Der erste schwarze Präsident der USA: Für viele Afroamerikaner war mit Barack Obama die Hoffnung auf das Ende der weißen Vorherrschaft verbunden, die das Land seit seiner Gründung prägt. Die Reste dieser Hoffnung zerschlugen sich mit der Machtübernahme Donald Trumps, den Ta-Nehisi Coates als »Amerikas ersten weißen Präsidenten« bezeichnet: ein Mann, dessen politische Existenz in der Abgrenzung zu Obama besteht. Coates’ neues Buch ist ein bestechend intelligentes, unverstellt persönliches und leidenschaftliches Porträt der Obama-Ära und ihres historischen Vermächtnisses – ein essenzielles Werk zum Verständnis der amerikanischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, geschrieben von einem Mann, dessen eigene Geschichte jener acht Jahre in einem Arbeitsamt in Harlem begann und im Oval Office endete, wo er den Präsidenten interviewte.

 

Hanser Berlin E-Book

TA-NEHISI COATES

 

WE WERE EIGHT YEARS IN POWER

 

EINE AMERIKANISCHE TRAGÖDIE

 

Aus dem Englischen von Britt Somann-Jung

 

 

Hanser Berlin

 

 

Für Kenyatta, Tom, Nikola und Amelie,

die mit mir in die Tiefe gegangen sind

und mich wieder ans Ufer geleitet haben

 

 

We don’t just shine, we illuminate the whole show.

 

Jay-Z

 

 

INHALT

 

 

Einleitung: We were eight years in power

 

1.

Notizen aus dem ersten Jahr

»So haben wir gegen den weißen Mann verloren«

 

2.

Notizen aus dem zweiten Jahr

American Girl

 

3.

Notizen aus dem dritten Jahr

Warum befassen sich so wenige Schwarze mit dem Bürgerkrieg?

 

4.

Notizen aus dem vierten Jahr

Das Vermächtnis von Malcolm X

 

5.

Notizen aus dem fünften Jahr

Angst vor einem schwarzen Präsidenten

 

6.

Notizen aus dem sechsten Jahr

Plädoyer für Reparationen

 

7.

Notizen aus dem siebten Jahr

Die schwarze Familie im Zeitalter der Masseninhaftierung

 

8.

Notizen aus dem achten Jahr

Mein Präsident war schwarz

 

Epilog: Der erste weiße Präsident

 

Danksagung

Nachweise

 

 

EINLEITUNG

 

WE WERE EIGHT YEARS IN POWER

 

1895, ZWEI JAHRZEHNTE nachdem sein Bundesstaat den Weg von der egalitären Erneuerung der Reconstruction-Ära hin zu einer unterdrückerischen Politik der »Wiedergutmachung« gegangen war, wandte sich der Kongressabgeordnete Thomas Miller aus South Carolina an die verfassunggebende Versammlung des Staates:

 

Wir waren acht Jahre an der Macht. Wir haben Schulen gebaut, Wohltätigkeitseinrichtungen gegründet, das Strafvollzugssystem errichtet und unterhalten, für die Bildung von Taubstummen gesorgt, die Fähren wieder in Betrieb genommen. Kurzum, wir haben den Staat wiederaufgebaut und den Weg zu neuer Blüte bereitet.

 

Mit Beginn der 1890er Jahre war das vorherrschende Bild der Reconstruction das einer durch und durch korrupten Ära der »Negerherrschaft«. Es hieß, South Carolina laufe Gefahr, »afrikanisiert« zu werden und in Barbarei und Unrecht zu versinken. Miller hoffte, dass er, indem er die schwarzen Regierungsleistungen herausstellte und auf überzeugende Weise von schwarzer Rechtschaffenheit berichtete, die zweifellos unvoreingenommenen Einwohner South Carolinas davon überzeugen könnte, die Bürgerrechte der Afroamerikaner unangetastet zu lassen. Sein Plädoyer fand kein Gehör. Die Verfassung von 1895 verlangte schließlich sowohl einen Nachweis über die Lese- und Schreibfähigkeit als auch Grundbesitz als Voraussetzung für die Wahlberechtigung. Als sich diese Maßnahmen als unzureichend erwiesen, um die white supremacy – die weiße Vorherrschaft – zu sichern, wurden schwarze Bürger erschossen, gefoltert, verprügelt und verstümmelt.

Im Zuge seiner Bewertung von Millers Einspruch und der Versammlung von 1895 machte W. E. B. Du Bois eine ernüchternde Beobachtung. Aus Du Bois’ Perspektive ging es der verfassunggebenden Versammlung von 1895 nicht um moralische Reform oder den Versuch, den Staat von der Korruption zu befreien. Dies war nur der Deckmantel für das wahre Ziel der Versammlung – eine weiße Willkürherrschaft wieder einzusetzen. Das Problem war nicht, dass South Carolinas Regierung während der Reconstruction-Ära von einer nie dagewesenen Bestechlichkeit verzehrt worden wäre. In Wahrheit war genau das Gegenteil der Fall. Die Erfolge, die Miller herausstellte, die tatsächliche Bilanz der Reconstruction in South Carolina, untergruben die weiße Vorherrschaft. Um sie wiederherzustellen, wurde die Bilanz verdreht, verhöhnt und verzerrt, bis sie den Vorurteilen des weißen South Carolina besser entsprach. »Wenn es etwas gab, das South Carolina mehr fürchtete als eine schlechte Negerregierung«, schrieb Du Bois, »dann war es eine gute Negerregierung.«

Die Furcht hatte einen Vorläufer. Gegen Ende des Bürgerkriegs, nachdem sie Zeuge der Effektivität der »farbigen Truppen« der Union geworden waren, zogen die in hilflosen Aktionismus verfallenden Konföderierten Staaten in Erwägung, Schwarze für ihre Armee zu rekrutieren. Doch im 19. Jahrhundert war das Bild des Soldaten eng mit Vorstellungen von Männlichkeit und Staatsbürgerschaft verknüpft. Wie konnte eine Armee, die gebildet worden war, um die Sklaverei mit allen damit einhergehenden Annahmen über schwarze Minderwertigkeit zu verteidigen, eine Kehrtwende machen und erklären, dass Schwarze es wert seien, in die Ränge der Konföderierten aufgenommen zu werden? Und tatsächlich konnte sie es nicht. »Der Tag, an dem wir sie zu Soldaten machen, ist der Anfang vom Ende unserer Revolution«, bemerkte Howell Cobb, Politiker aus Georgia. »Und wenn sich Sklaven als gute Soldaten erweisen, dann ist unsere ganze Theorie der Sklaverei falsch.« Für die weiße Vorherrschaft gab es hier nichts zu gewinnen. Wenn Schwarze sich als die Feiglinge herausstellten, die sie jener »ganzen Theorie der Sklaverei« zufolge waren, dann würde die tatsächliche Schlacht auf dem Feld verloren gehen. Sollten sie hingegen effektiv kämpfen – und damit den Nachweis einer »guten Negerregierung« erbringen –, dann konnte der grundlegendere Krieg nicht gewonnen werden.

Den roten Faden dieses Buches bilden acht Artikel, die ich in den acht Jahren der ersten schwarzen Präsidentschaft geschrieben habe – einer Zeit guter Negerregierung. Obama wurde inmitten umfassender Panik gewählt und ging aus seinen acht Jahren als guter Sachwalter und umsichtiger Baumeister hervor. Auf der Basis eines konservativen Modells errichtete er das Gerüst einer staatlichen Gesundheitsversorgung. Er verhinderte den ökonomischen Kollaps und unterließ es, jene zu verfolgen, die für diesen Kollaps die Hauptverantwortung trugen. Er beendete die staatlich sanktionierte Folter, führte jedoch den seit Generationen währenden Krieg im Nahen Osten fort. Seine Familie – die charmante und schöne Ehefrau, die wunderbaren Töchter, die Hunde – schien einem Brooks Brothers-Katalog entsprungen zu sein. Er war kein Revolutionär. Er vermied große Skandale, Korruption und Bestechlichkeit. Er war über die Maßen bedächtig, sah sich als Hüter des heiligen Erbes seines Landes, und wenn ihn die Sünden seines Landes störten, so hielt er dieses Land letztlich doch für eine Kraft, die Gutes in der Welt bewirken konnte. Kurzum, Obama, seine Familie und seine Regierung waren die beste Werbung dafür, mit welcher Leichtigkeit schwarze Menschen vollständig in den nicht bedrohlichen Mainstream amerikanischer Kultur, Politik und Mythen integriert werden konnten.

Und das war schon immer ein Problem.

Eine Richtung afroamerikanischen Denkens geht davon aus, dass gewaltbereites schwarzes Draufgängertum – der schwarze Gangster, der schwarze Aufrührer – der ultimative Schrecken des weißen Amerikas ist. Vielleicht stimmt das auf einer sehr individuellen Ebene. Auf kollektiver Ebene aber fürchtet dieses Land nichts so sehr wie schwarze Respektabilität – gute Negerregierung. Es applaudiert, ja feiert die Idee guter Negerregierung, solange sie abstrakt und ungefährlich ist – in der Cosby Show zum Beispiel. Doch wenn sich abzeichnet, dass eine gute Negerregierung echten Schwarzen Macht über echte Weiße verleihen könnte, kommt Angst auf; dann wird über Affirmative Action geklagt und die Herkunft des Präsidenten angezweifelt. Der Grund dafür ist, dass die amerikanischen Mythen in ihrem Kern nie farblos waren. Sie können nicht aus der »ganzen Theorie der Sklaverei« herausgelöst werden, die behauptet, dass eine gesamte Klasse von Menschen die Leibeigenschaft im Blut hat. Diese Klasse der Leibeigenen bereitete das Fundament, auf dem all die Mythen und Vorstellungen errichtet wurden. Und auch wenn wir uns eine nahtlose schwarze Integration in den amerikanischen Mythos theoretisch vorstellen können, erinnert sich der weiße Teil dieses Landes an den Mythos so, wie er ersonnen wurde.

Ich glaube, die alte Furcht vor guter Negerregierung vermag zu erklären, was als eine schockierende Wende erscheint – die Wahl Donald Trumps. Manche Stimmen behaupten, dass die erste schwarze Präsidentschaft vor allem »symbolisch« gewesen sei, was eine Abwertung ist, die die Macht von Symbolen gehörig unterschätzt. Symbole repräsentieren die Wirklichkeit nicht nur, sie können auch Werkzeuge für ihre Veränderung sein. Die symbolische Kraft der Präsidentschaft Barack Obamas – dass Weißsein nicht mehr ausreichte, um den Einzug der Leibeigenen ins Schloss zu verhindern – griff die am tiefsten verwurzelten Ideen weißer Überlegenheit und Vorherrschaft an und sorgte unter ihren Anhängern und Begünstigten für Angst. Es war diese Angst, die den Symbolen, die Donald Trump einsetzte – den Symbolen des Rassismus –, genug Macht verlieh, um ihn zum Präsidenten zu machen und somit in eine Position zu hieven, in der er der Welt schaden kann.

Eine gängige These in diesem Land, eine, für die Schwarze nicht unempfänglich sind, besagt, dass den Schwarzen, wenn sie sich auf eine Art und Weise verhalten, die den Werten der Mittelschicht entspricht, wenn sie höflich, gebildet und rechtschaffen sind, alle Früchte Amerikas zur Verfügung stehen. In ihrer vulgärsten Form verneint diese Theorie individueller guter Negerregierung, dass Rassismus und weiße Vorherrschaft bedeutende Kräfte im amerikanischen Leben darstellen. In ihrer differenzierteren und seriöseren Form verkauft sie sich als gleichwertiges Komplement zum Antirassismus. Doch ein zentrales Argument dieses Buches lautet, dass gute Negerregierung – auf individueller und politischer Ebene – häufig genau die weiße Vorherrschaft verstärkt, die sie zu bekämpfen sucht. Genau das ist Thomas Miller und seinen Kollegen 1895 passiert. Es ist den Schwarzen in ganz South Carolina während der Wiedergutmachung passiert. Es ist den Schwarzen in Chicagos South Side passiert, als zwischen den Weltkriegen der New Deal eingeführt wurde. Und es passiert meiner Meinung nach genau jetzt mit dem Erbe des ersten schwarzen Präsidenten.

Jeder der Essays in diesem Buch greift einen Aspekt der laufenden Diskussion über den Nutzen und die Lage guter Negerregierung auf, wie sie sich in meinem Kopf vollzieht. Die Essays zeigen mich in einer Bewegung, in einem Prozess des Nachdenkens, der sich auch beim Schreiben dieser Einleitung fortsetzt. Ich bezweifle beispielsweise nicht, dass Anzug und Krawatte beeinflussen, wie manche Menschen auf andere reagieren. Ich bin mir nur nicht sicher, ob im Fehlen von Anzug und Krawatte das eigentliche Problem liegt. (Was gute Negerregierung angeht, war Barack Obama der Beste, den wir je hatten. Doch als er aus dem Amt schied, glaubte eine Mehrheit in der Oppositionspartei nicht einmal, dass er Bürger dieses Landes war.) Jedem dieser Essays ist eine Art erweiterter Blogeintrag vorangestellt, der einzufangen versucht, warum ich den Text schrieb und an welchem Punkt meines Lebens ich mich dabei befand. Zusammengenommen bilden sie eine locker geknüpfte Autobiographie, von der ich hoffe, dass sie die Essays selbst bereichert. Am Ende des Buches steht ein Epilog, der das Post-Obama-Zeitalter zu bewerten sucht, in dem wir uns jetzt befinden.

Ich wollte, dass diese Artikel – alle acht erschienen ursprünglich im Atlantic – in einem einzigen Band versammelt werden. Aber ich verspürte auch den Drang, etwas Neues aus ihnen zu machen. Dieses Buch hat seine spezifische Form, weil ich die Herausforderung genossen habe, es auf diese Weise zu gestalten. Wenn sich den Leserinnen und Lesern nur die Hälfte meiner Freude daran vermittelt, dann habe ich meine Aufgabe erfüllt.

 

 

WE WERE EIGHT YEARS IN POWER

 

 

1.

 

 

NOTIZEN AUS DEM

ERSTEN JAHR

 

WIE ALLES SCHREIBEN nahm diese Geschichte ihren Anfang im Scheitern. Es war im Februar 2007. Ich saß in einem Amtsgebäude an der 125. Straße, nicht weit von dem jamaikanischen Fleischpastetenladen und der Backfischbude entfernt, die ich in jenen Tagen offenkundigen Scheiterns so häufig aufsuchte, dass es schon nicht mehr gesund war. Ich war 31 Jahre alt. Ich lebte in Harlem mit meiner Partnerin Kenyatta und unserem Sohn Samori, die nach afrikanischen Antikolonialisten aus aufeinanderfolgenden Jahrhunderten benannt waren. Die Namen ließen auf einen Haushalt schließen, der sich dem panafrikanischen Traum verschrieben hatte, der Idee, dass die Schwarzen hier und heute mit den Schwarzen dort und damals in einem gewaltigen dramatischen Kampf verbunden waren. Diese Idee war der grundlegende Subtext unseres Lebens. Es ging gar nicht anders. Der sichtbare Text war der von Überlebenskünstlern.

Ich hatte gerade zum dritten Mal in sieben Jahren meinen Job verloren und war in jenes Amtsgebäude gekommen, um mir einen Kurzvortrag über Arbeit, Verantwortung und die Notwendigkeit, ohne Stütze auszukommen, anzuhören. Die Stütze war klein und zeitlich befristet, der Weg zu ihr demütigend. Wie irgendjemand daran Gefallen finden oder sich daran gewöhnen können sollte, entzog sich meinem Vorstellungsvermögen. Aber der Geist der Sozialreform war stark und suchte die Arbeitsämter allerorten heim. Im dortigen Klassenzimmer, inmitten einer Gruppe vermeintlicher Loser und Nichtstuer, erhielt ich meine Lektion über die große Sünde der Faulheit. Immerhin fühlte sich das Setting richtig an: Meine unvergesslichsten Misserfolge und Niederlagen hatten sich in den Klassenzimmern meiner Jugend ereignet, in denen ich auf ewig ein »Verhaltensproblem« hatte, auf ewig der »Besserung« bedürftig war, auf ewig daran scheiterte, »mein Potenzial auszuschöpfen«. Damals hatte ich mich gefragt, ob etwas mit mir nicht stimmte, ob ich an irgendeinem Gehirnschaden litt, der mich dazu trieb, beim Ausmalen über die Linien zu kritzeln. Mein ganzes Leben lang fühlte ich mich als Versager – aus der Middle School herausgestolpert, aus der Highschool geflogen, das College abgebrochen. Doch jetzt hatte ich das Gefühl zu ertrinken, und mir war bewusst, dass ich nicht allein ertrinken würde.

Kenyatta und ich waren seit neun Jahren zusammen, und während dieser Zeit war ich nie in der Lage gewesen, kontinuierlich ein nennenswertes Einkommen beizusteuern. Ich war Autor und empfand mich als Teil einer Tradition, die bis zu einer Zeit zurückreichte, als es für schwarze Menschen ein Ausweis von Rebellion war, lesen und schreiben zu können. Absurderweise glaubte ich das immer noch. Deshalb erfüllte mich die Arbeit des Schreibens mit einem Gefühl »tieferen Sinns«. Aber mit »tieferem Sinn« konnte ich die Miete nicht bezahlen. Mit »tieferem Sinn« konnte ich keine Lebensmittel kaufen. Mit »tieferem Sinn« überzog ich meine Konten. Mit »tieferem Sinn« leerte ich meine Kreditkarten und rief das Finanzamt auf den Plan. Ich schmiedete wilde und unrealistische Pläne. Vielleicht sollte ich Koch lernen. Vielleicht sollte ich als Barkeeper arbeiten. Ich dachte darüber nach, Taxi zu fahren. Kenyatta hatte eine näher liegende Lösung: »Ich glaube, du solltest mehr Zeit aufs Schreiben verwenden.«

In diesem Moment, als ich in jenem Klassenzimmer mein Pflichtprogramm absolvierte, konnte ich mir das nicht vorstellen. Ich konnte mir gar nichts vorstellen. So wie bei fast jeder anderen Lektion, die man mir in einem Klassenzimmer erteilte, kann ich mich an nichts von dem erinnern, was dort gesagt wurde. Und so wie bei all den anderen tief vergrabenen Traumata, die ich in Klassenzimmern angesammelt hatte, ließ ich den Schmerz über mein Versagen nicht zu. Stattdessen fiel ich in die alten Gewohnheiten und die Logik der Straße zurück, wo es häufig nötig war, Demütigungen zu leugnen und Schmerz in Wut zu verwandeln. Also nahm ich das Leid dieser Zeit wie einen Inkassobescheid entgegen und versteckte es in der obersten Schublade meines Geistes, entschlossen, mich darum zu kümmern, wenn ich die Mittel hätte zu bezahlen. Ich glaube, mittlerweile habe ich die meisten dieser alten Rechnungen beglichen. Aber der Schmerz und der Nachhall des Scheiterns halten sich, noch lange nachdem die Schublade geleert ist.

Aus irgendeinem Grund kann ich mich an alles erinnern, was ich mir nicht zu fühlen erlaubte, als ich an jenem Tag das Arbeitsamt verließ und durch die Straßen von Harlem lief, genau wie ich mich an alles erinnern kann, was ich mir in meiner Jugend nicht zu fühlen gestattete, als ich gefangen war zwischen den Schulen und der Straße. Und ich weiß, dass es da draußen schwarze Jungen und schwarze Mädchen gibt, die in einem Bermudadreieck des Geistes verloren sind oder in der Flaute Amerikas festhängen; nichts fühlend und nichts vergessend, halten sie sich über Wasser oder gehen unter. Das Wertvollste, was ich damals besaß und heute noch besitze: meine Neugier. Selbst im Klassenzimmer wusste ich immer, dass sie mir die nicht nehmen können. Meine Neugier war es, die mich über Wasser hielt und schließlich heraushob.

Wie jeder Mythos über selbst erarbeiteten Erfolg birgt auch dieser einen Funken Wahrheit. Aber zur Wahrheit gehört vor allem, dass der Wind um mich herum auffrischte, sich drehte und mein kleines Boot zurück in die Zivilisation blies. Meine Neugier hatte sich schon lange auf die Fragen rassischer Trennlinien gerichtet, ein Phänomen, das in den Nullerjahren in eigentümlichem Wandel begriffen schien. Die Energien des Landes hatten sich nach dem 11. September verlagert. Während der Bush-Jahre drehten sich die entscheidenden Fragen von Recht und Gerechtigkeit um Spionage und Folter. Die alte Bürgerrechtlergeneration zog sich allmählich zurück, und sogar unter schwarzen Aktivisten herrschte eine allgemeine Ermüdung angesichts des Feuerwehrmann-Modells von Führung, wie Jesse Jackson und Al Sharpton es repräsentierten. Die Choreographie neigte dazu, sich zu wiederholen. Irgendetwas Empörendes ereignete sich. Ein Protestmarsch wurde abgehalten. Vorhersehbare Standpunkte und Plattitüden wurden ausgetauscht. Und das ursprüngliche Vergehen geriet in Vergessenheit. Der Anlass der Empörung war meistens gravierend und sehr real – die Erschießung von Sean Bell durch die New Yorker Polizei zum Beispiel. Aber die Tatsache, dass daraus keine substanziellen Aktionen folgten und dass die Taktik sich innerhalb von gut vierzig Jahren nicht verändert zu haben schien, gab vielen von uns das Gefühl, dass wir Zeugen weniger einer politischen Bewegung als einer kathartischen Darbietung waren. Währenddessen war außerhalb der aktivistischen Community eine andere Idee im Aufwind: die Vorstellung, dass wir die »Ablenkung« des Rassismus irgendwie »hinter uns lassen« müssten. Bücher beklagten das Ausspielen der sogenannten »Rassenkarte«, Artikel plädierten dafür, die Gefährdungen der schwarzen Communities nicht länger mit Rasse zu erklären. Wie aufrichtig oder unredlich sich dies auch ausdrückte, es herrschte ein spürbarer Hunger nach etwas Neuem.

Zur gleichen Zeit, als ich mir in einem Arbeitsamt in Harlem meine Misserfolge vor Augen führte, warf Barack Obama im Kampf um die Präsidentschaft seinen Hut in den Ring.

Ich hatte noch nie einen schwarzen Mann wie Barack Obama gesehen. Er sprach zu den Weißen in einer neuen Sprache – als würde er ihnen tatsächlich vertrauen und an sie glauben. Es war nicht meine Sprache. Es war nicht einmal eine Sprache, die mich besonders interessierte, außer um zu verstehen, wie er sie gelernt und welche Wirkung sie auf seine Zuhörer hatte. Interessanter schien mir, dass er diese Sprache irgendwie mit der Sprache der Chicagoer South Side ausbalanciert hatte. Er sprach von sich selbst unmissverständlich als schwarzem Mann. Er hatte eine schwarze Frau geheiratet. Man vergisst leicht, wie schockierend das in Anbetracht der damals verbreiteten Auffassung war, dass zwischen Erfolg und Assimilation ein direkter Zusammenhang bestand. Der gängigen Erzählung zufolge heirateten erfolgreiche schwarze Männer weiße Frauen und traten in jenes unfruchtbare Niemandsland ein, das nicht schwarz war, aber auch niemals weiß sein konnte. Schwarzsein war für diese Männer nichts, in dem man verwurzelt sein konnte, sondern etwas, dem man zu entgehen und zu entfliehen suchte. Barack Obama fand einen dritten Weg – ein Mittel, seine Sympathie für das weiße Amerika auszudrücken, ohne sich ihm anzubiedern. Weiße ließen sich von ihm verzaubern – am allermeisten jene in den Nachrichten-Redaktionen. Diese Tatsache veränderte mein Leben. Sie erzeugte den Wechsel des Windes, ohne den meine Neugier bloß meine eigene geblieben wäre.

Meine These ist, dass Barack Obama direkt verantwortlich für den Aufstieg einer Reihe schwarzer Autoren und Journalisten ist, die während seiner beiden Amtszeiten bekannt wurden. Diese Autoren waren talentiert – aber Talent ist nichts ohne ein Feld, auf dem es sich zeigen kann. Obamas Präsenz eröffnete den Autoren ein neues Feld, und was als Neugier auf den Mann selbst begann, weitete sich schließlich zu einer Neugier auf die Community, in der er sich so bewusst verortete, und auf die alten, unruhig schlummernden Fragen zur amerikanischen Identität, die er wachgerufen hatte. Ich war einer dieser Autoren. Und auch wenn ich es damals nicht wahrnahm, als ich trübselig vom Arbeitsamt nach Hause trottete, raus aus dem Klassenzimmer und zurück über die 125. Straße, frischte der Wind überall um mich herum auf.

 

SCHON WÄHREND MEINER letzten Anstellung hatte ich mich für Bill Cosby interessiert, der auch den Ruf nach etwas Neuem zu hören schien. Damals tingelte er durch die Innenstädte des Landes, fest entschlossen, seine Leute davon abzubringen, »die Schuld beim weißen Mann zu suchen«. Die Tour durch die Vortragssäle schien spontan begonnen zu haben, ausgelöst von der Reaktion auf Cosbys berüchtigte Rührkuchenrede. 2004 war Cosby ans Rednerpult einer Veranstaltung getreten, die vom NAACP Legal Defense and Educational Fund finanziert wurde, offiziell um des fünfzigsten Jahrestags der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Sache Brown v. Board of Education zu gedenken, durch die die Rassentrennung an den Schulen aufgehoben worden war. Der Legal Defense Fund der NAACP hatte sich einen Namen gemacht, weil er die Gerichte anrief, das Land für die vielfältige Art und Weise, auf die Jim Crow schwarze Leben geplündert hatte, zur Rechenschaft zu ziehen. Aber als Cosby auf die Bühne trat, war er entschlossen, nicht die Plünderer, sondern die Geplünderten zur Rechenschaft zu ziehen. Er wetterte gegen »die Leute, die sich wirtschaftlich unten und in der unteren Mitte befinden«, weil sie ihren Teil des Bürgerrechtsdeals nicht erfüllten. Er attackierte schwarze Jugendliche dafür, von »500-Dollar-Sneakers« besessen zu sein. Er verhöhnte schwarze Eltern, weil sie ihren Kindern Namen wie »Shaniqua und Mohammed« gaben. Er schäumte vor Wut über die laxe Moral schwarzer Frauen.

Ich nahm Anstoß an dieser Charakterisierung und schrieb in der Village Voice darüber – ein weiterer Job, den ich verlieren würde –, kurz nachdem er die Rede gehalten hatte. Aber wie sich herausstellte, stimmte ein Teil der »sich wirtschaftlich unten und in der unteren Mitte befindenden« Leute Cosby tatsächlich zu. Das weiß ich, weil ich mir angesehen habe, wie Cosby ihnen die Botschaft direkt überbrachte. Er nannte diese Veranstaltungen »Weckrufe«. In der Regel versammelte Cosby lokale Amtsinhaber auf der Bühne – Schulleiter, Richter, Bewährungshelfer, Direktoren von Community Colleges. Dazu lud er diverse »gefährdete Jugendliche« ein. Die Beamten gaben dann ihre eigene Version der Rührkuchenrede zum Besten. Das Publikum applaudierte wie wild. Der Geist der Veranstaltung war irgendwo zwischen Uncle Ruckus (die Comicfigur, die behauptet, als Kind weiß gewesen zu sein) und dem Motivationsredner Les Brown zu Hause. Da war Selbstgeißelung. Da war Erweckung. Aber vor allem war da Nostalgie – eine Sehnsucht nach der unkomplizierten Zeit, als alle schwarzen Männer hart arbeiteten, alle schwarzen Frauen tugendhaft waren und alle schwarzen Eltern kollektiv den Kindern die Leviten lasen. Mittlerweile weiß ich, dass alle Menschen sich nach einer edlen, unbefleckten Vergangenheit sehnen, dass so sicher, wie der schwarze Nationalist von einem erhabenen Afrika vor der Korruption durch die Weißen träumt, Thomas Jefferson von einem idyllischen Britannien vor den Normannen träumte und wir alle von einer anderen Zeit träumen, als die Dinge noch einfach waren. Mittlerweile weiß ich, dass diese Sehnsucht ein Rückzug aus der komplizierten Gegenwart in den Mythos ist. Ich weiß, dass diejenigen, die sich in Märchen flüchten, die Zuflucht in dem verrückten Streben nach vergangener Größe suchen oder in einem Bild von Größe, die es nie gegeben hat, letztlich eine Tragödie erwartet.

Cosbys Weckrufe bekamen auch viel Applaus von weißen Experten. Das war weder überraschend noch interessant – die Weckrufe verlangten dem weißen Gewissen nichts ab, also war auch nichts Schockierendes daran, wenn Weiße ihm zujubelten. Was mich aber faszinierte, war diese Strömung schwarzer Nostalgie, die Sehnsucht nach einer edlen Vergangenheit, denn die schwarze Vergangenheit schien mir kein brauchbarer Quell für Nostalgie zu sein; alles, was ich dort sah, waren Rassentrennung und Sklaverei. Meine Faszination erstreckte sich auch auf Cosby selbst. Er war kein Konservativer in unserem binären Verständnis von Wahlpolitik. Da Cosby meist mit dem umgänglichen Dr. Huxtable verschmolz, den er in der Cosby Show spielte, verdeckte die bürgerliche Fassade seiner berühmtesten Rolle sein Selbstverständnis als race man. Er hatte die Anti-Apartheid-Bewegung unterstützt, für afroamerikanische Colleges und Universitäten gespendet, schwarzen Führungsfiguren wie Jesse Jackson und Organisationen wie TransAfrica geholfen. Er schien einen schwarzen Konservativismus wiederzubeleben, der in der amerikanischen Politik von links und rechts keine echte Heimat zu haben schien, aber tief in der schwarzen Community verwurzelt war.

Mir war, als hätte ich eine Geschichte über all das zu erzählen – eine große Geschichte. Cosby schien mir emblematisch für eine Richtung schwarzen Denkens, der ich nicht zustimmte, aber die ich besser verstehen wollte. Ich wollte das in einer Mischung aus Porträt, Kommentar und persönlichen Erinnerungen herausarbeiten. Der daraus resultierende Essay – »So haben wir gegen den weißen Mann verloren« – scheitert letztlich an diesem Versuch, aber die Aufmerksamkeit, die er erregte, und die Beziehung zum Atlantic, die damit begann, markierten die erste Phase meines Lebens, in der ich gefestigt genug war, um weitere Versuche zu unternehmen und mir somit den Traum zu erfüllen, den gleichen Weg zu beschreiten wie meine Helden, wie James Baldwin oder Zora Neale Hurston. So wie sie versuchte ich mit diesem Text auf meine eigene Weise schwarze Menschen zum Leben zu erwecken, die mehr waren als Comicfiguren, mehr als Foto-Negative oder Schatten.

Die Tradition schwarzen Schreibens ist zwangsläufig düster, zwangsläufig resistent. Sie war das Haus, in dem ich wohnen wollte, und wenn man meinen Einzug datieren möchte, liegt man mit dem Tag der Veröffentlichung dieses Artikels wahrscheinlich nicht falsch. Ich nenne ihn einen »Versuch«, weil ich ein Gefühl zu Papier bringen wollte, etwas Traumartiges und schwer Fassbares, das in meinem Kopf existierte und dort zu großen Teilen auch eingeschlossen blieb. Und auch anderen Herausforderungen, die der Text barg, wurde ich nicht gerecht.

Ich weiß nicht, ob Cosbys Weckrufe die Flut an Vergewaltigungsvorwürfen verdecken sollten, der er schon damals ausgesetzt war. Ich wusste von den Vorwürfen. Andere Journalisten hatten darüber berichtet. Ich wusste auch, dass sie mehr Aufmerksamkeit verdienten als die eine Zeile, die ihnen in meinem Essay letztlich zukam. Ich hatte noch nie eine Geschichte wie »So haben wir gegen den weißen Mann verloren« geschrieben. Ich hatte noch nie für ein so bedeutendes landesweites Publikationsorgan geschrieben. Ich musste mich mit meinen lauernden Versagensängsten auseinandersetzen. Lieber eine klare Geschichte schreiben, überlegte ich mir, als eine komplizierte, wenn ich mich dann mit Redakteuren auseinandersetzen muss, die ich noch nicht kenne. Aber die komplizierte Geschichte wäre wahrer gewesen – sie hätte möglicherweise mehr zu erklären vermocht als die einfache Geschichte, für die ich mich entschied. So kam es, dass ich selbst dem zum Opfer fiel, was ich als bestimmende Kraft hinter Bill Cosbys Handeln beschrieb: der Vereinfachung.

Und es gab noch mehr, was ungesagt blieb. So wie immer, wenn man berichtet und recherchiert, wenn man die verschiedenen Wahrnehmungen, alles, was man sieht, hört und fühlt, in eine einigermaßen zusammenhängende Wortfolge zu bringen versucht. Das war stets die größte Herausforderung in den Jahren, in denen ich für den Atlantic schrieb, Jahren, die mich vom Arbeitsamt schließlich ins Oval Office führen sollten, um Zeuge von Geschichte zu werden. Für jeden Text in diesem Buch gilt, dass es eine Geschichte gibt, die ich erzählt habe, und viele weitere, die ich nicht erzählt habe, ob das nun gut war oder schlecht. Im Falle Bill Cosbys war es sicher schlecht. Das war meine Schande. Das war mein Versagen. Das war der Anfang meiner Geschichte.