Eibe_Ebook_mitCover

 

 

HYBRID VERLAG

Ebookversion

12/2017

 

 

 

 

 

Liliana Wildling

 

© 2017 by Hybrid Verlag, Homburg

 

Umschlaggestaltung:

© 2017 by Creativ Work Design, Homburg

 

 

Lektorat: Paul Lung

 

 

Coverbild ›Zwei Welten‹

© 2017 by Creativ Work Design, Homburg

Modellfoto © Fotograf Exxpression, Homburg

Coverbild ›Predyl‹

© 2017 by Creativ Work Design, Homburg

 

 

ISBN 978-3-946-82019-2

 

www.hybridverlag.de

 

 

 

Eibe und das Buch der Schatten

 

Liliana Wildling

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

1. Zauber mit seltsamen Folgen

2. Thaamäus

3. Feuer

4. Syndred

5. Magnus

6. Seitenwechsel

7. Maja

8. Verrat

9. Der Kampf

10. Der Tempel des Rates

11. Flucht

12. Das Medaillon

13. Bittere Erkenntnis

14. Neue Heimat

15. Offenbarung

16. Das Dunkle schläft nicht

17. Neubeginn

18. Der Kerkermeister

19. Das Geheimnis der Vögel

20. Enthüllungen

21. Kampf gegen Zlaton

22. Erklärungen

23. Eine gefährliche Mission

24. Reuezauber

25. Visionen

26. Schicksal

27. Treffen der Dämonen

28. Ein kleiner Erfolg

29. Vorbereitungen

30. Unerwartete Hilfe

31. Die Schlacht

32. Sorge um Angelus

 

VORWORT

 

 

Die Nebelinsel (Isle of Skye), ist das Herzstück einer Inselgruppe, die vor tausenden von Jahren durch einen Vulkanausbruch unweit der Küste von Meramdyn entstand. Geprägt von bizarr aussehenden Gesteinsformationen, ist das Land rau und wild; das Wetter unberechenbar und launisch.

In dieser völlig fremd anmutenden Landschaft gibt es faszinierende Hügelgräber, Steinkreise und Steinreihen zu entdecken. Die unzähligen Symbolsteine und Höhlen besitzen eine starke magische Ausstrahlungskraft. Orte, an denen man sich leicht vorstellen kann, einem Gnom oder einem Dämon zu begegnen.

 

 

 

PROLOG

 

Als Magnus das kleine Mädchen mit den violetten Augen zum ersten Mal sah, befand er sich auf dem Weg zu einer Ratssitzung. Das spiegelartige Portal, das den Meister in den Tempel bringen sollte, setzte ihn versehentlich unweit seines Ziels neben einer selten benutzten Straße zwischen den Bäumen ab. Der silberne Ring implodierte, ehe der Gestrandete zurückgehen konnte. Den restlichen Weg zu Fuß zu bestreiten, war die einzig vernünftige Option.

Nach wenigen Schritten erschien das Kind mit den außergewöhnlichen Augen in seinem Sichtfeld. Das Mädchen zitterte vor Kälte, war durchnässt bis auf die Haut. Der Mann schätzte das Alter der kleinen Gestalt auf höchstens sechs Jahre und wunderte sich, warum sie alleine mitten auf der Straße im strömenden Regen saß, bis er ihrem Blick folgte. Sie starrte auf die verkohlten Trümmer eines Unfallautos. Der Kleinwagen hatte offenbar eine Kurve zu schnell genommen, war von der Fahrbahn gerutscht und mit einem massiven Felsen kollidiert. Das Wrack zeigte Brandspuren und die beiden Insassen waren bereits zur Unkenntlichkeit verbrannt. Das Mädchen wiegte seinen Oberkörper vor und zurück und wiederholte unablässig einen nicht melodischen Gesang, der sich schlimmer als die Töne einer singenden Säge in sein Gehör bohrte. Trotz des Wissens, dass er sich als Magier in den Lauf des Schicksals von Menschen nicht einmischen durfte, streckte er seine Hand aus.

»Wie heißt du?«, fragte er das verstörte Mädchen.

Es sah ihn nicht an, sondern in ihn hinein. Blickte direkt in seine Seele und flüsterte:

»Ei ben ei hun.« (Ich bin allein).

Magnus konnte weder wissen, warum das Kind die alte Sprache benutzte, die heute niemand mehr sprach, noch, was es mit dem violetten Schein in den Augen auf sich hatte. Er wusste nur, dass dieses Kind Hilfe brauchte. Von Zweifeln und Unsicherheit geplagt, setzte er seinen Weg fort. Ein Kind im Arm, dessen Namen er nicht kannte.

 

 

 

1. Zauber mit seltsamen Folgen

 

Eibe konzentrierte sich völlig auf die Zubereitung der Suppe, als ihr plötzlich ein übler Geruch in die Nase drang.

»Verflixt und zugenäht!« Sie ließ den Kochlöffel in die Suppe platschen und stürmte nach unten. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, musste sie auf ihre Füße achten, um nicht zu stolpern. So übersah sie Angelus, der ihr schwungvoll um die Ecke entgegenkam.

Sie krachten mit unverminderter Geschwindigkeit halb ineinander und landeten durch die entstehende Drehbewegung in jeweils verschiedenen Ecken des Flurs. Angelus rieb sich den schmerzenden Hinterkopf und bedachte Eibe mit einem bitterbösen Blick.

»Was zum Teufel …«, begann er, aber Eibe rappelte sich auf, rannte weiter. »… hast du denn jetzt wieder angestellt?«, beendete Angelus den Satz und folgte der jungen Hexe.

Eibe flitzte den Flur entlang, riss die Tür auf und durchquerte rasch den halbdunklen Raum. An der hinteren Kellerwand befand sich die Quelle der Miefwolke, die durch das Haus zog: Der Deckel des Gärfasses mit dem Brennesselsud hatte sich selbstständig gemacht. Hektisch kramte sie in der Schublade der Werkbank und fand schließlich passende Schrauben.

»Na warte, dir zeig ich‘s!«, presste sie zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hervor und zückte den Akkuschrauber. Sie drückte den Deckel des kleinen Holzfasses wieder an Ort und Stelle, bohrte links und rechts der Halterung eine Schraube hinein und seufzte geräuschvoll. Eibe begutachtete ihr Werk und verzog verdrießlich das Gesicht. Dann fixierte sie den Deckel mit vier weiteren Schrauben. Als das Gärfass wieder dicht war, nahm sie den Entlüftungsschlauch unter die Lupe und entdeckte die Ursache für das Malheur. Jemand hatte unbedacht eine schwere Kiste mit Äpfeln auf den Schlauch gestellt, der durch ein Fenster ins Freie führte. Die junge Hexe wuchtete die Kiste ein wenig zur Seite, um den Schlauch wieder durchgängig zu machen. Die austretenden Gase konnten nun ungehindert nach draußen strömen.

Angelus steckte vorsichtig den Kopf zur Tür herein.

»Kann ich reinkommen oder fliegt mir demnächst wieder was um die Ohren?«, fragte der muskulöse Krieger mit den harten Gesichtszügen zögerlich, runzelte die Stirn, und fügte hinzu: »Ich will nicht wieder wochenlang mit blauer Haut herumlaufen müssen.«

»Nur, weil mir bei der Herstellung des Eukalyptusextraktes ein klitzekleiner Fehler unterlaufen ist, heißt das noch lange nicht, dass meine Versuche in regelmäßigen Abständen explodieren. Das war ein Ausrutscher. Ein einmaliger. Also … hoffentlich.«

Angelus zog sich leise grummelnd zurück. Eibe verstaute den Akkuschrauber wieder an seinem angestammten Platz und fragte sich, warum alle Leute in ihrem Umfeld immer so skeptisch auf ihre Experimente reagierten. Meister fielen schließlich nicht vom Himmel. Selbst Magnus, der große Magier, hatte in seiner Anfangszeit das eine oder andere Kämmerlein in die Luft gejagt. Zumindest erzählte das Angelus. Wenigstens lag das alte Gemäuer, das inzwischen ihr Zuhause war, fernab der Zivilisation. Die wenigen Menschen, die auf der Insel wohnten, bekamen nicht mit, was hier vor sich ging. Und außerdem …

»EIBE!« Magnus‘ kräftige Stimme schallte durch das Haus, riss sie aus ihren Gedanken. Der autoritäre Klang war unüberhörbar.

Mist, die Suppe! Sie rannte wie ein geölter Blitz nach oben und registrierte, an der offenen Küchentür angekommen, zuerst das missmutige Stirnrunzeln ihres Meisters, der vor dem Herd stand, ehe ihr Blick nach unten wanderte. Die übergekochte Fischsuppe verteilte sich gleichmäßig über den erst heute Morgen gewischten Fußboden. Zara, die Haushaltshilfe, wäre sicher nicht beglückt darüber, doch Magnus erzürnte nicht das Malheur an sich, sondern nur ein Detail darin. Er pikste mit einer Gabel ein Stück vom Boden auf und hielt es Eibe demonstrativ vors Gesicht. Die haselnussbraunen Augen des hochgewachsenen schlanken Mannes fixierten das unschuldige Gesicht seiner Schülerin.

»Ist das etwa ein Auge?«, fragte er ungläubig und ließ die Gabel angewidert fallen, als sich sein Verdacht bestätigte. Er atmete tief ein, machte auf dem Absatz kehrt und ließ sie ohne weiteren Kommentar stehen. Sein langer, schwarzer Zopf schwang im Takt der Schritte hin und her. Magnus hasste Fischaugen in der Suppe. Eibe wusste das und hätte ihm natürlich niemals welche hineingetan. Dieses spezielle Gebräu war auch nicht zum Verzehr für Menschen gedacht. Das eigentliche Abendessen befand sich im Backofen.

Eibe murmelte den Zauberspruch für die Rückkehr zum Urzustand und fokussierte ihre Kraft. Violettes Licht tropfte von den Fingerspitzen auf den Boden, stieg hoch und hüllte sie ein. Vollständig von ihrem inneren Licht bedeckt, zwang sie die Fischsuppe in den Topf. Ein Großteil der Flüssigkeit rann entgegen der Schwerkraft zurück nach oben und in das Gefäß.

Plötzlich knallte die Tür auf und Zara polterte unbedacht in die Küche. Eibes Zauber fing an, sich zu winden und geriet außer Kontrolle. Sie hielt ihn noch einen Augenblick lang, dann entglitt ihr die Magie vollends.

Der violette Schein kräuselte sich, zeichnete unvergleichlich schöne Muster in die Luft. Flatterte kleinen Schmetterlingen gleich herum und wollte mit Eibe spielen. Zara sah das Unglück kommen, schlug die Hände vor den Mund und ging sicherheitshalber ein paar Schritte rückwärts in den Flur. Die erwartete Katastrophe blieb zum Glück aus. Das Licht zog sich knisternd zusammen und schien von Eibe abzublättern wie alte Farbe von einem Holzrahmen. Die einzelnen Fetzen steuerten den Topf an und verschwanden mit einem gedämpften Ploppen darin.

Eibe sah Zara mit wütend zusammen gekniffenen Augen an und mahnte: »Du sollst mich nicht immer so erschrecken!«

Die Haushaltshilfe nickte schuldbewusst und stieß die angehaltene Luft vor Erleichterung in einem Schwall aus.

Im Inneren des Topfes regte sich etwas.

»Hast du das auch gehört?«, fragte Zara ängstlich und starrte auf das Gefäß. Der Deckel hob sich eine Handbreit und zwei leuchtend rote Augen lugten daraus hervor. »Aaaah!«, schrie Zara und verpuffte.

Eibe starrte die Rauchwolke an, die die Haushaltshilfe bei ihrem Verschwinden hinterlassen hatte, und motzte: »Na super. Löst sich einfach in Rauch auf, wenn‘s unheimlich wird, und lässt mich im Stich. Ganz schön feige für einen ehemaligen Sturmgeist.«

Angelus betrat die Küche und gemeinsam starrten sie den Topf auf dem Herd an. Er wedelte den Rauch mit einem Geschirrtuch weg und zog die Nase kraus.

»Habe ich die Borea schreien hören oder war das eine Sinnestäuschung?« Angelus fixierte weiter das Gefäß auf dem Herd.

»Ja, hast du. Aber jetzt ist sie weg. Puff.«

»Okay. Das erklärt nicht, warum wir diesen Topf anstarren, aber ich denke mal, das eine hat mit dem anderen zu tun.«

Eibe wollte eben zu einer Erklärung ansetzen, als sich der Deckel ein weiteres Mal hob. Diesmal etwas höher.

Eine kleine, schwarze Hand kam zum Vorschein, behaart und mit Klauen statt Fingern.

Angelus zog, schneller als das Auge erfassen konnte, ein Messer aus seinem Gürtel. Er visierte das haarige Etwas und nahm eine unverkennbare Kampfhaltung an. Eibe machte einen kleinen Schritt auf das Ding zu und begutachtete den sichtbaren Teil.

»Ich habe keine Ahnung, was das ist. Wenn ich sehen könnte, ob es einen Schwanz hat …«

»Dann was?«, fragte Angelus und trat ebenfalls näher. Eibe biss sich auf die Unterlippe, kaute darauf herum und fuhr schließlich fort:

»Dann könnte ich zumindest eine ungefähre Vermutung anstellen. Aber so …«

Schritte in unregelmäßigem Takt kündigten Magnus an.

Der Meister betrat die Küche, musterte erst Angelus‘ angespannte Haltung, ließ den Blick über Eibe schweifen und entdeckte zuletzt den Grund für Zaras Schrei, der ihn hierhergeführt hatte.

»Du spielst mit der Magie und bringst dabei Dinge zustande, die manche Meister nach vielen Jahren des Trainings nicht vollbringen könnten«, sagte er in einem Tonfall, den Eibe nicht einordnen konnte. Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Meinte er das als Kompliment oder nicht?

»Zara ist vor Schreck verpufft«, murmelte Angelus.

»Ich werde Maja zurate ziehen. Sie kann dieses Wesen sicher bestimmen.« Der Meister hielt kurz inne. »Und ich muss mit Thaamäus sprechen.« Mit diesen Worten humpelte er aus dem Raum und ließ die beiden mit der Kreatur alleine. Angelus richtete sich ein wenig auf. Der Deckel schloss sich wieder. Eibe seufzte.

»Und was machen wir jetzt?« Wenigstens schien das Wesen nicht aggressiv zu sein. Es versteckte sich im Topf, statt anzugreifen.

Angelus öffnete seinen Gürtel und zog ihn aus dem Hosenbund. Eibe sah ihm erwartungsvoll dabei zu und hatte keine Ahnung, was er vorhatte. Seine silbernen Augen waren immer noch auf den Topf geheftet. Er fädelte den ledernen Gürtel durch die Tragegriffe, führte ihn über den Deckel und zog so fest er konnte daran. Das lose Ende verknotete er zusätzlich und begutachtete sein Provisorium einen Augenblick lang.

»Das sollte vorerst halten.«

Eibe grinste ihn an und wischte sich in einer äußerst theatralischen Geste den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn.

»Falls du mich brauchst, ich bin beim Training«, sagte er noch, wollte schon gehen, blieb dann aber kurz stehen und ergänzte: »Und koch bitte nichts mehr, ja?«

Eibe zog ihre Lippen ein und nickte knapp.

Angelus straffte die Schultern und verließ gewohnt anmutig die Küche. Sie sah ihm hinterher und fragte sich wieder einmal, warum ihr Magnus einen derart großen, breiten Krieger als Beschützer zugeteilt hatte.

War sie wirklich so eine Katastrophe? Oder verbarg sich hinter Magnus‘ ständiger Beteuerung, sie sei etwas Besonderes, mehr als sie ahnte?

Eibes Gedanken wurden durch ein herzzerreißendes Maunzen aus dem Topf unsanft unterbrochen.

Der langgezogene, quälende Ton ging durch Mark und Bein. Sie nahm das kalte Metall zwischen ihre Hände, schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Inhalt des Topfes: Angst … Unsicherheit … Verwirrung … Angst.

Sie spürte die Not des Wesens, jedoch keine Aggression oder Wut. Es wollte raus aus dem Gefäß, hatte aber zugleich furchtbare Angst davor. Eibe wurde von einer Welle Mitleid überrollt. Oder vielmehr einem Tsunami.

Ein weiteres verzagtes Maunzen weichte ihre Bedenken vollends auf und sie löste mit zittrigen Fingern den Gürtel. Heftig klopfenden Herzens lüftete sie vorsichtig den Deckel. Ein schwarzes, pelziges Monster beäugte sie mit rot glühenden Augen. Es hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt. Das Tier besaß vage Ähnlichkeit mit einem Nerz, bis auf den missgestalteten, mit einer schuppigen Panzerung versehenen Kopf. Wie kann etwas, das so hässlich ist, so niedliche Geräusche machen?

Eine Klaue streckte sich vorsichtig in ihre Richtung. Eibe wollte zurückweichen, blieb jedoch wie versteinert an Ort und Stelle. Ihr Atem ging immer schneller und der Puls begann vor Aufregung zu rasen. Ein undefinierbares Zischen hinter ihr, das nach Maja klang, verunsicherte Eibe noch mehr. Sie drehte sich halb um, ihr Blick flitzte hektisch zwischen der alten Frau und dem Herd hin und her. Die weißhaarige Heilerin schlug ihre runzeligen Hände vor den Mund.

In diesem kurzen Moment spürte Eibe die spitzen Krallen des pelzigen Monsters, die sich ihren Rücken entlang nach oben in ihre Kleidung bohrten. Die junge Hexe blieb stocksteif stehen, unfähig, sich zu bewegen. Sie erinnerte sich an ihre frühere Katze, die gerne an ihr hochkletterte. Ein Lächeln erhellte für einen Moment ihr Gesicht. Aber dann registrierte Eibe, dass es sich diesmal nicht um einen harmlosen Stubentiger handelte und versteifte sich wieder. Maja riss die Augen auf und erbleichte.

Das Ding vergrub sich in Eibes dichtem, braunem Haar. Es positionierte eine Klaue an ihrem Hals und drückte zu. Ganz leicht nur, ohne die Haut anzuritzen.

 

☼☼☼

 

Magnus, der die Aura anderer meistens ignorierte, um ihre Privatsphäre nicht zu verletzen, konzentrierte sich ganz fest auf die des Neuankömmlings, als dieser das Arbeitszimmer betrat. Die feinstoffliche Energiehülle des jungen Mannes trat sogleich hervor. Der Meister konnte den Wahrheitsgehalt der Antworten seines Gegenübers aus der farbigen Umrahmung herauslesen, die jedes Lebewesen einhüllte. Er musterte an seinem Schreibtisch sitzend seinen potenziellen neuen Lehrling ausgiebig, der auf dem angebotenen Stuhl Platz nahm. Er war mit siebzehn etwas zu alt für einen Schüler und die Angaben über seine Herkunft und den bisherigen Werdegang waren allesamt gelogen. Der Junge verzog keine Miene, doch Magnus‘ Neugier war stärker als seine Wut über die Lüge. Er tat so, als sehe er die Unterlagen durch. In Wirklichkeit beobachtete er jede kleine Regung seines Anwärters mit Argusaugen.

»Rembrand schickt dich also.«

Der Junge nickte. Seine Aura flackerte dabei verdächtig. Er saß völlig ruhig da, scharrte nicht mit den Füßen und zeigte kein anderes Zeichen von Nervosität. Sein fein geschnittenes Gesicht ließ keine Gefühlsregung erkennen, die schwarzen Augen verrieten nichts. Eine eigenartige, dunkle Spannung lag in der Luft. War kurz vorm Knistern. Magnus fühlte sich einen kurzen Moment lang wie ein Anfänger, der sich einer Prüfung unterziehen muss.

Als wären die Rollen der beiden vertauscht.

»Und du kommst aus Geramwynn.«

»Ja. Um genau zu sein, aus der Haupstadt. Darandor.«

»Willkommen auf der Isle of Skye.«

»Danke.«

»Hier leben etwas über 1.000 Einwohner, von denen kaum einer weiß, dass wir hier wohnen. Außer den Bediensteten des Gasthauses, das Angelus hin und wieder aufsucht.«

»Eine Sicherheitsmaßnahme, die Sinn macht. Man muss sich schließlich schützen.« Wieder dieses Flackern, diesmal stärker. Der kurze Moment der Unsicherheit verflog und Magnus wurde sich seiner mentalen sowie körperlichen Stärke wieder voll bewusst.

»Von wem wurdest du ausgebildet?«

»Von Calgat, dem Meister des Ordens der knisternden Steine.«

Magnus nickte und fuhr fort: »Wie viele Sprachen beherrschst du?«

»Fünf.«

»Hast du schon den Basistest gemacht? Deine Eignung bestätigt?« Der Meister hatte Mühe, seine Gefühle im Zaum zu halten, denn das Flackern dehnte sich aus, umhüllte den Jungen und bekannte Farbe.

Rot also. Er ist ein Feuerwesen.

»Ja, die Eignungstests habe ich alle bestanden. Das Zeugnis ist hinten an die letzte Seite geheftet.« Seine ruhige Stimme verriet nichts über den inneren Aufruhr, der für Magnus unverhüllt sichtbar war.

»Wie lautet dein wahrer Name?«

Die gleißenden Flammen breiteten sich aus und vollführten einen wütenden Tanz. Sie erstreckten sich fast bis zu Magnus‘ Schreibtisch. Der Mann konnte die Hitze auf seiner Haut deutlich spüren.

»Das … weiß ich noch nicht. Man nennt mich Lumen.« Er log erneut, das Glitzern in seinen Augen pulsierte im Takt seines Herzens.

»Das alte Wort für Glut … des Feuers wegen. Wie treffend«, rutschte es dem Meister heraus und er bereute die Worte, kaum dass sie seinen Mund verließen. Nun hatte er seine wichtigste Gabe verraten, abgelenkt durch den Anblick des in Flammen stehenden Lumen. Sich von seinen Gefühlen hinreißen zu lassen entsprach sonst nicht seiner Art, aber auch Meister waren davor nicht gefeit.

Lumen schloss die Augen, atmete mehrmals tief ein und aus und zwang das Feuer zurück. Es wehrte sich einen Augenblick, wollte ausbrechen, gab schließlich nach und zog sich mit einem wütenden Zischen zurück. Es klang wie ein sterbendes Lagerfeuer, das jemand mit einem Eimer Wasser löschte. Ein mächtiges Feuerwesen. Gefährlich. Besonders für Eibe. Seine Anwesenheit könnte ihre Kräfte unkontrolliert verstärken. In Magnus tobten zwei Feinde: Vernunft gegen Neugier. Während seine Weisheit darauf pochte, diese Gefahr zu bannen, gierte der Forscher in ihm darauf, Lumen zu studieren.

Wirklich gefährlich ist nur, was du nicht kennst, sagte ihm sein Bauchgefühl und gewann den unsichtbaren Kampf.

Magnus erhob sich, nahm seinen Stock, der an einer Schreibtischlade lehnte, und klopfte damit kräftig auf die Holzdielen, ehe er verkündete: »Nun gut, wir werden es mit dir versuchen.«

Ein erleichtertes Lächeln stahl sich auf Lumens Gesicht und er leerte ungefragt den Inhalt seiner Jackentaschen auf dem Tisch aus. Er kannte die Vorschriften. Das war eine Frage des Vertrauens und er trug auch nichts Gefährliches bei sich. Neben einem Pendel und ein paar Steinen förderte der Junge ein kleines Notizbuch zu Tage, das Magnus sofort erkannte. Seine frühere Besitzerin Area lag seit über sechs Jahren unter der Erde. Der Meister zog rasch eine Schutzbarriere um sein Herz und schloss so die schmerzhaften Erinnerungen an ihren Tod aus, die ihn zu überwältigen drohten.

»Wo hast du das her?«, fragte Magnus mit sorgenvoll gerunzelter Stirn.

Lumen strich sanft über den stark beanspruchten Einband und verzog wehmütig das Gesicht. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als er sagte: »Es war ein Geschenk.« Das Zucken seiner Aura verriet eine weitere Lüge. Magnus bohrte nicht weiter nach, das Auftauchen der persönlichen Notizen seiner verstorbenen Frau warf auch so genug Fragen auf.

Als Lumen seine Sachen wieder verstaute, nahm Magnus Majas stummen Hilferuf wahr. Er spürte … Entsetzen.

Ohne sich weiter um den Jungen zu kümmern, rannte er los und hastete die Stufen hinunter. Für Erklärungen blieb jetzt keine Zeit. Seine geweiteten Augen hatten Lumen auch ohne Worte signalisiert, dass etwas passiert war.

Noch bevor er die Küche erreichte, wusste Magnus, dass Eibe in Gefahr schwebte. Ihre Gefühle sickerten ungefiltert in ihn hinein, aber im Gegensatz zur Heilerin hatte die junge Hexe keinen mentalen Notruf abgesetzt. Im Türrahmen machte er halt. Maja strich sich geistesabwesend das weiße Haar aus dem Gesicht und starrte auf den schwarz behaarten Arm mit der Klaue, die Eibe bedrohte. Ihr dichtes Haar verbarg den Körper des pelzigen Monsters vollständig. Stocksteif und sehr bleich im Gesicht ähnelte seine Schülerin mehr einer Statue, als der lebhaften jungen Frau, die er kannte.

Maja warf Magnus einen hilfesuchenden Blick zu und gestand kleinlaut: »Ich konnte das Ding noch nicht identifizieren. Ich wollte eben danach sehen aber Eibe hat es rausgelassen und ich …« Tränen schwammen in den Augen der Heilerin, die nervös mit den Händen über ihre Unterarme strich. Sie konnte nicht weitersprechen, zitterte am ganzen Körper.

Die Sekunden verstrichen. Magnus versuchte das Risiko zu kalkulieren, dass Eibe zu Schaden kam, wenn er jetzt ohne nachzudenken einschritt. Niemand wagte, sich zu rühren.

Lumens Stimme durchbrach die Stille: »Was ist das denn?«

Das Ding gab ein warnendes Knurren von sich. Eibe schloss die Augen und fasste vorsichtig in ihren Nacken. Magnus hob die Hand, wollte sie davon abhalten. Doch das Mädchen konnte diese Geste nicht sehen. Der Meister formte einen orangefarbenen Lichtpfeil zwischen seinen Handflächen, bereit, ihn jederzeit auf das unbekannte Wesen abzufeuern. Alle im Raum hielten die Luft an.

Die kleine, pelzige Kreatur schmiegte sich an die Handfläche des Mädchens und … schnurrte.

Die drohende Klaue an ihrem Hals verschwand und eine raue Zunge leckte über ihren Handrücken.

»Maow!«, verkündete das Ding und löste mit dieser Bekundung alle aus ihrer Starre. Eibe schlug überrascht die Augen auf, nahm die zweite Hand zu Hilfe und zog das kleine pelzige Etwas vorsichtig aus ihren Haaren. Es schmiegte sich in ihre Ellenbogenbeuge und sah sich misstrauisch um.

»Es hatte wahrscheinlich nur Angst, deshalb die Drohgebärden«, bemerkte Maja.

Eibe ergänzte: »Wäre ich plötzlich in einer völlig fremden Umgebung von Unbekannten umzingelt, würde ich auch erstmal in Angriffshaltung gehen.« Sie kraulte den Rücken des Wesens und es gab ein zufriedenes Gurren von sich. Seine eckigen Bewegungen und die glühenden Augen in Verbindung mit der unförmigen Gestalt bildeten die Basis für zahlreiche Spekulationen.

»Das Gesicht deutet auf einen Goblin hin.«

»Das Fell ist von einer Katze.«

»Aber der stachelige Schwanz sieht drachenartig aus. Die Krallen auch.«

»Drachen miauen aber nicht.«

»Die Augen sind von einem Höllenhund.«

»Dafür ist es aber viel zu klein.«

»Ein Höllen-Chihuahua vielleicht?«

Es folgte allgemeines Gelächter.

Das Rätselraten dauerte fast eine halbe Stunde an. Maja, welcher der hervorragende Ruf vorauseilte, Wesen sicher bestimmen zu können, fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben überfordert.

»Ich werde meine alte Lehrerin um Rat fragen. Wenn jemand weiß, was das ist, dann sie.« Sie holte Stift und Papier. Mit geübten, fließenden Bewegungen skizzierte sie das hässliche Ding.

»Warum machst du nicht einfach ein Foto davon?«, wollte Eibe wissen und sah gebannt zu, wie das Bild Gestalt annahm.

»Weil das gefährlich ist.« Die Heilerin begründete diese Aussage nicht weiter und zog sich wortlos in ihr Arbeitszimmer zurück.

Das Wesen gähnte herzhaft und entblößte dabei mehrere Reihen nadelspitzer Zähne und eine widerhakenbewehrte Zunge. Als wäre die ganze Aufregung vorhin gar nicht gewesen, rollte es sich auf Eibes Armen zusammen und schlief an Ort und Stelle ein. Sie betrachtete es noch eine Weile, ehe sie sich an die Lasagne erinnerte, die sich im Ofen befand. Die junge Hexe steckte das Pelzknäuel wieder in den Topf und drückte ihn der Einfachheit halber Lumen in die Hand, der ihr am nächsten war.

»Und du bist?«

Völlig überrumpelt von dieser eigenartigen Situation nahm dieser das Gefäß, ohne zu zögern, entgegen.

»Oh, entschuldige bitte die Unhöflichkeit. Ich heiße Lumen und bin für die nächsten sechs Jahre Magnus‘ Lehrling. Ich kam eben erst an. Normalerweise läuft das sicher ein bisschen anders ab, aber das Erscheinen dieses … Etwas hat uns wohl alle aus der Bahn geworfen.« Der junge Mann lächelte. Sein Blick schwenkte vom Kochtopf in seinen Händen zu Eibes violetten Augen und blieb dort hängen.

Sie grinste.

»Oh ja, das hat es! Ich bin Eibe, schön, dich kennenzulernen.«

Er setzte sich mit dem Topf samt schlafendem Wesen darin an den Esstisch. Magnus folgte seinem Beispiel.

Nach einer Weile traf Angelus ein und Eibe holte die Lasagne aus dem Backrohr. Der unwiderstehliche Duft von Tomaten und Basilikum erfüllte die Küche und lockte auch Maja aus ihrem Zimmer. Die alte Heilerin holte das schwarze Knäuel aus dem Topf und legte es in einen Schuhkarton, den sie mit einem alten Schal ausgepolstert hatte. Den Karton schob sie in ein offenes Fach des Regals neben der Tür. Eibe deckte den Tisch und verteilte das Essen auf den Tellern. Sie aßen, schlugen diverse Namen für die frisch entstandene Kreatur vor und verwarfen sie wieder.

Angelus, der seit seinem Eintreffen nichts gesagt hatte, meldete sich unvermittelt zu Wort: »Da seine gesamte Erscheinung - milde ausgedrückt - hässlich ist und seine rubinroten Augen das einzig Schöne sind, würde ich sagen: Rubor. Und falls sich herausstellen sollte, dass es weiblich ist: Rubia.« Die anderen nickten anerkennend und sahen zeitgleich zu Rubors Schachtel. Er, falls es denn ein ›Er‹ war, zuckte im Schlaf und gab leise, gurrende Geräusche von sich. »Wo kam das eigentlich so plötzlich her?«, wollte Angelus noch wissen und schob sich den letzten Bissen Lasagne in den Mund.

Eibe seufzte tief und gestand kleinlaut: »Ein Zauber ist … ich wollte die übergekochte Fischsuppe zurück in den Topf zwingen, dabei ist mir die Magie entwischt.« Sie senkte beschämt den Kopf und formte unbewusst einen Schmollmund.

»Das erklärt aber nicht, wo Rubor herkommt. Wenn du Fischsuppe kochst und einen Ursprungszauber anwendest, der zu weit zurückgeht, sollte dann nicht eher ein lebender Fisch im Kochtopf schwimmen?«

Eibe zuckte die Achseln.

»Eigentlich schon. Ich weiß auch nicht, was genau da schiefgelaufen ist. So weit wollte ich gar nicht gehen, sondern nur die Flüssigkeit zurück ins Gefäß befördern. Es wäre mir beinahe geglückt, aber Zara hat mich erschreckt.« Sie warf einen Seitenblick auf den leeren Stuhl zu ihrer Linken. Normalerweise saß dort die Haushaltshilfe.

»Zara ist nicht wieder aufgetaucht und der Topf strahlt ungewöhnlich starke, dunkle Energie ab. Ich denke, jemand hat ihn manipuliert und dann unserer Borea beim Einkaufen im Bazar billig verkauft«, stellte Magnus mit Bestürzung fest und erhob sich. »Ich habe noch einiges zu tun. Lumen muss in das Verzeichnis der Auszubildenden eingetragen werden und ich sollte dringend mit Thaamäus über diese unzuverlässige Haushaltshilfe sprechen. Sturmgeist hin oder her, einfach in einer Rauchwolke zu verschwinden ist nicht in Ordnung. Vielleicht kann mir der weise Mann auch weiterhelfen, den Urheber des manipulierten Gefäßes auszuforschen.« Er bedachte Eibe mit einem unergründlichen Blick und packte den Holzknauf seines Stockes etwas fester. Die Wärme, die seine haselnussbraunen Augen normalerweise ausstrahlten, verschwand. »Du passt auf Rubor auf, bis wir herausgefunden haben, was er ist! Und übernimm bitte Zaras Aufgaben, bis ich Ersatz gefunden habe! Lumen soll dir helfen.« Er schritt hinaus in den dunklen Flur.

Auch Angelus ging seiner Wege, nachdem er sich für die Mahlzeit bedankt hatte. Maja half noch beim Abräumen der Teller, ehe sie sich entfernte.

Eibe hasste Küchendienst. Aber schließlich trug sie die Schuld an Zaras Verschwinden, also fügte sie sich widerwillig. Lumen half ihr wortlos beim Aufräumen, die Stirn in Falten gelegt. Hin und wieder seufzte er. Sie hätte sich gerne mit ihm unterhalten, mehr über ihn erfahren, aber den stillen, jungen Mann schien etwas zu bedrücken. Eibe warf ihm gelegentlich Seitenblicke zu; das Schweigen hielt an.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragte die junge Hexe schließlich und sah ihn besorgt an. Er atmete tief ein, schien zu zögern. Als er ihren Blick erwiderte, wurden seine verhärteten Gesichtszüge etwas weicher.

»Hast du was gegen Kopfschmerzen da? Aspirin vielleicht?«, fragte Lumen, wonach er den letzten Teller in die Geschirrspülmaschine steckte.

»Neben dem Kühlschrank links.«

Sie schrubbte die Lasagneform in der Spüle und deutete mit dem Kopf in die ungefähre Richtung. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, wie der junge Mann die Glastür des Hängeregals öffnete und seine Hand hineinstreckte. Er schob die Gläser darin geräuschvoll herum.

»Wo genau?«, fragte er nach einer Weile.

Die junge Frau am Spülbecken sah kurz von ihrer Arbeit auf und antwortete: »Ganz links, das Glas, auf dem ›Kopfschmerzen‹ drauf steht.«

Der Feuerjunge nahm es heraus und ging damit zu Eibe. Sie sah, wie er skeptisch den Inhalt begutachtete. Ein einzelner, trocken aussehender Zweig lag in dem Glas.

»Das ist kein Aspirin, das ist ein Ast«, bemerkte er mit einem vorwurfsvollen Unterton in der Stimme. Eibe grinste breit, wischte die nassen Hände an ihrer Hose trocken und nahm ihm die Medizin ab.

»Du hast nach einem Mittel gegen Kopfschmerzen gefragt.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust, zog eine beleidigte Schnute und gab mit leicht angesäuertem Tonfall zurück: »Das sieht überhaupt nicht aus wie Medizin.«

»Die äußere Form ist nicht so wichtig. Es ist der Inhalt, der zählt.«

»Aha.«

»Was dachtest du, woraus Medizin gemacht wird?«

»Hm. Keine Ahnung. Jedenfalls dachte ich nicht, dass man sie aus Ästen macht.«

Eibe lachte amüsiert auf.

»Das ist nicht irgendein Ast. Es ist ein Teil eines Heilblattbaumes und ein sehr wirksames Schmerzmittel. Auch wenn das hier nicht klein, weiß und rund ist, die Wirkung ist die gleiche.«

Sie schälte ein Stück des Astes mit einem Messer ab, steckte es in einen Zerkleinerer und drückte den Startknopf. Die kleine Maschine, die eigentlich zum Mahlen von Nüssen diente, brummte eine Minute lang vor sich hin. Eibe ging derweil zum Kühlschrank und holte einen Fruchtjoghurt heraus. Der Energie-Kristall an der Rückwand, der die Kälte erzeugte, leuchtete in hellem Blau.

»Magst du Erdbeeren?«

Er nickte wortlos. Eibe kippte das fertig gemahlene Pulver in den Joghurt, rührte um und hielt ihm den Becher erwartungsvoll hin.

Er zögerte, seufzte und lugte misstrauisch hinein.

»Keine Sorge, davon wächst dir weder ein Horn auf der Stirn noch andere verrückte Sachen«, versicherte sie ihm und konnte ein Glucksen nicht ganz unterdrücken.

Er löffelte den ganzen Becher leer.

»Schmeckt gar nicht so übel.«

»Und in zehn Minuten sind deine Kopfschmerzen Geschichte«, trällerte die junge Hexe und lächelte.

Lumen brachte ein zaghaftes Lächeln zustande und nahm auf einem Stuhl Platz. Die Küche war aufgeräumt und sauber, die beiden aus ihren Pflichten entlassen.

»Komm, ich zeige dir das Haus«, verkündete Eibe fröhlich und griff nach der Hand des jungen Mannes, um ihn vom Stuhl hochzuziehen. Doch als sie seine Haut berührte, sprang ein bläulicher Funke über, der sie beide zeitgleich zurückzucken ließ. Eibe spürte den Bruchteil einer Sekunde seine Natur, fühlte das flüssige Feuer, das durch seine Adern pulsierte, und sah vor ihrem inneren Auge den schwarzen Schatten in seinem Energiezentrum, der nur einem Dämon entstammen konnte. Inmitten des dunklen Flecks pulsierte ein rot glühender Punkt, einem schlagenden Herz gleich.

Der junge Mann vereinte zwei Gegensätze in seinem Körper: Feuer und Dunkelheit.

Sie rieb sich die schmerzende Stelle und sah ihn mit aufgerissenen Augen und Mund an. Magnus muss das doch gesehen haben! Wieso nimmt er ihn als Lehrling auf?

Lumen hatte wohl nichts von diesem ungewollten Informationstransfer bemerkt. Er lächelte entschuldigend.

»Sorry, das passiert mir öfter. Tut es weh?«

»Nein, es geht schon.« Sie setzte ein Pokerface auf und startete die Führung, die sonst Magnus vorbehalten war. Durch das Auftauchen von Rubor und das darauf folgende Chaos hatte er die Einführung des Neuankömmlings schlichtweg vergessen. Eibe konnte es kaum fassen; Magnus vergaß sonst nie etwas.

»Die Küche und Magnus‘ Arbeitszimmer kennst du ja schon. Da vorne sind Majas Räumlichkeiten. Sie ist unsere Beraterin, wenn es um Tiere und Pflanzen geht. Ihr Wissen über Heilkräuter und wie man sie anwendet ist legendär. Sie ist eine tolle Lehrerin.« Eibe zeigte auf eine Tür, die flächendeckend mit grünen Blättern und bunten Blüten behangen war. Durch einen Schutzzauber vor dem Vertrocknen geschützt, sahen die Pflanzenteile aus, wie eben frisch gepflückt. Die junge Hexe musterte den Neuankömmling unentwegt, während dieser sich umsah. Er strahlte weder Bosheit noch Gefahr aus. Ihre Gedanken schweiften dennoch ständig zu ihrer jüngsten Entdeckung ab.

Feuer und Dunkelheit.

Es kostete sie einiges an Anstrengung, ihre Konzentration auf das Gespräch zu richten. Die junge Frau empfand zwar keine Angst vor Lumen, aber was sie gespürt hatte, war vielleicht nur ein winziger Teil dessen, was in ihm schlummerte.

»Durch die Tür am Ende des braunen Flures geht es zur Trainingshalle. Falls du dich körperlich betätigen möchtest, findest du dort alles Nötige. Angelus jammert immer, keinen Trainingspartner zu haben. Vielleicht kannst du ihm ja hin und wieder Gesellschaft leisten, wenn er mit Baumstämmen jongliert.«

»Warum ist er hier? Er sieht weder besonders belesen aus, noch scheint er magisch begabt zu sein«, sagte der junge Mann mit ehrlicher Neugier in der Stimme. Seine Gesichtszüge wirkten nun offen und freundlich.

»Er ist zu meinem Schutz hier. Da ich kampftechnisch nichts zu bieten habe und die Magie meines Lichts ständig außer Kontrolle gerät, wenn ich in eine Stresssituation komme, passt er auf mich auf.«

Lumen ging schweigend und nachdenklich neben Eibe her. Sie stiegen die steilen Stufen in den Keller hinab und sie warnte: »Kann sein, dass es da unten noch ein bisschen … nun ja, unangenehm riecht.«

Schon beim Öffnen der Tür schlug ihnen ein fauliger Gestank entgegen, durchmischt mit Moder und dem Geruch nach gelagertem Gemüse. Eine seltsame Mischung, die sofort in der Nase kitzelte. Lumen musste als Erster niesen. Eibe tat es ihm kurz darauf nach.

An zwei Wänden des rechteckigen Raumes hingen allerlei Waffen, penibel sortiert und auf Hochglanz poliert. Revolver, Breitschwerter, Äxte, Armbrüste und allerlei andere tödliche Waffen ruhten auf dafür vorgesehenen Vorrichtungen und machten vor dem Hintergrund der rohen Steinmauer den Eindruck, in einer mittelalterlichen Waffenkammer zu stehen. Darunter standen Kisten mit Äpfeln und Birnen. Steinerne Krüge und Bottiche lagerten in mehreren hohen Regalen. Entlang der kurzen Seite des Raumes befand sich eine große, gut bestückte Werkbank. Die darauf verstreuten Werkzeuge ließen jeweils an der Staubschicht erahnen, wie lange sie hier schon unbenutzt lagen. Die Steinmauern besaßen eine eigentümliche blaue Farbe. Eibe und Lumen hielten sich nicht länger als nötig dort unten auf.

Die frische Luft im Treppenhaus tat gut nach dem Kellermief und der junge Mann atmete, oben angekommen, tief ein. Er wollte gerade Eibe folgen, als ein kleiner Junge aus dem Nichts vor ihnen auftauchte und ihm erwartungsvoll die Hand hin hielt. Eibe blieb stehen und sah den beiden schmunzelnd zu. Der hochgewachsene Lehrling bückte sich zu dem Jungen hinunter, der kaum älter als vier Jahre sein konnte, und streckte die Hand aus.

»Guten Tag, ich bin Lumen. Und wer bist du?«

Seine Finger glitten durch die des Jungen hindurch. Lumen richtete sich blitzartig auf und sah Eibe mit gehobenen Augenbrauen an.

»Das ist Viktor, unser Hausgeist«, erklärte die junge Hexe.

»Was macht er hier? Ich meine, er ist doch noch ein Kind.«

»Seine Mutter ist bei der Aushebung des Fundamentes für das Gebäude ums Leben gekommen. Verschüttet. Wir können sie leider nicht bergen, dazu müsste man das Haus abreißen. Wie der Kleine selbst gestorben ist, wissen wir nicht. Er geistert hier seit geschätzt 130 Jahren herum aber spricht nicht«, entgegnete Eibe mit einem bedauernden Seufzen. Lumen sah dem Jungen nach, der sich plötzlich umdrehte und in der Wand verschwand.

Eibe setzte ihre Führung fort.

»Das alte Gemäuer beherbergt so manche seltsamen Dinge und Geister, aber die wirst du mit der Zeit nach und nach entdecken.«

Wäschekammer, Bad und Vorratsraum waren schnell besichtigt und eher unspektakulär. Die insgesamt zehn Schlafräume der Hausbewohner, von denen nur ein Teil besetzt war, deutete Eibe nur an. In dieses persönliche Reich wollte sie dem Fremden keinen Einblick gewähren. Das konnte jeder für sich halten, wie er wollte; Eibe befand das unbefugte Eindringen in die Privatsphäre eines anderen als unhöflich. Der alte Holzfußboden, der sich durch das ganze Haus zog, knarzte bei jedem ihrer Schritte leise. Beim letzten Raum angekommen, den man nur durch einen sehr langen, in dunklem Lila gestrichenen Flur erreichen konnte, hielt sie inne. Durch die schmalen Deckenfenster drang nur spärlich Licht, eine weitere Beleuchtung gab es nicht.

Eine uralte, massive Eichenholztür mit schweren eisernen Beschlägen versperrte den Raum. Ihre sorgfältig geschliffene Oberfläche hatte sich fast schwarz verfärbt und schien ein Eigenleben zu besitzen. Es war unmöglich, sie länger als ein paar Sekunden anzusehen, ohne vom Anblick der sich ständig bewegenden Maserung tränende Augen zu bekommen.

»Hier kannst du erst hinein, wenn du dich als würdig erweist. Du musst bestimmte Rituale bestehen und eine gewisse Weisheit erlangen, ehe sich diese Tür für dich öffnet«, erklärte Eibe und fuhr ehrfürchtig mit dem Finger die eingebrannten Symbole auf dem Türrahmen nach. Die junge Hexe warf ihrem Begleiter einen prüfenden Seitenblick zu. Er wirkte immer noch ruhig und völlig entspannt.

Lumen folgte mit seinem Blick Eibes Finger, der die schwarzen Linien entlangstrich und auf seiner Reise an der Stelle endete, an der normalerweise das Schloss sein sollte. Doch es fehlte. Diese Tür besaß weder Schloss noch Klinke.

»Dieser Raum hat auch keine Fenster«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. Beide betrachteten eine Weile stumm dieses Kunstwerk aus Holz und Eisen.

»Was bedeuten diese Zeichen?«, wollte der neue Lehrling schließlich wissen.

»Grob übersetzt heißt es: Tu, was du willst, solange du niemandem dabei schadest.«

 

Sie gingen den Flur wieder zurück und Lumen ließ den Blick flüchtig über die vielen alten Gemälde gleiten, die links und rechts an den Wänden hingen und allesamt das gleiche Motiv zeigten. Skeptisch wandte er sich an Eibe.

»Warum ist auf allen Bildern ein goldenes Buch drauf und keine Menschen, also … Portraits oder so?«

Eibe blieb vor einem der Bilder stehen.

»Was weißt du über das Buch der Schatten?«

Lumen überlegte kurz.

»Nicht viel. Nur, dass jede Hexe eines hat, welches sie weitergibt an ihre älteste Tochter. Und dass sie in dieses Buch alles hineinschreibt, was sie weiß und was sie im Laufe der Zeit Neues entdeckt. Man könnte es auch Lebensbuch nennen.«

»Stimmt, aber das ist nicht alles. Das da …«, erklärte Eibe und strich mit den Fingern über den verschnörkelten Rahmen des Gemäldes, »… ist eine Abbildung des Ur-Buches. Das erste Buch der ersten Hexe auf Erden. Die verschiedenen Bilder geben nur wieder, wie der jeweilige Maler sich das Buch vorgestellt hat. Niemand weiß, wie es wirklich aussieht. Die Legende besagt, dass es zur Zeit der Inquisition verschwand. Die katholische Kirche hat unsereins gejagt und getötet wie Kakerlaken. Eine mutige, junge Hexe hat das Buch verschwinden lassen. Selbst unter Folter behielt sie das Versteck für sich. Es ist bis heute verschollen, dabei ist es ungefähr so wertvoll wie die Gutenberg-Bibel.«

Lumen betrachtete stumm das Gemälde.

Seinem verzogenen Gesicht nach zu urteilen, begriff er, wie sehr der Verlust dieser Kostbarkeit die Hexen damals und auch heute noch schmerzte.

 

Eibe zeigte ihm sein Zimmer, damit er sich einrichten konnte, und ging dann in ihr eigenes. Sie dachte auf dem Bett sitzend an den rot glühenden Punkt in der Leibesmitte des neuen Lehrlings. Er weckte unliebsame Erinnerungen an ein traumatisierendes Ereignis in ihr. Die Gedanken der jungen Hexe schweiften zurück in die Vergangenheit. Sie holte unbewusst eine alte Zeitung aus der Schublade ihres Schreibtisches hervor und las zum gefühlt tausendsten Mal die wenigen Zeilen, die sie inzwischen auswendig kannte.

›Rätsel um verschwundenes Mädchen nach schwerem Verkehrsunfall‹, lautete die Schlagzeile.

Die Zeitung war auf den 19.05.2006 datiert und durch das ständige Öffnen und Schließen ziemlich zerknittert. Der Verfasser stellte Vermutungen über den Unfallhergang an und beschrieb die Menschen, die dabei den Tod gefunden hatten. Darunter zeigte ein Familienfoto Eibe im Alter von sechs Jahren. Sie saß in der Mitte, links ihr Vater, an den sie nur noch wenige Erinnerungen hatte, und rechts ihre Mutter, von der sie hin und wieder träumte. Eibe musterte ihr jüngeres Ich und ihr Blick fiel unbewusst auf den Spiegel, der an der Wand hing. Zwei violette Augen in einem blassen Gesicht blickten ihr entgegen. Traurige Augen, in denen der Schock jener Nacht immer noch abzulesen war und die ihre Farbe während des Unfalls von hellblau zu violett gewechselt hatten. Magnus hatte sie gefunden und mitgenommen. Ihr Urvertrauen zu diesem damals für sie Fremden hatte sich als berechtigt herausgestellt. Trotz des Verbotes, sich in die Belange von Menschen einzumischen, hatte der Meister seiner inneren Stimme nachgegeben und sie damit gerettet.

Sie stand auf, legte die Zeitung auf den Nachttisch und betrachtete sich im Spiegel. Ein außerordentlich hübsches Mädchen blickte ihr entgegen, wenn man von den unnatürlichen Augen absah, deren intensives Violett ihrer Aura eine unheimliche Note verlieh. Die langen, braunen Haare, deren Farbe an Zartbitter-Schokolade erinnerte, trug sie offen. Wenn sie ihren hellen Teint mit ein bisschen Make-up auffrischte und sich schick anziehen würde … könnte sie so schön sein wie einst ihre Mutter.

Die wunderbaren Träume, in denen sie gemeinsam mit ihr die Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte ausblies und für einen Moment gänzlich im Mittelpunkt stand, wurden immer seltener. Auch die Erinnerungen an verregnete Nachmittage, an denen sie mit Spielkameraden gemalt und sich Kinder-Videos angesehen hatte, verblassten zunehmend. Die Namen ihrer einstigen Freunde waren bereits verweht.

Magnus, dessen reines Herz und gute Absicht für Eibe von Beginn an spürbar gewesen war, hatte ihr eine völlig neue Welt gezeigt. Das kleine Mädchen durfte eine Schatzkiste öffnen, randvoll gefüllt mit unmöglichen Dingen, die für Menschen nicht sichtbar waren. Der Kontakt mit echten Feen und Waldgeistern hatte ihre frühere Begeisterung für Zeichentrickfilme schnell verpuffen lassen. Die quirligen Waldbewohner, die im Verborgenen hausten und ihr eine neue, unbekannte Welt unter der Erde zeigten, ersetzten ihre verlorenen Spielkameraden nach und nach. Der Unterricht, verteilt auf Magnus, seine Frau Area und die Heilerin Maja gestaltete sich durch die vielen praktischen Einheiten wesentlich spannender und aufregender als herkömmlicher Schulunterricht. Dank der unzähligen Experimente mit den Elementen und ihrer eigenen Energie war die Zeit wie im Flug vergangen. Aus dem kleinen Mädchen wurde eine junge Frau mit beachtlichen magischen Fähigkeiten. Die Jahre der Ausbildung im Orden der knisternden Steine hatten volle Konzentration gefordert und zusätzliche Talente zu Tage gebracht, mit deren Beherrschung Eibe viel Zeit verbrachte. Der Reichtum an magischen Möglichkeiten, zu denen sie schon bald Zugang bekam, zog sie völlig in ihren Bann.

Der Unfall ist zehn Jahre her. Kein Wunder, dass ich anfange, mein altes Leben zu vergessen, dachte sie betrübt.

Sie verstaute die Zeitung wieder in der Schublade, machte es sich auf ihrem Bett bequem und dachte über Lumen nach. Über das, was sie tief in ihm gesehen hatte. Die junge Frau fühlte sich stark zu ihm hingezogen, obwohl sie ihn kaum kannte. Er brachte eine besondere Saite in Eibe zum Schwingen und dieser Umstand erzeugte ein äußerst angenehmes Gefühl in ihrem Inneren. Und doch spürte sie, dass noch etwas anderes in ihm lauerte, etwas, das sie noch nicht einzuordnen wusste. Der rot glühende Punkt in seiner Körpermitte ging ihr nicht mehr aus dem Sinn.

 

 

 

2. Thaamäus

 

Magnus stand vor einem offenen Portal und bedachte den weißhaarigen Mann auf der anderen Seite mit einem bösen Blick.

»Die Borea, die du mir geschickt hast, ist nicht annähernd so mutig, wie von dir beschrieben.«

Thaamäus verzog missmutig sein faltenloses Gesicht. Der schlanke, hochgewachsene Alte besaß noch immer die Haut eines 16-Jährigen. Ein verwirrender Anblick. Aber die beiden kannten sich schon viele Jahre und Magnus hatte sich daran gewöhnt. Thaamäus blätterte in einem schwebenden Buch und seufzte geräuschvoll.

»Ich habe es befürchtet. Dein Mädchen ist eine echte Herausforderung!« Er rieb sich nachdenklich das bartlose Kinn und sinnierte: »Zur Auswahl stehen im Moment: Meeta, eine Gabija …« Magnus unterbrach ihn unwirsch.

»Haushaltsgeist ja, aber bitte kein Feuerwesen. Eher ein Wassergeist. Meinetwegen auch ein Erdwesen.«

»… Danca, eine Rugia boba, steht auch noch zur sofortigen Verfügung.«

»Hm, ein Feld- und Erntegeist. Fleißig und arbeitsam, aber auch mürrisch und leicht zu verärgern. Was hast du noch?«

Thaamäus blätterte minutenlang schweigend seine Kladde durch, ehe er murmelte: »Wäre es nicht immer so dringend, könnte ich eine viel größere Auswahl an helfenden Geistern bieten, die Arbeit suchen. Dieser Notfall schränkt die geeigneten Kandidaten jedoch sehr ein!«

»Es klingt, als wäre das meine Schuld«, gab Magnus mit einem gereizten Unterton in der Stimme zurück und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

»Nun ja, nicht direkt deine, aber Eibe hat schon mehrere Hilfsgeister auf dem Gewissen«, antwortete Thaamäus und verdrehte die Augen.

»Dann musst du eben darauf achten, keine allzu zart besaiteten Blümchen auszusuchen«, konterte der Meister. »Wenn meine Schülerin eines Tages ihr volles Potenzial entfaltet, könnte es in ihrer unmittelbaren Umgebung noch viel gefährlicher werden!«

Sein Gegenüber formte einen Schmollmund, legte die Stirn in Falten, und suchte schweigend weiter.

»Ah, das passt! Eine Rusalka ist ab morgen frei. Ein besonders beliebter slawischer Wassergeist wohlgemerkt. Mhijghmijh, hm … Mjiihmiigh? Der Name ist nicht übersetzbar. Ich denke, sie wird mit Mimi einverstanden sein, aber ich frage sie sicherheitshalber.«

»Tu das. Und sag mir morgen früh Bescheid, wann sie anfangen kann«, sagte der Meister in neutralem Tonfall.

»Natürlich. Es war mir wie immer eine Ehre«, gab der Arbeitsvermittler zurück und zwinkerte seinem Freund zu.

Die beiden Männer verabschiedeten sich mit einer angedeuteten Verbeugung und das Portal schloss sich. Der Spiegel, den sie zur Kommunikation benutzten, zeigte wieder Magnus‘ Abbild. Er versiegelte ihn noch mit einem Bann, um Unbefugten den Zutritt zu verwehren, und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Wenigstens ein Problem war gelöst. Gefühlt hundert weitere lagen noch vor ihm und wollten bearbeitet werden. Er zog Lumens Unterlagen aus dem Stapel, der zu seiner Rechten lag. Lustlos überflog er die erste Seite, driftete mit den Gedanken jedoch bald weg. Weit weg. Zurück in eine Vergangenheit, die er beinahe schon vergessen hatte. Zu Areas Notizbuch, das nach so langer Zeit plötzlich wieder aufgetaucht war.

 

☼☼☼

 

Eibe kam zu dem Schluss, dass sie dringend mit jemandem reden musste. Zum Schlafen war es ohnehin viel zu früh. Sie kam auf dem Weg zu Maja an Magnus‘ Arbeitszimmer vorbei, vor dessen Tür sich in der Dunkelheit etwas regte. Sie schlich auf Zehenspitzen näher heran und erkannte Lumen. Dieser stand stocksteif da und spitzte angestrengt die Ohren. Auf das Gespräch des Meisters fixiert, hörte er Eibes Kommen nicht.

Sie platzierte sich dicht hinter dem jungen Mann und fragte in normaler Lautstärke: »Was machst du hier?«