Mami – 1904 – Als der Papa heimkam ...

Mami
– 1904–

Als der Papa heimkam ...

Es war ein schwerer Weg zu seinem Kind

Gisela Reutling

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Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-427-0

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Der Tag, an dem sich Dagmar Guntrams Leben änderte, begann mit dünnem tristem Nieselregen. Dagmar machte sich nichts daraus, sie war nicht wetterfühlig. Nur würde es etwas knapp mit dem Platz werden, wenn ihre Gäste sich nicht auch auf dem Balkom aufhalten konnten. Der war nämlich breit und lang und bot zusätzlich Raum zu ihrer Einzimmerwohnung.

Aber vielleicht hörte es ja bis zum Abend auf zu regnen!

Sie hatte an der Kasse des Feinkostgeschäftes eine ungewöhnlich hohe Rechnung beglichen, dankte einem blondschopfigen Lehrling fürs Türehalten und lehnte freundlich ab, als der Junge sich erbot, ihr die schweren Tüten zum Wagen zu bringen.

Hoffentlich hatte sie nichts vergessen. Fruchtsäfte und Mineralwasser hatte sie zu Hause. Die Baguettes würde sie später noch beim Bäcker an der Ecke besorgen, damit sie auch ganz frisch und knusprig waren, zu all den Köstlichkeiten, die sie eingekauft hatte: Forellenfilets, Kaviar, Roastbeef, diverse Käsespezialitäten…

Dagmar ging es in Gedanken noch einmal durch, während das Gewicht der beiden Flaschen französischen Champagners ihr die Arme herabzog. Aber für jeden ein Glas zum Empfang sollte es schon sein. Der Anlaß rechtfertigte es doch. Oder war es etwa nicht etwas Besonderes, wenn man für seine Studienkollegen einen Einstand gab in der langersehnten eigenen Wohnung?

Es waren nur noch einige Schritte bis zu ihrem beigefarbenen Auto mit den roten Polstern – ein Geschenk ihres Papas zu ihrem 21. Geburtstag –, als eine der Tüten am Haltegriff riß, der Inhalt auf das nasse Pflaster kullerte, das Fläschchen Cumberlandsauce rollte in den Rinnstein.

»O nein«, stieß Dagmar hervor, und einen Moment sah sie ratlos auf das Durcheinander. Mußte das jetzt passieren!

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte direkt vor ihr eine ruhige Stimme.

Dagmar blickte hoch. Sie sah einen schlanken jungen Mann vor sich, fast einen halben Kopf größer als sie, dunkelblond. Ihre Blicke trafen sich, ließen sich zwei, drei Sekunden lang nicht los…

In dieser winzigen Spanne Zeit stockte fast Dagmars Herzschlag. Überdeutlich prägte sich ihr das Gesicht des Fremden ein: Gerade Nase, festes Kinn, kluge Augen, in denen ein leises Lächeln aufglomm.

Nun bückte er sich, sammelte Saucenfläschchen, Rollenbutter, spanische Erdbeeren im Zellophanpäckchen und anderes ein und verstaute es wieder in die herabgefallene Tüte.

Dagmar war so verwirrt, daß sie es einfach geschehen ließ. Sie strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn, das sich von der Feuchtigkeit an den Spitzen leicht lockte.

»So – kann ich noch etwas für Sie tun? Sie irgendwohin bringen, falls kein Chauffeur auf Sie wartet?«

Dagmar riß sich zusammen. Er mußte sich ja lustig über sie machen, stand sie doch da wie ein dummes kleines Mädchen.

»Mein Wagen steht gleich da«, sie deutete mit dem Kinn darauf, »Moment, ich sperre den Kofferraum auf und wir werfen alles hinein.«

»Nicht werfen, jedenfalls nicht den Champagner, der zum Glück heilgeblieben ist. Auch die Erdbeeren nähmen das wohl übel«, sagte der Mann.

Als die Sachen untergebracht waren, schloß er den Deckel.

Wieder sahen sie sich an. Und mit einer Heftigkeit, die sie selbst fast erschreckte, wünschte sich Dagmar, diesen Augenblick festzuhalten.

»Warten Sie bitte, eine Sekunde«, sagte er plötzlich, machte kehrt und ging mit langen Schritten davon.

Dagmar sah ihm nach. Was hatte er vor?

An der Straßenecke stand eine alte Frau, die Vergißmeinnicht-Sträußchen feilbot. Mit einem solchen kam ihr Retter in der Not zurück.

»Für Sie«, sagte er mit einem leisen Lächeln. »Ein kleines Trostpflaster für Ihr Mißgeschick. Und um Ihnen zu sagen, daß es schön war, Ihnen begegnet zu sein.«

»Oh, danke. Danke für alles«, brachte Dagmar hervor.

Er schloß den Schlag, als sie eingestiegen war, blieb stehen.

Dagmar hob die Augen, schluckte, das Lächeln gelang ihr nicht ganz. Graubraun waren seine Augen, warm und fast mit einer Spur von Zärtlichkeit im Blick. Dagmar bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen, startete und fuhr davon. Die Vergißmeinnicht lagen neben ihr auf dem Sitz.

Sie wußte ohnedies, daß sie den Unbekannten nicht vergessen würde, den ihr der Zufall über den Weg geschickt hatte.

*

»Das hast du davon, daß du dir acht Leute eingeladen hast«, sagte Elisa in scherzhaftem Ton. »Soll ich dir beim Aufräumen helfen?«

»Das mache ich schon.« Michael, der draußen auf dem Balkon noch eine Zigarette geraucht hatte, trat herein. Er wedelte mit der Hand, wie um die anderen, die halb im Aufbruch waren, zur Eile anzutreiben. »Sagt unserer reizenden Gastgeberin Dankeschön und Gute Nacht, und dann verzieht euch.«

»Hoho, das könnte dir so passen!« Jonas, der mit dem strohblonden Struwwelkopf, bemächtigte sich einiger leeren Flaschen, die da herumstanden. »Wo kommen die hin, Dagmar? Ina, du kannst schon mal die Teller zusammensetzen. Wir helfen alle, das ist doch klar.«

Lachend hob Dagmar die Hände. »Ich bitte euch, laßt das nur alles liegen und stehen. Das gibt sonst ein fürchterliches Gedränge in der Küche. Ich mach’ das nachher schon. Hauptsache, es hat euch bei mir gefallen.«

»Super war’s.« Jonas hatte den Kasten entdeckt und tat die Wasserflaschen hinein. »Und wer kriegt den Rest Champagner, der noch da ist?« Augenzwinkernd sah er zu Dagmar hin.

»Den teilen wir uns«, rief seine Freundin Ina lustig. »Wir sind zu Fuß, somit keine Alkoholsünder.«

»Vielleicht möchte Dagmar den noch trinken, wenn sie uns los ist«, meinte Michael, der insgeheim darauf gehofft hatte, einen letzten Schluck mit Dagmar allein zu trinken.

»Bestimmt nicht«, versicherte Dagmar. »Teilt ihn euch nur. Er steht auf dem Balkon. Hoffentlich ist er noch kalt genug.«

Es war für jeden der beiden noch ein knappes Glas, sie tranken es auf das Wohl der Studienkollegin, die sie heute mächtig verwöhnt hatte.

»Seid leise, wenn ihr zum Lift geht«, riet Dagmar, als es an die Verabschiedung ging.

Michael blieb bis zuletzt. Er suchte ihren Blick.

»Du hast heute durch mich hindurchgesehen«, sagte er. »Magst du mich nicht mehr?«

»Aber Michael, wie kommst du denn darauf?« fragte Dagmar ehrlich erstaunt. »Ich mag euch doch alle gleich gern, und wir hatten es doch nett, alle zusammen, oder?«

»Michael, kommst du, der Lift wartet«, rief jemand in gedämpftem Ton vom Flur her. Es war Jenny, die auch mit dem Rad da war und ihren Heimweg in die gleiche Richtung hatte.

»Tschüs, Dagmar, bis Montag also, in der Uni.« Damit ging auch Michael. Zwei Wagen waren unten schon weggefahren.

Es war halb zwölf geworden, aber Dagmar war überhaupt nicht müde. Sie freute sich, daß die erste Party in ihrer neuen Wohnung gelungen war. Das kalte Buffet, das sie vor Stunden so verlockend hergerichtet hatte, war fast leergegessen. Nur ein paar Zitronenschnitze lagen noch da und etwas Käse auf der Platte, ein halbes Baguette.

Frohgemut räumte sie auf, gab Teller und Schüsselchen in die Spülmaschine. Ihre Küche war recht klein, dafür war das Zimmer weiträumig, und so gefiel es ihr. Sie hatten sich auch noch auf dem Balkon aufhalten können, es war trocken geworden, etwas dunstig, aber mild für einen Aprilabend. Bis es dann doch zu kühl geworden war, und die Nachbarn auch nicht gestört werden sollten. Drinnen hatten sie die lockere, heitere Unterhaltung fortgesetzt, ohne zu laut zu werden, schließlich waren sie alle wohlerzogene Leutchen. In einem Hochhaus mußte man schon etwas Rücksicht nehmen.

Als einigermaßen Ordnung herrschte – das übrige hatte bis morgen Zeit – trat Dagmar noch einmal hinaus. Sie wohnte im achten Stock, hatte einen weiten Blick bis zum Englischen Garten. Der Himmel war ohne Sterne, aber schwarz wurde er über dieser Großstadt nie. Immer noch war Verkehr auf hellerleuchteten Straßenzügen.

Es war ein schöner Tag gewesen, sinnierte Dagmar. Ein Tag, an dem sie einem Mann begegnet war, der noch vor allem stand.

Sie lächelte verträumt, aber auch mit einem Hauch von Wehmut. Es war kaum anzunehmen, daß sie ihn wiedersehen würde. München war groß. Unter Tausenden würde sie ihn wiedererkennen. Doch darauf zu hoffen, war wohl eine Illusion. – Sie ging hinein, legte die Kissen von der mehrsitzigen Couch beiseite, die ihr nachts als Bett diente. Sie zog den Kasten hervor, in dem sich Laken und Decken befanden und breitete sie aus.

Ihre Mutter hatte darüber die Nase gerümpft. »Hast du das nötig, Kind, wie in einer Studentenbude zu hausen?«

»Manch einer wäre froh, Mama, wenn er sich eine solche ›Bude‹ leisten könnte«, war ihre Antwort gewesen.

Ach, die Gute, ihr paßte so manches nicht. Wenn es nach ihrem Willen gegangen wäre, hätte das einzige Töchterchen es sich nicht in den Kopf gesetzt, Kinderärztin zu werden. Ein so langes, schweres Studium, wozu das nur? Konnte sie nicht zu Hause bleiben in der schönen Villa am Starnberger See, Reiten, Tennisspielen, Segeln, junge Menschen aus ihren Kreisen um sich scharen und dann heiraten, wenn der Richtige kam, der sicher nicht lange auf sich warten lassen würde.

Dagmar lachte leise in sich hinein. Ja ja, so war das früher bei den sogenannten ›höheren Töchtern‹ gewesen, und manchmal hatte ihre Mama, die Gattin des Großhandelskaufmann Ulrich Guntram, solche Ansichten, als sei nicht längst die Zeit darüber hinweggerollt.

Ein Glück, daß ihr Vater einen anderen Standpunkt einnahm und es deswegen nicht zu größeren Auseinandersetzungen kommen mußte.

»So ist das heute doch nicht mehr, Ingeborg«, hatte er ihr nachsichtig erklärt. »Die modernen jungen Frauen wollen einen Beruf haben, und das ist auch ganz richtig so. Man weiß nie, wie das Leben spielt. Wenn Dagmar aufgrund ihres glänzenden Abiturzeugnisses einen Studienplatz an der Medizinischen Fakultät bekommt, dann wollen wir uns mit ihr freuen.«

Das war vor anderthalb Jahren gewesen. Und dann war es auch wieder der Vater, der ihr, gegen den Protest seiner Frau, diese Wohnung gekauft hatte, um ihr das tägliche Hin- und Herfahren zu ersparen.

Sie war glücklich damit. Dagmar war glücklich an diesem Tag, in dieser Nacht. Bevor sie sich niederlegte, holte sie das Väschen mit den Vergißmeinnicht von der Fensterbank und stellte es neben ihr Bett. Wie er dabei gelächelt hatte, ihr lieber Unbekannter, als er sie ihr gab!

Dagmar nahm dieses Lächeln, das in seinen Augen und um seinen Mund gelegen hatte, mit in den Schlaf, und auch sie lächelte…

*

Nach der Vorlesung wartete Michael draußen auf sie.

»Gehst du am Sonnabend mit mir in ›Die Kleine Komödie‹? Ich habe zwei Freikarten für die Premiere.«

»Tut mir leid, Michael, am Wochenende fahre ich nach Hause.« Als Dagmar sein enttäuschtes Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Frag doch Jenny, sie wird sicher gern mitgehen.«

»Du mußt mir aber auch immer einen Korb geben«, murmelte er verdrossen.

»Deshalb brauchst du doch nicht gleich den Kopf hängen zu lassen!« Dagmar legte ihm leicht die Hand auf den Arm. »Voriges Wochenende konnte ich nicht, weil ich mich auf ein Referat vorbereiten mußte, und am Sonntag davor, das war nach unserer Party, habe ich eine alte Tante im Augustiner-Stift besucht, das hatte ich schon lange versprochen. Was meinst du, was meine Eltern sagen, wenn ich mich wochenlang nicht bei ihnen blicken lasse?«

»Na ja, du mußt es ja wissen«, sagte Michael, und mit einem kurzen Nicken ging er davon, auf die in langen Reihen vor dem Universitätsgebäude stehenden Fahrräder zu, unter denen sich auch das seinige befand.

Wenn der Junge doch nur einmal begreifen könnte, daß ich nicht mehr für ihn empfinde als für jeden anderen, mit dem ich kameradschaftlich umgehe, dachte Dagmar, als sie die entgegengesetzte Richtung zur S-Bahn einschlug. Gefühle konnte man nicht erzwingen. Die erwachen in einem, wenn man es am wenigsten vermutete.

Sie vergingen auch nicht so rasch wie das Sträußchen Vergißmeinnicht, das nach drei Tagen verwelkt war.

Am frühen Samstagnachmittag fuhr Dagmar nach Starnberg.

»Das wurde aber auch Zeit«, empfing Ingeborg Guntram ihre Tochter, und sie drückte sie an sich, als sei sie nach langer Abwesenheit heimgekehrt. »Habe ich nicht recht gehabt, als ich zu Papa sagte, wenn sie erst eine eigene Wohnung hat, werden wir sie immer seltener sehen.«

»Nun übertreibe nicht, Mami. Ich komme wirklich, so oft ich kann. Aber ich muß auch schrecklich viel lernen, weißt du.«

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, befand Ingeborg und tätschelte ihr die Wange.

Natürlich war es auch wieder schön, sich als geliebtes und verwöhntes Töchterchen im elterlichen Haus zu fühlen.

»Wo ist denn der Papa?« fragte Dagmar, als dieser nicht kam, um sie zu begrüßen. Sein Wagen stand doch draußen.

»In seinem Zimmer. Er hat noch eine Besprechung«, antwortete die Mutter.

»Die Geschäfte lassen ihn wohl überhaupt nicht los«, bemerkte Dagmar.