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NHK-TV
83 Tage
NHK-TV
83 Tage
Der langsame Strahlentod des Atomarbeiters Hisashi Ouchi
Übersetzung aus dem Englischen von J. T. A. Wegberg
ISBN 978-3-86881-315-9
 
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Für Fragen und Anregungen:
lektorat@redline-verlag.de

Nachdruck 2018
© 20011 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096

© 2008 by NHK. All rights reserved.
Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.

Die englische Ausgabe erschien 2008 bei Vertical, Inc., New York unter dem Titel A Slow Death.
Die japanische Originalausgabe erschien 2002 bei Iwanami Shoten, Tokio, unter dem Titel Toukaimura rinkai jiko. hibaku chiryou 83-nichikan no kiroku.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: J. T. A. Wegberg, Berlin
Redaktion: Matthias Michel, Wiesbaden
Satz: HJR, Jürgen Echter, Landsberg am Lech
Druck: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86881-701-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-012-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-013-9

Inhalt

Vorwort von Ernst Ulrich von Weizsäcker

Vorwort zur englischen Ausgabe

Verstrahlung – 30. September

Eine zufällige Begegnung – Tag 2

Verlegung ins Universitätsklinikum Tokio – Tag 3

Das Verstrahlungs-Notfallteam – Tag 5

Hämatopoetische Stammzellentransplantation – Tag 7

Künstliche Beatmung – Tag 11

Die Zellen seiner Schwester – Tag 18

Manifestationen der Strahlenschäden – Tag 27

Ein kleiner Hoffnungsschimmer – Tag 50

Tag 59

Der endlose Kampf – Tag 63

21. Dezember – Tag 83

Papierkraniche – die Zukunft

Nachwort

Literatur

Vorwort

von Ernst Ulrich von Weizsäcker

Die Folgen der Katastrophe von Fukushima sind noch nicht absehbar und der Reaktorunfall von Tschernobyl und seine strahlende Hinterlassenschaft beschäftigen die Menschen weltweit seit nunmehr 25 Jahren. Doch sind dies bei weitem nicht die einzigen Katastrophen in der Geschichte der Atomenergie-Nutzung. Ein weitestgehend vergessener Unfall war der in der Uranaufbereitungsanlage in Tokaimura 1999: Es kam zur Verstrahlung einiger Atomarbeiter, deren tödliche Folgen in 83 Tage exemplarisch am langsamen Sterben des Atomarbeiters Hisashi Ouchi dokumentiert werden.

Dieses Buch schildert die konkreten Auswirkungen und den verzweifelten Kampf gegen die Strahlenkrankheit. Tokaimura und der Tod von Hisashi Ouchi machen deutlich, dass Atomunfälle keineswegs nur eine statistische Gefahr mit sich bringen, sondern direkte Gefährdungen für Leib und Leben bedeuten. Das Buch zeigt dies sehr viel konkreter, als die oftmals abstrakte Diskussion um Schutzzonen, Grenzwerte und zumutbare Dosen, etwa für die Helfer von Fukushima.

Tokaimura und Fukushima werden hoffentlich die letzten Beweise für die Notwendigkeit einer energiepolitischen Wende sein. Deutschland wird im Schatten des japanischen GAUs höchstwahrscheinlich im Lauf der nächsten Zeit den letzten Atommeiler abschalten. Die große Herausforderung – und Chance – wird sein, mit einer höheren Energieeffizienz plus erneuerbaren Energien die Atomkraft zu ersetzen und zugleich die Energienutzung aus Kohle und Gas zu reduzieren. Wenn man es dabei schafft, ernsthaften Klimaschutz einzuführen und beizubehalten, den Wohlstand und die Sicherheit der kommenden Generationen zu bewahren, dann kann das zu einer positiven technologischen Revolution führen. Und es werden sich Schicksale wie das von Hisashi Ouchi nicht mehr wiederholen.

 

Ihr Ernst Ulrich von Weizsäcker

Vorwort

zur englischen Ausgabe

von Hiroshi Iwamoto

»Ist euch klar, was wir getan haben? Wir haben die Tore des Universums aufgestoßen und schieben die Menschen hindurch in eine neue Welt, die sie halb zu Tode ängstigt … So war es auch, als wir die Elektrizität entdeckten. Die Menschen behandelten sie wie ein Spielzeug, versetzten sich elektrische Schläge wie bei einem Gesellschaftsspiel, und plötzlich schoss ihnen das Zeug ins Gesicht und brachte sie um. Und diese Atomkraft ist millionenfach stärker. Oje, oje – was würde mein Vater dazu sagen? Er würde sagen, wir haben das Höllenfeuer entfacht – vielleicht haben wir das wirklich.«

Pearl S. Buck, Gebiete dem Morgen

 

Am 2. Dezember 1942 gelang es der Menschheit erstmals, die Kernenergie zu manipulieren. Der weltweit erste Kernreaktor wurde in einer Squashhalle errichtet, unterhalb der Westtribüne von Stagg Field, dem Footballplatz der University of Chicago in Illinois.

Dieser Reaktor bestand aus 40.000 aufeinandergestapelten Graphitblöcken von jeweils 10 Zentimetern Höhe und 42 Zentimetern Breite und wurde bald als »Chicago Pile« (»Chicago-Stapel«) bezeichnet. Graphit verringert die Geschwindigkeit von Neutronen und dient als wirkungsvolle Bremssubstanz bei der Kernspaltung. 50 Tonnen natürliches Uran wurden in den Graphitstapel verbracht. Die Größe des Reaktors soll der eines zweistöckigen Hauses entsprochen haben. Zur Regulierung der Neutronenzahl wurde ein Kontrollstab aus neutronenabsorbierendem Kadmium eingeführt, der die plötzliche Beschleunigung der Kettenreaktion verhindern sollte.

Das Experiment begann um 10 Uhr morgens und wurde nach der Mittagspause fortgesetzt. Unter der Aufsicht des Physik-Nobelpreisträgers Enrico Fermi, eines italienischen Wissenschaftlers, wurde der Kontrollstab allmählich entfernt. Die Zahl der vom Kontrollstab absorbierten Neutronen ging langsam zurück und beschleunigte die Kernspaltung. Das Messgerät, mit dem die Anzahl der Neutronen erfasst wurde, begann heftig zu ticken, während seine Nadel fortwährend höher stieg. Um 15.25 Uhr erklärte Fermi die weltweit erste Kritikalität: »Die Reaktion erhält sich selbst aufrecht.« Der Zustand einer fortgesetzten Kernspaltungs-Kettenreaktion, die Kritikalität, ist das wesentliche Prinzip der Erzeugung von Nuklearenergie.

In dem Jahr, in dem sich die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus zum 450. Mal jährte, wurden die »Tore des Universums« endlich geöffnet, ein Augenblick, welcher der Menschheit eine ganz neue Bandbreite von Möglichkeiten hätte erschließen sollen. Auf Grundlage des erfolgreichen Experiments beschleunigten die Vereinigten Staaten ihre Forschungen zur Anwendung von Kernenergie in den verschiedensten Bereichen.

Sechs Monate vor dem Erfolg von Fermis Experiment hatte das Manhattan-Projekt begonnen. Durchgeführt unter der Kontrolle der US Army, förderte das Projekt die Entwicklung vielfältiger Technologien, zum Beispiel der Urananreicherung, die später eine wichtige Rolle bei der Erzeugung von Kernenergie spielen sollte.

Ein Großteil des natürlichen Urans besteht aus der nicht spaltbaren Form von Uran-238, während nur 0,7 Prozent in der spaltbaren Form von Uran-235 vorkommen. Um eine Kernspaltung wirkungsvoll auszulösen, muss das Uran angereichert werden. Während dieses Anreicherungsvorgangs muss das Element in eine Fluorverbindung umgewandelt werden, ein schwieriger Schritt, bei dem die meisten Substanzen zersetzt werden. Außerdem erfordert die Trennung des Uran-238 vom Uran-235 aufgrund ihrer sehr geringen Massenunterschiede eine mikrometergenaue Verarbeitung. Nach der Überwindung solcher Hindernisse wurde in Oak Ridge, am Ufer des Tennessee River, ein Urananreicherungs-Zentrum errichtet.

In Hanford, Washington, wurde ein massiver Reaktor gebaut, um Plutonium zu verarbeiten, eine Substanz, die aus der Uranaufspaltung synthetisiert werden kann und sogar noch besser spaltbar ist als Uran. Mit diesen Bestandteilen wurden in Los Alamos, New Mexico, Atombomben zusammengebaut. Am 6. August 1945 wurde die erste dieser Bomben über Hiroshima abgeworfen, drei Tage später fiel eine zweite Bombe auf Nagasaki.

200.000 Menschen starben aufgrund der extremen Hitzeentwicklung, der Explosion und der radioaktiven Verstrahlung. Patienten mit starken Strahlenschädigungen, die nicht sofort starben, litten unter Übelkeit, Fieber, Blutungen, Durchfall und Haarausfall. Zudem verringerte sich rapide die Anzahl ihrer weißen Blutkörperchen und Thrombozyten, und irreversible Schädigungen der Schleimhäute breiteten sich aus. Die am stärksten betroffenen Patienten starben alle innerhalb von 14 Tagen, die Hälfte der Patienten in ernstem Zustand innerhalb von 40 Tagen. Die Verstrahlung wirkte sich auch auf die Überlebenden aus: in Form zahlreicher Fälle von Leukämie, Schilddrüsen- und Brustkrebs und einer hohen Säuglingssterblichkeit. Manche Kinder kamen mit extrem kleinen Köpfen und geistig behindert auf die Welt, eine Krankheit, die als Mikrozephalie bezeichnet wird.

Am 21. August, kurz nach dem Abwurf der Atombomben, wurde auch von Strahlenopfern in den USA berichtet. Harry K. Daghlian jun., ein 26-jähriger Forscher in Los Alamos, unterlief ein Berechnungsfehler, der während eines Experiments mit Plutonium die Kritikalität auslöste. Zwei Menschen wurden der Strahlung ausgesetzt, und 24 Tage später starb Daghlian als weltweit erstes Opfer eines Kritikalitätsunfalls.

Nach dem Krieg begannen die Vereinigten Staaten als einziges Land im Besitz von Kernenergie mit der Massenproduktion von Nuklearwaffen. Doch vier Jahre später nahm auch die Sowjetunion ihre ersten Atombombentests auf, gefolgt von Großbritannien im Jahr 1952. Diese Ereignisse veranlassten die USA, parallel zu ihrer militärischen Verwendung auch nach friedlicheren Nutzungsmöglichkeiten der Kernenergie zu suchen. Die Vereinigten Staaten wurden auf beiden Gebieten weltweit führend, wobei ihnen die während des Manhattan-Projekts entwickelte Technologie zur Urananreicherung einen deutlichen Vorteil gegenüber konkurrierenden Ländern verschaffte.

1954 wurde das neue Atomkraftgesetz verabschiedet, um die Verwendung von Kernenergie auf dem Privatsektor zu ermöglichen. Die Kontrolle über sämtliche Aspekte der Atomkraft, einschließlich ihrer Entwicklung und Verwaltung, wurde von der Armee auf die Atomenergiekommission (AEC) übertragen. Mit Unterstützung der Regierung schloss die AEC sich mit den Elektrizitätsversorgern und -produzenten zusammen, um die Anwendung von nuklearer Energieerzeugung zu erforschen.

Das erste kommerzielle Atomkraftwerk in den USA ging im Dezember 1957 in Shippingport, Pennsylvania, in Betrieb, gleich nach sowjetischen und britischen Meilern. Westing House war der Hersteller des Druckwasserreaktors, der zum gängigsten Modell wurde und heutzutage bei über der Hälfte aller Reaktoren weltweit verwendet wird. Das Streben nach nuklearer Energieerzeugung hielt in den Vereinigten Staaten während der folgenden 20 Jahre unvermindert an, es wurden über 100 Meiler errichtet.

Diese Entwicklung kam 1979 aufgrund des Atomunfalls in Three Mile Island zum Stillstand. Das Unglück passierte noch vor Tagesanbruch am 28. März in Block 2 des Atomkraftwerks Three Mile Island in Pennsylvania. Aufgrund einer Serie von Arbeitsfehlern schmolz der Reaktorkern und brach auseinander. Obwohl tatsächlich nur geringe Radioaktivität nach außen drang, wurde irrtümlich von einem großen Strahlungsleck des Belüftungsrohrs berichtet. Zudem war kurz zuvor der Film Das China-Syndrom in die Kinos gekommen, in dem die Kernschmelze eines Atomreaktors beschrieben wird. Diese beiden Faktoren trugen zu der Verwirrung bei, aufgrund derer 40 Prozent aller Einwohner im Umkreis von 10 Meilen rund um den Atommeiler evakuiert wurden.

Sieben Jahre später ereignete sich eine Explosion in Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine. Gemäß offizieller Angaben, die unmittelbar nach dem Unfall von der damaligen Sowjetunion gemacht wurden, gab es 31 Tote, darunter Arbeiter des Atomkraftwerks und Feuerwehrleute, die ihr Leben opferten, um den Brand zu löschen. 203 Menschen wurden aufgrund akuter radioaktiver Verstrahlung in Krankenhäuser eingeliefert. Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC), eine Abteilung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), schätzt die Zahl der Opfer des Tschernobyl-Unfalls in ganz Europa dagegen auf über 16.000, wozu auch Krebsopfer gezählt werden.

Zusätzlich zu fortgesetzten Unfällen in Atomkraftwerken wurde in den USA 1990 auch von einer radioaktiven Verseuchung ausgedehnter Gebiete rund um die Atomwaffenfabrik Hanford berichtet. Selbst in den Vereinigten Staaten, die »die Tore des Universums« geöffnet hatten und die weltweit größte Zahl an Atomkraftwerken aufwiesen, setzten diese Unfälle eine Anti-Atomkraft-Bewegung in Gang. Die Gesetzgebung für die Erzeugung von Kernenergie wurde strenger und die Neuerrichtung von Atommeilern für nahezu 30 Jahre ausgesetzt. Viele im Bau befindliche Fabriken blieben unvollendet.

Mit dem Herannahen des 21. Jahrhunderts jedoch wurde die Erzeugung von Atomenergie wieder verstärkt in Betracht gezogen, ausgelöst durch die weltweiten Bemühungen, die globale Erwärmung zu verhindern, sowie durch die steigenden Rohölpreise aufgrund des Rückgangs fossiler Ressourcen.

Auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992 wurden die globale Umwelt und Entwicklung zu entscheidenden Themen für die internationale Staatengemeinschaft. Bei diesem Gipfeltreffen wurde das Rahmenabkommen zum Klimawandel verabschiedet, das Maßnahmen gegen die globale Erwärmung aufführte, darunter eine Verringerung der Emission von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen.

Im Anschluss daran wurden 1997 bei der Vertragsstaatenkonferenz im japanischen Kyoto die Zielwerte für die Verringerung der CO2-Emission durch das Kyoto-Protokoll festgelegt. Die Vereinigten Staaten, die größten Emittenten von Treibhausgasen, distanzierten sich von dem Protokoll, als George W. Bushs republikanische Regierung an die Macht kam. Gleichwohl trat das Kyoto-Protokoll im Februar 2005 nach seiner Ratifizierung durch andere Staaten schließ-lich in Kraft.

Angesichts des wachsenden globalen Umweltbewusstseins wandten die USA sich erneut der Atomkraft zu, da diese Technologie nur eine geringe CO2-Emission aufwies, erheblich weniger als fossile Brennstoffe. Auch wenn Atomkraftwerke große Mengen an Baumaterial sowie einen beträchtlichen Energieaufwand für die Uranaufbereitung und die Atommüllentsorgung erfordern, so stoßen sie doch zumindest kein Kohlendioxid aus. Die Unsicherheit bei der Versorgung mit fossilen Brennstoffen sowie die steigenden Preise für Rohöl und Gas stellten zusätzliche Anreize für die Hinwendung zur Kernkraft als alternativer Energiequelle dar.

2001 lobte Bush in seiner Nationalen Energiestrategie die Atomkraft als »saubere« Alternative zur globalen Erwärmung. Er beschleunigte den Verjüngungsprozess existierender Anlagen und erleichterte die Errichtung neuer Kraftwerke durch Subventionen und Steueranreize. Gemäß der Einführung von Bushs Strategieplan wurden zunehmend Bauvorhaben für neue Atomkraftwerke geplant. Bis März 2007 waren 16 neue Projekte bestätigt worden.

Die Hinwendung zur Erzeugung von Kernenergie griff auch auf andere Länder über, darunter Finnland, Russland, Indien und Australien. Branchenvertreter loben diesen globalen Trend als »nukleare Wiedergeburt«.

Während der Bau neuer Anlagen in den USA 30 Jahre lang unterbrochen gewesen war, hat Japan die Nutzung von Kernenergie kontinuierlich ausgeweitet. Im Dezember 2006 lag Japan mit 55 aktiven Atomkraftwerken an dritter Stelle hinter den USA und Frankreich. Rechnet man im Bau befindliche Kraftwerke mit ein, überholt Japan sogar Frankreich und springt mit 69 Anlagen auf den zweiten Platz.

Japan, das einzige Land der Welt, das einem Atomangriff ausgesetzt war, weitet seine Nutzung der Kernenergie nach wie vor aus. In eben diesem Land fand ein katastrophaler Kritikalitätsunfall statt, bei dem drei Arbeiter extremen Strahlungsdosen ausgesetzt wurden, was zwei von ihnen das Leben kostete.

Als Wissenschaftsreporter für NHK, Japans einzigen öffentlichen Sender, habe ich mich in den letzten 20 Jahren auf medizinische Fachthemen spezialisiert.

An jenem Tag befand ich mich im Shibuya-Sendezentrum in Tokio und führte Telefoninterviews zu einem Skandal mit HIV-verseuchten Bluttransfusionen. Kurz nach 12.30 Uhr erreichte uns die Nachricht von einem Atomunfall. Aus einem privaten Uranverarbeitungswerk in Tokaimura, Ibaraki, 100 Kilometer nordöstlich von Tokio, drang radioaktive Strahlung aus. Mehrere Arbeiter waren in Krankenhäuser eingeliefert worden. Anfangs wurde angenommen, der Unfall habe sich in einer Fabrikanlage von Sumitomo Metals ereignet, einem weltweit führenden Metallhersteller. Ich rief sofort die Telefonauskunft an, um Kontakt zu der Firma aufzunehmen.

Ein Journalist nach dem anderen eilte zum Schauplatz. Ihre Untersuchungen ergaben, dass der Unfall sich bei JCO ereignet hatte, einer Tochtergesellschaft von Sumitomo Metal Mining, einem der ältesten japanischen Privatunternehmen mit einer 400-jährigen Geschichte. Und was zunächst für ein Strahlungsleck gehalten worden war, entpuppte sich als erster Kritikalitätsunfall Japans. Darüber hinaus war die Kritikalität immer noch im Gange. Kurz vor 22 Uhr erhöhte sich die Anspannung schlagartig, als die Präfektur Ibaraki die 310.000 Menschen, die im Umkreis von 10 Kilometern rund um die Fabrik lebten, aufforderte, in ihren Wohnungen Schutz zu suchen.

Noch vor Anbruch des folgenden Tages, des 1. Oktobers, stellte sich heraus, dass weitere Personen, die sich in der Nähe des Unglücks ortes aufgehalten hatten, der Strahlung ausgesetzt gewesen waren. Ein Himmelfahrtskommando aus JCO-Mitarbeitern leitete Schritte ein, um die Kritikalität unter Kontrolle zu bekommen. Um 6 Uhr morgens traf die Nachricht ein, dass die Strahlung bedeutend abgenommen hatte. Wenig später wurde uns bestätigt, dass die Kritikalität unter Kontrolle war. Nachdem ich einen Artikel über das Ereignis geschrieben und ihn für die Abendnachrichten aufbereitet hatte, legte ich mich kurz hin und brach dann sofort nach Tokaimura auf, um die Recherchen für einen anderen Nachrichtenbereich fortzusetzen.

Nachdem die Recherchen vor Ort abgeschlossen waren, begann ich, mich nach den verletzten Arbeitern zu erkundigen. Der Mitarbeiter mit der stärksten Verstrahlung war in ein an Japans angesehenste Universität angeschlossenes Krankenhaus gebracht worden, das täglich über den Gesundheitszustand des Patienten berichtete. Es war jedoch unmöglich, seinen Zustand losgelöst von objektiven Werten zu interpretieren. Durch persönliche Beziehungen, die ich im medizinischen Bereich geknüpft hatte, nahm ich Kontakt zu einem Medienexperten nach dem anderen auf. Die Umstände, die ich durch diese Verbindungen aufdeckte, waren weitaus erschreckender als das, was die Daten vermittelt hatten.

Die Schädigung des menschlichen Körpers beginnt in dem Augenblick, da er extremen Dosen von Neutronenstrahlung ausgesetzt wird. Wenn die Chromosomen, die Konstruktionspläne des Lebens, in einzelne Teile zerlegt werden und sich nicht regenerieren können, ist der Körper zu einem langsamen Zerfall verurteilt. Diese Tatsache war aus der Reihe von Kritikalitätsunfällen bekannt, die sich seit den frühen Tagen der atomaren Forschung ereignet hatten.

Vor 60 Jahren zeichnete Pearl S. Buck in ihrem Buch über die Anfänge der Kernforschung das Leiden und Sterben des weltweit ersten Kritikalitätsunfallopfers auf:

Sehr viel weiter oben, jenseits der Wolken, jenseits der Atmosphäre und der Dunkelheit und des Alls, brannte die Sonne mit immer währender Energie, jener urzeitlichen Energie, die sie zu zähmen und zu nutzen versuchten – wofür? Sie war immer dort und immer hier gewesen, ein Teil der Erde unter ihren Füßen. Es gab genügend Atomenergie in dem Kiesboden, auf dem sie standen, um Kohle nutzlos und Öl überflüssig zu machen. Nichts Neues also, diese Energie, aber von ihr zu wissen war neu. Und nun, da sie außer Kontrolle geraten war, zerstörte sie den Körper eines jungen Mannes.
»Gibt es noch Hoffnung für Feldman?«, fragte Stephen leise.
»Was für Hoffnung denn?«, fragte sie. »Er wird sich auflösen. Es werden sich große Blasen bilden und aufplatzen. Seine Haut wird sich ablösen, Wundbrand setzt ein, die radioaktiven Partikel in seinem Körper fressen ihn auf. Seine Körpertemperatur wird ansteigen, die weißen Blutkörperchen werden immer weniger, und das Mark seiner Knochen wird verbrennen. Und am Ende wird er den Verstand verlieren.«
»Das weißt du alles«, murmelte Stephen.
»Ich lass ihn nicht allein«, sagte sie. »Ich bleibe bei ihm bis zum Schluss. Es ist ja kein anderer da.«

 

Wie der Kritikalitätsunfall im japanischen Tokaimura Ende des 20. Jahrhunderts bewies, übersteigt die tatsächliche Grausamkeit einer akuten Verstrahlung noch die Aufzeichnungen der Nobelpreisgewinnerin.

Ich wollte eine Fernsehsendung machen, die den Zuschauern auf irgendeine Art den Kampf ums Überleben deutlich machen sollte.

Über ein Jahr nach dem Unfall erhielten wir endlich die Zustimmung der Angehörigen der Opfer. Am 13. Mai 2001 konnten wir dann die Sondersendung 83 Tage Strahlenkrankheit zeigen. Sie wurde mehrfach ausgestrahlt und gewann zahlreiche einheimische und internationale Preise, darunter den Hauptpreis beim Monte Carlo Television Festival.

In dieser Sendung konnte ich die Fieberkurven und andere medizinische Informationen der Patienten nicht detailliert darstellen, eine Einschränkung, die den Anstoß zur Herausgabe dieses Buches gab. Insbesondere habe ich versucht, medizinische Fachbegriffe mit einfachen Worten zu beschreiben, damit der Leser die gesamte Bandbreite der ärztlichen Behandlung erfassen und die Gefühle des Patienten und jedes einzelnen Mitglieds des Pflegeteams nachvollziehen kann.