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Inhalt

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Titel

L’amour in Hintergülding

On n’a rien sans rien

Von nichts kommt nichts

C’est le ton qui fait la chanson
Der Ton macht die Musik

Pas de nouvelles, bonnes nouvelles!
Keine Nachrichten, gute Nachrichten!

La nuit tous les chats sont gris
In der Nacht sind alle Katzen grau

Il n’y a que le premier pas qui coûte
Aller Anfang ist schwer

Donnant, donnant!
Gibst du mir, so geb ich dir!

Il faut souffrir pour être belle
Wer schön sein will, muss leiden

L’argent n’a pas d’odeur
Geld stinkt nicht

Chacun est l’artisan de sa fortune
Jeder ist seines Glückes Schmied

Une hirondelle ne fait pas le printemps
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer

Un malheur ne vient jamais seul
Ein Unglück kommt selten allein

Qui bien commence, bien avance!
Frisch gewagt ist halb gewonnen!

La chance sourit aux audacieux!
Das Glück ist mit den Tapferen!

Après la pluie, le beau temps!
Nach Regen kommt Sonnenschein!

Tout est bien qui finit bien!
Ende gut, alles gut!

Ferien im Pfötchenasyl

Ein Zug in den Sommer

Ein Start mit Hindernissen

Ein turbulenter Morgen

Ein interessantes Geständnis

Eine Freundin aus heiterem Himmel

Ein anonymer Anruf

Eine peinliche Sendung

Eine kleine Erkundigungstour

Zoff mit Tante Lucy

Ein Zelt verschwindet

Eine verrückte Nachtwanderung

Eine schlaflose Nacht

Eine seltsame Begegnung

Eine Woche später

Weitere Pferde-Bücher

Über die Autorin

Weitere Infos

Impressum

L’amour in Hintergülding

On n’a rien sans rien

Von nichts kommt nichts

Mein Bruder Martin sagt, man ist nicht ganz richtig im Kopf, wenn man seine Tage mit französischen Sinnsprüchen beginnt. Aber von einem Typen, der sich selbst Turbo nennt und mit seiner Punk-Band in einem alten Kuhstall probt, lasse ich mir so was bestimmt nicht sagen. Außerdem habe ich den Kalender mit den Sprüchen von den Schupkes zu Weihnachten gekriegt, und seit dem ersten Januar reiße ich jeden Morgen ein Blatt davon ab. Jeden Tag ein neuer Spruch. Und ob ihr’s glaubt oder nicht, meistens stimmt er.

„Und?“, sagt meine Mama, die den Wecker gehört hat und jetzt den Kopf durch die Tür streckt. „Was spricht Frankreich heute?“

„Von nichts kommt nichts!“, sage ich und wiederhole es danach auf Französisch. Seit der fünften Klasse lerne ich diese tolle Sprache nun schon – also seit eineinhalb Jahren! Und inzwischen bin ich ein absoluter Frankreich-Fan. Ich glaube, in meinem letzten Leben war ich eine reiche französische Adlige in einer Luxuswohnung mit Blick auf den Eiffelturm. Nur Pech, dass ich in diesem Leben ein sommersprossiges Mädchen in einem unaufgeräumten Zimmer mit Blick auf einen Misthaufen bin.

Mein Zuhause ist nämlich ein kleiner Bauernhof in Hintergülding. Das ist ein winziges Dorf im Nirgendwo. Und unsere Bruchbude mit mehreren Ställen und einem uralten Traktor vor der Tür befindet sich genau im Zentrum.

Im Zentrum von Nirgendwo ist ehrlich gesagt ziemlich wenig los.

Mama lacht. „Von nichts kommt wirklich nichts, also raus aus den Federn, Süße!“, sagt sie. Draußen kräht unser Hahn und ein neuer Tag beginnt.

Seit mein Papa vor drei Jahren gestorben ist, kümmert Mama sich ganz allein um die Hühner, die dreißig Ziegen, die Felder und den Obst- und Gemüsegarten. Klar: Mein Bruder Martin und ich helfen ihr, wo es nur geht. Aber vormittags sind wir in der Schule und manchmal sind wir auch nachmittags unterwegs.

Außerdem findet Mama, dass wir unsere Kindheit genießen sollen – sie will nicht, dass wir zu viel arbeiten, und das ist mir eigentlich ganz recht. Ich kümmere mich dafür fast ganz allein um die Bewohner unserer Pferdekoppel: Grisu und Nordstern. Grisu ist ein niedliches Falabella, das gerade mal sechzig Zentimeter misst. Wer ihn sieht, möchte ihn sofort adoptieren!

Mein Papa hat ihn damals von einem Zirkus auf Durchreise gekauft. Denen ist das Geld ausgegangen und Grisu wäre in dem kalten Zelt beinahe erfroren! Als er hier ankam, sah er wirklich jämmerlich aus. Ganz verschreckt und krank. Heute würde dieser rücksichtslose Zirkusbesitzer seinen kleinen Show-Star vermutlich gar nicht mehr wiedererkennen.

Bei uns darf Grisu nämlich machen, was er will. Und muss nicht zu Trommelwirbel und Applaus in einer stickigen Manege durch die Gegend traben. Er ist einfach da und freut sich am Leben – und das sieht man ihm auch deutlich an.

Nordstern ist das genaue Gegenteil von unserem gemütlichen und niedlichen Pony: eine Knabstrupper-Stute, die stolzer und erhabener nicht sein könnte. Sie ist weiß mit dunklen Flecken und sieht genau wie das Pferd von Pippi Langstrumpf aus. Als der Hof des Ender-Bauern vom Nachbardorf versteigert wurde, haben ihm meine Eltern das Pferd abgekauft.

Damals haben sie lange am Küchentisch darüber diskutiert, ob man so viel Geld für ein Tier ausgeben darf – das ganze Ersparte! Aber schließlich haben sie sich dafür entschieden. Mama war der Meinung, dass es mir guttut, wenn ich reite und mich viel an der frischen Luft bewege. Und Papa wollte selbst auch reiten lernen und hat es auch ein paar Monate gemacht. Aber dann ging es ihm langsam immer schlechter und jetzt bin ich die Einzige auf dem Hof, die auf Nordstern unterwegs ist – dafür aber ziemlich oft!

So unterschiedlich Nordstern und Grisu auch sind – sie verstehen sich einfach prächtig. Und ich bin wahnsinnig glücklich, dass ich für die beiden sorgen darf. Mein Papa hat immer gesagt: „Man braucht eine Aufgabe im Leben!“ Und ich bin stolz, dass meine Aufgabe die beiden sind!

Immer wenn ich mich darüber ärgere, dass in der Schule etwas schiefläuft, Mama wegen dem Haus und den Schulden jammert oder mein großer Bruder sich wie ein Trottel benimmt, gehe ich schnell in den Pferdestall und die Welt ist wieder in Ordnung.

Grisu und Nordstern geben mir irgendwie das Gefühl, dass alles nur halb so schlimm ist und es für alle Probleme eine Lösung gibt. Die beiden sind meine engsten Vertrauten.

Turbo, also mein Bruder Martin, kann mit Pferden natürlich wenig anfangen, er packt lieber in unserer Käserei mit an. Dort macht Mama alle drei Tage leckeren Ziegenkäse.

Auch die kleine Obstplantage hinter dem Haus, die zwei Felder, auf denen wir das Futter für die Tiere anbauen, und das riesige Gemüsebeet machen jede Menge Arbeit. Das alles wird von Mama und den alten Schupkes erledigt.

Die Schupkes sind ein Rentner-Ehepaar aus dem Dorf, die Mama seit Papas Tod bei allem unterstützen, und das für ganz wenig Geld.

Ich habe also Großeltern, die eigentlich gar keine Großeltern sind. Eine Mama, die den ganzen Tag in Gummistiefeln herumrennt und ackert. Einen Bruder, der im Kuhstall Luftgitarre spielt. Direkten Blick auf den Misthaufen vor meinem Zimmer – und täglich einen neuen französischen Spruch.

Mama stapft die Treppe hinunter und Martin ist offenbar auch schon wach. Ich höre in der Küche das Radio dudeln. Also werfe ich die Bettdecke zur Seite und stehe endlich auf.

„Hallo!“, murmle ich, als ich in die Küche schlurfe und mir die Packung mit den Cornflakes aufmache.

„Hi!“, grummelt Martin und liest weiter in der Zeitung. Seit er vierzehn geworden ist, tut er unglaublich erwachsen. Das nervt!

Mama kommt aus dem Hühnerstall zurück. Sie legt die Eier in den Korb und zieht die dreckverschmierten Gummistiefel aus. „Der Traktor ist endgültig kaputt!“, seufzt sie und klaut was von Martins Zeitung. „Und das, wo ich raus auf die Felder muss. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Mir verrottet ja der ganze Rotklee für die Ziegen!“

„Wieder das gleiche Problem wie beim letzten Mal?“, fragt Martin und klingt dabei ehrlich besorgt. Die zwei reden über unseren Traktor, als wäre er ein Haustier, das mal wieder krank geworden ist!

Mama nickt und blättert gedankenverloren in der Zeitung herum. Auf der Seite mit den Stellenangeboten hält sie inne und ihr Zeigefinger fährt langsam die Anzeigen hinab. „Der Anlasser ist hin. Herr Schupke hat gesagt, die Karre ist reif fürs Museum.“

„Dann müssen wir eben einen neuen Traktor kaufen!“, sage ich.

Mama sieht mich traurig an. „Weißt du, was ein neuer Traktor kostet, Süße? Das ist unbezahlbar. Wir können uns bestenfalls wieder einen gebrauchten leisten. Aber dafür legt man an die dreitausend Euro hin, und das ist dann noch nicht mal der beste. Dabei habe ich noch nicht mal die Rechnung für die Obstpresse ganz abbezahlt. Ganz zu schweigen von meinen übrigen Schulden.“

Dreitausend Euro. Für einen Moment wird mir schwindelig.

„Nette Kassiererin gesucht!“, sagt Mama plötzlich – ihr Finger ist in der Mitte der Zeitung angelangt. „Bin ich nett? Was meint ihr?“

„Klar bist du nett!“, sagt Martin und sieht Mama verdattert an. „Aber du bist keine Kassiererin, oder? Du hast einen Bauernhof, das ist Arbeit genug!“

Mama schlägt die Zeitung zu. „Viel Arbeit, die wenig Geld einbringt. Ich brauche dringend irgendeinen gut bezahlten Job. Wir können den Hof sonst auf Dauer nicht halten. Und ein Sommelier wird hier ja leider nirgends gesucht.“

Oh, genau. Das habe ich ganz vergessen. Nicht nur, dass ich Bewohnerin eines heruntergekommenen Bauernhofs bin, ohne Papa und ohne Knete. Es ist auch noch so, dass meine Mutter den ungewöhnlichsten Beruf der Welt gelernt hat.

Das war, bevor sie Papa begegnet ist. Damals hat sie nämlich auf einem Weingut gearbeitet und die Kunden beim Weinkauf beraten. „Sommelier“, das ist auch so ein schönes französisches Wort. Übersetzt heißt es in etwa „Fachmann für Weine“.

Nach der Hochzeit hat Mama das Weingut verlassen und ist Papa in seine Heimat gefolgt. Als mein Bruder Martin geboren wurde, haben sie den leer stehenden Bauernhof gekauft. Mein Papa hat im großen Anbau seine Tierarztpraxis betrieben und ein paar Jahre waren wir vier so richtig glücklich hier.

Aber dann hat Papa diese schlimme Krankheit gekriegt, und seit er weg ist, ist nichts mehr wie früher.

„Das heißt nicht Sommelier, sondern Sommelière, wenn es eine Frau ist!“, korrigiere ich meine Mama.

„Sommelier oder Sommelière, ist doch piepegal!“, sagt Mama frustriert. „Tatsache ist, ich habe einen Beruf gelernt, den kein Mensch weit und breit braucht. Vielleicht sollte ich noch mal zur Schule gehen!“

Manchmal kommt meine Mama auf die aberwitzigsten Ideen. Sie wollte schon mal das Abitur nachmachen und studieren. Dann wollte sie mit uns ins Ausland gehen. Und einmal eine Umschulung zur Masseurin machen. Aber in Wahrheit will sie natürlich nur eines: sich um ihren geliebten Bauernhof kümmern. Mit Papa zusammen hat das alles wunderbar geklappt. Die Erzeugnisse liefert Mama an einen kleinen Supermarkt in der Stadt. Das Problem ist: Früher hat Papa eben zusätzlich noch als Tierarzt gearbeitet. Dadurch kam regelmäßig Geld herein. Seit wir alleine sind, verdient Mama unser Geld nur noch mit Käse, Eiern, Saft und Gemüse.

Wisst ihr, wie viele Karotten man verkaufen muss, bis man sich einmal Kino leisten kann?

Ich auch nicht, ehrlich gesagt. Jedenfalls nicht genau. Aber es sind ganz schön viele!

„Oje, ihr müsst zur Schule!“, sagt Mama plötzlich erschrocken und springt auf.

Und auf einmal haben wir es ziemlich eilig. Wenn wir den einzigen Bus am Tag verpassen, kommen wir nämlich nicht raus aus dem Ort. Und dann muss Mama uns mit dem klapprigen Fiat von Frau Schupke bis in die Stadt fahren – und dafür hat sie eigentlich keine Zeit. Schließlich müssen die Ziegen gemolken werden.

Als Martin und ich uns aus der Haustür zwängen, kommen gerade die Schupkes heranmarschiert. Frau Schupke trägt ihr gewohntes Kopftuch und einen geblümten Rock dazu.

„Kinder, Kinder!“, sagt sie und streicht mir durchs Haar. „Wieso denn so in Eile?“

„Der Bus kommt in einer Minute!“, murmelt Martin und will sich an ihr vorbeidrängen. Aber Frau Schupke hält ihn an der Schulter fest.

„Deine Jeans muss ich mal enger nähen!“, sagt sie kopfschüttelnd. „Man kann ja den Bund der Unterhose sehen!“

„Das gehört so!“, sagt Turbo und wird tatsächlich rot. Er zieht seine Hose ein bisschen nach oben und rennt dann in Richtung Bushaltestelle davon.

Frau Schupke sieht ihm kopfschüttelnd nach, zupft ihr Kopftuch zurecht und Herr Schupke murmelt etwas von „modernen Zeiten“.

„Ich muss auch los!“, sage ich und renne Martin hinterher. Im Laufen drehe ich mich noch mal um: „On n’a rien sans rien! Von nichts kommt nichts, Frau Schupke!“

C’est le ton qui fait la chanson

Der Ton macht die Musik

In meiner Klasse herrscht Krisenstimmung. Bianca ist nicht da und irgendjemand behauptet, sie wäre im Krankenhaus. Wenn ich im Krankenhaus wäre, würde das außer Mama, Turbo und den beiden Pferden niemandem auffallen, so viel steht fest.

Aber die tolle Bianca ist so eine Art Star bei uns. Wir sind eine reine Mädchenschule und letztes Jahr wurde Bianca auf dem Faschingsball zur beliebtesten Schülerin der Jahrgangsstufe gewählt.

Vielleicht liegt es an ihren schönen langen Haaren oder an ihrem hübschen Gesicht. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Eltern einen richtigen Partykeller und sogar ein Schwimmbad im Garten haben und Bianca zu ihrem Geburtstag immer die ganze Klasse einladen darf.

Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass ihre Eltern der Schule eine neue Tischtennisplatte spendiert haben.

Auf jeden Fall ist sie heute nicht da, und als ich an Helene Marx vorbeigehe, höre ich sie ganz dramatisch sagen: „Wenn Bianca echt im Krankenhaus ist, wäre das eine Ka-tas-tro-phe!“

Als sie mich bemerkt, schweigt sie und hält sich die Nase zu. „Es stinkt nach Ziegenmist!“, flüstert sie ihrer Nachbarin zu und die beiden kichern leise.

Ich hasse Helene Marx. Sie ist im Februar neu in unsere Klasse gekommen. Ich weiß nicht viel über sie, weil sie vom ersten Moment an fies zu mir war. Ich weiß nur, dass sie vor drei Monaten in die Stadt gezogen ist, direkt ins Nachbarhaus von Bianca. Seitdem sind ausgerechnet die beiden Freundinnen.

Als Frau Kramer das Zimmer betritt, wird es schlagartig leise. Frau Kramer ist unsere Französischlehrerin und heute Morgen sieht sie ziemlich aufgelöst aus. Sie fällt direkt mit der Tür ins Haus: „Ihr habt vielleicht schon erfahren, dass Bianca gestern mit dem Fahrrad gestürzt ist. Sie hat sich das Bein gebrochen und muss für mehrere Tage ins Krankenhaus.“

Entsetztes Schweigen ringsum. Dann sagt Nadja: „Und was ist mit dem Schüleraustausch?“

Der Austausch, das ist auch so eine Sache. Seit Wochen spricht niemand mehr von etwas anderem. Frau Kramer hat einen Schüleraustausch mit unserer Partnerschule in Paris organisiert. Sechs Mädchen aus meiner Klasse bekommen ab übermorgen Besuch von französischen Schülerinnen und zeigen ihnen eine Woche lang, wie so ein Leben in Deutschland aussieht. Dafür dürfen sie dann in den Sommerferien eine Woche nach Paris und ihre Austauschpartnerinnen besuchen.

Ich habe Mama den gelben Infozettel damals gar nicht gegeben. Klar wäre es mein Traum, nach Paris zu reisen! Aber als ich gesehen habe, was das Ganze kosten soll, wollte ich Mama nicht in Verlegenheit bringen. Wir haben einfach nicht das Geld für das Flugticket und die geplanten Ausflüge in Frankreich. Und ich kann außerdem nicht weg von zu Hause, weil sich ja jemand um Grisu und Nordstern kümmern muss. Außerdem …

„Leonie!“, wiederholt Frau Kramer noch mal und schaut mich an. Ich werde rot, weil ich so in Gedanken war. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass sie mit mir gesprochen hat.

„Was?“, stottere ich und sehe verlegen auf meine Hefte.

„Ich habe dich gefragt, ob du dir vorstellen kannst, dass deine Mutter die Austauschpartnerin von Bianca aufnimmt. Alleine bei Biancas Eltern würde sie sich bestimmt einsam fühlen und die beiden sprechen wohl auch kein Französisch. Ihr habt doch einen großen Bauernhof, ist da nicht noch Platz für eine Besucherin?“

Ich höre Helene zwei Plätze neben mir entsetzt einatmen. Jemand anderes lacht ungläubig auf.

„Man kann doch eine echte Pariserin nicht in Leonies alten Bauernhof setzen!“, spricht schließlich Ella aus der ersten Reihe das aus, was sich vermutlich alle denken.

Frau Kramer wirft ihr einen strengen Blick zu, aber ich nicke zerknirscht.

„Das geht wirklich nicht!“, bestätige ich. „Wir haben zwar ein Gästezimmer, aber das ist viel zu klein. Außerdem kräht unser Hahn jeden Morgen um sechs Uhr. Und ständig ist irgendeine Arbeit zu erledigen.“

Ein Mädchen aus der letzten Reihe gibt ein paar meckernde Ziegenlaute von sich und alle fangen schallend zu lachen an. Auch ich ringe mir ein Lächeln ab – aber innerlich koche ich natürlich!

Frau Kramer sieht mich nachdenklich an. „Du hast so gute Noten in Französisch!“, sagt sie bedauernd. „Das wäre eine tolle Gelegenheit für dich. Und es könnte doch auch spannend für das Mädchen sein, einmal auf einem richtigen Bauernhof zu leben!“

Frau Kramer ist wirklich von gestern. Für welches dreizehnjährige Mädchen ist es denn spannend, auf einem Bauernhof zu leben? Nein, das wäre die Blamage des Jahrhunderts.

Plötzlich beendet meine Lehrerin die Diskussion. „Wir schreiben ein Diktat!“, sagt sie und alle murren. „Und wegen der heimatlosen Austauschschülerin lasse ich mir noch etwas einfallen!“

Als ich am Nachmittag nach Hause komme, fegt Frau Schupke gerade den Hof. Herr Schupke füttert die Ziegen und Mama ist mit Martin in der Käserei.

Ich laufe am Nebengebäude vorbei, an dem immer noch das große Messingschild baumelt: „Tierarztpraxis Paradiesgarten, Leo Weiss“. Darunter sind ein Esel, ein Huhn und ein Hund eingraviert.

Mama schafft es einfach nicht, Papas Praxisschild abzunehmen. Auch die Räume hat sie nie wirklich leer geräumt. Sie hat eine Zeit lang nach einem Tierarzt gesucht, der die Praxis übernehmen könnte. Aber dann hat ganz in der Nähe eine Tierklinik eröffnet und seitdem sind die schönen Räume abgesperrt.

Wenn ich an all die Schildkröten, Hamster und Wellensittiche denke, die früher über den Hofplatz getragen wurden! Mein Papa hat fast alle Tiere wieder gesund bekommen. Für einen Moment werde ich traurig und rasch gehe ich weiter in den Pferdestall.

Grisu kommt neugierig angetrabt und stupst mich an. Offenbar merkt er, dass es mir nicht so gut geht, und will mich trösten. Ich streichle ihm liebevoll über die Nüstern. „Hallo, Kleiner!“, murmle ich. „Stell dir mal vor, was heute passiert ist!“

Und dann erzähle ich ihm alles haargenau. Von der fiesen Helene, die mal wieder Witze über mich gemacht hat. Und von Bianca und ihrem gebrochenen Bein. Und natürlich von Frau Kramers lächerlicher Idee, die heimatlose Französin in unseren Bauernhof zu verfrachten!

Inzwischen ist auch Nordstern dazugekommen. Aus aufmerksamen Augen sieht sie mich an.

„Das muss man sich mal vorstellen!“, sage ich aufgebracht. „Von Paris nach Hintergülding. Die würde ja in Ohnmacht fallen beim Anblick des Misthaufens vor der Tür!“ Ich hole die Heugabel und gebe meinen beiden Lieblingen ein wenig Futter.

Dann gehe ich zu der alten Stereoanlage rüber, die ich im Stall aufgebaut habe. Martin hat sie mir geschenkt, weil der CD-Player kaputt ist. Nur noch das Kassettendeck geht. Zum Glück hatte mein Papa eine riesige Kassettensammlung. Und das meiste davon sind französische Chansons!

Ich schalte eines meiner Lieblingslieder an. Gemütlich ist es im Stall: französische Musik. Nordstern und Grisu, die gemächlich fressen. Und ein paar Fliegen summen herum.

Dann höre ich ein Auto auf den Hof fahren. Eine Tür schlägt zu und eine bekannte Stimme ertönt.

„Hallo! Ist jemand zu Hause?“

Das Blut schießt mir ins Gesicht. Meine Französischlehrerin Frau Kramer!

Hastig schalte ich die Stereoanlage wieder aus und gehe nach draußen. Tatsächlich steht Frau Kramer in ihrem schicken Kostüm etwas verloren auf unserem Hof und eben biegt Frau Schupke mit einer Schubkarre voller Mist um die Ecke.

„Ach, Leonie!“, sagt Frau Kramer, als sie mich entdeckt. „Ist deine Mutter zu Hause?“

„Die is’ in der Käserei!“, sagt Frau Schupke, noch ehe ich Frau Kramer abfangen kann, und deutet mit dem Kopf in Richtung Nebengebäude. Die Tür ist angelehnt und Frau Kramer steuert nun direkt darauf zu, ohne auf mich zu warten.

Ich kann gerade noch hinter ihr in den kleinen Raum schlüpfen, da hat sie meine Mama auch schon entdeckt.

„Hallo, Frau Weiss!“, sagt sie und meine Mama schaut erstaunt hoch. „Können wir uns kurz unterhalten?“

Mama sieht besorgt aus. Bestimmt denkt sie, es stimmt was mit meinen Noten nicht oder ich hätte in der Schule was ausgefressen.

Gemeinsam treten wir drei ins Freie hinaus. Es ist zu kalt für Mai und frierend stehen wir auf dem Hof herum. Frau Schupke macht mit ihrer Schubkarre extra langsam, weil sie ein bisschen neugierig ist.

„Leonie hat vielleicht schon gefragt, ob es möglich ist, dass wir–“, fängt Frau Kramer an.

Ich schüttle rasch den Kopf und sehe verlegen von Frau Kramer zu Mama. „Nein!“, sage ich schnell. „Ich habe nicht gefragt. Aber es geht auch nicht. Sie sehen ja, dass wir überhaupt keine Zeit für –“

Frau Kramer lässt mich gar nicht aussprechen. „Sie wissen doch, dass übermorgen unser Schüleraustausch mit Frankreich startet!“, sagt sie zu Mama. „Eine Schülerin aus Leonies Klasse fällt wegen einem Unfall aus und wir suchen dringend noch eine Unterkunft für ein französisches Mädchen. Leonie ist die beste Schülerin in Französisch! Es wäre eine tolle Möglichkeit für sie!“

Meine Mama sieht Frau Kramer begriffsstutzig an. „Davon weiß ich ja gar nichts!“, sagt sie schließlich.

Frau Kramer guckt verwundert in meine Richtung und ich werde noch röter, als ich sowieso schon bin.

„Das kostet fast dreihundert Euro“, nuschle ich bedrückt. „Der Flug nach Paris und die Ausflüge, meine ich. Ich weiß doch, dass wir für so was zurzeit kein Geld haben. Die neue Saftpresse … und erst heute Morgen hast du gesagt, dass wir den Hof vielleicht bald verkaufen müssen.“

Jetzt ist es Mama, die knallrot anläuft. „Aber trotzdem hättest du es mir ja erzählen können!“, sagt sie und klingt verletzt. „Wir hätten uns was überlegen können. So ein Austausch ist eine prima Sache. Aber es stimmt natürlich, momentan sind wir finanziell sehr knapp …“ Sie räuspert sich und ich sehe verlegen, wie Frau Kramer ihren Blick über unseren Hof gleiten lässt.

Bestimmt fällt ihr sofort auf, dass hier ganz schön viel gemacht werden müsste.

Aber komischerweise sagt sie: „Das ist doch wunderbar hier für ein Mädchen aus Frankreich! Alle Stadtmädchen träumen vom Leben auf dem Land. Momentan geht es mir nur darum, für die Schülerin ein Dach über dem Kopf zu finden. Und nach Paris muss Leonie ja nicht mit. Was meinen Sie?“

Meine Mama nickt. „Na ja, wenn es nur um ein Gästezimmer geht und darum, dem Mädchen was zu kochen … das ist natürlich kein Problem!“, sagt sie.

Entsetzt sehe ich sie an. „Aber Mama!“, stottere ich erschrocken. „Eine richtige Französin! Die ist doch total entsetzt, wenn sie …“

Mama wirft mir einen strengen Blick zu. „Als ich in deinem Alter war, habe ich auch bei einem Austausch mitgemacht. Mit Italien! Das war eine Erfahrung fürs ganze Leben. Meine Gastfamilie hat in einer winzigen Wohnung am Stadtrand gewohnt. Aber das war mir egal. Und jetzt geh ins Haus und richte das Gästezimmer für das Mädchen her.“

„Wirklich?“

„Wirklich!“

Ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Mit gemischten Gefühlen laufe ich rüber zur Haustür.

„Übrigens, Leonie, deine Austauschschülerin heißt Fabienne!“, ruft Frau Kramer mir nach.

Fabienne.

Eigentlich ein ganz hübscher Name.

Pas de nouvelles, bonnes nouvelles!

Keine Nachrichten, gute Nachrichten!

„Was? Die Schlumpf-Bettwäsche?!“ Ich schaue meine Mama total entsetzt an, aber sie scheint nichts Schlimmes daran zu finden.

„Die hat dein Bruder früher geliebt!“, sagt sie verständnislos. „Fühl doch mal, wie weich die ist. Das ist richtiges Frottee!“

„Ja schon!“, stammle ich. „Aber eine echte Französin kann ja wohl nicht in einer Kinderbettwäsche schlafen! Mit blauen Schlümpfen drauf!“

Mama verdreht die Augen. „Du tust, als würde der französische Präsident bei uns einziehen! Diese Fabienne ist bestimmt ein stinknormales Mädchen. Es wird ihr egal sein, in welcher Bettwäsche sie schläft! – Ach, sei doch so lieb und hol den Glasreiniger für die Fenster.“

Meine Mutter hat offenbar ernsthaft vor, mich für den Rest aller Tage zu blamieren. Ich kann mir schon vorstellen, wie diese Fabienne allen Mädchen in meiner Klasse brühwarm erzählt, wie fürchterlich es bei uns zu Hause ist. Dass alles heruntergekommen ist und sie in uralter Kinderbettwäsche schlafen muss. In meiner Fantasie sehe ich schon, wie Fabienne ins Direktorat spaziert, mit ihrer Faust auf den Tisch schlägt und sofort eine andere Austauschpartnerin verlangt.

Vielleicht weiß sie ja sogar, dass sie ursprünglich in einem echt schicken Einfamilienhaus mit Swimmingpool landen sollte. Bei einer Schülerin, die von allen geliebt wird und deren Eltern alles für sie machen.

Stattdessen wird sie zu uns zwangsversetzt! Auf einen vergammelten Bauernhof, mit Böden, die bei jedem Schritt ächzen. Und Fenstern, die so schlecht schließen, dass der Wind durch die Ritzen pfeift. Zu einem Mädchen, das kaum Freundinnen hat und seine Freizeit lieber mit Tieren verbringt.

Wenigstens hat man von dem kleinen Gästezimmer aus einen Blick auf Nordsterns und Grisus Weide. Vielleicht mag die Französin ja Pferde.

Hoffentlich!

Eine halbe Stunde später ist das Zimmer endlich hergerichtet.

Mama sprüht noch ein bisschen Lavendelöl in die Luft, um den Geruch nach Ziege, Mist und Land zu überdecken. Dann geht sie nach unten.

Ich stehe vor dem blank polierten Fenster und schaue durch die Häkelgardine zu meinen beiden Lieblingen hinaus. Grisu grast gemütlich in der Nähe des Gatters. Aber Nordstern galoppiert ausgelassen und fröhlich im Kreis herum.

Ich muss heute dringend noch reiten!

Grisu hebt seinen niedlichen Kopf, und für einen Moment sieht es fast so aus, als würde er mich hinter der Gardine im ersten Stock erkennen.

Unten klingelt das Telefon. Ich höre, wie Mama sich mit ihrem Namen meldet und dann eine ganze Weile schweigt. Schließlich sagt sie: „Das weiß ich doch, Herr Kaminski. Und die letzte Rate habe ich doch auch pünktlich bezahlt. Nur dieses Mal brauche ich eben noch Aufschub.“

Herr Kaminski ist Mamas Bankberater. Seit ein paar Wochen ruft er ständig hier an.

Er scheint etwas wütend zu sein, denn Mamas Stimme ist ganz sanft, als müsse sie ihn beruhigen. „Ja, ich verspreche es!“, sagt sie mehrfach. „Gut, übermorgen um vierzehn Uhr! Ich bin pünktlich, natürlich!“

Dann legt sie auf und sagt leise: „Scheiße!“

„Ich gehe reiten!“, murmle ich, als ich an ihr vorbei nach draußen gehe. Als ich ihren traurigen Gesichtsausdruck sehe, fühle ich mich ganz hilflos. „Oder kann ich irgendwas tun?“

Sie sieht mich an und versucht zu lächeln. „Nein, reite du ein bisschen mit Nordstern aus, Süße. Du hast mir gestern schon so viel im Hühnerstall geholfen!“ Das stimmt.

Also renne ich über den Hof und in den Stall, schnappe mir Sattel, Trense und Helm, stürme nach draußen und pfeife auf zwei Fingern nach Nordstern.

Als sie mich am Gatter stehen sieht, kommt sie sofort mit wehender Mähne auf mich zugeschossen. Im gleichen Moment stapft Martin mit Frau Schupke über den Hof.

„Sag mal, stimmt das?“, fragt er missmutig, als hätte ich was angestellt. „Zieht wirklich eine aus Frankreich hier ein?“

Martin ist wirklich ein Trottel. Mit Mädchen kann er überhaupt nichts anfangen. Die paar Mal, die ich Besuch von Schulkameradinnen hatte, hat er sich immer sofort aus dem Staub gemacht. Seine Zeit verbringt er am liebsten mit seinen zwei Kumpels Rio und Stefan im Kuhstall und macht Musik, die einfach nur scheußlich ist. Hoffentlich verirrt sich Fabienne nie in eine Bandprobe, sonst reist sie sofort wieder ab.

„Die bleibt doch nur eine Woche!“, sage ich.

„Eine Woche!“ Martin tippt sich an die Stirn. „Und ich werde wohl überhaupt nicht mehr gefragt!“

„Aber, aber!“, sagt Frau Schupke. „Vielleicht wird es ja ganz spannend. Und Leonie kann endlich mal ihre Französischkenntnisse einsetzen. Oder nicht?“

Ich nicke. „Wir sollen aber die meiste Zeit Deutsch mit denen reden“, erkläre ich. „Wenn wir dann in Paris sind, wird Französisch gesprochen.“ Ich verbessere mich. „Wenn die anderen in Paris sind. Ich fahr ja nicht mit.“

Martin gibt einen gequälten Laut von sich. „Ein kaputter Traktor, eine unbezahlte Saftpresse, jede Menge Arbeit und jetzt auch noch so eine französische Tussi im Haus!“

„Das heißt Mademoiselle!“, murmle ich. „Vielleicht ist sie ja ganz nett.“

„Klar!“, sagt Martin und stapft davon. Nordstern scharrt ungeduldig mit den Hufen. Sie will endlich für den Ausritt hergerichtet werden. Wahrscheinlich freut sie sich bereits den ganzen Tag darauf und hat keine Geduld mehr, sondern will los.

„Pass auf dich auf!“, sagt Frau Schupke und sieht zu, wie ich mich auf Nordsterns breiten Rücken schwinge.

Frau Schupke hat immer Angst, wenn ich ausreite. Sie ist selbst noch nie auf einem Pferd gesessen, deshalb ist Reiten für sie die reinste Zauberei. Sie rechnet ständig damit, dass Nordstern mich in hohem Bogen abwirft und mit wehendem Schweif im Sonnenuntergang verschwindet. Dabei sind Nordstern und ich so ein gutes Team! Ich bin noch kein einziges Mal vom Pferd gefallen. Und Nordstern ist so geduldig und aufmerksam … sie würde nie zulassen, dass mir etwas passiert!

Ich lächle Frau Schupke aufmunternd zu und bewege mich auf Nordstern gemächlich über den Hof zur Straße. Dann geht es im Schritt durch unseren kleinen Ort: vorbei an der Kirche und dem Pfarrhaus, wo um diese Jahreszeit die Maiglöckchen blühen. Das Haus vom Bürgermeister sieht verlassen aus. Klar, der ist eigentlich Steuerberater in der Stadt und den Job als Bürgermeister macht er nur nebenbei. Die alten Mayers, die uns manchmal Selbstgemachtes vorbeibringen, sitzen auf ihrer Bank vor dem Haus und winken mir zu. Und Anne, die früher manchmal bei uns Babysitter war und jetzt selbst zwei kleine Kinder hat, geht mit ihren Zwillingen Emma und Lukas im Dorf spazieren.

„Hallo, Leonie!“, ruft sie und kümmert sich dann ganz schnell wieder um ihren weinenden Jungen.

Noch zwei weitere Bauernhöfe, dann bin ich aus der Ortschaft raus. Auf der Straße in Richtung Wald fahren so gut wie nie Autos. Und im Wald gibt es einen super Reitweg, kilometerlang!

Nordstern wird immer schneller. Vielleicht kann ich ja mit Fabienne gemeinsam ausreiten, überlege ich. Sie könnte hinter mir sitzen und wir könnten bis zum Blaubeersee reiten. Das ist ein ganz versteckter Tümpel, in dem man bei gutem Wetter baden kann. Alleine macht das keinen Spaß, aber mit einer Freundin …

Dann verscheuche ich diese Gedanken und konzentriere mich wieder auf den Weg. Ich weiß ja noch überhaupt nicht, wie diese Fabienne ist. Und eine Freundin … so eine richtig enge Freundin hatte ich noch nie. Es wäre schon ein Wunder, wenn es auf einmal klappen würde.

La nuit tous les chats sont gris

In der Nacht sind alle Katzen grau

Ich glaube, so aufgeregt war ich noch nie. Halt, doch. Damals, als Grisu mit dem Hänger gebracht wurde! Papa hatte uns schon vorher erklärt, dass Grisu etwas ganz Besonderes ist: ein Falabella, die kleinste Pferderasse der Welt. Manche von denen werden gerade mal dreißig Zentimeter groß! Ein Pferdchen in der Größe eines Hundes! Und auch das hat mein Papa mir damals erzählt: dass die Falabellas meistens im Zirkus oder auf Jahrmärkten als Attraktion herhalten müssen. Und dass man seit einigen Jahren versucht, diese kleinen Pferdchen wie Blindenhunde zu trainieren.

Das muss man sich mal vorstellen! Ein Pferd, das einen Blinden führt. Ich war so neugierig und gespannt auf die Ankunft dieses Wundertiers, dass mein Herz beinahe zersprang. Ich stand mit Mama und Martin am Eingang zu Papas Praxis, und als er mit dem Hänger auf den Hof fuhr, die Ladeklappe aufmachte und der ängstliche Grisu heraustappte … das war ein ähnliches Gefühl wie jetzt.

Auch jetzt klopft mein Herz vor Aufregung. Und auch jetzt starre ich ganz gebannt über den leeren Busbahnhof. Die Französinnen sollen mit einem Taxibus vom Flughafen in die Stadt gebracht werden. Und wir stehen alle etwas verloren herum, während wir darauf warten, die Ankömmlinge empfangen zu können.

Unauffällig schaue ich zu den anderen Mädels hinüber. Ella, Svenja und Susa stehen zu dritt da und halten gemeinsam ein riesiges Pappschild in die Luft. „Willkommen in Deutschland!“ steht darauf und darunter mit Leuchtfarben die Deutschlandflagge. Neben ihnen wartet die dämliche Helene, an ihren Papa gelehnt. Er hat seine Hand auf ihren Kopf gelegt. Beide haben die gleiche Haarfarbe und ein ganz ähnliches Gesicht … man sieht sofort, dass das Helenes Vater ist.

Wenn mein Papa noch leben würde … schnell wende ich meinen Blick ab und rücke noch ein Stück näher an meine Mama.

Links neben mir steht Nadja. Sie trägt ein paar bunte Luftballons um ihr Handgelenk. Alle geben ihr Bestes, den Französinnen einen schönen Empfang zu bereiten. Nur Frau Kramer sieht etwas übermüdet aus. Sie organisiert die ganze Aktion und momentan liegen ihre Nerven blank. „Wo bleiben die nur?“, fragt sie die ganze Zeit. „Der Bus hat schon vierzig Minuten Verspätung. Hoffentlich hatten sie keinen Unfall!“

„Da kommen sie!“, ruft auf einmal Susas Mutter und Nadja dreht sich vor Aufregung so plötzlich um, dass ihr einer der Ballons entwischt und nach oben steigt. Ich sehe ihm nach in den Himmel. Die Sonne verschwindet und Regenwolken ziehen auf.

„Gleich gibt’s ein Gewitter!“, murmelt Mama. „Hoffentlich schaffen wir es rechtzeitig heim!“

Der kleine Bus hält und langsam öffnet sich die Tür. Eine sehr große Frau mit strenger Frisur tritt heraus. Als sie Frau Kramer sieht, flötet sie mit französischem Akzent: „Meine Liebe! Es tut so gut, wieder hier in eure schöne Stadt zu sein! Die Mädchen freuen sich schon riesig!“

Ich muss schlucken. Die Stadt ist ja wirklich ganz schön. Aber Hintergülding?!

„Das ist Madame Laval!“, stellt Frau Kramer die französische Lehrerin vor.

Eine blonde, schüchtern wirkende Schülerin tritt aus dem Bus. Mein Herz schlägt höher. Bestimmt ist das Fabienne! Nett sieht sie aus und überhaupt nicht eingebildet. Aber Madame Laval stellt die Blondine als „Océane“ vor und Ella nimmt ihre Austauschpartnerin in Empfang.

Das nächste Mädchen tritt heraus, dann das übernächste. Alle werden auf die wartenden Schülerinnen verteilt. Überall sehe ich Mädchen, die sich gegenseitig Küsse auf die Wange hauchen. Das macht man in Frankreich so.

Das fünfte Mädchen, das aus dem Bus ins Freie hüpft, heißt „Mathilde“ und trägt witzige Zöpfe und eine lustige Hornbrille dazu. Sie scheint ein Spaßvogel zu sein, denn als sie zu Nadja geführt wird und die vielen Luftballons sieht, reißt sie sofort einen Witz, den ich nicht verstehe, und alle lachen.

Jetzt fehlt nur noch eine Person. Fabienne. Meine Austauschschülerin.

Ich sehe ein weißes Bein im Ausstieg. Schwarze Lackschuhe mit kleinem Absatz. Hochhackige Schuhe in Hintergülding!

„Oje!“, sagt Mama. „Hoffentlich hat das Kind noch andere Schuhe dabei.“

Schließlich erscheint die komplette Fabienne auf der Treppe. Zu ihren Lackschuhen trägt sie ein schwarzes Minikleid mit roter Stoffrose auf der Brust, eine riesige verspiegelte Sonnenbrille und einen glitzernden Goldkamm im Haar.

Sie hat keinen Rucksack über der Schulter wie die anderen Mädchen, sondern eine riesige Lederhandtasche, die sie lässig in der Armbeuge trägt. In der anderen Hand hält sie einen pinkfarbenen Koffer, auf dem in silbernen Buchstaben „Beauté“, also „Schönheit“ steht.

Am liebsten möchte ich im Boden versinken.