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Für Harald – wie immer – dafür,
dass er Mimirs Brunnen gefunden hat

Danksagungen

Mein besonderer Dank gilt der Island-Forscherin Kristin Johannsdottir, die mein Manuskript gelesen und die isländischen Dialoge geliefert hat.

Außerdem danke ich Dr. William Ratliff dafür, dass er mir Zugang zur Bibliothek der Universität Stanford verschafft hat.

Meinem Sohn Daniel und meinem Neffen Nathan Stout danke ich ganz herzlich für die Inspiration zu Olaf Einbraue.

Und wie immer ein Dankeschön an Richard Jackson für seine Risikofreude.

Inhalt

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Lämmersuche

Der Lehrling

Nachtmahr

Erdmagie

Die Goldene Halle

Berserker

Das Ende der Zeiten

Die Schutzrune

Der schwarze Reiter

Olaf Einbraue

Die Schildmaid

Sklavenmarkt

Walhall

Der verirrte Vogel

Kühnherz

Gisur Daumenbrecher

Rune

Drachenmeer

Heimkehr

Die weise Frau

Goldborste

Heides Prophezeiung

Olafs Triumph

Die Reise

Jötunheim

Der Drache

Totholz

Ruhm stirbt nie

Die Eisebene

Drachenblut

Das Tal

Die Eisbrücke

Fonn und Forath

Die Bergkönigin

Yggdrasil

Mimirs Brunnen

Abschied

Spinnenmusik

Thorgils Lied

Freyas Moor

Lucys Rückkehr

Jack und Jill

Willkommen zu Hause

Personenverzeichnis

Anhang

Quellen

Lämmersuche

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Jack erwachte kurz vor Tagesanbruch und lauschte dem eisigen Februarwind, der ums Haus pfiff. Das würde wieder ein scheußlicher Tag werden. Träge schaute er zu den Dachsparren hinauf und genoss die letzten Minuten der Wärme. Er hatte in Wolldecken eingemummelt auf einem Lager aus trockenem Heidekraut geschlafen. Der Fußboden des Hauses lag ein Stück unter der Erde und der Wind, der seinen Weg unter der Tür hindurch fand, blies über Jacks Kopf hinweg.

Es war ein gutes Haus, mit Eichenpfosten, die mit den Wurzeln nach oben eingerammt worden waren, damit keine Feuchtigkeit aus der Erde in ihnen aufsteigen konnte. Jack hatte seinem Vater beim Bau zugesehen, als er sieben Jahre alt gewesen war. Sein Vater hatte gedacht, ein Kind könne diese Arbeit nicht verstehen, aber Jack hatte sie verstanden. Er hatte genau aufgepasst und glaubte schon jetzt, fünf Jahre später, dass er selbst ein Haus bauen könnte. Jack vergaß wenig von dem, was er sah.

Am anderen Ende des Raums sah Jack, wie seine Mutter das Feuer schürte. Das Licht flackerte bis auf den Dachboden. Dort war es wärmer, aber dafür sehr rauchig. Seine Eltern und seine Schwester schliefen oben, Jack bevorzugte die frische Luft in der Nähe der Tür.

Seine Mutter streute Hafermehl in kochendes Wasser und rührte den Brei kräftig um. Jack konnte riechen, dass sie Honig hineingab. Im Feuer glühte das Schüreisen. Auf dem Tisch standen aufgereiht vier Becher mit Apfelmost.

„Es ist so kalt“, beschwerte sich Lucy auf dem Dachboden. „Kann ich nicht im Bett frühstücken?“

„Eine Prinzessin fürchtet sich nicht vor ein bisschen Kälte“, sagte sein Vater.

„Prinzessinnen leben in Burgen“, erklärte Lucy.

„Ja, aber das gilt nicht für verloren gegangene Prinzessinnen.“

„Rede ihr nicht auch noch zu“, schalt seine Mutter.

„Bin ich wirklich verloren gegangen, Vater?“, fragte Lucy. Jack wusste, dass sie diese Geschichte liebte.

„Du warst nicht lange verloren. Wir haben dich gefunden“, sagte sein Vater liebevoll.

„Ich habe unter einem Rosenstrauch gelegen, mit einer Goldmünze in der Hand.“

„Du wurdest in diesem Haus geboren, nicht in irgendeiner Traumburg“, fuhr seine Mutter sie an. Sie tauchte das heiße Schüreisen in den ersten Becher mit Most, um ihn zu erwärmen. Jack stieg der würzige Apfelgeruch in die Nase. Er wusste, dass Lucy nicht auf sie hören würde. Es war viel interessanter, eine verloren gegangene Prinzessin zu sein als ein Bauernkind.

Aber die Goldmünze gab es wirklich. Sein Vater hatte sie beim Umgraben im Garten gefunden. Auf ihr war der Kopf eines Mannes zu sehen – Vater sagte, es sei ein römischer König.

„Eines Tages wird ein Trupp Ritter kommen“, erzählte Lucy weiter.

„Sie suchen nach dir, seitdem die Trolle dich entführt haben“, sagte sein Vater. „Die Trolle wollten dich aufessen, Liebling – aber weil es Trolle waren, gerieten sie natürlich sofort in Streit.“

„Sollen wir sie mit einem Apfel im Mund braten?“, sagte Lucy, die die Geschichte längst auswendig kannte. „Oder sollen wir aus ihr eine Pastete machen?“

„‚Pastete! Pastete!‘, rief die eine Hälfte der Trolle“, fuhr er fort. „Die andere Hälfte schrie nach gebratenem Kind. Sie kämpften erbittert und bald hatten sie sich gegenseitig bewusstlos geschlagen. Das war der Moment, in dem ich vorbeigekommen bin und dich gefunden habe.“

„Eines Tages werden die Ritter an unsere Tür klopfen“, sagte Lucy. „Sie werden sich vor mir verbeugen und sagen: ‚Komm mit uns und sei unsere Königin.‘“

„Weshalb redest du ihr diesen Unsinn ein?“, fragte Jacks Mutter streng.

„Was kann es denn schaden?“, erwiderte sein Vater.

Jack wusste, dass sie zwei Kinder verloren hatte, bevor er geboren wurde, und noch zwei nach ihm. Sie dachte, dass sie nie ein weiteres haben würde, aber dann brachte sie dieses letzte, vollkommene Kind zur Welt.

Lucy hatte goldblondes Haar, das einen an Sonnenschein denken ließ. Ihre Augen hatten die Farbe von Veilchen, die tief im Wald wuchsen. Sie war so leicht wie Distelflaum und fröhlich wie eine Lerche. Und weil man ihr die ganzen fünf Jahre ihres Lebens immer nur Freundlichkeit und Liebe entgegengebracht hatte, liebte sie alle Menschen. Jack konnte ihr einfach nie böse sein.

Jetzt wurde Lucy vom Vater die Leiter heruntergetragen, obwohl sie eigentlich schon zu groß dafür war. Jack sah, wie sein Vater vor Schmerzen das Gesicht verzog, während er unbeholfen von einer Sprosse auf die nächste trat. Aber er sah auch die Freude in den Augen seines Vaters – eine Freude, die fast nie sichtbar wurde, wenn Giles Krummbein seinen Sohn Jack ansah.

Jack warf die Decken zurück, stand auf und reckte sich. Wie alle anderen schlief er in seinen Kleidern und brauchte sich deshalb nicht erst anzuziehen.

Er zupfte die Wolle heraus, mit der der Türspalt verstopft war, und trat ins Freie. Ein graues Licht kroch über das Meer im Osten. Es sickerte in die Moore und wurde von den dunklen Wäldern im Westen wieder verschluckt. Der Himmel hatte die Farbe von schwarzem Eis. Es würde ein scheußlicher Tag werden.

Jack rannte zum Abort. Er hüpfte auf und ab, damit seine Schuhe nicht an dem gefrorenen Boden festklebten. Der Barde hatte gesagt, dass die Frostriesen ahnungslosen Menschen auflauerten und sie mit ihrem Nebelatem betäubten. Sie flüsterten von der Wärme, die der Schlaf bringen würde. Deshalb durfte man sich in der Dunkelheit des Winters nie draußen hinlegen, ganz gleich, wie verlockend es war. Denn dann erwischten einen die Frostriesen.

Jack rannte schnell zum Haus zurück, übersah dabei einen Eisfleck und rutschte aus. Er stolperte durch die Tür und versuchte, stampfend wieder Gefühl in seine Füße zu bekommen.

„Kalt, was?“, sagte sein Vater. Er saß mit Lucy auf dem Schoß am Feuer.

„Kalt wie ein Trollar…“

„Ich verbitte mir solche Ausdrücke“, fuhr ihn seine Mutter an.

Jack grinste und ließ sich am Feuer nieder. Sie hielt ihm einen Becher Apfelmost hin und er wärmte sich die Hände daran.

„Jetzt beginnen die Mutterschafe zu lammen“, bemerkte der Vater.

„Stimmt“, pflichtete die Mutter ihm bei.

„Ich liebe kleine Lämmer“, plapperte Lucy mit ihrem Mostbecher in den Händen.

„Du brauchst ja auch nicht loszugehen und die kleinen Biester zu suchen“, knurrte Jack.

„Das ist Gottes Wille“, sagte der Vater. „Adam hat gesündigt und deshalb müssen wir unser Brot im Schweiße unseres Angesichts verdienen.“

Jack fragte sich, warum sie für etwas, das zu Anbeginn der Zeiten passiert war, immer noch leiden mussten. Wie lange dauerte es, bis eine Strafe abgebüßt war? Wäre es nicht vernünftiger, wenn Gott nach tausend Jahren oder so sagen würde: Also gut, das reicht, ihr könnt ins Paradies zurückkehren? Aber diesen Gedanken sprach Jack lieber nicht aus. Wenn es um religiöse Dinge ging, war sein Vater sehr aufbrausend.

Giles Krummbein hatte Priester werden wollen, aber seine Familie war nicht reich genug gewesen, um die Aufnahmegebühr für das Kloster zu bezahlen. Diese Enttäuschung nagte heute noch an ihm, denn mit seinem verkrüppelten Bein fiel es ihm schwer, die Arbeit eines Bauern zu tun.

Seine schönste Erinnerung war ein Besuch auf der Heiligen Insel. Man hatte ihn nach seinem Unfall in der Hoffnung auf Heilung dorthin gebracht und der Anblick der Mönche, die ihrem friedvollen Leben nachgingen, hatte ihn mit Ehrfurcht erfüllt.

Leider waren nicht einmal die Mönche in der Lage, Vaters Verletzung zu heilen. Alles, was sie für ihn tun konnten, war, ihn mit weichem Weißbrot und Lammbraten mit Rosmarin zu füttern. Und sie beteten für ihn in einer Kapelle mit einem Fenster aus buntem Glas, das in allen Farben des Regenbogens leuchtete, wenn die Sonne hinter ihm stand.

„Ich denke, ich werde heute das Scheunendach reparieren“, sagte sein Vater.

Jack runzelte die Stirn. Das bedeutete, dass die ungeliebte Aufgabe, die Lämmer zu suchen, an ihm hängen blieb. Er tunkte das Brot vom Vorabend in seinen Haferbrei. Uneingeweicht war es zu hart zum Essen. Jacks Zähne knirschten auf dem Sand, der immer in den dunklen, festen Laiben steckte, die seine Mutter buk.

„Darf ich zuschauen, Vater?“, fragte Lucy.

„Natürlich, mein Liebling. Du darfst nur nicht unter der Leiter sitzen, das bringt Unglück.“

Ja, weil Vater den Hammer ihr auf den Kopf fallen lassen könnte, dachte Jack. Aber auch das sprach er nicht laut aus.

„In dieser Woche sind wir an der Reihe, den Barden mit Essen zu versorgen“, sagte seine Mutter.

„Das mache ich“, rief Jack rasch.

„Natürlich machst du das“, erklärte Giles. „Bilde dir nur nicht ein, du könntest dich wegen der Lämmer davor drücken.“

War das nicht wieder typisch?, dachte Jack. Er bot seine Hilfe an und sein Vater war trotzdem unzufrieden. Aber Jack freute sich so auf die neue Aufgabe, dass sein Ärger nicht lange anhielt.

Er verschlang das Brot und den Haferbrei, trank den heißen Apfelmost und bereitete sich dann auf den langen Tag vor. Er stopfte Wolle in seine dünnen Schuhe, damit seine Zehen nicht erfroren. Er wickelte sich eine zusätzliche Lage Stoff um die Beine, zog ein weiteres Hemd an und befestigte seinen Umhang darüber. Der Umhang war mit Talg gefettet, damit er den Regen abhielt. Er war schwer, aber die Wärme war es wert. Zuletzt schulterte er einen Packen Nahrungsmittel.

„Pass auf, dass du nicht so lange bei dem Barden herumlungerst und ihm lästig wirst“, sagte sein Vater, als Jack zur Tür hinausging.

Der Wind fuhr unter den Umhang und wehte ihn über Jacks Kopf. Er zog ihn wieder herunter und wickelte ihn fest um sich. Beim Gehen knirschte der Raureif unter seinen Füßen. Alles war jetzt kristallhell und Jack konnte im Westen die Berge hinter dem Wald sehen und im Osten das kalte Meer. Auf einer Klippe oberhalb der Küste stand das alte römische Haus, in dem der Barde wohnte. Die dünne Rauchfahne, die daraus aufstieg, wurde vom Wind in kleine Stückchen gerissen.

Jack fragte sich, weshalb der alte Mann entschieden hatte, sich ausgerechnet dort oben niederzulassen. Das Haus war in so schlechtem Zustand, dass nicht einmal Unmengen von Holz seine kalte Feuchtigkeit vertreiben konnten. Vielleicht lebte der Barde gern in der Nähe des Meeres. Von dort war er zu ihnen gekommen, in einem kleinen Boot, das auf dem Wasser tanzte wie ein Spielzeug. Es war ein Wunder, dass er überlebt hatte, aber vielleicht hatte er sein Boot mit Magie über Wasser gehalten.

Jacks Herz schlug bei dem Gedanken unwillkürlich schneller. Er wusste natürlich von der alltäglichen Magie, die seine Mutter praktizierte. Von ihr hatte er gelernt, wie man mit Bienen redet und verängstigte Tiere mit einem Lied beruhigt. Aber der Barde wusste wichtigere Dinge. Es hieß, er könne Feinde in den Irrsinn treiben, indem er in einen Strohhalm blies. Und er könne den Nordwind herbeirufen und mit Krähen sprechen.

Der alte Mann war vor zwei Jahren ins Dorf gekommen und hatte sofort Befehle erteilt. In kürzester Zeit hatte er sich in dem römischen Haus eingerichtet – mit einem Bett, einem Tisch, einem Haufen Decken und einem Vorrat an Nahrungsmitteln. Niemand bestritt sein Recht auf diese Dinge.

„Herr, ich bringe Vorräte!“, rief Jack an der Tür des alten Hauses. Er lauschte auf die Schritte des alten Mannes. Schließlich hörte er einen Seufzer und das Aufstampfen eines Stabes. Der Barde zog die Tür auf und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln.

„Jack! Wie schön, dass du da bist!“

Das war einer der Gründe, weshalb Jack den Barden mochte. Er sagte nicht: Was, du schon wieder? Er schien sich wirklich zu freuen.

„Möchtet Ihr, dass ich Euch den Apfelmost warm mache?“, fragte Jack.

„Ah! Das wundervolle Werk deiner Mutter“, sagte der Barde. „In ihren Fingern steckt Weisheit, mein Junge. Vergiss das nie.“

Jack legte ein Schüreisen ins Feuer und füllte einen Becher.

„Ich nehme an, Jack, du gehst heute Morgen auf Lämmersuche“, sagte der Barde, setzte sich und streckte seine knochigen Beine dem Feuer entgegen. „Wenn du es wissen willst – sechs Schafe haben Lämmer geworfen. Alle im Westpferch.“

Jack bezweifelte seine Worte nicht. Jedermann wusste, dass der Barde hellsehen konnte. Ob der alte Mann sich in einen Vogel verwandelte und über die Felder flog oder sich mit vorbeistreichenden Füchsen unterhielt, vermochte niemand zu sagen. Aber der Barde wusste alles, was um ihn herum vorging, und noch eine ganze Menge mehr.

Jack beobachtete das Schüreisen, bis es glühte, und steckte es in den Becher, wo es aufzischte. „Soll ich Treibholz für Euch sammeln, Herr?“, fragte er. Er wollte so lange wie möglich bleiben.

„Du wirst den halben Tag brauchen, um diese Lämmer einzusammeln“, sagte der Barde und atmete den Duft des heißen Apfelmosts ein. „Du kannst wiederkommen, wenn du damit fertig bist.“

Jack war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Niemand verlangte nach ihm, es sei denn, er hatte eine Arbeit für ihn.

„Braucht Ihr meine Hilfe, Herr?“, fragte er deshalb höflich nach.

„Hilfe? Hilfe, du Grünschnabel? Bei Odins Augenbrauen, ich lade dich zum Essen ein. Muss ich eine Einladung schreiben? Nein, nein“, sagte der alte Mann mit einem Seufzer, „wenn ich es täte, könntest du sie nicht lesen. Niemand hat sich die Mühe gemacht, es dir beizubringen. Deiner Mutter mache ich keinen Vorwurf. Sie hat getan, was sie konnte, mit diesem mönchsverrückten Ehemann …“

Der Barde murmelte weiter vor sich hin und wärmte sich dabei die Hände an seinem Mostbecher. Er schien vollkommen vergessen zu haben, dass Jack noch da war.

„Ich komme gern“, sagte Jack.

„Wie? Oh, sehr schön“, sagte der Barde und winkte ihn zur Tür hinaus.

Jack war so verblüfft, dass er den Hügel zum Westpferch hinaufstieg, ohne sich hinterher erinnern zu können, wie er dorthin gekommen war. Der Wind zerrte an seinem Umhang und die eisige Kälte drang in seine Schuhe. Was in aller Welt konnte der Barde von ihm wollen? Ein Dutzend Jungen schleppte Treibholz und Eimer voller Wasser zu dem römischen Haus, aber soweit Jack wusste, war noch nie einer vom Barden zum Essen eingeladen worden.

Weshalb wurde ihm diese Ehre zuteil? Der Sohn des Dorfältesten war größer und gebildeter. Der Sohn des Schmieds war kräftiger. Der Sohn des Müllers brachte dem Barden feines Weißbrot. An Jack war, um ehrlich zu sein, nichts, was ihn auszeichnete.

Er fand das erste Lamm an einer Hecke zusammengekauert. Die Mutter griff ihn an und er verscheuchte sie mit einem Fußtritt. Die schwarzköpfigen Schafe waren so wild wie Bergziegen. Er hielt das zitternde Neugeborene unter seinem Umhang fest, während er den Hügel hinunterrannte, wobei er ständig die Mutter des Lamms abwehren musste. In der Scheune legte er das Lamm auf einen Haufen Stroh. Auf dem Weg nach draußen musste er schon wieder den Hörnern des Mutterschafs ausweichen.

Er rannte bergauf und bergab, bis er alle sechs Lämmer gefunden hatte. Danach war er schmutzig und ihm tat alles weh von den Rammstößen. Ich hasse Schafe, dachte er und warf das Scheunentor zu.

„Vergiss nicht, sie zu füttern“, rief sein Vater vom Dach herunter.

„Schon erledigt“, sagte Jack. Warum konnte Vater nicht sagen: Sechs Lämmer? Gut gemacht! Warum war er nie zufrieden?

Lucy saß trotz Vaters Warnung genau unter der Leiter. Sie war in einen Schafspelz gewickelt und sah aus wie ein dickes Häschen. Sie winkte fröhlich und Jack winkte trotz seines Ärgers zurück. Auf Lucy konnte man einfach nicht wütend sein.

Der Lehrling

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„Komm herein!“, rief der Barde Jack zu, der nervös auf der Schwelle stand. Der Junge hielt Ausschau nach einem leeren Eimer oder einem zusammengeschmolzenen Haufen Treibholz, um seine Anwesenheit zu rechtfertigen. Aber alles schien in bester Ordnung zu sein.

„Ich habe dich nicht zum Arbeiten kommen lassen“, sagte der Barde und Jack zuckte zusammen. Konnte der alte Mann auch Gedanken lesen?

Bei Käse, Brot und Apfelmost befragte der Barde Jack über Dinge, die so alltäglich waren, dass Jack bisher nie einen Gedanken daran verschwendet hatte. Wie hörte sich Wasser an, wenn es über Gras floss? Und wie, wenn es in einem Sumpf versickerte? Wie veränderte der Wind seinen Ton, wenn er zuerst durch die Binsen am Fluss und dann über das Fuchsschwanzgras auf der Wiese strich? Konnte Jack den Unterschied zwischen einer Lerche und einer Schwalbe hoch oben in den Wolken erkennen?

Natürlich konnte er das, antwortete Jack. Das konnte jeder – man sah es daran, wie die Vögel ihre Flügel bewegten.

„Das hast du gut beobachtet“, sagte der Barde. „Nur wenige Leute können über ihre Nasenspitze hinaussehen. Noch ein Stück Käse?“

Jack aß mehr als seinen Anteil und fühlte sich ein wenig schuldig. Er bekam nur selten so viel, dass er satt wurde.

„Meiner Ansicht nach bist du keine völlige Zeitverschwendung“, sagte der Barde schließlich. „Aber lass dir das nicht zu Kopfe steigen, Junge. Du könntest dich durchaus als teilweise Zeitverschwendung erweisen. Was hältst du davon, mein Lehrling zu werden?“

Jack starrte ihn fassungslos an. Was sollte das bedeuten? Er hatte noch nie von einem Bardenlehrling gehört.

„Das ist die erste Angewohnheit, die wir dir austreiben müssen“, sagte der alte Mann seufzend. „Du musst klug aussehen, auch wenn du es nicht bist. Jetzt geh. Ich rede später mit deinem Vater.“

An diesem Abend lag Jack unter seinen Decken und hörte zu, wie sein Vater und der Barde über seine Zukunft sprachen. Er hatte nie damit gerechnet, dass der alte Mann tatsächlich kommen würde, aber bei Einbruch der Dunkelheit war der Barde erschienen, in einem dicken weißen Umhang und auf seinen schwarzen Stab aus Eschenholz gestützt. Mit seinem im Wind wehenden weißen Bart sah er überaus beeindruckend aus. Vater bat ihn herein und verscheuchte Jack von seinem Platz am Feuer.

Giles Krummbein war alles andere als erfreut, als er hörte, was der alte Mann wollte. „Ich kann nicht auf Jack verzichten!“, rief er. „Wenn ich mehrere Söhne hätte oder wenn mein Bein nicht verkrüppelt wäre – Ihr könnt es wohl auch nicht richten?“

„Leider nein“, sagte der Barde.

„Fragen kostet nichts. Es ist die Strafe, die ich für Adams Sünde erleiden muss.“

„Amen“, sagte Mutter. Auch Vater, Jack und Lucy murmelten „Amen“. Jack fiel auf, dass der Barde schwieg.

„Auf jeden Fall brauche ich Hilfe bei den Reparaturarbeiten und beim Pflügen. Ich brauche jemanden, der die Schafe hütet und im Wald Holz sammelt“, sagte sein Vater. „Ich bin geehrt, dass Ihr an meinen Sohn denkt, aber es gibt keinerlei Beweise dafür, dass er ein kluger Kopf ist.“

„Ich glaube an ihn“, sagte der Barde.

Jack spürte ein Aufwallen von Dankbarkeit für den alten Mann und eine ebenso starke Welle von Empörung über seinen Vater.

„Es wäre schön, wenn er etwas lernen würde“, mischte seine Mutter sich zögerlich ein. „Du wolltest doch auch immer bei den Mönchen studieren …“

„Halt den Mund!“, fuhr Giles sie mit einer Stimme an, die keinen Widerspruch duldete. „Ich wollte mich einem religiösen Leben auf der Heiligen Insel weihen“, erklärte er dem Barden. „Aber ich hatte nicht die Möglichkeit dazu. Meinem Vater mache ich daraus keinen Vorwurf. Ich ehre ihn und würde mich nie der Sünde des Zorns auf ihn schuldig machen. Mein Sohn sollte nicht versuchen, sich über seinen Stand zu erheben“, schloss er. „Jack muss lernen, dass das Leben voller Enttäuschungen steckt. Schmerzen heiteren Gemüts zu ertragen, ist der sicherste Weg zur Erlösung.“

„Oh, als mein Lehrling wird Jack kein leichtes Leben haben“, antwortete ihm der Barde augenzwinkernd. Jack fragte sich, was er so belustigend fand. „Ich versichere Euch, er wird arbeiten müssen wie ein Esel in einer Bleimine. Er wird mehr leiden als die meisten anderen Menschen. Und was Euren Hof angeht, Giles, so habe ich mit dem Dorfältesten gesprochen. Wenn ich Jack habe, brauche ich die anderen Jungen nicht, und der Älteste schickt sie stattdessen zu Euch. Ich glaube, Ihr werdet so viel Hilfe bekommen, dass Ihr gar nicht wisst, was Ihr damit anfangen sollt.“

Jack erkannte, wie geschickt der Barde vorgegangen war. Er hatte gewartet, bis Vater seine Argumente vorgebracht hatte, und dann den Handel abgeschlossen wie eine Falle, die hinter einem Fuchs zuschlägt.

„Ja, äh, wenn das so ist“, stotterte Giles Krummbein und warf dem Barden einen verärgerten Blick zu. „Ich nehme an, mit den anderen Jungen könnte es gehen – obwohl sie allesamt faule Nichtsnutze sind.“

Das war das erste Mal in Jacks Leben, dass sein Vater zumindest angedeutet hatte, dass er ihn für nützlich und fleißig hielt.

„Er wird doch hart arbeiten müssen, nicht wahr?“, vergewisserte sich Giles Krummbein noch einmal.

„Ich verspreche Euch, er wird jeden Abend vor Erschöpfung ins Bett fallen“, sagte der Barde.

„Aber er wird doch manchmal nach Hause kommen?“, fragte Jacks Mutter leise.

Der alte Mann lächelte sie an. „Er kann sonntags zu Euch kommen und wenn ich in den Wald gehe. Und er würde Euch weiterhin bei Eurer Arbeit mit den Bienen helfen.“

Irgendetwas schien zwischen ihr und dem Barden vorzugehen, aber Jack konnte nicht sagen, was es war.

„Das wäre schön“, sagte sie.

„Weiberarbeit“, knurrte sein Vater und warf einen Brocken Torf ins Feuer.

Am nächsten Morgen packte Jack seine Habe zusammen. Er legte sein Extrahemd und seine Beinwickel in einen Beutel, zusammen mit einem Becher und einem Schneidebrett. Dazu steckte er seine Sammlung von Schätzen – Muscheln, Federn, ein Stück Holz, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Eichhörnchen hatte, und einen durchsichtigen Stein. Alles andere trug er am Leibe, einschließlich eines Messers, das sein Vater ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.

Für Jack war es ein merkwürdiges Gefühl, seinen ganzen Besitz mitzunehmen – fast so, als würde ihn seine Familie vielleicht vergessen, wenn er nichts zurückließ, was an ihn erinnerte.

Lucy klammerte sich weinend an Jack. „Geh nicht fort! Geh nicht fort!“

„Ich komme am Sonntag wieder“, versuchte Jack, sie zu trösten.

„Nicht weinen, Prinzessin“, sagte Giles.

„Wenn Jack fortgeht, will ich keine Prinzessin sein“, jammerte Lucy.

„Was? Du willst nicht in einer Burg wohnen? Oder süße Sachen von goldenen Tellern essen?“

Lucy schaute auf. „Was für süße Sachen?“, fragte sie.

„Vogelbeerpudding und Reneklode-Törtchen“, sagte der Vater. „Apfelklöße und Flammeri.“

„Flammeri?“ Lucy ließ Jacks Umhang los.

„Die beste Art, mit Muskat und Sahne.“

Jack wusste, dass sein Vater Speisen beschrieb, die er auf der Heiligen Insel gegessen hatte. Weder Jack noch Lucy hatten je Flammeri gekostet, aber Jack lief trotzdem das Wasser im Mund zusammen. Es hörte sich gut an.

Lucy rannte zum Vater und er hob sie hoch. „Hafermehlkuchen und Erdbeermarmelade, Kirschpastete und Eiersoße“, raunte er ihr zu.

„Und Flammeri“, rief Lucy, die jetzt keinen Gedanken mehr an Jack verschwendete.

Jack seufzte innerlich. Es war nett gewesen, betrauert zu werden, aber Lucy konnte sich nie lange auf eine Sache konzentrieren. Schließlich war sie ja fast noch ein Kleinkind.

Der Barde ging voraus und Jack hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Außer Säcken mit Vorräten musste er auch noch seine eigenen Sachen schleppen. Unterwegs trafen sie Colin, den Sohn des Schmieds. Offensichtlich war er der erste Junge, den man geschickt hatte, damit er Giles Krummbein half. Als der Barde ihm den Rücken zuwandte, versuchte Colin, Jack einen Schlag auf den Arm zu versetzen, aber Jack wich geschickt aus.

„Viel Spaß mit den Schafen“, rief er gehässig und beeilte sich, den alten Mann einzuholen.

Jack arbeitete von Tagesanbruch bis in die Nacht hinein, aber er fand es interessant. An manchen Abenden, wenn der Barde Besuche machte, trug er seine Harfe. Diese Arbeit gefiel ihm besonders gut. Jack saß auf einem Ehrenplatz am Feuer, was er nicht gedurft hatte, solange er nichts weiter gewesen war als Giles Krummbeins Bengel. Er bekam etwas Warmes zu trinken und danach brauchte er nichts zu tun, als die Wärme zu genießen und den Geschichten des Barden zu lauschen.

In der Regel stand Jack vor dem Morgengrauen auf, schürte das Feuer und kochte Haferbrei. Er schleppte Wasser und sammelte Treibholz. Dann wurde er in die Natur hinausgeschickt.

„Schau dich um“, sagte der Barde. „Fühle den Wind, rieche die Luft. Lausche den Vögeln und beobachte den Himmel. Erzähl mir, was in der großen weiten Welt vorgeht.“

Und ohne genau zu wissen, was eigentlich von ihm verlangt wurde, stieg Jack die lang gestreckten Hügel bis auf ihre Kämme hinauf. Wenn das Wetter schlecht war, kauerte er in alten Schafställen. Und als es Frühling wurde, streckte er sich auf den Wiesen aus. Er beobachtete, wie flaumige weiße Wolken über den Himmel trieben und Habichte wie Pfeile niederstürzten, um nichts ahnende Mäuse zu packen.

Jack lernte rasch, dass einfache Antworten dem Barden nicht genügten. Wenn er faul oder unaufmerksam war oder – was am allerschlimmsten war – Dinge erfand, setzte es sofort eine Kopfnuss. Der Barde wusste genau, wann Jack log.

„Mach die Augen auf!“, brüllte er dann. „Wenn du nichts Besseres zustande bringst, kann ich dich ebenso gut wieder zum Lämmersuchen schicken.“

Als die Wochen vergingen, stellte Jack fest, dass er immer mehr sah – als hätte sich die Welt noch weiter geöffnet. Er lernte, dass ein Habicht nicht einfach ziellos in der Luft umherstrich. Er folgte Pfaden. Er rastete auf bestimmten Felsklippen und tauschte Höflichkeiten mit anderen Habichten aus. Er sah, dass die Geschöpfe der Wildnis genauso miteinander umgingen wie die Leute in seinem Dorf. Es gab Schüchterne und Grobe, Aufschneider und Bescheidene, die nur ihr Leben lebten und jeden Ärger vermeiden wollten.

Wenn Jack von seinen Ausflügen zurückkehrte, ging er schnurstracks zu dem Kessel mit Suppe, der Tag und Nacht über dem Feuer hing – ein reichhaltiges Gebräu aus Erbsen, Gerste, Rüben und Zwiebeln. Hin und wieder warf der Barde eine Handvoll Kräuter hinein, sodass sich der Geschmack der Suppe änderte. Aber gut war sie immer.

Nach dem Mittagessen kümmerte sich Jack um den Garten. Er sammelte Flohkraut zum Ausräuchern des Ungeziefers aus seinen und des Barden Kleidern. Er schälte Binsen und tauchte das weiche Innere in Bienenwachs, damit sie an den langen, dunklen Abenden Kerzen hatten. Er verflocht Strandhafer zu wasserfesten Matten. Und schließlich, beim Abendessen, berichtete Jack dem Barden, was er im Laufe des Tages gesehen hatte.

„Gut, gut“, pflegte der alte Mann dann zu sagen. „Du hast etwas davon gesehen, wie die Dinge ineinandergreifen. Nicht alles natürlich. Dazu wären viele Leben erforderlich. Aber du bist wenigstens kein kompletter Dummkopf.“

Danach lehrte er Jack meistens ein Lied und hörte genau zu, wie der Junge es wiederholte. „Du hast ein gutes Ohr für Musik. Ein recht bemerkenswertes Ohr“, murmelte er dabei und Jack fühlte sich bis zu den Zehenspitzen hinunter glücklich.

Schließlich deckte Jack das Feuer ab und breitete das getrocknete Heidekraut und die Schaffelle aus, auf denen sie schliefen. Der Barde hatte am hinteren Ende des Hauses ein niedriges Bett aus gewickeltem Stroh. Es erinnerte Jack an einen großen Korb.

Jack schlief in einer Ecke neben der Tür. Das Letzte, was er abends sah, war der Widerschein des Herdfeuers auf den Wänden des Hauses. Die Römer hatten sie mit Bäumen bemalt, die anders aussahen als alle Bäume, die Jack kannte. An ihnen hingen goldene Früchte und auf den Ästen saßen merkwürdige Vögel. Manchmal, wenn das Licht des Feuers flackerte, schienen die Vögel sich zu bewegen. Jack fand sie unheimlich.

Nachtmahr

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„Nein … nein …“

Jack fuhr hoch. Draußen heulte der Wind. Es war tiefste Nacht und im Haus herrschte klirrende Kälte.

„Nein … Ich will nicht … Es ist böse …“

Jack schlug die Decken zurück und hastete durch das Haus. Das Bett des Barden bebte. Er sah, wie der alte Mann die Hände hob, als wehre er etwas ab.

„Herr! Herr! Wacht auf! Es ist alles in Ordnung.“ Jack ergriff die Hand des Barden.

„Du wirst mich deinem Willen nicht unterwerfen! Ich biete dir die Stirn, du widerwärtiger Troll!“ Eine ungeheure Kraft schleuderte Jack zurück. Er prallte mit dem Kopf gegen die Steinmauer und fiel zu Boden. Seine Ohren dröhnten, als hämmere der Schmied auf seinem Amboss. Er schmeckte Blut.

„Oh, ihr Sterne, Jack! Ich habe nicht gewusst, dass du es bist!“

Jack versuchte zu sprechen, aber er hatte den Mund voller Blut und hustete stattdessen.

„Du lebst, Freya sei Dank! Bleib liegen. Ich schüre das Feuer und bereite dir einen heilenden Trank.“

Das Dröhnen in Jacks Kopf ließ allmählich nach, aber ihm war immer noch speiübel. Er hörte, wie der Barde hin- und herlief, und nach einer Weile loderte das Feuer auf. Nur wenig später wurde ihm ein Becher mit einer heißen Flüssigkeit in die Hand gedrückt. Sie tat ihm im Mund weh, als er daran nippte, und er zuckte zusammen.

„Du hast dir die Zunge zerbissen, Junge. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Der Trank wird dir helfen.“

Jack schaffte es, zu schlucken, und die Übelkeit verschwand. Er stellte fest, dass er zitterte. Vielleicht hatte er die ganze Zeit gezittert. Er konnte sich nicht erinnern. „Ist das … ist das die Art, auf die Ihr Eure Feinde vernichtet?“, stammelte er.

Der Barde lehnte sich zurück. „Eine der Arten“, sagte er.

„Also war das … Magie.“

„Manche Leute nennen es so“, sagte der Barde.

„Bringt Ihr mir bei, wie man das macht?“

„Bei Thors buschigem Bart! Ich habe dich fast getötet und das Erste, was du wissen willst, ist, wie man das macht!“

„Schließlich bin ich Euer Lehrling.“

„Und zwar ein ganz schön frecher. Die meisten Jungen wären nach dem, was du gerade durchgemacht hast, zu ihrer Mutter nach Hause gerannt. Aber Neugierde ist eine großartige Sache. Ich habe gewusst, dass wir gut miteinander auskommen werden.“

Jack spürte, dass er langsam schläfrig wurde. Die Schmerzen waren noch da, aber sie schienen unwichtig zu sein. „Was ist mit Euch passiert, Herr?“

„Das war ein Nachtmahr, Junge. Bete darum, dass dir nie einer begegnet.“

„Ihr meint, ein Albtraum?“

„Ich meine einen Nachtmahr. Das ist viel schlimmer.“

Jack wollte noch mehr Fragen stellen, aber er fühlte sich zu wohlig müde. Er gähnte abgrundtief, streckte sich an Ort und Stelle auf dem Boden aus und schlief ein.

Als er aufwachte, lag er draußen auf einem Bett aus Heidekraut. Er versuchte, sich aufzusetzen.

„Ruh dich eine Weile aus“, sagte der Barde. Er saß auf einem Schemel neben der Tür. Sein weißer Bart und der weiße Umhang leuchteten vor dem verwitterten Haus.

„Ah, Sonnenschein“, sagte der alte Mann mit einem zufriedenen Seufzer. „Er heilt die Schrecken der Nacht.“

„Der Nachtmahr?“, fragte Jack. Sein Mund tat weh, und seine Worte waren seltsam undeutlich.

Der Barde nickte. „Unter anderem.“

Jack betastete seine Lippe und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass sie geschwollen war wie ein Pilz nach dem Regen.

„Im Augenblick würdest du keinen schlechten Troll abgeben“, bemerkte der alte Mann.

Jack erinnerte sich an die Worte, die der Barde in der Nacht geschrien hatte. „Habt Ihr wirklich schon mal einen Troll gesehen, Herr?“

„Oh ja, Dutzende. Die meisten Trolle sind recht nett, aber es dauert eine Weile, bis man sich an sie gewöhnt hat. Die, vor denen du auf der Hut sein musst, sind die Halbtrolle. Ich kann dir gar nicht sagen, wie gemein sie sein können. Und wie tückisch. Sie sind Gestaltwandler und wenn sie in Menschengestalt erscheinen, sind sie so schön, dass du in ihrer Gegenwart keinen vernünftigen Gedanken fassen kannst.“

„Hat einer von ihnen den Nachtmahr geschickt?“

„Eine von ihnen ist darauf geritten. Hör zu, mein Junge, ich wollte dich vor bestimmten Dingen schützen, bis du älter bist. Aber so lange kann ich wahrscheinlich nicht warten. In letzter Zeit habe ich etwas Dunkles jenseits des Meeres gespürt. Sie sucht nach mir, verstehst du? Tagsüber kann ich mich vor ihr verstecken. Aber nachts, wenn ich schlafe, bin ich nicht auf der Hut, und das weiß sie.“

„Ihr könntet zum Dorfältesten ziehen, Herr. Er würde Euch beschützen“, sagte Jack. Er fing an, sich Sorgen zu machen. Das war keine erfundene Geschichte oder ein unterhaltsames Lied. Das war wirklich.

Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Unser Ältester ist ein tapferer Mann, aber Trollen ist er nicht gewachsen. Sie sucht nach mir und falls sie herausgefunden hat, wo ich bin, dann sind ihre Diener bereits unterwegs. Ich bin leichtsinnig gewesen. Ich hätte wissen müssen, dass ich in keiner der neun Welten sicher bin, solange es sie gibt. Es kann sogar sein, dass ich zulassen muss, dass sie mich gefangen nimmt. Das wäre immer noch besser, als wenn sie dein Dorf zerstört.“

„Aber könnt Ihr nicht fliehen?“

„Jötune folgen einer Spur wie ein Hund. Ihre Diener werden zuerst hier eintreffen. Wenn sie mich nicht finden, bringen sie euch alle um.“

„Jötune?“, fragte Jack beklommen.

„So nennen die Trolle sich selbst. Sie können sich in deinen Verstand einschleichen und wissen, was du denkst. Sie wissen schon vor dir selbst, was du tun und wohin du gehen willst. Nur eine ganz besondere Art von Kriegern kann sie überwinden.“

„Wir müssen doch irgendetwas machen!“ Jack wusste, wie schrill seine Stimme klang, aber er konnte nichts dagegen tun.

„Das werden wir“, sagte der Barde entschlossen. „Ich bin jetzt auf der Hut. Ich werde nicht zulassen, dass sie mich noch einmal unvorbereitet erwischt. Ich hätte dir das alles schon vor Wochen sagen müssen, aber die Friedlichkeit dieses Ortes hat mich eingelullt …“

Der Barde verstummte und Jack sah, wie er aufs Meer hinausblickte. Er tat dasselbe, aber er nahm nur den wolkenlosen Himmel und die graugrünen Wellen wahr, die auf den Strand zurollten. Wenn da draußen etwas Dunkles war, so blieb es ihm verborgen.

„Für die nächsten drei Tage kannst du nach Hause gehen“, sagte der Barde. „Ich werde im Wald unterwegs sein. Oh, und ich würde an deiner Stelle nichts von alledem vor deiner Familie erwähnen.“ Er griff nach seinem schwarzen Stab. „Wir wollen sie nicht früher ängstigen als nötig. Jötune können einer Spur der Angst ebenso leicht folgen wie ein Fuchs dem Geruch eines Hühnerstalls.“

„Ich bin pausenlos damit beschäftigt, diesen faulen Bengeln Beine zu machen“, sagte Jacks Vater über einer Schüssel von Mutters köstlicher Muschelsuppe. Jack hatte die Muscheln am Strand in der Nähe des römischen Hauses gesammelt. „Wenn es ans Arbeiten geht, schlüpfen sie weg wie Aale.“

„Stimmt. Sie sind ziemlich nutzlos“, pflichtete seine Frau ihm bei. Sie griff nach Lucys Becher, der umzukippen drohte.

Jack hatte nicht den Eindruck, dass der Hof litt. Die Zäune sahen stabil aus, auf dem Feld wuchsen Hafer und Gerste. Senf, Lavendel und Koriander blühten im Küchengarten und die Apfelbäume waren voller kleiner grüner Früchte.

Es war so schön, dass er einen Kloß im Hals hatte. Bisher hatte er den kleinen Hof nie zu würdigen gewusst. Und er sah auch seinen Vater plötzlich mit anderen Augen. Er begriff, dass Giles Krummbeins Jammern nicht mehr war als das Gekrächze von Krähen auf einem Baum. Jacks Vater murrte, um die Enttäuschungen seines Lebens leichter ertragen zu können. Was zählte, war, dass er es trotz aller Hindernisse geschafft hatte, diesen wunderschönen Bauernhof aufzubauen. Jack sah, wie liebevoll das Haus gebaut worden war, wie sorgfältig die Vorräte gehütet wurden.

Das alles konnte in Sekundenschnelle hinweggefegt werden. Niemand hatte eine Ahnung von der Gefahr, die jenseits des Meeres lauerte.

„Jack weint“, sagte Lucy.

„Tu ich nicht!“, widersprach Jack entrüstet. Er wandte den Kopf ab, um die Tränen zu verbergen, die ihm übers Gesicht liefen. Seit der Barde ihn niedergeworfen hatte, fühlte er sich seltsam erschüttert. Ständig stiegen ihm Tränen in die Augen.

„Lass ihn in Ruhe, Liebling“, sagte seine Mutter. „Der Mund tut ihm sehr weh.“

„Der Barde hat ihn verprügelt“, frohlockte der Vater.

„Es war ein Unfall“, sagte Jack.

„Du kannst mir viel erzählen. Ich erkenne eine Tracht Prügel, wenn ich sie sehe.“

Jack sagte nichts mehr. Wenn es seinem Vater gefiel, zu glauben, er wäre bestraft worden – warum sollte er ihm den Spaß verderben? Auch das war neu. Früher hätte Jack leidenschaftlich mit ihm gestritten. Jetzt sah er die Furchen, die die Schmerzen ins Gesicht seines Vaters gegraben hatten, die gekrümmten Schultern und die schwieligen Hände. Er hatte plötzlich ein anderes Bild vor Augen: das seines Vaters als Kind vor dem Unfall, der sein Bein verkrüppelt hatte.

Bei diesem Gedanken war Jack schon wieder zum Weinen zumute. Diese neuen Gefühle waren höchst seltsam und beunruhigend.

Die Mutter beugte sich über Lucys blonden Kopf. „Du musst deine Suppe aufessen“, flüsterte sie.

„Ich mag den Rest nicht. Er ist sandig“, sagte Lucy.

„Wenn man Muscheln wäscht, verlieren sie ihren Geschmack“, erklärte die Mutter, aber sie aß den Bodensatz selbst und gab Lucy einen Haferkuchen.

Weil Sonntag war, erzählte der Vater eine Heiligengeschichte. Er konnte nicht lesen, genau wie alle anderen Leute im Dorf mit Ausnahme des Barden. Für Giles Krummbein war Schreiben eine Art Magie. Wenn der Barde Buchstaben auf ein Stück Pergament schrieb, bekreuzigte Jacks Vater sich immer, als müsse er einen bösen Zauber abwenden.

Aber er erinnerte sich an Dutzende von Geschichten, die ihm die Mönche auf der Heiligen Insel erzählt hatten. Heute war es die Geschichte vom heiligen Laurentius, der von Heiden gemartert worden war.

„Er wurde langsam über einem Feuer geröstet“, erzählte er und Lucy keuchte entsetzt auf. „Sie haben ihm Knoblauch zwischen die Zehen gesteckt und ihn begossen wie ein Huhn. Als er dem Tode und dem Himmel nahe war, sagte der heilige Laurentius: ‚Ich glaube, ich bin gar. Ihr könnt mich essen, wenn ihr wollt.‘ Die Heiden waren so beeindruckt, dass sie auf die Knie fielen und darum baten, Christen werden zu dürfen.“

Trolle fressen Menschen, dachte Jack. Sie würden übers Meer kommen und Knoblauch zwischen jedermanns Zehen stecken. Er senkte den Kopf und versuchte, sich abzulenken. Er durfte keine Angst haben. Jötune folgten der Angst wie einer Spur.

Später wollte Lucy wieder einmal ihre eigene Geschichte darüber hören, wie sie einst in einem Palast gelebt hatte.

„Das hat böse Folgen“, sagte Jacks Mutter zu seinem Vater. „Sie kann nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden.“

Doch er hörte nicht auf sie. Jack wusste, dass er die Geschichte ebenso liebte wie Lucy. Der Junge begriff plötzlich – wie hatte er sich in ein paar Wochen so verändern können? –, dass sie auch für seinen Vater einen Trost bedeutete. Giles Krummbein mochte krächzen wie eine Krähe, aber er flog auch wie ein Vogel in den Wolken seiner eigenen Fantasie herum. Dann brauchte er keinen Fuß mehr auf die Erde zu setzen und keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden, dass er dazu verdammt war, auf ihr herumzuhinken.

„Es war einmal eine Königin“, begann sein Vater, „die ließ einen Honigkuchen auf den Boden fallen.“

„Meine andere Mutter“, bestätigte Lucy.

Die Mutter schnaubte. Sie hatte es längst aufgegeben, Lucy zu erklären, dass sie nun mal keine zwei Elternpaare haben konnte.

„Der Honigkuchen schlug Wurzeln und wuchs“, sagte der Vater. „Jeder Ast hing voller Honigkuchen. Unsichtbare Diener flogen durch die Luft, um sie abzupflücken. Du hattest einen kleinen Hund mit einem grünen Halsband, an dem silberne Glöckchen hingen. So konntest du ihn immer hören, wenn er durchs Haus rannte.“

„Durch die Burg“, verbesserte Lucy ihn.

„Ja, natürlich. Durch die Burg. Und er konnte sprechen. Er erzählte dir alles, was im Königreich vorging. Aber er war auch sehr ungezogen. Eines Tages lief er fort und das Kindermädchen lief hinter ihm her.“

„Mit mir auf dem Arm“, sagte Lucy.

„Ja. Sie verirrte sich im Wald. Sie setzte sich hin, um zu weinen und sich die Haare zu raufen.“

„Aber vorher hat sie mich unter einen Rosenstrauch gelegt“, sagte Lucy.

„Ein Bär kam aus dem Wald und verschlang sie, aber dich hat er nicht gefunden, mein Liebling.“

„Und so bin ich verloren gegangen“, krähte Lucy, völlig unberührt vom Schicksal des Kindermädchens.

Jack schlief ein, während er darauf lauschte, wie der Nordwind durch das Dachstroh fuhr.

Erdmagie

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Das Gesicht des Barden war so braun gebrannt, als hätte er lange Zeit in der Sonne gelegen. Jack wunderte sich, wollte aber nicht fragen.

„Du siehst wieder recht ordentlich aus“, sagte der Barde. „Geht es deiner Familie gut?“

„Ja, Herr“, sagte Jack.

Der Barde nickte knapp. „Ich habe mich umgehört. Es scheint, als rege sich etwas jenseits des Wassers. Schiffe werden gebaut und Schwerter geschmiedet.“

„Ist das schlimm?“

„Natürlich ist das schlimm. Menschen stellen keine Schiffe und Schwerter her, wenn sie nicht vorhaben, sie zu benutzen.“ Der Barde ging voraus auf einem Pfad oberhalb des Meeres. Zu ihrer Rechten fielen die grünen Klippen steil ab und Jack hörte, wie sich tief unter ihnen die Wellen an den Felsen brachen. Möwen segelten durch die Luft.

„Das Land jenseits des Meeres ist nicht so reich wie unseres. Die Felder müssen den Bergen abgerungen werden und sind die meiste Zeit des Jahres mit Schnee und Eis bedeckt. Nur wenige Menschen können dort überleben und die übrigen müssen irgendwo anders hingehen.“ Der Barde stieg den steilen Pfad hinauf, ohne langsamer zu werden oder auch nur außer Atem zu kommen. Jack hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. „Die Nordmänner, die dort leben, schauen nach Osten und nach Süden, wo oftmals reichere Völker wohnen. Nach Norden schauen sie nicht, weil dort die Jötune leben.“

Jötune. Jack begann zu zittern.

„Und ich fürchte, einige von ihnen schauen nach Westen. Auf uns.“

„Ist das das Dunkel, das Ihr gespürt habt, Herr?“

„Das … und noch etwas anderes.“ Der Barde blieb stehen, schaute hinaus aufs Meer und beobachtete die durch die Luft segelnden Möwen. „Diese speziellen Nordmänner – diejenigen, die nach Westen schauen – werden von einem König angeführt, der Ivar der Knochenlose genannt wird.“

Ivar der Knochenlose! Jack hatte auf einmal das Gefühl, als hätte eine Wolke sich zwischen ihn und die Sonne geschoben. Das Geräusch der Brandung war gedämpft und die Möwenschreie schienen von weit her zu kommen.

„Jack, ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte der Barde.

„Was für ein schrecklicher Name!“, murmelte der Junge.

„Nicht schrecklicher, als er tatsächlich ist. Seine Augen sind blassblau wie Meereis. Seine Haut ist so weiß wie der Bauch eines Fisches. Er kann einem Menschen mit bloßen Händen ein Bein brechen und er trägt einen Umhang aus den Bärten besiegter Feinde.“

Jack war fast schwindelig vor Entsetzen. Was war los mit ihm? Er hatte sowohl von dem Barden als auch von seinem Vater massenhaft beängstigende Geschichten gehört. Er mochte sie – je gruseliger, desto besser. Und jetzt fühlte er sich so schwach wie ein neugeborenes Lamm.

„Aber Ivar der Knochenlose ist nichts im Vergleich zu seiner Frau.“ Der Barde blickte immer noch aufs Meer hinaus. Er schien etwas zu suchen. Dann schüttelte er den Kopf und fuhr fort. „Königin Frith ist ein Halbtroll“, sagte er mit leiserer Stimme.

„War sie es, die den Nachtmahr geschickt hat?“ Jacks Brustkorb fühlte sich an, als würde er von einer Riesenhand zusammengepresst.

„Ja, Junge. Ihr Geist ritt darauf wie das Gift sprühende Ungeheuer, das sich hinter ihrem trügerisch schönen Gesicht verbirgt. Wusstest du, dass Nachtmahre acht Beine haben?“

Aber Jack hörte nichts mehr. Er war auf der grasbewachsenen Klippe hoch über dem Meer in Ohnmacht gefallen.

Als er wieder zu sich kam, sah er den alten Mann auf einem grauen Felsbrocken neben dem Pfad sitzen. Eine Krähe flog von der Schulter des Barden auf und flatterte über das dicht mit Ginster und Heidekraut bewachsene Land davon, das zwischen ihnen und den Bergen im Westen lag. Jack rieb sich die Stirn. Er fühlte sich, als wäre er von einem Dutzend schwarzköpfiger Schafe niedergetrampelt worden.

„Hör zu“, sagte der Barde, der bisher der Krähe nachgeschaut hatte. „Hast du irgendetwas Ungewöhnliches gespürt, seit ich dich niedergeschlagen habe?“

Jack berichtete verlegen, dass er am liebsten ständig weinen würde. Er erzählte dem Barden, dass ihm jetzt viel mehr auffiel – Farben und Gerüche zum Beispiel. Er sagte, sein Vater käme ihm in einem Moment wie ein Kind vor, das sich im nächsten Moment wieder in einen Erwachsenen verwandelte. „Ich drücke mich schlecht aus“, sagte er unglücklich.

„Du drückst dich sehr gut aus“, widersprach der Barde. „Das ist wirklich eine unerwartete Entwicklung.“

„Verliere ich den Verstand?“

Der Barde lächelte. „Oh nein. Du hast nur deine Flügel ausgebreitet.“

Der alte Mann wühlte in dem Beutel, den er bei seinen Wanderungen mit sich trug, und holte zwei Dörräpfel heraus. Einen davon warf er Jack zu.

„Siehst du, Junge, die meisten Menschen leben wie Vögel in einem Käfig. Das gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Die Welt ist ein beängstigender Ort voller Herrlichkeit und Wunder und Gefahren. Es ist besser – jedenfalls glauben das die meisten Leute –, so zu tun, als gäbe es diese Dinge nicht. Au!“

Der Barde fuhr mit einem Finger in seinem Mund herum und fischte einen Kern heraus. „Ich wünschte, der Bäcker würde die Kerngehäuse herausschneiden, bevor er seine Äpfel dörrt.“ Jack versuchte zu verstehen, wovon der alte Mann redete.

„Nur wenige Menschen begreifen, dass die Tür des Käfigs nicht verschlossen ist“, fuhr der Barde fort. „Sie drücken und drücken, bis ganz plötzlich die Tür aufschwingt und sie davonfliegen. Die Welt draußen sieht ganz anders aus als durch die Käfigstäbe. Plötzlich sind da Habichte und Krähen und Schlangen und Ratten …“

„Aufhören!“, rief Jack und riss die Hände hoch.

Der Barde musterte ihn eindringlich, sagte aber nichts. Er wühlte wieder in seinem Beutel und fand ein Stück Haferkuchen, das er hochhielt, bis eine Möwe herabstieß und es sich schnappte.

„Ist das Magie?“, fragte Jack beeindruckt.

„Das ist Geduld. Die meisten Dinge kommen zu dir, wenn du ruhig dasitzt. Das ist es, was ich dir in den letzten paar Wochen beizubringen versucht habe. Sitz still. Betrachte die Dinge. So habe ich gelernt. Es ist ein langer und langwieriger Prozess, denn wirkliche Magie ist gefährlich. Jetzt hast du die Tür zu früh geöffnet. Als du mich berührt hast, während ich mit dem Nachtmahr kämpfte, ist die Erdmagie, die ich gesammelt habe, aus meiner Hand in dich hineingeflossen. Sie hat dich umgeworfen. Sie hätte dich beinahe getötet.“

Jack stand mühsam auf. Seine Beine fühlten sich verdächtig wacklig an.

„Dein Schutzwall ist eingerissen worden“, sagte der Barde. „Alles, vom Elend eines aus dem Nest gefallenen Kükens bis hin zur schrecklichen Schönheit eines Habichts, der auf seine Beute niederstößt, wird dich bis ins Mark erschüttern. Du bist noch nicht so weit, dass du so viel Wirklichkeit verarbeiten kannst, aber es ist nun einmal nicht zu ändern. Kannst du gehen?“

„Ich werde es versuchen, Herr.“

„Guter Junge.“ Der Barde ging voraus, aber jetzt langsamer. Der Pfad führte von der Klippe fort und in ein kleines Tal, auf dessen Grund eine Eberesche wuchs. Der Baum beschattete einen runden Teich, der von einer Quelle gespeist wurde. An seinen glatten grauen Zweigen saßen Dolden aus cremefarbenen Blüten, um die ein Bienenschwarm herumsummte. Ihr Summen war so laut, dass es das Gluckern der Quelle übertönte.

Jack fragte sich, ob die Bienen aus dem Stock seiner Mutter stammten, und dann, als sich eines der Insekten auf seinem Ärmel niederließ, wusste er, dass es so war. Er erkannte die Biene wieder. Er spürte das Arbeiten ihres kleinen Gehirns, die Aufgeregtheit über den nektarreichen Baum und die Begierde, in das Nest zurückzukehren, für das Jacks Mutter gesorgt hatte. Jack stolperte.

„Wir sind fast da“, sagte der Barde. Er führte Jack zu einem Felsvorsprung, auf dem sie sich zum Ausruhen niederließen. Das Tal schien zu vibrieren wie Heidekraut an einem heißen Tag.