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Roy Palmer

Ein Mann
wird ausgesetzt

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Ein unbekannter Künstler hatte ein Porträt von dem Mann aus Genua gemalt, es hing im Escorial. König Philipp II., Seine Allerkatholischste Majestät, verharre, so hieß es, bei seinen Stunden dauernden Wanderungen durch die endlos wirkenden Flure hin und wieder nachdenklich vor dem Bild. Vielleicht sprach er diesem Cristóbal Colón nachträglich seine Anerkennung für die Entdeckung der Neuen Welt aus. Oder aber er ging mit ihm ins Gericht, weil es – eingedenk der Tatsache, daß die Blüte des Imperiums inzwischen zu welken begonnen hatte – möglicherweise doch besser gewesen wäre, wenn der berühmte Dreierverband an jenem 3. August 1492 im Hafen Palos nicht die Anker gelichtet hätte.

Keiner wußte es, und es war letztlich Philipps persönliche Angelegenheit, welchen Inhalts die stummen Zwiegespräche waren. Im übrigen ließen sich die Dinge ja auch nicht mehr aus der Welt schaffen. Der Kontinent Amerika war nun einmal entdeckt und wurde nach Kräften um seine Gold- und Silberschätze erleichtert. Ständig waren die Konvois dickbäuchiger Galeonen zwischen der Neuen Welt und dem spanischen Mutterland unterwegs, der Verkehr florierte und wurde von der Casa de Contratación mit Nachdruck betrieben, weil auch dort noch niemand begriffen hatte, daß das viele Gold und Silber Spanien-Portugals wirtschaftlichen Niedergang und Ruin beschleunigen würde.

Damals, vor über hundert Jahren, war es ein waghalsiges Abenteuer gewesen, den Atlantik zu überqueren. So war Kolumbus als verwegener und tollkühner Mann in die jüngste Geschichte eingegangen. Das Gemälde im Escorial schien denn auch dieses Draufgängertum wiederzugeben, und man konnte nicht umhin: Man mußte ihn bewundern, diesen Mann, der durch sein Unternehmen die Welt verändert hatte.

In Genua selbst wußte man besser über den Sohn des Hafens an der Küste von Ligurien Bescheid. Hier kursierten – bei allem Seemannsgarn, das in den Kneipen und Kaschemmen am Golf gesponnen wurde – weniger vorteilhafte und patriotische Berichte, die das wahre Wesen des Cristofero Colombo zum Inhalt hatten, wie er in seiner Heimat genannt wurde.

Quenglerisch und engstirnig sollte er gewesen sein, selbstüberheblich, eitel, raffsüchtig und kleinlich. Falsches und Richtiges, Frömmigkeit und Aberglauben verquickten sich in ihm, er hätte wenig Bildung und kaum charakterliche Größe. Auch die Begabung zu führen, hätte er nicht, nur ein gehöriges Maß an Sturheit und Engstirnigkeit.

Die Erkenntnisse des Florentiner Gelehrten Toscanelli über die Kugelgestalt der Erde wandte er irrtümlich an, indem er sich in den Kopf setzte, der westliche Indienweg sei der kürzeste. Verbohrt hielt er an dieser Annahme fest, und nichts und niemand vermochte ihn von seinem Wahn abzubringen. Ein geographischer Narr, kein Abenteurer – und seine Entdeckung hatte ihm kein Glück gebracht, nicht die Geltung und die Reichtümer, die er sich erhofft hatte.

Don Rafael Manzano war in Genua gewesen – und hatte sich gründlich umgehört, sozusagen mit dem Eifer eines Forschers. Was er über Kolumbus’ Wesen erfahren hatte, hatte ihn eigentlich in seinem geplanten Unternehmen nur bestätigt. Denn: Kolumbus war ein Pechvogel gewesen, dem es nicht gelungen war, diese oder jene geheime Quelle des Reichtums zu seinen Gunsten auszuschöpfen. Seine Stärke war die Summierung von Schwäche und Unglück gewesen. 1506 war er in Armut und Vergessenheit gestorben.

Don Rafael Manzano war weit davon entfernt, Mitleid mit Kolumbus zu empfinden. Solche Gefühle waren ihm fremd. Er war ein kaltschnäuziger, zynischer Mensch ohne Skrupel und Gewissen. Die Männer seines Schiffes, der Dreimast-Galeone „San Nicolas“, nannten ihn einen brutalen Leuteschinder.

Genua war nur die letzte Etappe Don Rafaels gewesen, ehe er die Reise über den Atlantik angetreten hatte. Weder in Genua noch anderswo, auch das hatte er erfahren, wußte man etwas von der Existenz der geheimen Tagebuchaufzeichnungen des Kolumbus. Das war beruhigend. Im Besitz dieser Unterlagen – auch von Kartenmaterial und Kursberechnungen – war einzig und allein die Casa de Contractación.

Sie war Don Rafaels Auftraggeberin, in ihrem Namen segelte er Ende Februar 1594 mit der „San Nicolas“ nördlich der Turk- und Caicos-Inseln mit Kurs auf die Bahamas.

Don Rafael war nach übereinstimmender Ansicht der Señores von der Casa der beste Mann für dieses Unternehmen: kaltblütig und gründlich, diszipliniert und pedantisch zugleich. Daß er vor seinem Aufbruch so viele Informationen wie möglich gesammelt hatte, sprach für ihn.

Er war somit bestens vorbereitet und nichts konnte seiner Aufmerksamkeit entgehen. Die „San Nicolas“ war ein bewaffnetes Expeditionsschiff mit besonderen Aufgaben: Don Rafael und seine Mannschaft sollten die von Kolumbus und auch von Ponce de León nördlich von Kuba und Hispaniola entdeckten Inseln – also die Bahamas – genau vermessen und dabei feststellen, welche der Inseln dazu geeignet wären, auf ihnen Stützpunkte zu errichten oder sie gar zu besiedeln.

Don Rafael Manzano war der Kapitän der „San Nicolas“ und der Leiter der Expedition zugleich. Sein bartloses Gesicht war von einigen Narben gezeichnet, die von früheren Kämpfen herrührten. Seine Nase war relativ groß, sein Kinn kantig, und der Mund zu einem grimmigen, fast ewig widerwilligen und verächtlichen Ausdruck verzogen. Seine Haare fielen ihm im Nacken fast bis auf die Schultern. Er trug einen flachen Hut und ein Halstuch, keine Uniform und keine Perücke. Er wirkte in seinem gesamten Wesen mehr wie ein Freibeuter, weniger wie der Führer eines Forschungsschiffes.

Die Casa hatte ihm für das Unternehmen alle Unterlagen zur Verfügung gestellt, darunter eben auch das Tagebuch des Kolumbus von seiner ersten Reise. Es war von einem Mann namens Las Casas abgeschrieben worden. Don Rafael war beim genauen Studium dieser Aufzeichnungen auf eine Eintragung, gestoßen, die für ihn von geradezu unerhörtem Wert war. Gleichzeitig hatte er sich vergewissert, daß weder Las Casas noch seine Auftraggeber diesen wenigen Sätzen besondere Bedeutung beigemessen hatten.

Bezüglich der Insel San Salvador, ursprünglich Guanahani, hieß es da: „Auf dieser Insel wird Gold gewonnen, aber die Zeit war zu kurz, um den vollständigen Nachweis dafür zu erbringen. Auch das Gold, das die Inselbewohner als Anhängsel an den Nasen tragen, wird hier gefunden.“

Don Rafael war nicht der Mann, der sich einen solchen Hinweis entgehen ließ. Er war fest davon überzeugt, daß Kolumbus sehr genau wußte, was er seinem Tagebuch anvertraut hatte. Er war entschlossen, dieses von dem Entdecker erwähnte Gold in die eigene Tasche fließen zu lassen.

So steuerte er jetzt als erstes San Salvador an – ohne seinen Offizieren den eigentlichen Zweck zu verraten. Bei einer Versammlung in der Kapitänskammer der „San Nicolas“ erklärte er lediglich: „In Erfüllung unseres Auftrages müssen wir mit der Erkundung genau dort beginnen, wo auch Kolumbus zuerst auf Land gestoßen ist.“

„Ein kleines Eiland, das von den Arawak-Indianern Guanahani genannt wird“, sagte der Erste Offizier Albeniz. „Die Ostseite – also die dem Atlantik zugekehrte Seite – scheint vorgelagerte Klippen und Riffs aufzuweisen, wenn man den Karten vertrauen darf.“

„Richtig. Die Karten stimmen“, sagte Don Rafael. „Wir werden wie Kolumbus die Insel umsegeln und dort ankern, wo auch er landete: in der Mitte der Westküste.“

„Dort warfen die ‚Santa Maria‘, die ‚Nina‘ und die ‚Pinta‘ Anker“, sagte Martin Correa, der Zweite Steuermann. „Dort befindet sich ein meilenweiter weißer Sandstrand.“

„Woher wissen Sie das?“ fragte Don Rafael mißtrauisch.

„Ich habe es gelesen, Señor.“

„Wo denn, wenn man fragen darf?“

Weder Correa noch die anderen Anwesenden – vom Ersten bis zum Profos – wunderten sich über die Schärfe in Don Rafaels Stimme. Er war unberechenbar, man wußte nie, wie er auf irgendwelche belanglose Bemerkungen reagierte. So gesehen, wäre es besser gewesen, wenn Correa den Mund gehalten hätte.

„In einem Buch, das man in Spanien kaufen kann“, erwiderte Correa ruhig. „Es schildert das Leben und die Fahrten des Kolumbus, Señor Capitán. Man kann es überall kaufen.“

„Danke, das genügt.“ Don Rafael war erleichtert. Natürlich kannte er sämtliche Bücher, die über Kolumbus geschrieben worden waren. Belangloses Zeug, dachte er, Plunder, der den wahren Sachverhalt verschweigt.

Ständig befürchtete er, jemand könne in der Kapitänskammer herumschnüffeln und die geheimen Aufzeichnungen finden und lesen. Natürlich kam dafür nur einer der Offiziere in Frage, denn das „gemeine Schiffsvolk“, wie er die Decksleute nannte, war weder des Lesens noch des Schreibens kundig.

Und überhaupt – diesem Martin Correa traute er, Don Rafael, nicht recht über den Weg. Der Mann war ihm zu ruhig, zu gescheit, zu aufmerksam. Ständig hatte Don Rafael das Gefühl, von ihm durchschaut worden zu sein. So war schon seit einiger Zeit in ihm der Plan herangereift, sich des Zweiten Steuermannes zu entledigen – so schnell wie möglich und bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm bot.

Don Rafael räusperte sich. „Um Ihre Darstellung zu vervollständigen, Correa: Der Sandstrand erstreckt sich nach Norden und nach Süden. Dahinter befindet sich bewaldetes Hügelland. Die Hügel sind bis zu hundertfünfzig Fuß hoch. Auf der Insel selbst sind an die achtundzwanzig Binnenseen anzutreffen. Die Insel hat die Form einer Niere, die Mitte der Westküste ist nach innen gewölbt und bietet Schutz gegen die Atlantikwinde. Guanahani ist längst entvölkert, wie Sie vielleicht auch wissen.“

„Natürlich, Señor“, sagte Correa. „Die eigentlichen Bewohner, die Arawaks, wurden in spanische Minen verschleppt oder ausgerottet.“

„Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?“ fragte Don Rafael schroff.

„Als Zweiter Steuermann eines Expeditionsschiffes halte ich mich lediglich an die Wahrheit, Señor“, erwiderte Correa.

Die warnenden Blicke, die ihm die anderen Offiziere, vor allem Albeniz, zuwarfen, entgingen ihm natürlich nicht. Aber er konnte nicht anders, er mußte Don Rafael bei jeder Gelegenheit, die sich bot, ein wenig herausfordern. Es war zwar seine erste Reise unter dem Kommando Don Rafael Manzanos, aber er hatte die Besonderheiten dieses Mannes bereits zur Genüge kennengelernt.

Während der Überfahrt hatte Don Rafael einen Decksmann wegen einer Geringfügigkeit brutal auspeitschen lassen. Einen anderen hatte er zwei Wochen lang in die Vorpiek sperren lassen, nur, weil er ein paar Fallen nicht ordentlich genug aufgeschossen hatte. Den Moses ließ er schikanieren, wo er nur konnte. All das ging Correa, der ganz andere Prinzipien hatte, erheblich gegen den Strich.

Don Rafael beobachtete Correa aus schmalen Augen. Sein Mund verzog sich zu einer Grimasse.

„Unser Aufenthalt auf Guanahani wird nicht von langer Dauer sein“, sagte er. „Señores, begeben Sie sich jetzt wieder auf Ihre Posten, und sorgen Sie dafür, daß die Insel in einigem Abstand im Süden gerundet wird. Dann lassen Sie ankern.“ Er hielt seinen Blick unverwandt auf Correa gerichtet. „Sie, Señor Correa, bleiben noch. Ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.“

Don Rafael saß in starrer Haltung hinter seinem Kapitänspult. Seine Hände lagen auf der Platte, die Finger waren leicht gespreizt. Er hörte nicht auf, Correa zu fixieren, aber der Mann begegnete seinem Blick offen und mit Gelassenheit. Auch dieses Verhalten reizte den Kapitän. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte Correa angeschrien, aber wohlweislich bezwang er diesen Drang.

Correa stand vor dem Pult und sah auf seinen Kapitän hinunter. Sollte er ihm offen sagen, was er von ihm hielt? Nein. Auch er konnte sich beherrschen. Und er wollte nicht riskieren, wegen Insubordination oder Bordrebellion zum Tod verurteilt zu werden. Auch das war Don Rafael nämlich zuzutrauen.

„Señor Correa“, sagte Don Rafael nicht sonderlich laut. „Ich habe eine Sonderaufgabe für Sie. Sie ist geheim. Aus diesem Grund teile ich Ihnen nicht vor dem versammelten Achterdeck, sondern unter vier Augen mit, was ich von Ihnen verlange.“

„Ja, Señor. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.“ Correa sagte es nicht ohne Ironie, aber Don Rafael schien den Beiklang geflissentlich zu überhören.

„Sie wissen ja noch gar nicht, was Sie erwartet.“ Offener Hohn schwang in Don Rafaels Stimme mit, jedes Wort war eine Herausforderung. „Ich werde Sie auf der Insel aussetzen.“

„Aus welchem Grund?“

„Zu Forschungszwecken. Offiziell wird es heißen, daß Sie sich dazu freiwillig gemeldet haben“, entgegnete Don Rafael. „Sie sind ja ein kluger Kopf und scheinen sehr wißbegierig zu sein.“

„Das ist richtig, Señor“, sagte Martin Correa kalt. „Aber Sie wollen mich allein auf Guanahani zurücklassen und einfach weitersegeln?“

„Selbstverständlich. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Bis wir alle Inseln angelaufen und genau untersucht haben, vergehen ohnehin Wochen.“

Correa war wie vor den Kopf gestoßen. „Dann setzen Sie auf jeder Insel einen Mann aus und reduzieren dadurch die Besatzung?“

„Das werde ich mir noch genau überlegen. Im übrigen dürfen Sie die Entscheidung ruhig mir überlassen“, erwiderte Don Rafael. „In erster Linie geht es mir jetzt einmal um Guanahani. Sie werden die Insel genau vermessen und erkunden.“

„Geben Sie mir sechs Männer, und ich bringe Ihnen die gewünschten Ergebnisse innerhalb von zwei Tagen.“

„Nein. Das dauert mir zu lange.“

„Señor Capitán, ich sehe keinen Sinn darin, wochenlang allein auf der Insel zu bleiben.“

Don Rafael erhob sich langsam. „Mit anderen Worten, Sie weigern sich, den Befehl auszuführen?“

„Nein, das tue ich nicht.“

„Ich verstehe Sie nicht ganz.“ Don Rafael trat hinter dem Pult hervor und blieb dicht vor Correa stehen. „Was soll das, wenn Sie versuchen, mit mir über diese Order zu diskutieren?“

Er wartete nur darauf, Correa abführen und bestrafen zu lassen. Es gab zwei Möglichkeiten, den Mann zum Schweigen zu bringen. Entweder blieb er auf San Salvador, oder aber er wurde durch ein Bordgericht zum Tod verurteilt. Correa spürte genau, auf was der Kapitän hinauswollte. Er war ihm lästig. Kritik an Bord der „San Nicolas“ wurde nicht geduldet.

Schweigend standen sie sich gegenüber. Ihre beiderseitigen Animosität war nie deutlicher zum Vorschein getreten.

„Sie lassen mir also keine Wahl?“ fragte Correa endlich.

„Natürlich nicht. Entweder lassen Sie sich aussetzen, oder aber Sie werden wegen Befehlsverweigerung und damit Anstiftung zur Meuterei an die Rah geknüpft“, erwiderte der Kapitän. „Habe ich mich jetzt deutlich genug ausgedrückt?“

„Ja, Señor.“