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Roy Palmer

Auf Rammkurs

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Havanna, 14. März 1594. Don Antonio de Quintanilla hatte sich eine saubere, frisch gepuderte Perücke übergestülpt und seine Kleidung gewechselt, aber man sah ihm trotzdem an, wie tief ihm der Schreck über das, was vorgefallen war, noch in den Knochen saß. Sein feistes Gesicht hatte die Farbe alten, ranzigen Talges. Sein Atem ging flach und unregelmäßig. Es kostete ihn Zeit und Mühe, die Fassung wiederzugewinnen.

Wenn er nur an diesen Catalina dachte, wurde ihm übel. Havanna war einer Horde von Galgenstricken und Schlagetots ausgeliefert gewesen, und fast wäre es diesen Kerlen gelungen, alles an sich zu reißen. In der Nacht vom 11. auf den 12. März hatten sie ein Lagerhaus im Hafen überfallen und ausgeraubt. Silberbarren hatten dort gelagert – die kostbare Ladung zweier Galeonen aus Cartagena, die Kuba angelaufen hatten, weil sie aufgeslipt und von ihrem Muschelpanzer befreit werden mußten.

Aber das Schlimmste, Schmählichste, Erniedrigendste war gewesen, daß die Schnapphähne in die Gouverneurs-Residenz eingedrungen waren und ihn, Don Antonio, als Geisel festgenommen hatten. Catalina und Zapata waren die Anführer der Horde gewesen, und sie hatten sich wüst aufgeführt.

Don Antonio zückte ein weiches weißes Tüchlein und tupfte sich damit den Schweiß von der Stirn und den Wangen, der ihm soeben wieder ausbrach. Herrgott, er hatte seine Schätze herausrücken müssen – und die Hunde hätten ihn umgebracht, wenn nicht im letzten Augenblick die Rettung eingetroffen wäre.

Tatsächlich waren in dieser aussichtslosen und verzweifelten Situation Arne von Manteuffel, ein beherzter Teniente und ein paar Soldaten erschienen und hatten Don Antonio und Don Juan de Alcazar befreit. Sie hatten die Geheimtür benutzt, an die sich im allgemeinen Durcheinander kaum noch jemand erinnert hatte.

Angewidert verzog Don Antonio das Gesicht. Fünf der Kerle, die sich ergeben hatten, waren inzwischen gehenkt worden. Ekelhaft, dachte er, geschmacklos. Was haben die Hurensöhne sich denn eingebildet? Daß sie ganz Havanna unterwerfen und niederbrennen können?

Er atmete tief durch. Die Gefahr war gebannt, die Residenz samt ihren Reichtümern gerettet. Das Leben würde wieder in seinen gewohnten Bahnen verlaufen, und er, der Gouverneur, brauchte nicht um seine Pfründe zu bangen. Fast war er versucht, den Sieg als seinen persönlichen Erfolg zu verbuchen.

Halt, dachte er, vorsichtig sein und jetzt keinen Fehler begehen. Das Schlitzohr in ihm gewann wieder die Oberhand, und es war seine Klugheit und Gerissenheit, die ihm suggerierten, den Bogen jetzt auf keinen Fall wieder zu überspannen.

Überwältigt breitete er die Arme aus, seufzte und trat auf Arne von Manteuffel und Don Juan de Alcazar zu, die in einem der großen Prunksäle der Residenz auf ihn warteten.

„Meine Freunde!“ rief er. „Ich habe allen Grund, mich bei Ihnen zu bedanken! Ohne Ihr mutiges Eingreifen wäre Havanna unter die Schreckensherrschaft der Zapata- und Catalina-Kerle geraten! Unvorstellbar! Ungeheuerlich!“

„Schon gut“, sagte Don Juan. Er war redlich darum bemüht, seine Animosität dem Dicken gegenüber zu verbergen. „Ich habe nur getan, was ich für meine Pflicht hielt, und der Señor de Manteuffel war so nett, uns entsprechend beizustehen.“

„Ein Lob verdienen der Teniente und seine Soldaten“, sagte Arne. „Ich hoffe, Sie vergessen das nicht, Don Antonio.“

Der Dicke riß die Augen weit auf. „Natürlich nicht! Wo denken Sie hin? Die Männer erhalten eine Auszeichnung und werden befördert. Ich bin ja so glücklich, daß sich alles zum Guten gewendet hat.“

„Das bin ich verständlicherweise auch“, sagte Don Juan kühl. Unter dem scharfen Blick seiner schiefergrauen Augen begann Don Antonio noch ein wenig mehr zu schwitzen. „Immerhin hat ja auch für mich einiges auf dem Spiel gestanden.“

Traurig wurde Don Antonios Miene jetzt, und innerlich schien er vor lauter Mitleid zu schmelzen. „O ja, ich weiß, Sie haben Furchtbares erdulden müssen. Erlauben Sie mir bei dieser Gelegenheit, Abbitte zu leisten für Ihre Festnahme.“ Leicht ging ihm das nicht über die Lippen. Aber es gab keinen anderen Weg: Er mußte sich in aller Form entschuldigen und auf diese Weise aus der Affäre ziehen. „Natürlich war das Ganze ein Versehen von mir. Ich bin mir dessen bewußt und übernehme selbstverständlich die Verantwortung dafür.“

Die Verantwortung für etwas zu übernehmen, das geschehen und abgeschlossen war, war eigentlich ein rein verbales Bekenntnis. Ändern ließ sich nichts mehr daran, daß der Gouverneur Don Juan bezichtigt hatte, mit den Piraten, die die Zweimast-Schaluppe aus dem Hafen entführt hatten, unter einer Decke zu stecken. Auch konnte er nicht leugnen, daß Don Juan nach seiner Festnahme zur Zwangsarbeit verdonnert worden war, wobei man ihn nach Kräften schikaniert hatte.

Aber Don Antonio wußte sein Bedauern – das in Wirklichkeit nicht sonderlich groß war – in passende Worte zu kleiden. Überhaupt, er war bereit, eine gehörige Standpauke in Kauf zu nehmen und vor Don Juan, dem Sonderbeauftragten, ein bißchen zu Kreuze zu kriechen. Das alles war nicht so schlimm und diente einem guten Zweck – nämlich dem, daß Don Antonio einerseits seinen Privatschatz behalten durfte und andererseits kein Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde.

„Wir können die Angelegenheit vergessen“, sagte Don Juan, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Er hatte Wichtigeres zu tun und mußte Prioritäten setzen. Seine vordringliche Aufgabe war es, den Piraten das Handwerk zu legen – und zwar gründlich – und Philip Hasard Killigrew, den Erzfeind der spanisch-portugiesischen Nation, zu suchen und zu finden.

Arne hätte den Dicken nicht so leicht durch die Maschen schlüpfen lassen. Aber er sah auch keinen Grund dafür, Don Juan jetzt in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Don Antonio würde auch weiterhin der Gouverneur von Kuba bleiben, daher war es nur ratsam, es sich mit ihm nicht zu verderben.

Die drei Männer blickten zu den Leibwächtern und Lakaien, die die Truhen, Kisten und Schatullen mit den privaten Reichtümern des Don Antonio wieder in den Keller der Residenz hinuntertrugen. Don Antonio fiel ein dicker Stein vom Herzen, weil Don Juan ihm verzieh. Somit war eigentlich alles wieder in Ordnung und im rechten Lot. Aber plötzlich wandte sich Don Juan doch wieder mit einem Ruck zu ihm um.

„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Don Antonio“, sagte er.

Der Dicke zuckte fast zusammen. „Wie bitte? Was denn?“

„Daß Sie das alles wieder im Keller unter Verschluß bringen. Denken Sie doch mal nach.“

Don Antonio gab sich redlich Mühe, zu begreifen, auf was Don Juan hinauswollte, aber seinem verdatterten Gesicht war in aller Deutlichkeit abzulesen, daß er nur eines ahnte: Hier wurde eine Teufelei gegen ihn ausgeheckt. Arne hätte am liebsten laut losgelacht.

„Halten Sie wenigstens einen kleinen Teil des Schatzes zurück“, sagte Don Juan. „Sie müssen mit gutem Beispiel vorangehen – und es trifft ja auch keinen Armen. Die Gelder sollten zum Wiederaufbau der zerstörten Teile der Stadt zur Verfügung gestellt werden.“

„Aha“, sagte Don Antonio betroffen, dann: „J-ja, natürlich. Eine gute Idee. Sicherlich wäre mir das auch noch eingefallen.“

„Don Juan war nur etwas schneller“, sagte Arne und verfolgte mit Genugtuung, wie Don Juan de Alcazar zu den Lakaien und Leibwächtern schritt und selbst die Truhen aussuchte, die dem Wiederaufbau Havannas dienen sollten.

Don Antonio hätte um ein Haar aufgestöhnt. Der kleine Teil, so stellte sich heraus, war fast die Hälfte seines geliebten Privatbesitzes. Aber er war machtlos gegen Don Juans Initiativen. Der Mann war weisungsbefugt, niemand durfte ihm widersprechen. Die Truhen wurden an einen „neutralen“ Platz gebracht, und zwar in ein Turmzimmer des Castillo de la Punta. Hier wurden sie fortan im vierstündigen Turnus umschichtig von jeweils zwei Soldaten bewacht.

Don Antonio war heilfroh, als Don Juan de Alcazar und Arne von Manteuffel endlich wieder gegangen waren. Er zog sich in seine Gemächer zurück, ließ sich auf ein prunkvolles Polstergestühl sinken und winkte seine Lakaien heran. Einer mußte ihm mit einem Federbusch frische Luft zufächeln, ein anderer versorgte den fettleibigen Mann mit kühlen Getränken.

Allmählich gelang es Don Antonio, seine Gedanken wieder zu ordnen. Trotz allem mußte er zufrieden sein. Don Juan hatte kein Verfahren gegen ihn eingeleitet, obwohl er es aus drei Gründen hätte tun können: wegen der unrechtmäßigen Verhaftung eines Agenten der spanischen Krone, wegen seiner Unfähigkeit als Gouverneur, dem Angriff der Piraten wirksam entgegenzutreten und schließlich wegen der zwielichtigen Existenz eines Privatschatzes, dessen Menge weit über das Maß dessen hinausging, was die spanische Krone einem Gouverneur zuzubilligen bereit gewesen wäre.

Eben – es war eine Menge faul in der Amtsführung des Gouverneurs von Kuba. Don Juan hätte ihn mit Leichtigkeit von seinem Thron stürzen können. Aber er tat es nicht. Dafür mußte Don Antonio ihm außerordentlich dankbar sein. Er atmete jetzt wieder ruhig und regelmäßig und nahm sich vor, sich seinen Amtsgeschäften mit Sorgfalt zu widmen – im Rahmen des Vertretbaren natürlich. Schließlich sollte das Ganze nicht in Arbeit ausarten.

Wenige Stunden später beehrte Don Juan de Alcazar den dicken Don Antonio erneut mit seinem Besuch. Sie saßen in der Loggia der Residenz, tranken kühlen Fruchtsaft und blickten auf die Dächer von Havanna. Hier und dort schwelte es noch, aber der Wiederaufbau hatte bereits begonnen. Soldaten und Bürger arbeiteten Hand in Hand, und es herrschte eine Art der Solidarität, wie es sie vorher kaum gegeben hatte.

Don Juan sah zum Hafen und sagte: „Unter den sechs Schaluppen, mit denen die Piraten in den Hafen eingedrungen sind, befindet sich nicht die Zweimast-Schaluppe, die für mich umgerüstet werden sollte.“

„Über diesen Punkt habe ich bereits mit einem der Kerle, die sich ergeben haben, gesprochen“, erklärte der Gouverneur.

Don Juan hatte den Plan gehabt, mit der Zweimast-Schaluppe zu den Bahamas aufzubrechen, um dort mit seiner Suche nach Philip Hasard Killigrew zu beginnen.

„Und mit der Schaluppe fehlen auch die Silberbarren, die in der Nacht vom 11. auf den 12. März geraubt worden sind“, fuhr er fort. „So ist zum einen die Silberladung für den König nicht vollständig, und zum anderen bin ich nicht der Mann, der sich eine Schaluppe so ohne weiteres wegnehmen läßt, werter Don Antonio.“

„Zumal das Schiffchen aus gesunder, harter Eiche gebaut ist und Sie es sich extra ausgesucht haben“, fügte der Dicke hinzu. Wollte Don Juan Havanna verlassen? Recht so – sollte er nach der Schaluppe suchen, recht lange nach Möglichkeit! Darauf wartete er, Don Antonio, ja nur.

„Was hat der Mann, den Sie vernommen haben, zu dieser Sache ausgesagt?“ wollte Don Juan wissen.

„In der Hoffnung, begnadigt zu werden, hat er gesungen wie eine Nachtigall an einem lauen Frühlingsabend“, erwiderte Don Antonio genüßlich. „Er hat mir verraten, wo sich die Schaluppe und die Silberbarren befinden – nämlich im Versteck der Catalina-Horde.“

„Und wo finde ich dieses Versteck?“

„In einer Bucht der westlichen Inseln des Archipels von Sabana.“ Don Antonio gab einem seiner Diener durch eine Gebärde zu verstehen, er solle die Karte bringen, die er in seinem Arbeitszimmer schon bereitgelegt hatte.

Der Lakai überreichte ihm die Karte, Don Antonio breitete sie auf einem Tischchen vor Don Juan aus. Sie zeigte Kuba und die vorgelagerten Inseln recht detailliert, wie Don Juan angenehm überrascht feststellte.

Die Sabana-Gruppe begann etwa achtzig bis fünfundachtzig Meilen östlich von Havanna und zog sich an der nördlichen Küste von Kuba entlang.

„Die bewußte Insel befindet sich genau östlich von Kap Hicacos“, erklärte der Dicke. „Das ist die Spitze einer langen, schmalen Landzunge nördlich von Cardenas – hier.“ Er deutete auf den Platz.

Don Juan beugte sich über die Karte und versuchte mit Hilfe eines Vergrößerungsglases, weitere Einzelheiten zu erkennen.

Don Antonio lächelte breit und selbstbewußt. Er förderte eine Skizze zutage, die er bislang sorgsam in seinem Wams verwahrt hatte. „Hier, der Kerl hat sogar eine Zeichnung für uns angefertigt.“ Er faltete sie auseinander und legte sie auf die Karte. Don Juan blickte wie gebannt darauf.

„Ausgezeichnet“, sagte er. „Da haben Sie wirklich sehr gut gehandelt, Don Antonio.“

Eine Hand wäscht die andere, dachte dieser. Laut sagte er: „Danke. Wie Sie sehen, befindet sich die Bucht am Südrand der Insel, also mit Blick auf die kubanische Küste.“

„Haben Sie noch mehr erfahren?“

„Ja. Zur Bewachung des Silberschatzes wie auch der bisher erbeuteten Schätze dieser Piratenbande sind sechs Kerle im Schlupfwinkel zurückgeblieben.“

Don Juan sah zu ihm auf. „Wissen Sie, was ich glaube? Es muß dieselbe Bande sein, die genau in diesem Gebiet über die Galeone hergefallen ist, auf der ich mich in Spanien eingeschifft hatte, um hierher zu segeln.“

Hätte Arne von Manteuffel nicht mit der „Wappen von Kolberg“ in den Kampf eingegriffen, wäre es das Ende der spanischen Galeone samt ihrer Besatzung gewesen. Seinerzeit waren Arne und Don Juan sich zum erstenmal begegnet, und seitdem hatte der Deutsche dem Spanier insgesamt viermal das Leben gerettet.

„Ja“, bestätigte Don Antonio. „Auch das hat der Schnapphahn im Verhör zugegeben.“

„Das genügt mir“, sagte Don Juan und erhob sich.

„Was haben Sie vor?“ fragte der Dicke.

„Können Sie sich das nicht denken?“

„Sie wollen zu den Sabana-Inseln segeln, die Schaluppe und die Silberbarren wiederholen und mit den Kerlen endgültig aufräumen“, sagte Don Antonio. „Aber Sie haben kein Schiff und keine Mannschaft. Warten Sie wenigstens ab, bis ich Ihnen ein paar Soldaten zur Verfügung gestellt habe. Wir sollten hierüber mit Don Ruiz sprechen.“

„Nein.“ Don Juan verspürte nicht die geringste Lust, mit Don Ruiz de Retortilla, dem Stadtkommandanten, zu verhandeln. Don Ruiz gehörte zur Kamarilla des Gouverneurs und hatte ihn nur zu bereitwillig in Haft genommen. Auf diesen Mann konnte und wollte er verzichten. „Nein“, sagte er noch einmal. „Die Soldaten werden in Havanna gebraucht, keiner von ihnen kann jetzt entbehrt werden. Ich habe vor, das Problem auf meine Art zu lösen.“

„Ich wollte Ihnen nur meine Hilfe anbieten.“

Don Juan lächelte. „Dafür danke ich Ihnen. Aber es genügt mir, daß Sie den Piraten vernommen haben und zu einem Ergebnis gelangt sind. Den Rest überlassen Sie ruhig mir.“