannsthal betonte 1919 die europapolitische Komponente. Der Glaube an Europa, schrieb er, sei „das geistige Fundament unseres geistigen Daseins“.41 Sätze und Überzeugungen, in denen sich auch Reinhardt II. und Hofmannsthal II., Schuh und Einem, wiederfinden konnten.

Das „Friedenswerk“ der Salzburger Festspiele 1945 freilich war zum wesentlichen Teil ein Projekt der Amerikaner. Am 4. Mai – vier Tage vor der Kapitulation Deutschlands – wurde Salzburg kampflos an die amerikanischen Truppen übergeben. Die Besatzungsmacht maß den Festspielen hohe Bedeutung bei. Die Wiederbelebung des musikalischen Lebens und besonders des Festivals sei eine exzellente Idee, hieß es in einem Expertenbericht, der den Verantwortlichen im Juni 1945 vorgelegt wurde: „It will be most useful to strengthen the morale of the people. The population of Salzburg is very proud of their tradition and will take the hardships of the present time more easily if they have their music back.“42 Mehr improvisiert als geplant fanden schon im August 1945 die ersten Nachkriegsfestspiele in Salzburg statt. Die amerikanische Nationalhymne leitete den Eröffnungsabend ein, den der Oberkommandierende der amerikanischen Streitkräfte in Österreich, General Mark W. Clark, zu einer Grundsatzrede nützte: „Österreich“, sagte er, „wird von den Vereinten Nationen die Gelegenheit gegeben, die Freiheit und Unabhängigkeit zurückzugewinnen und sich einen ruhmvollen Platz in der Gemeinschaft der friedlichen Nationen der Welt zu erwerben. (…) Alle Verbindungen zwischen Österreich und dem nationalsozialistischen Deutschland, welches im Jahre 1938 Österreich überrannte, sind jetzt aufgelöst.“43 Damit wurde, per Oberkommando, schon jetzt der Schlussstrich gezogen. Stunde null in Salzburg. Das neue Österreich durfte beginnen, als hätte es das alte nicht gegeben.

Ohne die Amerikaner, um es so pauschal zu sagen, wäre auch „Dantons Tod“ nicht zu den Salzburger Festspielen gekommen. Die volten- wie anekdotenreiche Vorgeschichte der Premiere gipfelt darin, dass Einem im Chef des Counter Intelligence Corps der amerikanischen Militärregierung einen entscheidenden Förderer fand. Gale M. Hoffman, Leiter des CIC in Österreich und damit an oberster Stelle zuständig für Feindabwehr, schloss auf Anhieb Freundschaft mit dem jungen Komponisten. 1946 war das. Und zügig ging es nun weiter, in atemberaubendem Tempo Richtung Festspielpodium. Der in Salzburg ansässige Hoffman machte den Komponisten mit zwei amerikanischen „Kulturoffizieren“ bekannt, die damals das europäische Terrain sondierten und Expertenratschläge gaben. Sie befürworteten entscheidend die Uraufführung des „Danton“ bei den Festspielen 1947. Es waren – auch das lässt sich pointiert sagen – ebenfalls die Amerikaner, die Gottfried von Einem künstlerisch zum Österreicher machten. Denn eigentlich hätte es auch ganz anders kommen können. „Dantons Tod“, ursprünglich für die Sächsische Staatsoper Dresden gedacht, mit der Einem vertraglich verbunden war, sollte nach dem Krieg in Zürich herauskommen. Noch Ende 1945 rechnete der Komponist damit, und den Regisseur hatte er schon an der Hand: Oscar Fritz Schuh. Auch Caspar Neher, mit dem Schuh schon früher zusammengearbeitet hatte, wurde bereits 1945 für den „Danton“ geworben. Der Zürich-Plan scheiterte – allein schon an gewaltigen Reisehindernissen, und so schrieb Einem im November 1946 an Neher: „Wenn es hier in Oesterreich ist (da ich bis heute trotz 6-facher Ministerbefürwortung noch nicht die oesterreichische Ausreise in die Schweiz erhalten habe!) wird Schuh die Inszenierung machen und voraussichtlich Karajan die musikalische Leitung haben. Nun die Frage, hätten Sie Lust und Zeit, die Ausstattung zu übernehmen.“44 Die Antwort folgte prompt: „Selbstverständlich will ich Ihr Stück machen und ich freue mich darauf.“45 Bei der Premiere stand dann ein anderer am Pult. Statt Karajan war Otto Klemperer vorgesehen, der sich allerdings – gesundheitsbedingt, wie es hieß – nach den ersten Proben zurückzog. Der junge Ferenc Fricsay sprang ein und feierte mit dem „Danton“ einen beeindruckenden Einstandserfolg.

So wurde „Dantons Tod“, unverhofft, zum Aushängeschild der zeitgenössischen Musik in Österreich und zum Fanal des Neuen bei den Salzburger Festspielen. Und Gottfried von Einem, ebenso unverhofft ins Festspieldirektorium berufen, übernahm die Rolle, nicht nur das Neue zu propagieren, sondern auch das Österreichische. Ein zweiter Hofmannsthal, auch darin? Das Muster, das der Dichter vorgab, hatte wohl bedenklich Patina angesetzt. „Musikalisch theatralische Festspiele in Salzburg zu veranstalten, das heißt: (…) den Urtrieb des bayrisch-österreichischen Stammes gewähren lassen“46 – so Hofmannsthal in einer Diktion, die nicht mehr der Ton nach 1945 sein konnte. Aber es galt auch jetzt, das Österreichische herauszustreichen – umso mehr, als die Festspiele, von den USA gefördert, als Plattform dienen durften, ein österreichtaugliches und wohl auch konvenierendes Geschichtsbild zu errichten. Wie hatte es doch General Clark formuliert? „Alle Verbindungen zwischen Österreich und dem nationalsozialistischen Deutschland, welches im Jahre 1938 Österreich überrannte, sind jetzt aufgelöst.“

„Der Festspielgedanke“, Einems Grundsatztext von 1949,47 suchte jedenfalls das Salzburg- und Österreich-Spezifische – auch das in Anlehnung an die Gründerväter. „Als vor nunmehr 27 Jahren die führenden Männer, denen wir die Existenz der Salzburger Festspiele verdanken, das geistige Konzept für Salzburg niederlegten, da schien ihnen die Linie durch die lokale Struktur Salzburgs, seiner (sic!) Landschaft, seiner Architektur, seines besonderen geistigen Klimas vorgezeichnet.“ Leider, so Einem, sei die hier vorgezeichnete Linie „nur in den ersten Jahren ganz konsequent“ festgehalten worden. Auch und gerade dadurch, „daß man etwa die Werke Wagners, die sich nun einmal nicht in die Landschaft einfügen, dem Spielplan einverleibt hat“, sei „ein beträchtlicher Stilbruch entstanden, über den auch aller äußerer Glanz nicht hinwegtäuschen konnte.“48 Das war ein starker Satz, der über Stilfragen hinausging. Dass Wagner nicht „in die Landschaft“ passe, ließ auf seine Weise anklingen, dass man (wieder) frei sein wollte vom großmächtigen Deutschland.

Es war, wie sich zeigen sollte, für die Neuen in Salzburg eine ähnlich schwierige Aufgabe wie für die Alten: die Balance zu finden zwischen dem Lokalen (das nicht provinziell sein durfte), dem Nationalen (das nicht eng sein sollte – und von dem nicht klar war, wie „deutsch“ es sein durfte) und dem Internationalen (das nicht ins Beliebige abdriften sollte). Hofmannsthal II. und Reinhardt II. hatten hier viel zu diskutieren. Nach dem Ende der Festspiele 1949 schrieb Schuh an Einem: „Ich habe lange nachgedacht über Salzburg. Unser einziger Fehler ist, glaube ich, daß wir noch nicht genügend international sind. Deshalb haftet unserer Arbeit immer noch eine gewisse deutsche Komponente an, ein Schritt weiter und man ist beim Sektierertum (wie Orff).“49

Das Wir-Gefühl der Neuerer strahlte kräftig aus. „Unsere Stärke war bisher“, schrieb Schuh Anfang 1950 an Einem, „daß wir einen Willen hatten und darum haben wir es bis zu einem hohen Ziel geschafft (…)“.50 Wir: Das waren im Kern jene drei, die den „Danton“ auf die Bühne gebracht hatten, Gottfried von Einem, Oscar Fritz Schuh und Caspar Neher – eine eingeschworene Gemeinschaft, die viel bewegte in der Szenerie der frühen Nachkriegsjahre. Sie erreichte, tatsächlich, ein „hohes Ziel“. Oscar Fritz Schuh fasste ihr Wirken 1951 zusammen – in einer Schrift, die dem Ganzen den schlagkräftigen Namen gab: „Salzburger Dramaturgie“.

Am Anfang stand – Schuh hebt es hier klar heraus – Einems Oper. „Die Annahme dieser Oper“, schreibt Schuh, „war eine Genietat. Mit einem Mal war ein neuer Weg gewiesen und der Anschluß an die Gegenwart gefunden. Es war die richtige Erkenntnis, daß ein Theater, das sich nicht kontinuierlich mit dem Schaffen seiner Generation konfrontiert, museal bleiben müsse.“51

Und fast schon nostalgisch blickt Schuh – nur vier Jahre später – auf die Premiere von 1947 zurück: „Die Arbeit an diesem Werk war von seltener Harmonie, und ich erinnere mich wohl kaum, jemals wieder eine solche Probenatmosphäre gefunden zu haben wie gerade damals, in einer Zeit, wo man in Salzburg noch unter den schwersten Folgen der Nachkriegszeit zu leiden hatte. Aber der Geist und der Zusammenhalt waren in diesen Jahren wie niemals mehr später.“52

So wird Geschichte geschrieben. Der Erzählung vom glückhaft-günstigen Augenblick stellt Schuh die Rede vom Fatum gegenüber. In seiner inhaltlichen Erläuterung bestätigt er die fatalistische Lesart, die unter den Premierengästen des „Danton“ vorherrschte. „Man kann“, so auch Schuh, „diese Ausweglosigkeit Schicksal nennen (…).“ Wenn hier von Schuld zu sprechen sei, dann, ließ Schuh durchblicken, nicht im Sinne persönlicher Verantwortlichkeit, sondern „als metaphysisch im Sinne Kafkas“. Eher wollte er von der Stimmung reden. „Man merkt: dem Komponisten saßen noch die Schrecken der jüngsten Vergangenheit im Genick, deshalb wurde auch durch ihn Büchner wieder so gegenwartsnahe (…). Die ‚böse Zeit‘, von der Lucile spricht, ist mit Mitteln des modernen Theaters faszinierend und eindringlich gestaltet.“ 53

Entscheidenden Anteil am Erfolg der „Danton“-Produktion sprach Schuh auch Caspar Neher zu. Er habe ein „nicht zu übertreffendes Bühnenbild“ geschaffen, eindringlich in seiner „Sparsamkeit“: einen großen, grauen Raum, in der Mitte ein Spielpodium, die Zimmer nur durch Paravents angedeutet. „Keine ‚Dekors‘ im üblichen Sinne, sondern eine Bühne, die erst zur Bühne wurde, wenn die Menschen sie betraten.“54 Neher selbst hatte schon in der Sonderpublikation, die Einems Verlag zur Premiere vorlegte, in diesem Sinn Stellung bezogen. „Es gelten wie in jedem anderen Kunstzweig auch die Regeln, dass man mit den wenigsten Mitteln das Meiste zu erreichen trachtet.“55 Dem entspreche, was er von Seiten des Publikums wahrnehme. Der Zuschauer von heute – jener also, der die Kriegszeit erlebt habe – sei „der Übersättigung des Sehens müde“, und zur „Erschütterung der Nerven“ brauche er nicht mehr das Theater. Im Gegenteil: „Es drängte ihn zur Klarheit und zum Trost bei seinen Dichtern.“56 Im Fall des „Danton“ zielte Nehers Klarheit, dem Werk gemäß, auch auf Trostlosigkeit: eine Unmittelbarkeit der Beklemmung. „Man fühlt“, so Einem im März 1947 zu Nehers Entwürfen, „die Wände vor Angst und Grauen schwitzen …“57

Direktheit und Schnörkellosigkeit, Gedankenpräzision und Konzentration aufs Wesentliche – mit solchen Qualitäten war Caspar Neher, der Brecht-Freund seit Jugendtagen, schon zu einer prägenden Figur des Brecht’schen Theaters geworden. Schon damals, vor dem Krieg, war es um Gegenentwürfe zu Illustration und Illusion gegangen. Nehers Theaterbilder mieden die Untermalung wie die Übermalung, sie führten, im Einklang mit Brechts Ästhetik, weg vom expressionistischen Schwulst wie von impressionistischer Stimmungsmache.

Jetzt, nach dem Zweiten Weltkrieg, war dieser antiillusionistische Ansatz neu gefragt. Er griff auf, was man soeben erst erlebt hatte … War man nicht Illusionen aufgesessen? Hatte sich täuschen lassen? War Lügnern nachgelaufen?

Es gab, zeitbedingt, einen großen Drang zu Nüchternheit und Leere, den Wunsch inklusive, nach all dem noch kaum Begriffenen Tabula rasa zu machen. Caspar Neher war einer – so drückte es Rolf Liebermann aus –, „der die Bühne abgeräumt hat“.58 Das tat auf seine Weise auch Wieland Wagner im Bayreuth der Nachkriegsjahre. Die Voraussetzungen waren andere, die Ästhetik von Wieland Wagner war nicht die von Neher. Aber hier wie da kam das Zeitbedürfnis zum Ausdruck. Es musste abgeräumt werden.

Damit stand auch die Romantik auf dem Prüfstand. Sie war suspekt geworden – es konnte nicht anders sein, hatte doch die Nazi-Ideologie zu sehr auf der Klaviatur des Romantischen gespielt. In Schuhs „Salzburger Dramaturgie“ findet sich der Satz dazu: „Jene dubiose, unzeitgemäße ‚stählerne Romantik‘ der nationalsozialistischen Kunstauffassung landete nicht ohne Grund in der Dämonisierung.“59 Man ging auf Distanz dazu und suchte auch da einen neuen Anfang: mit Mozart. Schuhs Mozart-Inszenierungen mit Neher als Ausstatter waren Feste der Luzidität und Manifeste der Anti-Romantik. Das 19. Jahrhundert war ins Zwielicht geraten – vor allem Wagner, die Galionsfigur, und klar war jedenfalls, dass „das romantisierende Illusionstheater Bayreuther Prägung mehr und mehr ein musealer Anachronismus zu werden beginnt“.60 Während man auf dem Grünen Hügel noch auf Wieland wartete, war Salzburg schon weiter und nah am Puls der Zeit.

Freilich: Das Kapitel war damit keineswegs abgeschlossen. Es blieb eine Herausforderung, ja Lebensaufgabe für die Generation Gottfried von Einems, das „Romantische“, mit dem sie groß geworden war und das, so oder so, auch in ihr steckte, zu hinterfragen, zu beleuchten und neu zu integrieren. Fürs Erste aber dominierte der antiromantische Zug. Und die „Danton“-Musik war danach. Man hörte „Verstandesklarheit“ und „erbarmungslose Härte“, man nahm wahr, dass da einer auf glasklare Nüchternheit aus war und auf den vermittelnden Kitt (wie den Kitsch) verzichtete. Diese Kunst versagte sich – wie dem Hörer – den Sog zur Identifikation. Sie sperrte sich gegen den als faul verdächtigen Zauber der Illusion.

Die „Sparsamkeit der theatralischen Mittel“, so formulierte es Schuh, solle der „restlosen Vermenschlichung der Darstellung“ dienen.61 Es ging um einen neuen Humanismus. Der Mensch musste neu gesehen, neu erfahren werden, seine Anmut und Würde, seine „Natürlichkeit“62 waren neu zu entdecken: Das war ein elementares Bedürfnis der Jungen, die aus dem Dunkel der Barbarei wieder (oder überhaupt erst) ans Licht finden wollten. Gottfried von Einem empfand es stark. Und mehr noch: Den „Menschen“ zu finden, ihn zu entdecken und zu berühren war eine Triebkraft seines Schaffens. Wie sehr es ihn drängte (und auch bedrängte), zeigt sich in einem Brief an Schuh: „Kaum einer der Opernskribenten weiss um was es geht, kaum einer hat Mut und Kraft genug an das zu glauben, was er schreibt und an den für den er schreibt. Und er hat nur für einen zu schreiben, den Menschen, nicht den Bürger, nicht den Proletarier. Der Mensch! Der Mensch ist etwas, das wenn es gut, d.h. liebevoll behandelt wird, unglaublich leicht sich öffnet und beeinflussbar wird.“63

Das Wort „liebevoll“ hatte er unterstrichen. Man kann, im Blick auf sein Leben, die Hervorhebung kaum überschätzen. Das Feuer brannte stark in ihm und griff oft auch lodernd und sengend auf andere über. Aber in ihm war ein tiefes Bedürfnis, das Element in seiner förderlichsten Dimension zu spüren: als Wärme. „Mein Verlangen“, heißt es in Einems Selbstbiografie, „war auf das gerichtet, was ich in meiner Jugend nicht bekommen konnte – ein bißchen Wärme und Freundlichkeit.“64 Seine Salzburg-Zeit war geprägt davon, in allen Facetten. Ins Ende mischte sich ein herbes Maß an Enttäuschung und Verbitterung, Kränkung und kraftraubendem Aufbegehren. Aber der Anfang stand im Zeichen der Freundschaft. Das „Wir“, das die Clique des Neubeginns so innig betonte, war Ausdruck nicht nur künstlerischer Übereinstimmung, sondern menschlicher Nähe.

Einems Verlangen nach „Wärme und Freundlichkeit“ wurde gestillt – besonders in der Beziehung zu Caspar Neher. Nehers Briefe an Einem spiegeln, durch alle künstlerischen Fragen hindurch, eine zarte Fürsorglichkeit. Der mehr als zwanzig Jahre Ältere nahm Anteil und zeigte Nähe, er wusste viel von Einems innerer Welt und nahm sensibel wahr, wie er lebte. Einems Frau Lianne war in diese Gedanken ebenso eingeschlossen wie das Kind der beiden, das 1948 zur Welt kam. Neher war ein väterlicher Freund für Gottfried von Einem. Und so nannte dieser, als er selbst Vater wurde, seinen Sohn nach jenem: Caspar. Die Freundschaft mit Neher hielt ein Leben lang. Und mehr noch: Sie wurde – Einem erlebte es so – im Sterben bekräftigt. „Ich saß bei ihm, als es mit ihm zu Ende ging“, erinnerte er sich an Nehers Tod 1962. „Er war bewußtlos, öffnete noch einmal die Augen und sagte: ‚Lieber‘. Das war sein letztes Wort, und er verstarb in meinen Armen.“65

Einems Beziehung zu Oscar Fritz Schuh war weniger von Herzensinnigkeit getragen als von geistiger Übereinstimmung. In der Korrespondenz der beiden steckt funkelnder Esprit wie gefinkelte Strategie. Der 1904 geborene Münchner war ein charismatischer Intellektueller mit herrlicher Formulierungsgabe – als solcher gab er Tipps wie jenen, den Einem, sicher amüsiert, 1954 von ihm lesen konnte: „Fordere statt Kompetenzen eine hohe Gage, dann kriegst Du die Kompetenzen ganz selbstverständlich.“66 Schuh machte ihn auch mit seinem persönlichen Arbeit- und-Energie-Prinzip vertraut: Vier Fünftel des Aufwands seien nötig, um die Voraussetzungen der Arbeit zu schaffen. Wenn das geleistet sei, brauche die eigentliche Arbeit nur das letzte Fünftel. So agierte er auf der Bühne als phänomenaler Regisseur und hinter den Kulissen als gewiefter Taktiker. „Es wird jetzt unsere Sache sein“, schrieb er 1950 an Einem, „(…) Wendigkeit und politische Geschicklichkeit zu beweisen. Wir müssen heute aus Künstlern zu Politikern werden.“67

Einem hatte zweifellos Talent zur Politik – seine Begeisterungsfähigkeit prädestinierte ihn ebenso dazu wie sein weiter geistiger Horizont, seine Eloquenz und intellektuelle Brillanz. Dem lief zuwider, dass er sich der Wendigkeit verschließen konnte, ganz bewusst und beharrlich, konsequent bis zu jenem Anschlagpunkt, den andere, die Wendigeren, einfach Sturheit nannten. An solchen Differenzen nahm schließlich auch die Freundschaft zwischen Schuh und Einem Schaden. Es ging um einen Dirigenten, von dem Schuh einst geschrieben hatte: „Er ist ja doch der einzige“,68 bevor er ihm das keck-böse Wort vom „falschen Rasputin“69 umhängte und ihn bekämpfte. Später aber wollte er doch wieder auf eine Linie mit ihm kommen … Diese letzte Wende machte Gottfried von Einem nicht mit. Der Besagte blieb ein rotes Tuch für ihn, er war für ihn erledigt: Herbert von Karajan.

CLINCH STATT CLIQUE. EINEM UND KARAJAN

„Langsam muss unsere ‚Clique‘ enger geschmiedet werden“, hatte Caspar Neher 1948 an Gottfried von Einem geschrieben und ihn aufgerufen: „(S)ei Du der Schmied“. Zu diesem Kreis müsse noch „ein guter junger Dirigent“ gehören, „den wir managen müssen“, meinte Neher und nannte mögliche Kandidaten: „Wenn Fricsay klug genug wäre, wäre er es, vielleicht ist es Erede.“70 Alberto Erede war es nicht, der Name war denn doch zu weit hergeholt, und Fricsay, der mit der bravourös geleiteten „Danton“-Premiere seine Visitenkarte abgegeben hatte, wurde von der „Clique“ kritisch gesehen. Auf den jungen Ungarn wollte man nicht zählen. Wenn die Projekte, die Einem mit Schuh und Neher plante, wirklich Erfolg haben sollten, brauchte man den großen Dirigentennamen. Damit freilich war klar – und es konnte gar nicht anders kommen –, dass die Clique in jenen Clinch geriet, der die europäische Dirigentenszene der frühen Nachkriegsjahre beherrschte: Karajan gegen Furtwängler. Salzburg war ein Hauptschauplatz des Diadochenkampfs. Und Einem fand sich mitten im Ring wieder.

Am Anfang stand der Name Karajan. Nicht nur Schuh meinte, dass er „doch der einzige“ sei, auch Einem wollte ihn für seine Oper haben. Definitiv. „Hat Karajan Ihnen über Triest geschrieben?“, wollte Einem im Dezember 1945 von Schuh wissen. „Er war recht über die Möglichkeit, mit Ihnen zu arbeiten, erfreut. Hoffentlich wird etwas daraus. Ich sprach mit ihm (bindend, falls es sich ermöglichen lässt) über die Urauff.(ührung) des Danton anlässlich der Festwochen heuer in Zürich und, dass ich mir Sie als Inszenator wünsche (…).“71

Bindend, falls es sich ermöglichen lässt … Als die Uraufführung des „Danton“ am 6. August 1947 möglich wurde – nicht in Zürich, sondern in Karajans Geburtsstadt Salzburg – stand der Wunschdirigent nicht am Pult. Warum?

Fakt war zunächst einmal, dass über Karajan ein Auftrittsverbot verhängt worden war, das erst im Spätsommer 1947, also nach der „Danton“-Premiere, aufgehoben wurde. Der als NSDAP-Mitglied belastete Dirigent hatte zwar schon am 12. Januar 1946 ein erstes Konzert in Wien dirigieren können, doch die Genehmigung, von einem amerikanischen Kulturoffizier erteilt, wurde von sowjetischer Seite zurückgenommen und das Nachfolgekonzert spektakulär verboten. Um sicherzugehen, umzäunten die Russen den Wiener Musikverein und ließen Soldaten aufmarschieren. Seither wartete Karajan darauf, wieder ans Pult gelassen zu werden – ungeduldig. Bei den Salzburger Festspielen 1946 holte er sich einen Verweis, weil er sich „als künstlerischer Berater der Direktion“ zu aktiv in die – eigentlich von Hans Swarowsky geleitete – „Rosenkavalier“-Produktion eingemengt habe. Schließlich soll er, verdeckt, vom Souffleurkasten aus dirigiert haben.72 Vergeblich versuchte man, seine Wiederzulassung für die Festspiele 1947 zu erwirken. „Since Mr. Furtwängler is not available at the time, the Salzburg Festivals are badly in need of a highly qualified conductor of operas and symphony concerts“, hieß in einem Schreiben vom Januar. „In both respects Mr. v. Karajan is the man best fitted for the job.“73

Am 21. Mai 1947 ergriff auch Einem das Wort und gab eine eidesstattliche Erklärung pro Karajan ab: „Herbert von Karajan“, so Einem, „ist mir seit seinem ersten Auftreten in Berlin 1938 bekannt. Ich konnte die Vorgänge um seine Person aus unmittelbarer Nähe beobachten, da ich Korrepetitor an der Berliner Staatsoper war. Ich war Zeuge seines grandiosen Aufstieges, der selbst den weitesten Publikumskreisen niemals als Folge einer Parteiprotektion, sondern als unmittelbare Auswirkung seiner künstlerischen Fähigkeiten erschien.“ 1942 – diesen Umstand hebt Einem besonders hervor – seien Gerüchte umgegangen, „dass Herbert von Karajan sich mit einer Frau verheiraten wolle, die nach Nazibegriffen nicht ‚arisch‘ war. Seine Neider, die bis dahin noch keinen passenden Grund gefunden hatten, um seiner organisch wachsenden Karriere Einhalt bieten zu können, hatten nun endlich die Handhabe dafür.“

Was konkret daraus folgte, gibt Einem in indirekter Rede wieder – darin findet sich, als Aussage des Dirigenten kenntlich gemacht, auch die erstaunliche Behauptung, Karajan sei aus der NSDAP ausgetreten: „Das nächste Ereignis sei eine Vorladung vor das Parteigericht gewesen, man habe ihm erklärt, dass er nach den Gesetzen der Partei nach seiner Heirat nicht mehr Mitglied sein könne, er habe daraufhin seinen Austritt erklärt. Von diesem Zeitpunkt an“, so Einem weiter aus eigener Wahrnehmung, „begann eine selbst den uneingeweihten Publikumskreisen offensichtliche und systematische Diffamierung seiner Person und eine radikale Restriktion seiner Karriere. (…) Was Herbert von Karajan am schmerzlichsten traf, war die Tatsache, dass er als Salzburger nie zur Mitwirkung bei den dortigen Festspielen eingeladen wurde, ebensowenig wie nach Wien.“74

Mit diesem Schlusssatz hatte Einem den Bogen deutlich gezogen und nicht nur die Aufhebung des Dirigierverbots für Karajan nahegelegt, sondern auch, geradezu verpflichtend als Akt der Wiedergutmachung, seine längst fällige Einladung zu den Salzburger Festspielen. Was folgte daraus in der Beziehung zwischen dem Komponisten und dem Dirigenten?