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Patricia Jane Castillo

Exymetrie

1. Prelude





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prelude

Prelude

 

 

Hast du dir ausgesucht, auf welcher Seite des Schachbretts du stehst?

Oder hat diese Wahl jemand anders getroffen, ohne dich zu fragen?

 

Ich werde die Melodie nie vergessen,

das Echo der Prelude verhallt nicht.

 

Es fegt die Staubschicht von alten Erinnerungen

1.

 

 

 

Narilenne zog die blonde Perücke von ihrem Kopf und verstaute sie in ihrer großen Handtasche. Mit geschickten Handgriffen löste sie das Haarnetz.

Nussbraune Strähnen fielen ihr in den Nacken. Sie schüttelte das Haar und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Die glatten Fläche bedeckte beinahe die gesamte Wand des Raumes. Vor Narilenne stand eine schlanke Frau mit einem taillierten Anzug, hochhackigen Schuhen und eindeutig zu viel Make-up.

Sie war es nicht gewohnt so viel Schminke zu tragen. Die blauen Linsen brannten in ihren Augen. Sie verwischte den Mascara, als sie die erste Kontaktlinse entfernte.

Ihre Augen tränten. Keine Maskerade ging spurlos an ihr vorbei. Warum sie bei dieser Mission ausgerechnet eine Blondine spielen musste, verstand sie immer noch nicht. Daqari hatte darauf bestanden. Und es machte wenig Sinn sich seinen Anweisungen zu widersetzen. Er hatte penibel auf jedes Detail geachtet.

Narilenne seufzte. Sie war oftmals davon genervt, doch davon hing der Erfolg ihrer Missionen ab. Endlich kam wieder ihre bernsteinfarbene Iris zum Vorschein. Eisblau stand ihr nicht.

Manchmal konnte sie sich nicht zurückhalten. Der Sagent hatte ihr verboten ihre falsche Identität mitten in einer Mission abzulegen. Aber ihre Kleidung war zu eng und ihr Rücken schmerzte von den hohen Absätzen. Sie brauchte ihre Bewegungsfreiheit. Egal welche Standpauke sie dafür erwartete. Mit raschen Bewegungen wischte sie die helle Grundierung von Kinn und Wangen.

In ihrer Tasche vibrierte es. Die anderen warteten sicherlich schon im Van. Der Auftrag war so gut wie erledigt. Sie musste nur noch unauffällig durch den Flur des Luxushotels schlendern und mit dem Lift in die Tiefgarage fahren.

Der Blick zur Uhr beruhigte sie. Narilenne lag gut in der Zeit. Sie konnte einen kleinen Spaziergang machen und würde immer noch pünktlich zum Treffpunkt gelangen. Mit einem Grinsen malte sie sich Daqaris Reaktion aus, wenn sie es wagen sollte sich einen solchen Aussetzer zu erlauben. Für eine mutwillige Verzögerung der Mission drohte ihr mehr als eine kleine Standpauke. Allein um seinen fassungslosen Gesichtsausdruck zu sehen, lohnte es sich, diese Variante in Erwägung zu ziehen.

Narilenne fischte ihr Voune aus dem Seitenfach der Tasche.

Sireza hatte ihr eine Nachricht geschrieben.

Kommst du? Daqaris monotones Gerede hält man keine zwei Minuten aus.

Narilenne lachte. Ihre Schwester hatte ihren Part der Mission erfüllt und wartete im Van auf die Rückkehr der anderen.

Gemeinsam mit Daqari Hentes, der sich gerne selbst reden hörte. Es wurde Zeit ihr Schwesterchen von diesem Leid zu befreien. Der Sagent hatte dafür gesorgt, dass die Überwachungskameras für eine Stunde die Bilder vom Vortag abspulten.

Daqari hämmerte ihnen ständig ein, dass sie ihre paranormalen Fähigkeiten trainieren sollten. Diese Mission war die ideale Gelegenheit. Narilenne verspürte wenig Lust darauf. Für sie hatte der wahre Freitag begonnen. In wenigen Minuten würde sie endlich frei haben. Ein letzter Blick in den Spiegel. Gutgelaunt stieß sie die Tür auf und betrat den Flur. Der Fahrstuhl lag nur wenige Schritte von ihr entfernt.

Sollte sie vielleicht die Treppe nehmen? Nein. Sie hatte sich für heute genug bewegt. Genauso wenig würde sie ihre Energie dafür verwenden, eines ihrer übersinnlichen Talente zu verfeinern.

Nicht heute. Sie warf einen Blick nach draußen. Die Außenwände waren vollkommen verglast und boten einen herrlichen Ausblick auf die Megacity.

Schmale rotgoldene Streifen strahlten durch die Klüfte zwischen den Hochhäusern. Es war später Nachmittag. Der anbrechende Abend tauchte die Spitzen der Wolkenkratzer bereits in zartes Violett. Narilenne schloss die Augen und genoss den Sonnenschein auf ihrem Gesicht. Alles war nach Plan gelaufen. Sie drückte auf den Knopf neben der Metalltür. Die Anzeige auf einer quadratischen Tafel verriet ihr, dass sich der Fahrstuhl gerade im 18. Stockwerk befand.

Narilennes Vorfreude wuchs. Heute war Freitag und dieses Wochenende hatte sie keinen Extra-Unterricht. Sie konnte endlich...

Bumm.

Ein Beben erschütterte das Gebäude. Narilenne fiel auf die Knie. Ihre Hände schrammten über die Wand.

Die heutige Mission war bis jetzt so gut gelaufen.

Ranxour.

Es konnte nur diese verbrecherische Organisation sein. Sie kannten keine Gnade. Ihr Zwecke heiligten jedes Mittel. Narilenne rappelte sich auf. Sie presste ihre Handtasche an sich und begann zu laufen. Das Treppenhaus war nicht weit entfernt. Es war wahnsinnig jetzt noch den Fahrstuhl zu nehmen. Falls er nach dieser heftigen Detonation noch funktionierte, war er eine Falle. Sie durfte keinem von Ranxour in die Hände geraten.

Sie gehörte zur weißen Seite des Schachbretts. Zu Estra. Ranxour stellte die schwarzen Figuren in diesem Spiel. Ihr Mobiltelefon vibrierte. Wahrscheinlich eine Nachricht von Sireza. Oder Daqari. Sie nahm mehrere Treppenstufen mit einem Sprung und hechtete über das Gelände.

Sechster Stock. Bis zur Tiefgarage war es nicht mehr weit. Eine weitere Explosion erschütterte das Gebäude. Dieses Mal weiter oben. Staub rieselte von der Decke.

Narilenne beeilte sich. Wie gut, dass sie nicht mehr die High Heels trug. Geduckt rannte sie an der Tür zum vierten Stockwerk vorbei. Tumult war ausgebrochen. Hotelangestellte liefen durch die Gänge und riefen etwas. Die Angst der Menschen war greifbar. Wie eine graue Wolke hüllte sie den Raum ein. Die Emotionen der Menschen drückten auf Narilennes Stimmung.

Bitte nicht jetzt, wo sie einen klaren Kopf brauchte. Warum hatte sie sich nicht geschützt? Sie war eindeutig zu sorglos an die heutige Mission gegangen.

Ihr Kopf dröhnte. Zweiter Stock. Die Tiefgarage war in greifbarer Nähe. Die Tür in der dritten Etage wurde aufgerissen. Narilenne hielt den Atem an.

»Mama, was ist passiert? Warum müssen wir gehen?«

»Es ist nicht mehr sicher hier. «

»Warum denn?«

»Das ganze Hotel könnte einstürzen.«

Zwei Kinder wimmerten. Ihre Mutter säuselte ihnen beruhigende Worte ins Ohr. Narilenne atmete erleichtert auf. Ganz normale Hotelgäste. Keine Spur von Ranxour. Sie erreichte den Keller. Auf dem Weg in das Hotel hatte sie sich den Weg gemerkt. Er führte durch mehrere Waschkeller und Aufenthaltsräume der Bediensteten in die Tiefgarage.

Sie warf einen Blick auf ihr Voune. Daqari hatte ihr geschrieben.

Sie sind im Keller. Gehe auf keinen Fall hinunter.

Verdammt. Warum hatte sie die Nachricht nicht früher gelesen? Sie saß in der Falle. Schritte ertönten. Sie waren zu schnell und zielgerichtet, um von Hotelangestellten zu kommen.

Narilenne sah sich um. Auf dem Gang befanden sich vier Waschräume. Ohne zu überlegen stürzte sie in den Ersten zu ihrer linken. Der Geruch nach Waschpulver und Bleichmittel strömte in ihre Nase. Überall hingen weiße Laken. Mehrere Waschmaschinen waren in Betrieb. Zwei Dienstmädchen starrten sie verwundert an.

Hatten sie die Explosionen nicht gehört?

»Sie dürfen hier nicht einfach so rein. Dieser Bereich ist nur für Mitarbeiter«, meinte ein blasses Mädchen mit schwerem Akzent.

»Ich werde euch nicht lange aufhalten.« Narilenne blieb kaum noch Zeit. Die beiden hier sahen nicht sehr kooperativ aus.

Die Schritte auf dem Flur kamen näher.

»Ich bin nicht hier, ok?« Sie sah von einer Bediensteten zur Nächsten und verlieh ihren Worten mit ihrem Willen Nachdruck. Es war eine leichte Hypnose. Ein Befehl, der von ihrem Unterbewusstsein geschluckt wurde. Narilenne war zu nervös, um ihn richtig auszuführen.

Hoffentlich würde es reichen. Sie schlug zwei frisch gewaschene Laken zurück und bahnte sich ihren Weg durch den Raum.

»Guten Tag mein Herr. Kann ich etwas für sie tun?« Das zweite Dienstmädchen sprach jemanden an. Dem entspannten Klang ihrer Stimme nach, musste die Hypnose wirken.

Narilenne kniete sich hinter einen großen Korb schmutziger Wäsche. Sofort fing sie an ihren Puls zu beruhigen.

»Ich suche eine schlanke Blondine. Etwa 1,75.« Es war ein junger Mann.

Narilenne warf ein paar Bezüge über sich und lugte zwischen den Laken hindurch. Sie konnte kaum etwas erkennen. Sie sah schwarze Sneakers und den Saum einer nachtblauen Jeans. Vielleicht konnte es ihr gelingen einen Blick auf sein Gesicht zu werfen. Die Identitäten von Ranxour waren mehr wert als Gold und Juwelen.

»So eine Frau habe ich heute noch nicht gesehen«, näselte die Angestellte mit dem Akzent. Vielleicht hatte Narilenne doch ein wenig übertrieben. Die beiden Frauen redeten, als ob sie sich an der Hotelbar ein paar Drinks zu viel genehmigt hätten. Sie war übers Ziel hinaus geschossen.

»Kann ich mich hier mal umsehen?« Seine Stimme war tief. Und samtig wie das Fell eines Panthers. Narilenne runzelte die Stirn. Arcans, die Agenten von Ranxour beherrschten die Manipulation wie niemand sonst.

»Natürlich«, antwortete die andere Arbeiterin.

Narilenne presste die Lippen aufeinander und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Hinter ihr gab es nur blanke Wand.

Der Arcan schlich fast lautlos durch den Waschkeller. Sie erhaschte einen Blick auf seine langen Beine. Er musste groß sein. Sein Oberkörper verbarg sich hinter einem hängenden Laken. Wenn sie doch nur sein Gesicht sehen könnte...

Narilenne hatte bereits einige Ranxour gesehen. Doch die Gesichter ließen sich kaum an einer Hand abzählen. Genauso wie die Sagents von Estra, versteckten die Mitglieder von Ranxour sich hinter falschen Namen und Masken. Sie tarnten ihre echte Energiesignatur, was es so gut wie unmöglich machte, sie zu finden.

Jeder Mensch besaß eine einzigartige Signatur, die ihn von anderen unterschied. Es war ein Schwingungsfeld, das seinen Körper als Form, Farbe und Klang umgab. Für das ungeübte Auge war dieses Feld nicht sichtbar. Doch wer fähig war, es zu lesen, konnte die Person überall wiederfinden. Aus diesem Grund lernten die Schüler bei Estra als erstes ihre individuelle Energiesignatur zu verbergen.

Eine innere Eingebung verriet Narilenne, dass sich das Gesicht dieses Arcans nicht auf der Liste befand, die Estra führte. Sie ging im Geist alle bekannten Signaturen der Arcans durch.

Keine davon passte. Narilenne machte sich ganz klein. Jeden Moment würde er sie entdecken. Sie wappnete sich für die bevorstehende Konfrontation. Gleich würde sie sein Gesicht sehen. Vielleicht war er unachtsam und sie konnte einen Blick auf seine Aura werfen. Doch was würde sie tun, wenn er angriff? Sie saß in der Falle. Er kam immer näher.

Verdammt.

»Iiiih!« Das ausländische Dienstmädchen kreischte.

Narilenne biss sich auf die Unterlippe.

»Eine Ratte!«

»Die wahren Bewohner der Großstadt.« Der Ranxour lachte. Er blieb stehen.

»Können sie dieses Biest vertreiben?«

»Wenn sie mich so darum bitten.« Sie hörte eine Prise Ironie heraus. Der Arcan drehte sich um und ging zu den Dienstmädchen.

Narilenne dankte dem Schicksal. Es gab eine winzige Chance zu entkommen. Sie musste ihre Angst zähmen, um ihre paranormalen Fähigkeiten gebrauchen zu können.

Mit mehreren Atemzügen verlangsamte sie ihren Herzschlag auf ein mäßiges Tempo. An einer Stange in ihrer Nähe hing ein Dienstmädchenkostüm. Ein tannengrüner Zweiteiler mit dem Logo des Hotels.

 

 

 

Das Tier musste der Strahlung eines Kernreaktors zum Opfer gefallen sein. Es war beinahe so groß wie ein Kaninchen. Neugierig wuselte es über den porösen Steinboden. Es war viel größer als normale Kanalratten. Er fixierte das Tier mit seinen Augen. Seine Befehle drangen in den Geist des Geschöpfes.

Verschwinde. Du wirst hier kein Futter finden.

Die Augen der Ratte richteten sich kurz auf ihn. Dann folgte ihre Schnauze einer neuen Fährte. Sie huschte zwischen den Füßen der ausländischen Arbeiterin hindurch. Ihre Pfoten machten schabende Geräusche, als sie über das ausgebeulte Linoleum des Flures lief und in den Kellergängen verschwand.

»Sie sind meine Rettung.«

Er nickte ihr zu. Das Tier aus den Tiefen der Kanalisation hatte seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Und nun war die Spur weg. Ausgelöscht wie ein Kerze im Wind. Nicht einmal eine Rauchschwade war übrig geblieben. Sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Ein Geräusch im hinteren Bereich des Raumes machte ihn stutzig.

Er schlug ein Laken zurück und entdeckte ein weiteres Dienstmädchen. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und hing Bettbezüge auf die Wäscheleine. Unter ihrer Haube lugte eine braune Strähne hervor. Wie ein Haselnussschale in der Sonne. Sie ging behände ans Werk, als ob sie es sehr eilig hätte. Irgendetwas an ihren Bewegungen erschien ihm seltsam. Oder war es ihre Haltung?

Ein Klingeln riss ihn aus seinen Beobachtungen.

»Planänderung. 1.7.3.5. «

Zu gerne hätte er der jungen Frau weiter bei ihrer Arbeit zugesehen. Etwas an ihrer Art faszinierte ihn. Er fuhr sich über die Stirn. Sein Verstand hatte die Bedeutung der Zahlenfolge schon längst entschlüsselt.

Es war Zeit aufzubrechen.

»Vielen, vielen Dank nochmal«, verabschiedete ihn das Dienstmädchen mit der Rattenphobie.

 

»Sieht man diese Tiere nicht ständig hier unten?«