cover
cover
Titelseite

INHALT

Widmung

Zitat

Silvester, 1855

New York City – Heute

Kapitel 1 – Tess

Kapitel 2 – Theo

Kapitel 3 – Jaime

Kapitel 4 – Tess

Kapitel 5 – Theo

Kapitel 6 – Jaime

Kapitel 7 – Cricket

Kapitel 8 – Tess

Kapitel 9 – Theo

Kapitel 10 – Jaime

Kapitel 11 – Tess

Kapitel 12 – Theo

Kapitel 13 – Jaime

Kapitel 14 – Tess

Kapitel 15 – Theo

Kapitel 16 – Jaime

Kapitel 17 – Tess

Kapitel 18 – Jaime

Kapitel 19 – Tess

Kapitel 20 – Tess

Kapitel 21 – Theo

Kapitel 22 – Jaime

Kapitel 23 – Tess

Kapitel 24 – Theo

Kapitel 25 – Jaime

Kapitel 26 – Tess

Kapitel 27 – Cricket

Kapitel 28 – Jaime

Kapitel 29 – Tess

Kapitel 30 – Theo

Kapitel 31 – Jaime

13. Februar 1861

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Infos

Impressum

 

 

 

 

 

Für Zoe und Oliver, meine Lieblingsabenteurer

 

 

 

 

 

Was wäre die Stadt ohne ihre Bewohner?
William Shakespeare, Coriolanus

SILVESTER, 1855

Eine Stadt hat niemals nur eine einzige Geschichte, sondern immer eine ganze Chronik voller Darstellungen mit unterschiedlichen Helden. Doch die meisten Erzähler glauben, dass nur ihre Version die richtige ist und nur sie die einzig wahren Helden sind.

Überrascht stellen sie fest, dass sie sich geirrt haben.

Wenige Stunden vor Mitternacht verstummten die Straßen von New York City kurz, als ob jemand ansetzte, eine große Geschichte über Geheimnisse und Abenteuer zu erzählen, und Stille benötigte, damit er beginnen konnte. William Covington Hanover gefiel die plötzliche Ruhe nicht und er kannte die Geschichte von New York City bereits – seine Geschichte. Er war seit knapp zwei Wochen in der Stadt und bereits zu dem Schluss gekommen, dass es hier von Schlägern, Mördern und Dieben nur so wimmelte. Dass er selbst ein Mörder und Dieb war, spielte dabei keine Rolle. (Und er würde jeden windelweich prügeln, der ihn einen Schläger nannte.)

Nein, es ging darum, dass William Covington Hanover nicht aussah wie ein Mörder oder Dieb. Er besaß Würde. Er hatte Prinzipien. An diesem schönen Winterabend, an dem die Luft nach frischem Schnee roch, trug er ein weißes Smokinghemd, ein weißes Halstuch, einen dunklen Frack und eine saubere Hose. Der Zylinder machte ihn noch größer, als er ohnehin schon war, und sein wollener Wintermantel wirkte wie die Paradeuniform eines britischen Generals.

Was der Grund dafür war, warum die hübsche Miss Ava Oneal nicht die geringste Ahnung hatte, dass er ihr bereits seit sieben Häuserblocks folgte.

Warum sollte sie das auch vermuten? Dieses stylische Outfit hatte er seinem letzten Arbeitgeber entwendet, dem überaus kurzsichtigen Lord Irgendwas-aus-Irgendwo-am-Avon, dem nie aufzufallen schien, wenn Kerzenständer und Silberbesteck verschwanden. Bis zu dem Tag, als er es doch bemerkte, was zu einem unüberlegten Gerangel wegen einer Serviergabel führte. William war gezwungen gewesen, seine Beute in einen Kissenbezug zu stopfen und sich an Bord eines Postschiffs zu schmuggeln, das unterwegs zu dieser merkwürdigen Stadt mit ihren sogar noch merkwürdigeren Einwohnern gewesen war. Schläger, Mörder, Diebe … und Dummköpfe. Als das Schiff in Amerika angelegt und er bei der Einwanderungsbehörde in Castle Garden behauptet hatte, sein Name sei »William Covington Hanover«, sollte das eigentlich ein Scherz gewesen sein. Wer würde schon glauben, dass ein Mann, der monatelang auf einem Boot zwischen Schustern und Kartoffelbauern gehaust hatte, ein Mitglied des Adelshauses von Hannover war, aus dem auch Queen Victoria höchstpersönlich stammte? Doch sie hatten seinen Witz einfach in ihr Buch eingetragen und ihn durchgewunken.

Also war er weitergegangen, durch den Battery Park und in den Hexenkessel Five Points, wo er in einer beengten Mietswohnung untergekommen war, die nach Gin und ranzigem Kohl roch. In Five Points gab es nicht genügend zu stehlen und viel zu viel zu trinken. Es dauerte nicht lange, bis er sich von dort ins Stadtinnere vorgearbeitet hatte, wo der glänzende Morningstar-Tower wie ein Symbol für alles stand, was er sich schon sein ganzes Leben lang wünschte und was er – seiner Meinung nach – verdiente: Reichtum und Macht über seine wildesten Vorstellungen hinaus (obwohl ihm eigentlich der Reichtum schon völlig ausreichen würde).

Jetzt befand er sich auf der nördlichen Westseite der Insel, wo die Reichen vor Kurzem reihenweise schöne Häuser und Villen mit Vorgärten und Parkanlagen gebaut hatten. Die meisten Polizisten blieben südlich, in der Nähe von Five Points, aber einige patrouillierten auch durch den nördlichen Teil, um die Reichen vor Leuten wie William Covington Hanover zu beschützen. William nickte den Polizisten an der Straßenecke zu und tippte sich grüßend an den Zylinder, als er an einer Gruppe Damen vorbeikam, die gerade eine Kutsche bestieg, um zu diesem oder jenem Ball zu fahren.

»Guten Abend, meine Damen«, sagte er in seinem besten englischen Oberschicht-Akzent. »Sie verzaubern diese Nacht durch Ihre Lieblichkeit.«

»Ihnen auch einen schönen Abend, Sir«, erwiderte die Kühnste von ihnen. Die Damen kicherten, als er vorbeiging, und ließen die Blicke über seinen feinen Mantel, seine hellen Haare und sein freundliches Lächeln schweifen. Solange sie nicht nahe genug an ihn herankamen, um seine von der Kälte und dem Whiskey gerötete Nase zu bemerken oder die Messerstichnarben auf seinen Wangen, war alles gut. Er würde wirken wie jeder andere Gentleman auf dem Weg zu einer Silvesterfeier statt wie jemand, der seinem Traum in Form von Miss Ava Oneal folgte.

Miss Ava war weniger opulent – und merkwürdiger – als die anderen Damen gekleidet. Trotz des feierlichen Anlasses trug sie eine einfache Jacke, bis zum Hals zugeknöpft, einen langen dunklen Rock, einen Umhang und einen Männerhut, der beinahe so hoch war wie der von William. Doch nicht dieses Outfit war das Bemerkenswerteste an ihr, auch nicht ihre kleine Statur, ihr makelloses Gesicht oder der Umstand, dass sie ohne Begleitung durch den glitzernden, wirbelnden Schnee ging. Es war nicht mal die Tatsache, dass sie im schwachen Licht der Straßenlaternen beim Laufen ein Buch las. Nein, es waren die Arbeitgeber von Miss Ava Oneal, die ihn am meisten interessierten.

Ihre Arbeitgeber namens Theresa und Theodore Morningstar.

Miss Ava erreichte die Ecke und schwebte über die Straße, wobei sie keine Sekunde lang den Blick von den Seiten nahm, obwohl mehr als ein Kutscher kräftig an den Zügeln ziehen musste, damit die Pferde sie nicht zertrampelten. Die Polizisten beobachteten sie, schwangen ihre Schlagstöcke und flüsterten miteinander. Auch andere sahen zu ihr hinüber. William entdeckte sie überall; nur den Polizisten entgingen sie: raue Männer aus Banden wie den Toten Hasen – oder hießen sie Tote Kakerlaken? –, die sich groteske Namen gegeben hatten wie Schmieriger Jim oder Patsy der Schlächter und so weiter. Sie lauerten in den Gassen und Hauseingängen, hinter Mauern und Bäumen, gekleidet in übergroße Sakkos und mit winzigen Melonen, die nicht größer waren als Fingerhüte. William schüttelte angewidert den Kopf. In einer solchen Verkleidung konnte man sich auch genauso gut gleich mitten auf die Straße stellen und rufen: »Reiche Bürger der Stadt! Bereitet euch darauf vor, eine übergezogen zu bekommen und ausgeraubt zu werden!«

William Covington Hanover würde sich niemals so öffentlich präsentieren. Der Engländer schätzte Raffinesse, der Amerikaner wollte ein Spektakel. Als gäbe es in dieser Stadt nicht bereits genug Spektakel! Den Morningstar-Tower zum Beispiel. Die Freiheitsstatue. Die Bahn mit der merkwürdigen Bezeichnung »Underway«, ein schwindelerregendes Nest aus über- und unterirdischen Gleisen. Ihre Funktionsweise war so mysteriös, dass nur Mitgliedern eines Geheimbundes gestattet war, sie zu bedienen. Die Reichen hatten ihre Pferde und Kutschen nur aus reiner Angeberei behalten.

In diesem Moment wäre William Covington Hanover dankbar für eine Kutsche oder die Underway gewesen, da Miss Ava Oneal entschlossen schien, an diesem kalten Winterabend ganz Manhattan Island abzulaufen. Oder vielleicht wollte sie lediglich ihr Buch auslesen. Laut der Zeitungen war sie eine sehr kluge junge Dame. Miss Morningstar hatte Miss Oneal in einem Krankenhaus für Waisenkinder kennengelernt, in dem sie beide ausgeholfen hatten, und sie vom Fleck weg engagiert. William Covington Hanover konnte sich nicht vorstellen, warum auch nur eine der beiden Damen ihre Zeit mit Kranken hatte verschwenden wollen, ganz zu schweigen von Waisen. Wenig überraschend hatte jemand irgendwann dieses Krankenhaus abgefackelt.

Wie William jetzt jedoch gereizt feststellte, war Miss Oneal nicht nur sehr klug, sondern hatte auch einen forschen Gang. Seufzend beschleunigte er seine Schritte und nahm sich nur einen Moment Zeit, einem Mann mit dem Gesicht einer Spitzhacke einen bösen Blick zuzuwerfen, der Miss Oneal ein bisschen zu interessiert musterte. Der Mann sah William abschätzend an und zog sich dann klugerweise in den Schatten zurück.

Miss Ava Oneal marschierte einen weiteren Block entlang und bog dann scharf nach rechts ab. William musste beinahe rennen, um mit ihr Schritt zu halten, und schwenkte genau in dem Moment um die Ecke, als ein Kutscher brüllte, ein Pferd wieherte und eine weitere Kutsche voller Damen zu einer Feier aufbrach. Der scharfe Geruch nach frischen Pferdeäpfeln drang durch die kalte Winterluft. Beinahe sofort öffnete sich ein runder Deckel auf der Straße, aus dem zwei Käfer herauskrochen – falls es Käfer in der Größe von Schäferhunden und aus grün schimmerndem Metall gegeben hätte. Sie glitten über das schneebedeckte Pflaster bis zu dem Haufen und schoben gemeinsam die Pferdeäpfel zu einer festen Kugel zusammen. Dann rollte sich einer der Käfer zusammen und wälzte die Kugel mit den Hinterbeinen rückwärts durch die Öffnung. Beide Käfer kletterten nach der Kugel hinein und der Deckel schloss sich wieder. Insgesamt hatte das Ganze nur wenige Sekunden gedauert.

Obwohl William Covington Hanover die Roller nicht zum ersten Mal sah, hatte er sich immer noch nicht ganz an sie gewöhnt. Die glitzernden, herumsausenden Maschinen kamen ihm einfach unnatürlich vor. Eine weitere Erfindung dieser Morningstars: Bruder und Schwester, Zwillinge, Genies. Sie hatten den glänzenden Morningstar-Tower entworfen und das strahlende Star-Hotel. Sie hatten unvorstellbare Brücken gebaut und unglaublich grüne Parks angelegt. Von ihnen stammte die Underway. Sie hatten die Straßen mit merkwürdigen, silberfarbenen Steinen gepflastert, die irgendwie die Sonnenstrahlen absorbierten, und schillerndes Fensterglas entwickelt, das denselben Effekt hatte. Anschließend hatten sie die Lithium-Ionen-Akkus hervorgebracht, in denen diese gesamte Energie gespeichert wurde. Sie hatten alle möglichen Morningstar-Maschinen erfunden: die Roller, die die Straßen sauber hielten, mechanische Schnecken, die die Fenster putzten, herumschwirrende Libellen, die vielfältig einsetzbar waren. Mit ihrem Flügelschlag konnten sie Wäsche trocknen oder im Sommer den Menschen Luft zufächeln. Siebenundfünfzig Jahre lang hatten die Morningstars architektonisch und mechanisch gezaubert, um New York City zur überwältigendsten Stadt der Welt zu machen. Zumindest beanspruchten die New Yorker diesen Titel für sich. Nachdem er die leuchtende Zukunftsmetropole nun mit eigenen Augen erblickt hatte, musste William ihnen widerwillig zustimmen. (Obwohl er sich sicher war, dass Theodore und nicht Theresa als das wahre Genie hinter all diesen Erfindungen steckte. Die Damen waren wohl doch eher dazu geeignet, Kissen zu besticken und hochgewachsene Männer anzukichern.)

Vor vier Wochen waren Theresa und Theodore Morningstar jedoch im Labyrinth des Morningstar-Towers verschwunden. Seither hatte man sie weder gesehen noch von ihnen gehört. Vor ihrem Verschwinden hatten die Zwillinge ihr gesamtes Land und ihren Besitz urkundlich einer Stiftung im Namen der Stadt vermacht und ihren Bewohnern ein Abschiedsgeschenk hinterlassen: eine Art Rätsel oder Schatzsuche. Der erste Hinweis, ein Haufen unverständliches Kauderwelsch, war in der Zeitung abgedruckt worden. Dieser Hinweis sollte zu einem weiteren führen, behauptete die Zeitung, und dann immer so weiter. Am Ende stand der größte Schatz, den sich ein Mensch vorstellen konnte. Angeblich wartete er lediglich auf einen Schatzsucher, der klug genug war, um ihn zu finden.

William Covington Hanover war auf jeden Fall klug genug, um einen Scherz zu erkennen. Eine Schatzsuche! Was für ein Blödsinn! Das war nichts weiter als ein Spiel, das die Morningstars mit ihrem ahnungslosen Publikum spielten, einem Volk, das nun über der Zeitung brütete und dann in einem sinnlosen Unterfangen von einem Gebäude zum nächsten rannte.

Die Morningstars hatten jedoch auch Miss Ava Oneal eine beträchtliche Geldsumme hinterlassen, der jungen Frau, die sie als Hilfskraft eingestellt hatten, die sie aber eher als eine Art Enkelin betrachteten. Falls jemand die Geheimnisse der Morningstars kannte oder wusste, wo der wahre Schatz versteckt war, dann sie.

Und weil William Covington Hanover ein Gentleman war – oder zumindest gekleidet wie einer –, würde er sie höflich danach fragen.

Danach würde er ihre Geheimnisse aus ihr herausquetschen.

Mit Höflichkeit kam man eben nur selten ans Ziel.

Miss Ava Oneal ging weiter, bis die eleganten Häuser immer weiter voneinander entfernt standen und von dichten Baumgruppen versteckt wurden. Als sie West 73. Straße erreichte, verlangsamte sie endlich ihren Schritt. Vor einem hohen Gebäude mit hellgrauer Fassade, das zu beiden Seiten von zwei weiteren unscheinbaren Häusern umgeben war, blieb sie stehen. Wäre nicht die Inschrift »TTM« auf den Ecksteinen eingraviert gewesen, hätte er das Haus womöglich gar nicht als Morningstar-Gebäude erkannt. Vielleicht war hier das Zuhause von Miss Ava Oneal, das ihr von ihren Wohltätern hinterlassen worden war. Es war ein hübsches Gebäude und befand sich so weit westlich, dass William sogar in der Kälte den dicken, öligen Geruch des Hudson Rivers wahrnehmen konnte. Allerdings hatte William Covington Hanover andere Dinge im Sinn – größere, gold- und silberfarben und glänzend …

»Kann ich Ihnen helfen?«

William blieb so abrupt stehen, dass er auf dem vereisten Pflaster ausrutschte und mit den Armen rudern musste, um das Gleichgewicht zu halten.

Miss Ava Oneal blickte ihn an. »Suchen Sie jemanden? Sie folgen mir schon eine ganze Weile.«

William verlieh seiner Stimme denselben vornehmen Akzent. »Ihnen folgen? Meine verehrte Dame, ich versichere Ihnen, dass ich …«

»Das ist ein ziemlich auffälliger Mantel. Wem haben Sie den gestohlen?«

»Ich muss doch sehr bitten! Ich war General in der Armee der Königin und …«

»Zweifellos«, unterbrach sie ihn ziemlich unhöflich, typisch amerikanisch. Auch wenn sie für eine Amerikanerin recht hübsch war. Sie hatte volle Lippen, dunkle Rehaugen und glatte braune Haut. Obwohl sie mindestens fünfundzwanzig Jahre alt sein musste, wirkte sie deutlich jünger. Eher wie siebzehn oder achtzehn.

Er änderte seine Taktik und breitete lächelnd die Arme aus. »Ich gestehe. Mir ist aufgefallen, dass Sie ohne Begleitung unterwegs sind. Sogar in dieser wunderschönen Stadt lauern Gefahren für eine junge Dame.«

»Davon habe ich gehört«, sagte sie und erwiderte sein Lächeln. »Und Sie wollen mich beschützen?«

»Genau«, behauptete er und fand Gefallen an der Rolle. »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist William Covington Hanover.«

»William Hanover!« Sie klemmte sich das Buch unter die Achsel und begann zu klatschen. »Was Sie nicht sagen!«

»Doch, das sage ich.«

»Wunderbar!«

»Ja. Ich meine, vielen Dank, meine verehrte Dame.« Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu und dann noch einen, damit er sich eindrucksvoller vor ihr aufbauen konnte.

»Hatten Sie eine Meinungsverschiedenheit mit einer Katze, Mr Hanover?«, murmelte Miss Ava und betrachtete unter ihren dichten Wimpern seine Narben.

»Der Krieg hinterlässt bei uns allen Spuren«, verkündete er. »Bitte erlauben Sie mir, Sie sicher ins Haus zu bringen. Es würde mich sehr erleichtern zu wissen, dass eine so attraktive junge Dame wohlbehalten an ihrem Ziel angekommen ist.«

»Sie sind köstlich.«

Sein Lächeln wuchs zu einem breiten Grinsen. »Vielen herzlichen Dank.«

»Viel unterhaltsamer als die anderen.«

Sein Lächeln bröckelte. »Die … anderen?«

»Die anderen Männer, die mir gefolgt sind. Die waren eher von der Sorte, die Leuten eins überziehen und sie dann in dunkle Gassen schleifen. Können Sie sich vorstellen, dass es einer sogar gewagt hat, mir einen Heiratsantrag zu machen, nachdem er gedroht hatte, mir die Augen auszustechen? Ich habe abgelehnt.«

William blieb der Mund offen stehen. Ava Oneal zog das Buch hervor, legte es unter sein Kinn und schloss ihm damit sanft den Mund.

»Ein Gentleman droht einer Dame nicht damit, ihr die Augen auszustechen. Das macht man einfach nicht. Nicht mal in diesem Buch, dabei ist es ziemlich skandalös. Haben Sie Penelope gelesen?« Sie neigte es, damit er den Titel erkennen konnte.

Doch außer als Brennmaterial hatte William Covington Hanover keine Verwendung für Bücher. »Ich kann nicht behaupten, dass ich es kenne, Miss Oneal«, sagte er und hielt ihr einen Arm hin. »Dann wollen wir Sie mal aus der Kälte bringen.«

»Ah, Sie kennen meinen Namen.«

»Wie bitte?«

»Meinen Namen. Sie kennen ihn.« Sie tippte ihm mit dem Buch auf die Brust. »Sie sind mir also doch gefolgt.«

Genug, dachte er und schlug ihr das Buch aus der Hand. Es krachte gegen die Hauswand und von dort auf die dünne Schneeschicht am Boden.

»Oh«, machte Miss Ava und bekam große Augen.

»Oh«, höhnte er und trat einen weiteren Schritt auf sie zu. »Ich habe einige Fragen an Sie.«

»Oh?«, wiederholte sie und legte ihm ihre kleine Hand auf die Schulter. Sie strich ihm den Arm entlang und umschloss mit ihren schlanken Fingern seinen kleinen Finger. Ihre vollen Lippen teilten sich, als ob sie ihn küssen wollte.

Dann hörte er das Knacken, mit dem sie ihm den Finger brach. Ihm blieb lediglich Zeit für einen unterdrückten Schrei, ehe sie ihn vors Knie trat und die Füße unter ihm wegzog, so leicht, als ob sie einen Welpen umwerfen würde.

»So behandelt man Penelope nicht«, erklärte sie mit einem Zungenschnalzen. »Und mich auch nicht.« Im schwachen Licht der Laternen leuchteten ihre Augen wie Metall.

Mit pochendem Finger kroch er rückwärts. Die zertrümmerte Kniescheibe schmerzte höllisch. Wie hatte ein so zierliches Mädchen ihn so schlimm verletzen können, und so schnell? »Warten Sie … warten Sie … Sie können nicht …«

Sie kam auf ihn zu, in ihrer merkwürdigen, beinahe schwebenden Art. »Und doch habe ich es getan.«

»Das kann nicht real sein.«

»Oh doch, ich bin sehr real. Ich bin eine Dame und werde auch immer eine sein.« Miss Ava beugte sich vor und lächelte ihn mit strahlend weißen Zähnen an. »Möchten Sie gern sehen, welche Art Dame ich bin, Mr William Covington Hanover? Den anderen hat es nicht gefallen, aber vielleicht gefällt es ja Ihnen.«

»Nein«, schnaubte William, der es kaum schaffte, die Worte aus seiner engen Kehle hervorzuwürgen. »Nein. Lassen Sie mich in Ruhe. Ich werde Sie nicht mehr belästigen.«

»Ach, das ist keine Belästigung.«

»Bitte«, flehte William. Genau das war das letzte Wort von Lord Irgendwas-aus-Irgendwo gewesen, ehe die Serviergabel ihr Ziel gefunden hatte. »Bitte.«

Sie öffnete den Mund und William kniff die Augen zu. Er war sich sicher, dass sie ihn gleich in Stücke reißen, zusammenrollen und in ein tiefes dunkles Loch werfen würde.

Stattdessen schrie sie, ein lautes, durchdringendes, damenhaftes Kreischen: »Hilfe! Oh, so hilf mir doch jemand!«

Verwirrt riss er die Augen auf.

Miss Ava Oneal hob ihr Buch auf und schlug es ihm bei jedem Wort um die Ohren: »Flegel! Scheusal! Schläger!«

Eben noch war die Straße dunkel und verlassen gewesen, doch jetzt kamen Polizisten aus den Gassen und dem Waldstück gerannt, als hätten sie geradezu diese Art von Schwierigkeiten erwartet.

Er fragte sich, wie weit er wohl mit einem kaputten Knie rennen konnte, als einer von ihnen rief: »Schnappt ihn euch!«

Es hatte keinen Zweck, sie kamen immer näher, sie waren längst hier. William Covington Hanover, der Mörder, Dieb und mittelmäßige Schläger, warf sich schützend die Arme über den Kopf. Während die Schlagstöcke auf ihn herabprasselten, fiel sein letzter Blick auf Miss Ava Oneal. Sie strich den Schnee vom Einband des Buches, richtete ihren Rock und betrat 354 West 73. Straße. Und dabei nahm sie alle Geheimnisse der Morningstars und ihre eigenen mit sich.

NEW YORK CITY

linie   Heute   linie

KAPITEL 1

linie   Tess   linie

Die Stadt trug viele Spitznamen: Gotham. Metropolis. Der Shining Star. Der Big Apple. Die Stadt, die niemals schläft. Wobei diese Begriffe nicht immer zutreffend waren. Warum sollte zum Beispiel jemand eine Stadt als ein übergroßes Stück Obst bezeichnen? Außerdem schlief die Stadt sehr wohl, allerdings so wie eine Katze – mit halb geöffneten Augen, lauernd, bereit, beim ersten Anzeichen von Spaß oder Gefahr aufzuspringen.

An diesem Morgen bereitete sich eine ganz andere Katze aufs Springen vor. Besagtes Tier wohnte in der vollgestopften Wohnung der Biedermanns in der 354 W. 73. Straße und sammelte Socken unter dem Couchtisch. Normalerweise war das für die Familie auch kein Problem, es sei denn, Gäste hatten sich angekündigt oder die Biedermanns hatten kalte Füße.

Heute erwarteten sie Gäste. Außerdem hatten sie ein Problem.

Die Katze, ein großes, gepunktetes Tier, das aussah, als ob es eher in die südafrikanische Savanne gehörte als in ein Wohnzimmer in der Upper West Side, hielt das Ende einer gestreiften Socke zwischen den Zähnen fest und knurrte. Das schlaksige Mädchen, das auf dem Boden saß und am anderen Ende der Socke zog, knurrte ebenfalls.

»Ist das wirklich dein Ernst, Tess?«, fragte Mrs Biedermann.

»Das … ist … meine … Lieblingssocke …«, erklärte Tess, deren dunkler Zopf gegen ihre olivfarbene Haut schlug. Die Katze schlug mit dem gestreiften Schwanz ebenfalls um sich.

Tess’ Zwillingsbruder Theo stand an der Arbeitsplatte in der Küche und stocherte mit einem Löffel in seinen Lieblings-Buchstabencornflakes herum. »Die Katze gewinnt«, stellte er fest.

»Ich müsste nicht die blöden Socken wegräumen, wenn nicht diese Leute herkämen, um deinen blöden Turm anzuschauen.«

Mrs Biedermann wühlte in ihrer reisekoffergroßen Aktentasche. »Das ist kein blöder Turm. Und bezeichne nicht immer alles als blöd.«

»Aber es ist der falsche Turm«, behauptete Tess.

Theo Biedermann hatte für einen landesweiten Legowettbewerb ein maßstabsgetreues Modell vom Tower of London gebaut, das das gesamte Esszimmer der Biedermanns einnahm. Damit hatte er den Wettbewerb gewonnen. Heute, eine Woche nach Beginn der Sommerferien, sollten endlich die Vertreter der Schule kommen, um Theo zu interviewen, ihm zu seinem Preis zu gratulieren (noch mehr Legos) und um den Tower für die Website der Schule zu fotografieren. Mrs Biedermann war der Meinung, dass die Sockensammlung vorher verschwinden sollte, allerdings vertrat die Katze, Nine, da einen ganz anderen Standpunkt. Und Tess ebenso.

Theo sah immer noch nicht von seinen Frühstücksflocken auf. »Du brauchst nicht deine Lieblingssocken zu tragen, Tess. Dich will niemand interviewen.«

»Du hättest den Morningstar-Tower bauen sollen«, beharrte Tess auf ihrer Meinung, zog die Beine an und verlagerte ihr Gewicht für eine bessere Hebelwirkung auf die Fersen.

»Hey! Ich habe ›Fibonacci‹ gelegt!«, freute sich Theo. »Oh nein, das I schwimmt gerade weg.«

Nine, die sich merkwürdigerweise nicht für die Namen von Mathematikern aus Weizenprodukten zu interessieren schien, legte die gestreiften Ohren an und riss Tess beinahe den Socken aus der Hand. Tess hielt jedoch fest dagegen. Hinter ihnen plapperte der Sprecher der Morgennachrichten im Fernsehen über neue Parkvorschriften, die Verhandlungen zwischen Großbritannien und China über weitere Allwetter-Solarpaneele, nachdem es im Vereinigten Königreich einen besonders regnerischen Frühling gegeben hatte, über neue Wasserrohrleitungen, die besten Outfits für Frauen, die man nach dem Büro direkt zur Party tragen konnte, und über ein neues Guacamolerezept mit Erbsen.

»In Guacamole gehören keine Erbsen«, erklärte Tess der Katze.

»Miau«, erwiderte Nine und zog fester.

»Als Nächstes schalten wir um zur überraschenden Pressekonferenz mit dem Gönner und Immobilienentwickler Darnell Slant«, kündigte der Nachrichtensprecher an. »Dem Mann, der New York City ins einundzwanzigste Jahrhundert katapultieren wird!«

»Wir befinden uns bereits im einundzwanzigsten Jahrhundert, Dummkopf«, kommentierte Theo.

»Darnell Slant war mit einigen der schönsten Frauen der Welt zusammen, zum Beispiel der Performancekünstlerin Lora Yoshida, dem Popstar Cath Tastic und Supermodel und Unternehmerin Mink. Doch seit letzter Woche macht er mit einem etwas ernsteren Thema Schlagzeilen. Er hat der Forschung eine Spende in Höhe von einhundert Millionen versprochen, was zur Heilung von Krebs und zahlreichen anderen Krankheiten führen könnte. Und laut seiner eigenen Aussage ist das erst der Anfang. In einem Interview, das er vor Kurzem Kanal 8 gegeben hat, betonte Mr Slant die Wichtigkeit von Fortschritt im Vergleich zu Stagnation, insbesondere in Bezug auf die weitere Entwicklung unserer Stadt. ›Die Morningstars waren Genies, die ersten Architekten von New York‹, wird er zitiert. ›Doch ihre Welt gibt es nicht mehr. An einem bestimmten Punkt wird aus Erhaltung Fossilierung. Man kann seine Helden auch zu sehr verehren.‹«

Tess ließ zu Nines Überraschung ihr Sockenende los. »Dreh mal den Fernseher lauter, Mom.«

»Warum? Was läuft denn?«, wollte Mrs Biedermann wissen.

»›Vielleicht glauben einige von Ihnen, dass diese alten Gebäude in und um die Stadt Hinweise auf den Code von Old York enthalten. Aber betrachten Sie einmal genauer das Wort ›Old‹ statt das Wort ›Code‹. Das Alte muss Neuem weichen.‹ Und damit übergebe ich an Amber Amberson, die live von der Pressekonferenz berichtet.«

Sobald Darnell Slants jungenhaftes Gesicht auf dem Bildschirm erschien, mit wehenden amerikanischen Flaggen im Hintergrund, schaltete Mrs Biedermann den Fernseher aus. »Ich wünschte, sie würden aufhören, diesem Kerl ein Mikrofon vor die Nase zu halten. Er ist nicht so klug, wie sie alle glauben, er tut nur so.«

Nine strich um Tess’ Bein herum, ehe sie sich mit ihrer Trophäe unter den Couchtisch verzog. »Ich wollte mir das ansehen!«, beschwerte sich Tess.

»Ich ertrage nicht mal seine fiese Visage«, erklärte Mrs Biedermann.

»Warum darfst du ›fies‹ sagen, aber ich nicht ›blöd‹?«

»Weil das nicht dasselbe ist. Außerdem bin ich erwachsen und kann sagen, was ich will. Das gehört zu den wenigen Vorteilen des Erwachsenseins.« Mrs Biedermann schob die Aktentasche zur Seite. »Hat jemand meinen Schlüssel gesehen?«

Tess stand auf und nahm den Schlüsselring vom Sitz des ramponierten Fernsehsessels, bei dem sich ihr Vater hartnäckig weigerte, ihn in den Sperrmüll zu werfen. Dann hielt sie ihn ihrer Mutter vors Gesicht. »Keine Ahnung, warum du dauernd dein Zeug verlierst«, stellte sie fest, während ihre Mutter den Schlüsselbund entgegennahm. »Und du nennst dich …«

»Detective, genau.« Mrs Biedermann zeigte ihre Dienstmarke vor. »So wie alle anderen auch.«

»Nicht alle«, widersprach Theo. »Wir nennen dich Mom.«

»Und dich nennen wir Mr Wortwörtlich«, konterte Tess.

»Heraus damit, Tess, was ist los?«, wollte Mrs Biedermann wissen.

Tess biss sich auf die Lippe und überlegte, ob sie es sagen sollte. Am Ende würde sie vermutlich ohnehin damit herausplatzen, so wie immer, auch wenn Tess das eigentlich gar nicht wollte. »Es liegt daran, dass Slant schon wieder im Fernsehen ist und ich mir Sorgen mache, dass …«

Sobald sie das Wort »Sorgen« ausgesprochen hatte, konnte sie beinahe spüren, wie ihr Bruder die Augen verdrehte, während er Fibonacci und den Rest seiner Alphabetfreunde in den Ausguss schüttete.

»Ich dachte, dabei wäre es um das Geld gegangen, das er der Krebsforschung gestiftet hat«, wunderte sich Mrs Biedermann.

»Aber dann hat der Reporter gesagt: ›Und das ist erst der Anfang.‹ Was, wenn es wirklich erst der Anfang ist, Mom? Slant ist Immobilienentwickler. Er kauft Immobilien auf.«

Mrs Biedermann holte tief Luft. »Tess, Darnell Slant versucht schon seit meiner Kindheit, jedes Gebäude in dieser Stadt aufzukaufen.«

»Nein, das stimmt nicht. Nur die wichtigen Gebäude. Den Morningstar-Tower, das Star-Hotel. Unser Haus. Davon redet er immerzu. Dann gibt er ständig diese Interviews und …«

»Genau genommen ist es nicht unser Haus«, warf Theo ein. »Es gehört der Stadt.«

»Man muss nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, du Roboter«, verteidigte sich Tess. Die Familie ihrer Mutter lebte seit mehr als hundert Jahren in 354 W. 73. Straße. Hundert Jahre! Ihr Großvater Benjamin wohnte im obersten Stock und hatte Tess und Theo alles über das Gebäude und seine Erbauer, die Morningstars, beigebracht, was er wusste. Er hatte sogar ihre Eltern dazu überredet, sie »Theresa« und »Theodore« zu nennen. Dass jemand anderes Anspruch auf ihr Haus erhob, war absolut unfair, selbst wenn es die Stadt war, die Tess genauso sehr liebte, wie es die Morningstars getan hatten.

Erst recht nicht Slant, der Mann, der wunderschöne alte Gebäude abriss und sie durch glänzende Hochhäuser ersetzte, die sich niemand leisten konnte. Der Mann, der sich ausschließlich mit Supermodels und Schauspielerinnen aus Realityshows verabredete.

»Slant interessiert sich nicht für unser Gebäude, Tess. Natürlich ist es ein ordentliches Haus mit ein wenig Geschichte, aber es ist wohl kaum der Morningstar-Tower. Und was habe ich dir gesagt? Du sollst deinen Bruder nicht immer als Roboter beschimpfen.«

»Wenn er nicht Roboter genannt werden will, muss er aufhören, sich wie einer zu benehmen«, verteidigte sich Tess. »Menschen haben Gefühle.«

»Sagt die Heulsuse«, kommentierte Theo.

»Eine Heulsuse, die dich beim Armdrücken schlägt.«

»Weil deine Arme länger sind«, behauptete Theo.

»Und beim Wettlaufen«, fügte Tess hinzu.

»Weil deine Beine kürzer sind.«

»Und beim Klettern.«

»Zusammenfassend kann man also sagen, dass du den Körperbau eines Affen hast.«

»Und beim Tauziehen.«

»Du gewinnst ja nicht mal gegen die Katze.«

»Und …«

Mrs Biedermann mischte sich ein. »Tess! Du weißt doch ganz genau, dass er das alles nur sagt, um dich auf die Palme zu bringen. Da frage ich mich doch, wer von euch beiden der Roboter ist.«

»Aber …«

»Ich glaube, es wäre gut, wenn du und Nine ein Stück spazieren gehen würdet. Holt Grandpas Post ab. Und du, Theo, musst dich für dein Interview fertig machen.«

»Was meinst du denn damit?«, wunderte sich Theo. »Ich bin fertig.«

Mrs Biedermann schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Ich hätte mit dir zum Friseur gehen sollen. Wie wär’s, wenn du dir die Haare wenigstens nass machst, damit sie nicht so … voluminös aussehen?«

Theo fasste sich an die dichten Locken.

»Du weißt doch, dass sie nach dem Trocknen nur noch voluminöser aussehen werden«, gab Tess zu bedenken.

»Okaaay.« Mrs Biedermann zog das Wort in die Länge, als wären die ungebändigten dunklen Haare ihrer Kinder ein zu verzwicktes Rätsel, als dass man es lösen könnte. »Wie wär’s dann mit einem anderen T-Shirt?«

»Was stimmt denn nicht mit meinem T-Shirt? Es ist doch ganz neu.«

»Da steht ›Schrödingers Katze ist tot‹ drauf.«

»Ich weiß.«

»Und darunter ist die Zeichnung einer toten Katze.«

»Dabei geht es um ein Gedankenexperiment, mit dem Schrödinger aufzeigen wollte, worin er das Problem bei bestimmten Interpretationen zur Quantenmechanik sah, als …«

Mrs Biedermann hielt eine Hand hoch. »Schön, dass du das aufgeklärt hast.«

»Noch nicht«, widersprach Tess. »Dreh dich um, Theo.« Er tat wie geheißen. Auf der Rückseite seines T-Shirts stand »Schrödingers Katze LEEEEEBT« und darunter war die Comiczeichnung einer Zombiekatze.

Mrs Biedermann hob nun beide Hände. »Für mich klingt ›Schrödingers‹ nach einer Krankheit. Außerdem ist vorne auf deinem T-Shirt immer noch eine tote Katze drauf.«

»Genau genommen auch auf der Rückseite«, erklärte Theo.

»Wenn die Leute das sehen, halten sie dich womöglich für merkwürdig.«

»Zu …«

»… spät«, beendete Tess Theos Satz.

Mrs Biedermann warf Tess einen strengen Mutterblick zu. »Ich dachte, du wärst auf dem Weg zur Post.«

»Ich gehe ja schon.« Sie nahm Nines Leine vom Haken an der Wand und Nine beugte sich vor wie ein Hund. Tess befestigte die Leine an Nines Geschirr. Dann überprüfte sie, ob der Haustürschlüssel in ihrer Hosentasche steckte, schlang sich ihre Tasche über die Schulter und ging zur Tür. Dort hielt sie inne. Auf keinen Fall würde sie sich umdrehen und einen Blick durch das geräumige, sonnige Apartment werfen, als sähe sie es zum letzten Mal. Sie würde nichts über Mietpreisbindung sagen oder darüber, dass sie sich niemals eine Wohnung dieser Größe oder überhaupt irgendeiner Größe in Manhattan oder einem anderen Stadtteil New Yorks leisten könnten, oder darüber, dass sie womöglich in die Wildnis von New Jersey oder sogar Idaho verbannt werden würden, ginge es nach Slant. Sie sagte nichts dazu, dass ihre Mutter gezwungen wäre, täglich zwei oder drei oder siebzehn Stunden mit der Bahn zu ihrer Arbeit als Detective in New York City zu pendeln, und beschwerte sich nicht darüber, dass sie ihre Mom deshalb nie mehr zu Gesicht kriegen und gar nicht mehr wissen würden, wie sie überhaupt aussah. Tess sorgte sich auch nicht laut darüber, dass ihr Dad womöglich in einer Vorstadt in Idaho keinen neuen Job als Beratungslehrer finden würde und vermutlich dann vor lauter Selbstmitleid in einer alten, vollgekleckerten Jogginghose in ihrer hässlichen Wohnsiedlung umherwandern würde, während seine Haare immer länger wuchsen, bis sie ihn scheren mussten, damit sie in ihrer Armut aus den Haaren Schals stricken und die dann verkaufen konnten.

Denn wenn sie sich jetzt im Apartment umsah und auch nur eine einzige ihrer Ängste laut aussprach, dann würde Theo wieder die Augen verdrehen und sie als »Mädchen« bezeichnen, als wäre das etwas Schlechtes, und ihre Mutter würde sie an den Schultern fassen und behaupten, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe, und ihr Dad, der Kaffee holte und jede Minute wieder zurückkehren musste, würde vielleicht einwerfen, dass sie »katastrophisierte«.

Nun ja, vielleicht katastrophisierte sie tatsächlich. Aber schließlich passierten jeden Tag Katastrophen, oder etwa nicht? Da galt es, vorbereitet zu sein. Und um sich vernünftig vorbereiten zu können, musste man sich alle möglichen Szenarien vorstellen. Darin war Tess sehr gut.

Nine stupste ihre Hand an. Tess streckte ihrem Bruder die Zunge heraus, dann verließ sie mit Nine die Wohnung und ging in den Flur. Mrs Cruz, die Hausmeisterin, gab sich große Mühe, das Gebäude in Schuss zu halten, doch sein Alter ließ sich nicht verstecken: In den Ecken bröckelte ein wenig der Putz, die dekorativen Fliesen mit ihrem auffälligen Sternenmuster waren teilweise gesprungen, das Solarglas in den Flurfenstern war wellig, sodass das Sonnenlicht in Regenbögen hereinfiel, und die meisten der Morningstar-Siegel, Gipsplaketten mit einem Stern inmitten einer Sonne, fehlten an den Fensterbänken.

Doch selbst mit all seinen Fehlern war dieses Haus nicht einfach nur ein Gebäude. Es war eins der fünf ursprünglichen Häuser, die von Theresa und Theodore Morningstar erbaut worden waren, und daher mit keinem anderen Gebäude der Welt zu vergleichen, nicht mal mit dem Tower of London. Es beherbergte alle möglichen Erinnerungen und Geschichten. Tess drückte ihr Ohr gegen die Wand, als ob sie dadurch einige davon erlauschen könnte.

Da ertönte hinter ihr eine Stimme. »Redest du etwa wieder mit den Wänden?«

Tess drehte sich um. Ein etwa sechsjähriges Mädchen starrte sie über den Lenker ihres übergroßen Dreirads hinweg an. Sie hatte bronzefarbene Haut und schwarze Zöpfe, die wie Antennen abstanden. An ihrem Mund und Kinn war etwas Lilafarbenes verschmiert.

»Hi, Cricket. Tust du wieder so, als wäre deine Fingerfarbe Lippenstift?«

»Warum sollte ich das tun?«, wollte das Mädchen wissen.

»Warum sollte ich mit den Wänden reden?«, erwiderte Tess.

»Meine Mom sagt, dass du dich komisch benimmst, weil dich niemand beachtet, aber dass ich immer nett zu dir sein soll.«

»Okay.«

Cricket schob den Herzanhänger ihrer Kette hin und her. Ratschratsch, ratschratsch … »Nettsein macht mir keinen Spaß.« Sie legte einen Schalter am Lenker um und das Dreirad fuhr piepend rückwärts, bis sie damit um die Ecke verschwand.

»Na ja, wem macht Nettsein schon Spaß?«, fragte Tess den inzwischen verlassenen Korridor.

Nine machte sich bemerkbar und sah demonstrativ hinüber zum Fahrstuhl. »Richtig. Entschuldige, Nine.« Tess rief den Aufzug.

Als sich die Türen öffneten, betrat sie mit Nine die Kabine. Sie drückte den Knopf fürs Erdgeschoss; die Beschriftung war so abgenutzt, dass sie unleserlich geworden war. Der Fahrstuhl ruckelte leicht und setzte sich dann in Bewegung. Auch wenn das Gebäude selbst eher schlicht war, der Aufzug war es definitiv nicht. Es handelte sich um einen elektromagnetischen Fahrstuhl, was bedeutete, dass er sich sowohl vertikal als auch horizontal bewegen konnte, und davon machte er ausgiebig Gebrauch. Jedes Mal wenn sie einstieg, benutzte er eine andere Route zu seinem Ziel. Manchmal fuhr er geradewegs auf und ab, manchmal bog er zahllose Male nach rechts oder links ab, manchmal fuhr er im Zickzack durchs ganze Haus.

Theo glaubte, dass das Gebäude nur so groß war, um die merkwürdigen Fahrstuhlwege zu ermöglichen, und hielt es für eine unglaubliche Platzverschwendung, auch wenn er den Aufzug selbst cool fand. Doch für Tess war er mehr als nur cool – er war magisch. Was, wenn sich die Türen auf einer Etage öffnen würden, die sie noch nie zuvor gesehen hatte? Eine bis dahin unbekannte Welt? Der Fahrstuhl konnte sich sehr, sehr schnell bewegen und vom obersten Stockwerk so rasch ins Erdgeschoss sausen, dass seine Passagiere einen Moment der Schwerelosigkeit erlebten, obwohl das eher selten vorkam, als ob er sehr gut wusste, dass dies nicht jedem gefiel.

Tess wappnete sich für alle Fälle, aber der Fahrstuhl ging es heute ruhig an und bog nur einmal nach links und zweimal nach rechts ab, ehe er sich auf direktem Weg nach unten begab und sanft im Erdgeschoss landete. Die entspannte Fahrt beruhigte ihre Nerven und sie ging lächelnd auf die Doppeltüren zu. Dass sie in der Lobby denselben Fliesenboden und dieselben Wände sah, mit denen schon ihre Mutter und Grandpa Ben und dessen Vorfahren aufgewachsen waren, machte sie glücklich.

Ihr Lächeln wurde sogar noch breiter, als sie in die Sommersonne hinaustrat. Tess freute sich selbst über die kleinen Touristentrauben, die die Adresstafel und die Eckpfeiler fotografierten und in ihren Reiseführern und Stadtkarten nachsahen, um selbst einen Versuch zu starten, den Code von Old York zu knacken. Sie kamen immer zuerst zu einem der ursprünglichen Morningstar-Gebäude – wenn auch erfolglos. In den Gründungsgebäuden hatte bisher niemand einen Hinweis gefunden, das wäre viel zu vorhersehbar, und die Morningstars hatten nie etwas Vorhersehbares getan. Doch Grandpa Ben hatte ihnen erzählt, dass in seiner Kindheit ständig so viele Touristen vor dem Haus gestanden hatten, dass man es kaum betreten oder verlassen konnte. Inzwischen handelte es sich nur noch um vereinzelte Gruppen und die meisten davon wirkten eher gelangweilt.

»Hier steht, dass der Code von Old York ein Geschenk von Theresa und Theodore Morningstar an die Stadt New York war und dass sich der erste Hinweis bei der Freiheitsstatue befindet«, fasste eine weiße Frau in weißer Hose und mit fürchterlicher Hawaiibluse zusammen.

Der korpulente, blasse Mann neben ihr grunzte. »Warum sind wir dann nicht zur Statue gegangen, wie ich es wollte?«

»Weil man diesen Hinweis bereits entschlüsselt hat. Und eine ganze Reihe von Hinweisen danach. Dann kamen sie allerdings nicht weiter.«

»Ich wollte doch bloß die verdammte Statue sehen. Und wen meinst du mit ›sie‹?«

»Die Leute.«

»Welche Leute?«

»Die Leute! Von der Rätsel- und Codistengesellschaft von Old York.«

»Nudistengesellschaft? Ich ziehe mich ganz bestimmt nicht aus.«

»Codisten.«

»Was sind Codisten?«

»Menschen, die einen Code entschlüsseln. Was hast du denn gedacht?«

»Code«, murrte der Mann und wischte sich mit einem Taschentuch über die feuchte Stirn. »Warum muss bloß immer alles gleich so mysteriös klingen? Man hätte es auch einfach ein Rätsel nennen können.«

»Ein Code ist nicht dasselbe wie ein Rätsel«, erklärte Tess. »Er ist viel komplizierter und ersetzt Wörter oder Zahlen oder sogar Symbole in einer Nachricht. Wie der Buchcode, den die Morningstars für den ersten Hinweis benutzt haben.«

Der dicke Mann zog die Brauen hoch. »Das ist doch dasselbe.«

»Aber nein!«, widersprach Tess. »Codes sind viel schwerer zu entschlüsseln, weil …«

Die Frau deutete auf die Leine in Tess’ Hand. »Wilde Tiere sind illegal.«

»Nine ist eine Katze.«

»Sie sieht aus wie ein Jaguar. Oder ein Leopard. Oder ein Jaguar-Leopard.«

»Sie ist nur … lang.«

Das Pärchen musterte Nine in all ihrer zwanzig Kilo schweren Pracht. Nine leckte sich den Schwanz und miaute freundlich, als ob sie bestätigen wollte, dass sie eine ganz normale Katze war und kein Jaguar. Trotzdem wichen die beiden einige Schritte nach hinten.

Was Tess nicht überraschte. Nine war definitiv keine normale Katze, sondern eine Mischung aus einer Siamkatze, einem Serval und weiß Gott was. Vielleicht mit Wolfeinschlag. Eines Tages war Großtante Esther mit einem übergroßen gepunkteten Kätzchen in der Wohnung der Biedermanns aufgetaucht. »Ich habe euch ein Haustier mitgebracht«, hatte sie verkündet. »Es heißt Nine Eighty-Seven. Außerdem habe ich noch ein paar Feigenkekse dabei. Die sind aber nichts für das Tier.«

Genau wie eine Menge anderer Leute aus Tess’ Familie war Tante Esther mehr als nur ein bisschen exzentrisch. Und Nine war vermutlich mehr Säbelzahntiger als Siamkatze.

Die Frau mit der schrecklichen Bluse behauptete: »Normale Menschen gehen nicht mit ihren Katzen spazieren.«

»Normal?«, wiederholte Tess. »War Einstein normal? Marie Curie? Wonder Woman?«

»Deine Katze knurrt mich an.«

»Sie schnurrt«, verteidigte sich Tess. Dass Nine aus dem Stand drei Meter hoch springen konnte, verschwieg sie lieber.

»Ihr Stadtmenschen seid so komisch«, sagte die Frau.

»Danke.« Tess zog an der Leine und überließ die Touristen einander. Die Straße hinunter zu ihrer Linken winkten die Bäume des Riverside Parks und der algige Duft des Hudsons lockte einladend. Sie warf einen letzten Blick auf 354 W. 73. – auf die vertraute, unaufdringliche graue Fassade, die Fenster, die wie viele Augen ständig über sie wachten, und ging nach Osten. Es war noch früh, daher waren die metallischen Roller noch unterwegs und leerten Mülltonnen, sammelten Abfall ein und rollten diesen zwischen den Verkehrswellen zu Klappen im Boden. Schläfrige Menschen schlurften zu Autos mit freischwebenden Solarpaneelen auf dem Dach, die aussahen wie die eingeklappten Flügel einer Heuschrecke. Als Tess sich dem Broadway näherte, spürte sie unter ihren Füßen die Underway rumpeln, als ginge sie über den Rücken eines großen, raunenden Tiers. Die Stadt erwachte.

An der Ecke bog sie auf die Hauptverkehrsstraße ab. Es wurde gehupt, Stimmen ertönten und verstummten wieder. Zu beiden Seiten der gepflasterten Straße thronten Gebäude wie steinerne Kliffe und riesige Glasflächen saugten das Sonnenlicht in sich auf. Vor ihr blieben Neuankömmlinge gaffend stehen, während gehetzte New Yorker an ihnen vorbeiströmten. Ein Teenager auf einem Starboard schoss durch die Menge. Egal, wie oft Tess hier entlangging, sie hatte immer das Gefühl, über den Grund eines Canyons zu laufen, durch den der große Fluss der Menschheit sich einen Weg gebahnt hatte.

Das waren die Dinge, von denen Tess sich wünschte, sie könnte sie Grandpa Ben erzählen: Dass sie das Gefühl hatte, die Gebäude wären Kliffe, dass sie sich als Teil des Flusses fühlte und ihren eigenen Weg bahnte, dass es ihr gleichermaßen gefiel und missfiel, dass sogar Fremde sie für merkwürdig hielten. Grandpa Ben war der Präsident der Rätsel- und Codistengesellschaft von Old York gewesen, solange Tess sich erinnern konnte, und sogar noch länger schon hatte er versucht, den Code zu knacken.

Aber das war vorbei. Bei Grandpa war nichts mehr, wie es einmal gewesen war.

Nine miaute und schnappte nach Tess’ Finger, um sie aus ihren Gedanken zu reißen. Theo hätte gesagt: »Diese Katze weiß immer ganz genau, wann du katastrophisierst. Verstehst du? Katz-atrophisierst.« Sie verstand es. Vermutlich war das auch der Grund gewesen, warum Mom und Dad zugestimmt hatten, dass Tess Nine behalten durfte, und sie als Therapietier ausbilden und registrieren ließen. Die Leute waren ganz verrückt nach genetisch veränderten Tierkreuzungen – Fuchshunde, Hasenkatzen, Katzenwaschbären, Schlangenotter –, bis die Stadt streng durchgegriffen hatte, insbesondere bei den großen Mischformen, auch Schimären genannt. Ein Streifenpolizist warf einen Blick auf Nine und den silberfarbenen Anhänger der Stadt an ihrem Halsband. Kopfschüttelnd murmelte er: »Was kommt als Nächstes, Pferdebären?«

Doch als Nächstes kam erst einmal die Post und dort gab es keine Pferdebären. Das Gebäude war beinahe leer. Die einzigen Geräusche waren das leise Kratzen von Nines Pfoten auf dem Marmorboden, die gemurmelten Gespräche der Angestellten und das entfernte Rauschen der Postdosen, die durch die Röhren in den Wänden schossen. Tess zog den Schlüssel aus ihrer Tasche und schloss Grandpas Postfach auf. Wie üblich fielen eine Menge Umschläge heraus. Nine sprang hoch, schnappte sich einen davon mit dem Maul und weigerte sich, ihn herauszurücken, was Tess nur recht war, denn sie konnte sehen, dass überall auf dem Umschlag »Vertraue niemandem, vertraue niemandem, vertraue niemandem« stand.

Die meiste Post stammte von anderen Codisten, doch ab und zu waren auch Briefe von paranoiden Verschwörungstheoretikern dabei. Grandpa machte das nichts aus; er hatte ihnen einmal erzählt, dass die Verschwörungstheoretiker davon überzeugt waren, er sei einer von ihnen, weil er glaubte, dass der Code von Old York real war. Viele hielten ihn bloß für eine Legende, eine alberne Geschichte, um Touristen anzulocken, nichts weiter. So wie ihre Eltern, auch wenn sie es nie laut geäußert hatten. Doch Tess erkannte manchmal die Ungeduld ihrer Mutter, wenn Grandpa Ben zum Essen kam und sich in eine seiner Theorien hineinsteigerte. Tess machte ihrem Vater und ihrer Mutter keine Vorwürfe, weil sie nicht an den Code glaubten, oder dafür, dass sie erleichtert waren, als sich Grandpa Ben von der Gesellschaft verabschiedete. Mr Biedermann beriet Hunderte von Kindern in der Schule, an der er arbeitete – manche davon hatten keine Eltern oder nicht genügend zu essen. Und Mrs Biedermann hatte als Detective ihre eigenen Rätsel zu lösen und keine Zeit für welche, die einhundertsechzig Jahre alt waren.

Doch Tess wollte trotzdem daran glauben. Was, wenn der Code lediglich auf die richtige Person wartete, um geknackt zu werden? Grandpa Ben hatte einmal gesagt, dass der Code genau so einen Menschen einfing: Während man glaubte, ihn zu entschlüsseln, gab er dir das Gefühl, dass er gleichzeitig dich entschlüsselte.

»Bei dir klingt es, als wäre der Code lebendig«, hatte Tess sich gewundert. »Ein Rätsel kann nicht lebendig sein.«

»Empfindest du die Stadt etwa nicht als lebendig? Knistert nicht die Luft? Summen nicht die Straßen? Viele Dinge sind lebendig«, hatte er erwidert.

»Aber warum gibst du dann auf?«, hatte Tess ihn gefragt.

»Ich gebe nicht auf, Gindele.«

Gindele. Das war sein Spitzname für sie. Rehkitz. »Grandpa, du hast bei der Gesellschaft aufgehört. Du gibst sehr wohl auf.« Sie hatte versucht, nicht wütend zu klingen. Gut, er hatte Gedächtnisprobleme, aber das ging vielen Menschen so. Vielleicht hatten die Ärzte sich geirrt.

»Eine Tatsache zu akzeptieren ist nicht dasselbe wie aufgeben.«

»Far kinder tsereist men a velt«, hatte Tess eins von Grandpas jiddischen Lieblingssprichwörtern zitiert. Für deine Kinder würdest du die Welt aus den Angeln heben.

»Und das würde ich«, hatte er erwidert und seine immer noch kräftige Hand auf Tess’ Kopf gelegt. »Eines Tages wirst du verstehen, was das bedeutet.«

Jetzt hob Tess Grandpas Post vom Boden auf und steckte sie in ihre Tasche. Sie betrachtete den Umschlag, den Nine immer noch fest zwischen den Zähnen hielt. »Vertraue niemandem« war nicht in rotem Textmarker oder mit Buntstiften hingekritzelt, wie es bei diesen Botschaften häufig der Fall war, sondern sorgfältig in schwarzer Tinte notiert. Außerdem war der Umschlag mit goldfarbenem Wachs versiegelt, was ihm eine besondere Note verlieh und vermutlich bedeutete, dass der Inhalt besonders gaga war, denn auch die Adresse war dreimal durchgestrichen und neu geschrieben worden. Tess versuchte, Nine den Umschlag abzunehmen, aber das ließ Nine natürlich nicht zu. Die Katze senkte den Kopf und knurrte.