DOMINIK BLOH

UNTER PALMEN

AUS STAHL

DIE GESCHICHTE EINES STRASSENJUNGEN

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What is life for me?

Living out of my backpack every night

Needed a new place to sleep

But this is now.

Schoolboy Q // Blessed

Die Geschichte eines Straßenjungen

Mein Name ist Dominik Bloh. Ich bin 29 Jahre alt und lebe seit elf Jahren immer wieder auf den Straßen von Hamburg. Ich habe in den vergangenen elf Jahren oft kein Dach über dem Kopf gehabt, keine Heizung neben dem Bett und keinen mit Lebensmitteln gefüllten Kühlschrank. Für die meisten Menschen in unserem Land ist das unvorstellbar, doch genau dies war meine Realität.

Wie es dazu kam?

Mit 16 Jahren schmiss mich meine Mutter endgültig raus. Eines Nachts setzte sie mich vor die Tür. Meine „Laufbahn“ als Obdachloser begann. Ich mache ihr nicht mal einen Vorwurf: Mum war psychisch krank, sie war manisch-depressiv, schizophren und hatte ein Borderline-Syndrom, was ein Zusammenleben ohnehin schwierig machte.

Ich wuchs bis dahin bei ihr und meinem Stiefvater auf. Ich hasse diesen Mann bis heute, obwohl ich vor vielen Jahren jeden Kontakt zu ihm abbrach. Meinen leiblichen Vater lernte ich nie kennen. Ich weiß nichts über ihn, außer, dass er aus Zypern stammt, was mich zu einem MiMiMi (Mitbürger mit Migrationshintergrund *Samy Deluxe) macht.

Meine Großeltern, die wichtigsten Menschen in meinem Leben, gaben mir eine kleine Vorstellung davon, was Familie und Liebe bedeuten. Ganz besonders meine Oma! Sie war das Größte und Beste in meinem Leben, bis sie 2004 qualvoll an Krebs starb.

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Ihr Tod war der Startschuss für vieles Negative, was folgen sollte. Es war der Anfang meines tiefen Falls. Wenn du weder Familie noch Freunde hast, die dir in so einer Situation aus der Scheiße helfen, dann ist der Weg in die Obdachlosigkeit nicht weit.

Manche fragen mich: Wie kann man im Sozialstaat Deutschland überhaupt auf der Straße landen? Und warum ist es so schwer, wieder von ihr wegzukommen? Es sind berechtigte Fragen, die ich mir selbst beantworten muss. Ich bin ganz sicher nicht unschuldig an meiner Lebenslage. Das Sprichwort „Jeder Mensch ist seines Glückes Schmied“ bringt es ziemlich gut auf den Punkt. Wenn der Schmied nicht erkennt, was Glück bedeutet, und dann, wenn er es endlich erkennt, nicht weiß, wie man es festhält, ist es schwierig.

Ich habe oft Fassaden gebaut. Ich war der König der Lügner, bis ich mich in meinem Lügengeflecht verstrickt habe. Mein Ruf als Meister der Verdrängung eilt mir bereits voraus, doch ich bin an einem Punkt angelangt, wo ich mich meiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stelle.

Ich habe Menschen kennengelernt, die mir auf dem Weg von der Straße helfen. Die Stiftung „Dekeyser & Friends“ des Unternehmers Bobby Dekeyser gehört dazu. Die Leute von Ankerherz, mit denen und für die ich seit zwei Jahren einen Blog von den Straßen schreibe. Ich fange neu an und habe gerade einen Job gefunden, auf einer Baustelle. Ich unterrichte außerdem als Honorarkraft an einer Schule für verhaltensauffällige Jugendliche. Ich habe eine kleine Wohnung in Hamburg. Mein Leben verbessert sich – auch davon will ich erzählen.

Ich will anderen Menschen, denen es nicht so gut geht, durch mein Beispiel Mut machen.

ZUHAUSE, VERLOREN.

Schreiben.
Hamburg-Eimsbüttel, 2017

Ich schreibe. In meiner Wohnung. Das ist ungewohnt. Geschrieben habe ich schon als Kind, aber eine eigene Wohnung hatte ich noch nie.

Ein warmer Ort. Licht, Wärme und Strom. Schlafen, Essen und Hygiene. Mir fehlt nichts. Ich habe wenig, aber ein Zuhause.

Ein Badezimmer, immer warmes Wasser, waschen. Ganz in Ruhe.

In der Küche stehen zwei Müllsäcke, der Staubsauger und ein Wischmopp. Die Schränke sind leer. Die Küche ist ein schwieriger Ort.

Für manche klingen zwanzig Quadratmeter klein. Für mich ist es unmöglich, diesen Raum zu füllen. Ich habe einen Tisch, an dem ich schreiben kann, und eine Matratze. Ich habe keinen Kleiderschrank. Alles, was ich habe, trage ich seit einem Jahrzehnt in meiner schwarzen Nike-Tasche.

Seit meinem 16. Lebensjahr war ich Couchsurfer, Kurzzeit-Untermieter, Mietnomade, obdachlos. Jetzt bin ich 29, sitze in meiner Wohnung, für die ich vor einem Jahr die Schlüssel bekommen habe, und schreibe darüber, wie es ist, auf der Straße zu leben, und wie es dazu kam.

Die Straße bleibt in meinem Kopf.

Allein.
Hamburg-Barmbek, 2005

5. Februar. Ich komme ein paar Minuten zu spät in die Schule. Der Unterricht hat bereits angefangen. Mein Lehrer verlangt eine Erklärung für die Verspätung und fordert eine Entschuldigung. Ich denke nur: „Für was in den letzten Stunden soll ich mich entschuldigen?“ Ich bringe kein Wort heraus. Zur Strafe fliege ich aus der Klasse und muss bis zur Pause auf dem Gang warten.

Ein paar Stunden vorher ging es für mich raus auf die Straße. Meine Mutter setzte mich vor die Tür. Endgültig, mit meiner gesamten Habe, es passte alles in zwei Koffer. Es war finster, als ich nach draußen trat. Die ersten Schritte ging ich noch mit einem Ziel durch die dunklen Straßen. Ich hatte einen Plan. Nicht weit weg wohnte ein Freund. Er hatte eine eigene Wohnung. Es brannte Licht, als ich bei ihm vor der Tür stand und klingelte. Ich sah in sein Zimmer, und er schaute hinunter. Ich winkte hoch und klingelte erneut. Das Licht ging aus. Die Tür blieb zu. Da wusste ich nicht mehr, wohin.

Die Nacht war eiskalt, und Schnee fiel. Ich floh nur noch zum immer nächstwärmeren Platz. Es trieb mich zum Bahnhof in Barmbek. Mit zwei Koffern saß ich auf einer Bank an der Busstation. Dort begegnete ich später meiner Mutter wieder. Sie holte sich Frühstück beim Bäcker. Ich fragte, ob sie mir auch etwas holen könne. Sie verneinte.

Der Tag brach an. Bald würde die Schule beginnen. Direkt nebenan wohnte Björn, ein Mitschüler und Kollege vom Basketball. Dort durfte ich meine Koffer stehen lassen.

Der Lehrer schaut mich erwartungsvoll an. Ich stehe nur da mit meinen durchnässten Klamotten, in der Hand meinen Schreibblock und meinen Stift. Das, was ich aus dem Koffer mitgenommen habe. Meine Gedanken rasen, doch ich kann nichts sagen.

In meinem Kopf läuft ein Film, kurze Ausschnitte aus den letzten sechzehn Jahren. Mein Leben bestand aus Lügen und Gewalt, es gab dunkle Zeiten, in denen nur meine Großeltern das Licht am Ende des Tunnels waren, doch auch sie konnten mir jetzt nicht mehr helfen.

Ich war auf mich alleine gestellt.

Kaba-Zeit.
Neu-Ulm, 1988

Ich bin in Neu-Ulm auf die Welt gekommen, am 24.06.1988. An Neu-Ulm fließt die Donau entlang, sie trennt Bayern von seinem Nachbarbundesland Baden-Württemberg. Auf der anderen Seite des Flusses liegt Ulm. Wir wohnen in Neu-Ulm. Ich sehe eine Straße vor mir, eine graue Hausfassade, vielleicht würde ich sie finden, wenn ich vom Bahnhof Neu-Ulm aus suchen würde.

Meine Mutter ist 18 Jahre alt, als sie mit mir schwanger wird. Mein Vater verlässt sie noch in der Schwangerschaft. Sie arbeitet als Krankenschwester im Schichtdienst. Meine Großeltern ziehen mich auf, bei ihnen habe ich ein Kinderzimmer. Bilder von mir und meinem Opa. Er schiebt mich nachts im Kinderwagen durch das Illergries, ein Waldstück am Rande des Dorfes. Manchmal sitzt er auch stundenlang mit mir im Auto in der Garage, wo ich ruhig werde und einschlafe.

Meine Mutter lernt einen neuen Mann kennen. Sie heiraten, und ich habe nun einen Stiefvater. Im Jahr 1990 kommt mein Bruder zur Welt. Wir ziehen zum ersten Mal um, bleiben aber in Neu-Ulm. Von der neuen Wohnung erinnere ich schon mehr Einzelheiten. Es sind kurze Bilder, die wieder verschwinden, noch bevor ich sie richtig erahne. Das Bild, das länger hängen bleibt, ist das Haus von außen, die Form des Daches und das lang gezogene Balkongeländer aus dunklen Holzpfosten.

Ich entdecke ein erstes Muster. Es nennt sich Kaba-Zeit. Ich bekomme einen großen Becher Kakao und darf Fernsehen schauen. In der Kaba-Zeit darf ich nicht stören. Sie gehen ins Schlafzimmer. Es gibt viel Kaba-Zeit, und ich sitze oft vor dem Fernseher rum.

Meine Großeltern leben in Vöhringen, einem Dorf zwölf Kilometer von Neu-Ulm entfernt. Mein Großvater holt uns in einem silbernen Toyota Corolla ab. Wir fahren über Landstraßen, vorbei an Weizenfeldern und Seen. Wir sitzen hinten auf Kindersitzen, an der Fensterscheibe hängen schwarze Pandaschirme als Sonnenschutz. Ich beobachte meinen Großvater beim Fahren, er trägt auf jeder Fahrt Handschuhe und seinen Hut. Das macht er immer. Ich entdecke neue Muster.

Die Marienstraße 8 in Vöhringen war mein echtes Zuhause. Meine Großeltern haben mir alles gegeben, was meine Mutter mir nicht geben konnte, inklusive Zeit. Meine Mutter hatte eine schwierige Beziehung zu ihren Eltern. Wir machen nie etwas gemeinsam als Familie. Mein Opa kommt uns abholen und bringt uns zurück.

Schon damals in Neu-Ulm ist mein Stiefvater nicht oft zu Hause. Wenn, dann kümmerte er sich um meinen Bruder. Mit meiner Mutter hatte er Streit, und ich sah sie oft weinen.

Garage.
Vöhringen, 1994

Ich bin fünf Jahre alt, als wir das zweite Mal umziehen. Wir wohnen jetzt in der Falkenstraße in Vöhringen, ganz in der Nähe meiner Großeltern. Es ist, als lebte ich in zwei Welten. Mit den Großeltern verbringen mein Bruder und ich die schönen Zeiten. Wir gehen in den Bergen wandern oder spielen einfach den ganzen Tag im Garten, und sie gucken uns dabei zu. Es gibt unser Lieblingsessen, Käsespätzle mit viel gerösteten Zwiebeln, danach noch Fruchtzwerge zum Nachtisch. Für mich ist es das Paradies.

Meine Oma gehört zu den Zeugen Jehovas, meine Mutter auch. Mein Opa nicht, trotzdem sind er und meine Oma glücklich verheiratet. Sie glaubt einfach daran und lebt danach. Ich bin von Kind an Zeuge Jehovas. Ich gehe mit von Tür zu Tür und bekomme auf meinem Weg reichlich Süßigkeiten geschenkt. Es ist toll. Die Bibel hat spannende Geschichten, davon erzähle ich den Leuten. Als Kind habe ich gerne in diesem Buch gelesen. Mein Opa liest mir zum Einschlafen Märchen vor. Ich fange schon früh an zu schreiben. Mit einer Taschenlampe unter der Decke kritzele ich in Großbuchstaben meine ersten eigenen Geschichten von Piraten und Waldbewohnern in ein gelbes Heft.

Im selben Jahr komme ich in die erste Klasse der Grundschule in Vöhringen. Mein Bruder kommt am gleichen Tag in die Vorschule. Es ist einer der wenigen Momente, in denen wir alle zusammen sind. Im Restaurant in der Wielandstraße öffnen wir unsere Schultüten. Es gibt ein Foto von mir und meinem Bruder, wir haben unsere neuen Schulranzen auf und die Schultüte in der Hand. Meine Lehrerin heißt Frau Köbel. Ich freue mich auf die Diktate im Deutschunterricht. Am Anfang versuchen sie, mir das Schreiben mit links abzugewöhnen. Ich sitze zu Hause und bekomme auf die Finger, wenn ich mit links schreibe. Ich muss nur über die Straße gehen, dann stehe ich vor dem Schulgebäude. Mein bester Freund heißt Timo. Wir machen viel Blödsinn und raufen uns auch mal auf dem Schulhof; zur Strafe müssen wir die restliche Pause am Eingang warten. Wir machen das ganze Dorf zu unserem Abenteuerspielplatz. Wir erkunden die Umgebung und trauen uns immer weiter raus.

Es gibt verschiedene Erinnerungen aus der Zeit in der Falkenstraße. Durch einen älteren Freund komme ich zum Ballsport. Er hat einen Fußball, aber auch einen Basketball und einen Football dabei. Ich schieße, dribble und werfe die Bälle. Irgendjemand sperrt mich in einen Hühnerkäfig, und ich schreie, weil es so eng ist und ich schnell wieder rauswill. Ich küsse einen Jungen, als meine Mutter eine Freundin besucht und wir in seinem Zimmer spielen. Ich spiele mit den Kindern aus unserem Haus. Der Gameboy kommt raus, und wir sind im Tetris-Fieber. Im Fernsehen sind die Power Rangers angesagt. Eine Sache, die ich aus der Falkenstraße nicht vergessen werde, ist die Katze. Sie fliegt bei uns im dritten Stock am Küchenfenster vorbei. Als wir nach unten auf den Hof kommen, sehe ich, wie die anderen Kinder mit der toten Katze Fußball spielen, sie durch die Gegend schießen. Ich schaue sie an, Blut läuft aus ihrem Mund. Wir begraben die Katze auf dem leeren Grundstück nebenan.

Auf dem Hof mache ich meine ersten Versuche mit dem Fahrrad. Ich habe ein lila Puky-Bike, mit einem Wimpel an einer langen Stange, wie eine Antenne sieht die aus, und ich finde sie ziemlich cool. Guck, ich fahr ganz ohne Hände! Ich freue mich, bis ich mit voller Geschwindigkeit gegen das Garagentor krache. Ich liebe den Fahrtwind, wenn ich mit vollem Tempo die Steigungen hinunterfahre. Alle Kids heizen nur noch mit ihren Rädern durchs Dorf. Wir fühlen uns wie eine Motorradgang, die über ihr Revier wacht. Eine perfekte kleine Welt.

Nur zu Hause ist etwas nicht in Ordnung. Ich spüre es, doch ich kann es nicht sehen. Es wird immer häufiger laut, wenn meine Eltern streiten, und meiner Mutter laufen die Tränen über das Gesicht. Manchmal halte ich es nicht aus und haue im Dunkeln ab. Ich verstecke mich in der Garage. In der Garage komme ich zur Ruhe, genau dort, wo mich schon mein Opa zum Einschlafen brachte.

Das Reich meines Stiefvaters.
Neu-Lankau, 1996

Es kommt plötzlich, und die Nachricht trifft mich härter als jeder Schlag: Wir werden umziehen! Weit weg von allem, was ich kenne. Es ist 1996, ich bin acht Jahre alt. Kein Umzug einige Nachbardörfer weiter, sondern aus dem Süden hoch in den Norden, nach Schleswig-Holstein. Dort lebt die Mutter meines Stiefvaters, der Ort heißt Neu-Lankau. Wir ziehen in die obere Wohnung. Das Reich meines Vaters. Hier ist sein Zuhause, hier ist seine Familie, eine fremde Familie für mich, siebenhundertfünfzig Kilometer entfernt von meinen Großeltern. Alle leben in der Wohnung, ich bekomme ein Zimmer auf dem Dachboden hergerichtet. Es ist okay. Ich habe einen eigenen Ort. Es ist komisch, an seiner eigenen Haustür zu klingeln und manchmal nicht reinzukommen. Ich bin manchmal hungrig auf den Dachboden geklettert. Bei meinen Großeltern war die Haustür offen. In Vöhringen machen das noch einige Menschen: Sie fahren einkaufen oder sind ein paar Stunden draußen unterwegs. Zu Hause ist dann die Tür offen. Ich bin als kleiner Junge in Gummistiefeln zu ihnen gelaufen und stand plötzlich in der Speisekammer hinter meiner Oma. Ich wusste immer, dass die Tür offen sein wird. In Neu-Lankau ist das anders.

Das Haus liegt an einem Wald, durch den ein Bach fließt. Eine Abzweigung des Elbe-Lübeck-Kanals, der auf der Westseite des Dorfes entlang verläuft. Ich verbringe viel Zeit in der Natur. Ich spiele im Wald, fische in dem flachen Bach oder versuche, mich auf einer Luftmatratze mit der Strömung treiben zu lassen. Am Kanal fange ich an zu keschern, um Karpfen rauszuholen. Einmal habe ich einen gefangen. Ich knabbere in den hochgewachsenen Feldern an abgepflückten Maiskolben. Neu-Lankau hat zweihundert Einwohner, sehr ruhig. Es gibt nicht viel außer den Wäldern und Feldern um mich herum. Gegenüber unserem Haus lebt noch eine Familie. Die beiden Kinder sind jünger als ich. Ein paar Häuser weiter den Fischerweg hinunter lebt Sebastian. Er ist schon älter und im Dorf als Ärgermacher bekannt. Manchmal ziehen wir Jungs gemeinsam los. Eine Gruppe Kinder zwischen fünf und fünfzehn streift durch die Landschaft. Sebastian ist der Größte, also ist er automatisch der Anführer und macht die Ansagen. Wir sind die Mitläufer, die ihm folgen. Dabei fühle ich mich in vielen Situationen nicht wohl.

Wir stehen mit Feuer und Deospray am Bushäuschen und räuchern Bienen aus. Wir töten Insekten und zielen mit der Lupe auf Ameisen. Das bringt keinen Spaß, trotzdem machen wir mit. Wir fahren mit unseren Fahrrädern am Wald entlang, und Sebastian erzählt von einem Haus im Nachbardorf, wo eine Frau lebt, die mit ihm Sex hat. Das ist spannend, von all diesen Dingen habe ich noch keinen Schimmer. Er bringt Pornohefte mit auf die Wiese, und wir starren auf Nacktbilder. Sex ist oft ein Thema. Er nimmt uns mit in die Maisfelder, wir legen uns im Kreis bäuchlings auf den Boden. Wir sollen alle ein kleines Loch buddeln und unsere Hose aufmachen. Dann sollen wir unseren Penis in die Erde stecken. So würde es sich anfühlen. Ich tue es nicht, und ich erzähle zu Hause nicht davon, ich denke, das würde richtig Ärger geben. Jemand anderes muss es erzählt haben, denn am gleichen Abend klingelt das Telefon, und meine Mutter holt mich in die Küche. Als sich die Nachricht herumspricht, ist die Nachbarschaft in Aufruhr.

Es gibt noch eine andere Situation, die im Dorf für Aufsehen sorgt. Sebastians Familie hat einen großen Schäferhund. Alle Kinder sind draußen. Ich schaufle Sand auf einen Berg, um eine Grube auszuheben. Mein Bruder steht am Eingangstor. Die Nachbarskinder laufen auf der Straße zu uns, als der Hund den kleinsten Jungen anspringt und nicht mehr von ihm ablässt. Er reißt den Jungen hin und her. Ich renne zum Tor und schlage mit der Schaufel auf den Boden. Ich denke, das laute Geräusch könnte den Hund vertreiben, doch der Hund attackiert den Jungen weiter. Ich öffne das Tor und knalle die Schaufel immer wieder auf die Straße. Es scheppert und krächzt, als ich die Schaufel über die Straße ziehe, dann schlage ich zu. Der Hund rennt davon. Das Dorf tut sich zusammen, versammelt sich vor dem Haus und fordert, den Hund einschläfern zu lassen. Ich finde das falsch und fühle mich schuldig, dass es so weit kommen konnte.

Im Dunkeln stiefele ich frühmorgens hinaus. Es geht einmal links und die nächste Straße wieder rechts ab, dann stehe ich an dem kleinen Bushäuschen. Dahinter liegen nur Felder und Wälder. Es steht einfach da, so trostlos und einsam. Der Schulbus macht dort zweimal am Tag halt. Der Bus fährt bis zur Grundschule in Nusse. Dort komme ich in die dritte Klasse. Meine Lehrerin stellt mich vor: der Neue. Ich bin fremd, alles ist neu für mich. Ich hatte meine Freunde und meine Familie in Vöhringen. Das war meine Welt, vom Sportpark bis zum Baggersee.

Hier leben alle in verschiedenen Dörfern. Der Bus fährt uns morgens zur Schule und am Mittag zurück. Dann passiert nicht mehr viel. In der Schule finde ich wenig Anschluss. Ich bin ein unauffälliger Schüler. Im Musikunterricht lerne ich Blockflöte spielen. Neben mir sitzt Janne Mayer. Sie ist die Einzige, an deren ganzen Namen ich mich erinnere. Sie wohnt in Kühsen. Sie hat goldene Locken und ist einfach süß. Ich kann mich an kein anderes Mädchen vorher so erinnern. Ich bin zum ersten Mal verliebt.

An den Abenden fahren wir zu den Versammlungen der Zeugen Jehovas nach Ratzeburg. Ich halte meine erste Bibellesung. Eine Woche lang lerne ich jedes Wort auswendig. Ich wiederhole die Worte und trainiere jede Bewegung vor dem Spiegel. Der Tag der Lesung ist gekommen, und wir fahren alle im Auto nach Ratzeburg. Ich bin ziemlich aufgeregt. Ich stelle mir die hundert Menschen im Königreichssaal vor und bekomme Angst, dass mir die Stimme wegbleibt. Ich schließe die Augen, und um mich zu beruhigen, tue ich das, was mir gelehrt wurde: Ich bete. Ich bete dafür, nicht so aufgeregt zu sein und dass alles gut läuft. Meine Nervosität steigt trotzdem, es wird immer schlimmer. Mein Herz platzt fast aus meinem Brustkorb. Meine Stiefoma reicht mir etwas nach hinten. Es ist ein 5-Mark-Stück, so viel Geld habe ich noch nie gehabt. Ich drücke es fest in meine Hand, und ich spüre das schwere Metall. Ich kann mich daran festhalten, und das gibt mir ein beruhigendes Gefühl.

Ich stehe auf einem Schemel, um das Pult zu erreichen, auf dem meine Notizen und die Bibel liegen, aus der ich vorlese. Ich habe die Münze immer noch in der Hand, halte mich daran fest. Der Vortrag läuft fehlerfrei, und ich lese gut. Ich bekomme viel Lob danach. Am Ende hat mir diese Erfahrung das Sprechen vor fremden Menschen erleichtert, und ich sollte es noch oft brauchen, darum bin ich auch für diese Zeit dankbar. Trotzdem wird mir bereits damals klar, dass ich nicht an diesen Gott glaube. Jetzt habe ich den Beweis: Das Geld gibt mir mehr Halt als der Glaube. Ich hatte beides versucht, aber nur das eine half.

Mein Stiefvater fährt mit mir an den Ratzeburger See. Der See ist komplett zugefroren, und die Menschen spazieren über das Eis. Er spricht sehr ernst, so, als würde er mich ernst nehmen. Er sagt mir, dass er nicht mein echter Vater ist. Das ist mir bereits bewusst. Einmal abgesehen davon, dass er völlig anders aussieht, spüre ich auch sonst, dass er nicht mein richtiger Vater ist. Da ist nichts, was mich mit diesem Mann verbindet, es gibt keinen Bezug zu ihm.

Dieser Mann, zu dem ich null Bezug habe, trifft schon von der ersten Sekunde Entscheidungen für mich, die mein Leben komplett verändern. Er hat mir meinen Namen gegeben. Meine Herkunft spiegelt sich nicht in diesem Namen wider. Er gehört zu einer anderen Familie, mit der ich nichts zu tun habe. Ich litt lange darunter, mich nicht damit identifizieren zu können. Dominik Bloh. Das passte nicht und fühlte sich fremd an. Darum habe ich meinen Namen lange verleugnet.

In der Schule machen die anderen Witze über meinen Nachnamen. Aus Bloh wird Klo, und die ganze Klasse lacht. Mir tut das weh. Ich werde ausgelacht wegen eines Namens, der nicht meiner ist. Ich hasse ihn. Ich erzähle den anderen Kindern, dass ich nicht so heißen würde, und wähle den Nachnamen meiner Großeltern für mich aus: Leibiger. Mein Stiefvater geht mit mir zum Fußballplatz. Auf der Wiese fragt er mich, wie ich heiße. Seine stechenden Augen schüchtern mich am meisten ein. Da weiß ich, dass er es herausgefunden hat. Ich kann den Hass in seinen Augen sehen. Dann prügelt er mir seinen Namen ein.

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Das Grundstück neben unserem Haus ist unbebaut. Es hat einige aufgeschüttete Sandberge. Ich fahre mit dem Fahrrad einen der Hügel hinunter und überschlage mich. Meine Hand blutet heftig, ich habe mir ein großes Stück Vorderzahn ausgeschlagen. Weil mein Kiefer noch nicht ausgewachsen ist, so erklärt es der Zahnarzt, kann ich keine Krone bekommen und muss mit einem Provisorium leben. Mein gesunder Zahn stirbt, und auch der Ersatz verfärbt sich. Bei meinen Mitschülern habe ich einen neuen Spitznamen: Schwarzer Zahn.

Mein Stiefvater macht viele Ausflüge mit mir. Wir verbringen nur keine gemeinsame Zeit. Wir fahren im Dunkeln über die Landstraßen. Der Regen trommelt auf das Dach. Ich sitze auf dem Rücksitz und schaue den Tropfen dabei zu, wie sie im Wettrennen die Fensterscheibe hinunterfließen. Es hat etwas Beruhigendes. Die gelben Laternenlichter am Straßenrand verwandeln die Tropfen an der Scheibe in strahlende Sonnen. Ich weiß nie, wo wir hinfahren. Es dauert oft eine ganze Weile. Wir gehen in Wohnungen, die ich noch nie gesehen habe, und ich treffe Frauen, die ich nicht kenne. Ich sitze im Wohnzimmer mit Kellogg’s und schaue Zeichentrickserien. Mein Stiefvater und die Frau sind nicht mit mir im Raum, sie kommen erst später zurück, und dann machen wir uns wieder auf den Weg. Auf der Rückfahrt gibt er mir zu verstehen, dass ich meiner Mutter besser nichts sagen sollte, sonst wüsste ich ja, was passiert, aber es passiert sowieso. Im Radio läuft No Doubt: „Don’t speak“.

Ich bin aufgewachsen mit Gewalt im Haus. Es war so selbstverständlich, ich hab es nie hinterfragt. Ich hänge über einer Treppe, bin über das Knie meiner Mutter gelegt und bekomme den Arsch versohlt.

Du hörst gefälligst auf uns, weil wir dich ernähren. Sonst kriegst du Schläge. Ich kann mich nicht wehren. Ich versohl dir den Arsch. Sag sofort, dass du es warst. Ich versohl dir den Arsch. Wer hat dir das gegeben? Du sollst doch nicht die Sachen von anderen nehmen. Ich versohl dir den Arsch. Du sollst nicht so über ihn reden. Ich versohl dir den Arsch. Erst sammel die Scherben auf, von dem zerbrochenen Glas. Ich versohl dir den Arsch. Gebe ohne Widerrede nach. Los, versohl mir den Arsch. Als ob es keinen anderen Satz gäbe. Dafür kriegst du Schläge. Gewalt, die mich prägte. Wofür? Warum? Meistens gab es keinen Grund. Leg die Hand auf die heiße Herdplatte. Damit du weißt, dass ich keine Scherze mache. Liege nachts wach und warte, bis er wieder die Tür aufmacht. So ist das Leben. Macht Narben, die wir auf der Haut und auf der Seele tragen. Kein Erwachsener sollte seine Kinder schlagen.

Mein Stiefvater schlägt mich nicht nur mit der Hand, er benutzt auch andere Gegenstände, um sich nicht selbst die Hände schmutzig machen zu müssen. Ich erinnere mich an einen breiten schwarzen Gürtel mit einer großen, silbern glänzenden Adlerschnalle oder den braunen Besenstiel mit verschnörkeltem Muster. Dabei singen oft die Beatles aus den Boxen. Ich konzentriere mich auf die Musik, solange etwas auf meinen Körper kracht. Die Schmerzen sind auszuhalten. Es sind die kurzen Momente davor, wenn ich machtlos mich dem Schicksal füge, und die Stille danach, in der man auf dem Boden liegen gelassen wird wie Müll. Diese Augenblicke tun der Seele weh.

Am Abend ist die schlimmste Zeit, wenn ich alleine auf dem Dachboden bin und auf das Knarren der Leitersprossen warte. Dann weiß ich, er kommt. Mein Blick auf die Tür gerichtet, bis sie sich öffnet. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich fange an, ins Bett zu machen. Ich mache mir vor Angst in die Hose. Ich gehe runter, um es zu sagen, und bekomme dafür Ärger. Es wird ein Teufelskreis. Ich kann es nicht abstellen. Jede Nacht mache ich mich nass.

Mein Stiefvater schlägt mich, aus irgendeinem Grund oder einfach so, um Dampf abzulassen. Meinen Bruder, seinen leiblichen Sohn, lässt er in Ruhe. Das hilft mir, die Schläge einzustecken. Wenn er schon jemanden schlagen muss, dann lieber mich. Ich hätte nie gewollt, dass mein Bruder etwas abkriegt. Ihm schenkt er Liebe, wie ein Vater sie seinem Sohn zeigen sollte. Er gibt sich zumindest Mühe, während er mich schlecht behandelt. Solange mein Bruder sicher ist, kann ich es ertragen.

Mit einem Ausraster sorgt mein Stiefvater dafür, dass ich meinen einzigen Freund aus dieser Zeit nicht mehr sehen kann. Wir sind auf der Wiese und kicken. Mein Stiefvater ist mit dabei und spielt als Torwart. Jan schießt viele Tore und freut sich. Er freut sich wohl etwas zu sehr, und mein Stiefvater sprintet aus dem Tor, um Jan mit voller Wucht die Beine wegzutreten. Jan fliegt erst hoch, bevor er auf den Boden prallt. Er schreit und weint laut. Es sieht auch schlimm aus. Ich schäme mich. Jan kommt nie wieder zu Besuch, seine Familie verbietet jeden Kontakt zu mir.

Ich will es nicht zugeben. Aber dieser Mann hat mich geprägt: Gewalt, Fremdgehen und Drogen. Vieles davon habe ich später genauso gemacht. Ich war zehn Jahre alt und hatte bereits so viel gesehen, nur konnte ich das wenigste verstehen.

Schwarzes Loch.
Hamburg-Winterhude, 1998.

Ich sehe den weißen Cinquecento wegfahren. Ich gucke noch eine lange Zeit auf die Heckscheibe, ich versuche, irgendetwas von ihr zu erkennen. Wenn sie mich sieht, überlegt sie sich es vielleicht noch einmal und dreht um. Doch sie verlässt mich und meinen Bruder. Sie lässt uns in Neu-Lankau zurück. Meine Mutter ist weg, nach Hamburg. Warum? Sie hat es uns nie erklärt.

In meinem Kopf wird es dunkel, wenn ich versuche, mich an die nächste Zeit zu erinnern. Da ist nichts, ein schwarzes Loch.