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Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erste Auflage 2017

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-170-0

eISBN: 978-3-95771-171-7

Olaf Jahnke

Tod eines Revisors

Ein Fall für Roland Bernau

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IMPRESSUM

Tod eines Revisors

Autor

Olaf Jahnke

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia und Lucida Calligraphy

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

Marti O´Sigma; Frankfurt in Blau

Lektorat

Nele Robitzky

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

September 2017


Überarbeitete Neuauflage. 

Die erste Auflage erschien 2014 beim fhl Verlag Leipzig.


ISBN: 978-3-95771-170-0

eISBN: 978-3-95771-171-7



Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.

Etwaige Namensähnlichkeiten sind reiner Zufall.

Allen Opfern 

unentdeckter Verbrechen gewidmet

Ich konnte verstehen, dass sie nicht an einen Selbstmord glauben wollte. Welche Frau möchte auf diese Weise von ihrem Mann verlassen werden?

In der Taunusstraße stand eine Villa neben der anderen. Wer nach Kronberg zog, sehnte sich danach, in der Welt  des Geldes mit dabei zu sein. Charlotte Scherer hatte sich seit ihrer Studienzeit in Hamburg finanziell eindeutig verbessert. Kein Wunder, mit einem Staatssekretär als Vater. Ich parkte meinen Volvo vor ihrer Toreinfahrt.

Im Pfosten des Edelstahltores fand ich einen winzigen Klingelknopf, ein Namensschild fehlte. Lediglich die Hausnummer aus Plexiglas, die im Schatten der Hecke blau schimmerte, sagte mir, dass ich hier richtig war. Die mächtige Ligusterhecke hielt neugierige Blicke vom Haus fern. Ich klingelte, stellte mich auf die Zehenspitzen und schaute über die knapp zwei Meter hohe Metallverblendung des Tores. Nach einem Klacken öffnete sich surrend eine Hälfte der Einfahrt. Der Vorgarten war nach japanischer Art gestaltet. Kaum Grün, geharkte Steinbeete, vereinzelt exotische Bäumchen.

Das Haus hatte im Erdgeschoss schmale Fenster. Flachdach, unverputzter Beton. Wer hier wohnte, wollte für seinen Geschmack und seinen Mut bewundert werden.

»Kommen Sie bitte herein, wir warten bereits auf Sie.« Charlotte sah noch besser aus als damals mit zwanzig. In diesen dreizehn Jahren war sie weiblicher geworden. Nicht mehr die schlaksige Studentin, die kaum Wert auf ihr Äußeres gelegt hatte. Ihre langen, schwarzen Haare waren hochgesteckt. Das Kleid sah elegant und kaum nach Trauer aus.

»Ein Stau auf der Schnellstraße nach Kronberg.«

»Kein Problem für mich.« Sie führte mich durch den großen Vorraum. »Herr Dörnberg, der mir jetzt zur Seite steht, ist eher unter Zeitdruck. Er war ein Freund von Jens und ist stellvertretendes Vorstandsmitglied bei der Bank.«

Eine spartanische, aber edle Ausstattung in gedämpftem Licht. Auch hier drinnen besaßen die Wände keinen Putz, geschweige denn Tapeten. Im Wohnzimmer scrollte ein Mann auf seinem Blackberry durch die Mails. Charlottes Absätze klackten auf dem Parkett. Er drehte sich um, schlank, etwas kleiner als ich, kurze dunkelbraune Haare. Ein schmales Gesicht, aus dem mich zwei hellblaue Augen interessiert ansahen. Sein dunkler Nadelstreifen saß perfekt, nichts von der Stange. Am Revers das Abzeichen der Rotarier.

»Herr Dörnberg, Roland Bernau. Der beste Privatermittler, wie mir die Herren aus Wiesbaden versicherten.«

»Ihre ehemaligen Kollegen vom Bundeskriminalamt loben Sie in den höchsten Tönen«, sagte er. Ein freundliches Lächeln mit einem forschenden Blick.

»Meine Ex­Chefs waren das sicher nicht. Die wollten mich aus der Fahndungsgruppe rausschmeißen.« Charlotte errötete sichtbar trotz ihres hellen Make­ups. Sie war damals der Auslöser gewesen. Ihr Vater hatte an allen Hebeln gezogen, um meine Ermittlungen zu beenden. Dass meine Weigerung entweder ins Archiv des BKA wahlweise in die freie Wirtschaft geführt hätte, hatte keine Rolle gespielt. Hauptsache die Beziehung seines Töchterchens zu einem bestimmten islamistischen Studenten im September 2001 blieb unter der Decke. Die direkte Verbindung eines Politikers zu einem der Attentäter wäre seiner Karriere nicht gerade förderlich gewesen. Seitdem suchte sich Charlotte ihre Männer  anscheinend sorgfältiger aus. Und mir hatte es mehr Freiheiten verschafft.

»Deswegen wissen wir ja, wie hartnäckig Sie sind, wenn Sie sich einer Sache annehmen«, sagte sie und unternahm den Versuch eines Lächelns. Es gelang ihr einigermaßen.

»Wir denken, dass Sie in diesem Fall Ausdauer brauchen. Jens Scherer hat niemals Selbstmord begangen«, meinte Dörnberg. Er suchte ihren Blick, den sie nicht erwiderte.

Eine unangenehme Situation, einer Frau gegenüberzustehen, die nicht glauben wollte, dass ihr Mann vom Leben die Nase voll gehabt hatte. Andererseits war es eine Genugtuung, dass ausgerechnet sie mich als Ermittler anforderte. Zuerst beschädigte ihre Familie meinen Ruf nach Kräften, jetzt brauchten sie meine Hilfe.

»Die Polizei glaubt nicht an Mord. Was lässt Sie daran zweifeln?«, fragte ich ihn. »Die Tatsachen sprechen für sich.«

»Jens Scherer hatte als leitender Revisor in unserer Bank noch eine glänzende Karriere vor sich. Schließlich war er erst achtunddreißig. Er kannte sich in allen Abteilungen gut aus wie kaum ein Zweiter. Scherer plante seinen weiteren Weg sehr sorgfältig und er liebte das Leben.«

Diese letzte Bemerkung gefiel Charlotte nicht, ihr Gesicht nahm strengere Züge an. »Wie dem auch sei, ich kann nicht glauben, dass Jens sich umgebracht hat. Völlig undenkbar.«

»Ihr Mann besaß eine Lebensversicherung?«

Charlottes Blick wanderte zu ihren Händen. »Ja, natürlich. Aber das ist zweitrangig.« Sie drehte ihren Ehering, streckte die Finger und kontrollierte die makellosen Fingernägel. Langsam ging sie zur Terrasse. Dörnberg kam mit verschränkten Armen auf mich zu. »Wir müssen beweisen, dass es kein Selbstmord war. Es gibt im Vertrag eine Klausel, die besagt, dass bei Freitod nicht gezahlt wird.«

Dumm gelaufen, ohne viel Geld läuft in dieser Gegend nichts.

»Über welche Versicherungssumme reden wir?«

»Eine Million Sofortzahlung und eine lebenslange Versorgung monatlich.« So wie er mich anschaute, musste mein Mund einen Moment lang offengestanden haben. »Für unsere engagierten Nachwuchskräfte ist das durchaus angemessen, ein Teil der Altersversorgung. Nichts Außergewöhnliches.«

»Okay, aber Selbstmord in einer psychiatrischen Klinik scheint mir auch nicht so ausgefallen zu sein.«

Jetzt verschwand das Lächeln aus Dörnbergs Gesicht. Er wurde ein bisschen lauter, kaum zu merken. »Für Sie liegt doch bestimmt darin die Herausforderung, genau diesen Punkt zu widerlegen.«

Er hatte recht, sonst wäre ich nach Charlottes Anruf und dem, was ich in der Zeitung gelesen hatte, gar nicht erst hierhergekommen. Das wusste Dörnberg. Ich wollte die beiden nur noch ein wenig zappeln lassen. So wie Charlotte und ihr Vater es damals bei mir gemacht hatten.


Charlotte brachte mich zur Tür.

»Ich möchte nicht, dass Sie mich missverstehen. Es geht nicht nur um das Geld. Ich bin es Jens schuldig, er hat viel für mich getan. Wir haben uns wirklich geliebt.« Sie blickte nach unten. »Über Selbstmord hat er nie gesprochen. Jens wirkte in letzter Zeit gereizt, das war es aber auch schon. Für ihn bedeutete der Klinikaufenthalt mehr eine Art Kur, seit Wochen geplant. Jens musste sich von der Tretmühle in der Bank erholen.« 

Sie schaute ins Leere, nur langsam wieder zu mir.

Die Klinik


Das Tor stand weit offen. Bei einer Psychiatrie wunderte mich das. Dieses Gebäude hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Krankenhäusern, in denen man Kassenpatienten behandelte. Es war eine Mischung der schnörkeligen Kurbad-Architektur mit dem im Taunus damals so beliebten Tudorstil. Ich ging durch den kleinen, von einem geschwungenen Bachlauf durchzogen Park. Das schlossähnliche Anwesen lag in der Mitte eines Berghangs am Rande der Königsteiner Innenstadt. Wer hier hinauflief, musste aufschauen und sollte von dem Bau beeindruckt sein.

Zwei Männer schlurften auf mich zu, beide um die fünfzig. Sie sahen mich von der Seite an. Waren das jetzt Patienten oder war einer von ihnen ein Arzt?

Die Beschreibung der Klinik im Internet sagte, wer an diesem Ort Heilung suchte, den quälten Depressionen, Burnout, Suchtprobleme, manchmal alles zusammen. Jens Scherer kam vor zehn Tagen hierher, sein Zimmer lag auf Station 4. Laut Charlotte kümmerte sich neben den Ärzten hauptsächlich eine Schwester Angela um ihn. Sie war es auch, die ihn leblos in seinem Bett entdeckt hatte.

Im Eingang kam mir eine junge Frau mit einem Kinderwagen entgegen. Sie strengte sich an, mit einer Hand die schwere Tür aus Glas und dunklem Eichenholz offenzuhalten, während die andere Hand versuchte, den edel aussehenden Wagen aus Chrom und blauem Stoff nicht loszulassen. Die weißen Reifen hingen schon über den Stufen aus hellrotem Sandstein. Dass sie den größten Hut trug, den ich jemals außerhalb eines Pferderennens gesehen hatte, vereinfachte die Sache nicht. Ich griff vorn in das Gestell und hob es an. Sie lächelte. Gemeinsam hievten wir das luxuriöse Gefährt die Treppe hinunter. Das Baby schien von all dem nichts zu spüren, es schlief.

Die Dame am Empfang schaute vermutlich erst nach einer genau festgelegten Zeit von ihren Unterlagen zu mir hoch. »Ja, bitte?«

»Ich suche Schwester Angela.«

»Station 4. Den Gang geradeaus, durch das Souterrain in das Nebengebäude. Sie ist wahrscheinlich im Schwesternzimmer.«

Auf dem Parkett lag den ganzen Flur entlang ein roter Teppich, an den Wänden hingen Aquarelle mit Motiven der Umgebung, erhellt von kronleuchterartigen Lampen. Das wirkte auf mich wie ein alteingesessenes Nobelhotel mit verblichenem Charme. Wäre da nicht der typische Geruch von Desinfektionsmittel, leicht beißend, an Spritzen und Verbände erinnernd.

Ich klopfte.

»Einen Moment noch.« Die Stimme klang verbindlich, aber nicht unfreundlich. Ich wartete neben der grauen Tür. Gegenüber gab es eine winzige Küche, aus der es nach Kaffee duftete. Der enge Flur am Ende des Nebengebäudes war schummrig beleuchtet, Tageslicht kam durch einen vergitterten Ausgang.

Die Tür zum Schwesternzimmer öffnete sich. Ich drehte mich um und schaute in ein nervöses Augenpaar. Ein gepflegt gekleideter Herr, etwa Mitte fünfzig. Er beeilte sich, seinen Blick zu senken. Anscheinend wollte er schnellstmöglich aus meinem Blickfeld verschwinden.

»Schwester Angela?«

»Kommen Sie bitte herein. Nehmen Sie Platz. Wir kennen uns bislang nicht?« Sie war ungefähr vierzig Jahre alt, attraktiv, mit einem schönen Lächeln und für eine Krankenschwester bei der Arbeit erstaunlich stark geschminkt. Ihre Haare etwas zu blondiert, der dunkle Haaransatz sichtbar. Sie hielt mich anscheinend für einen neuen Patienten.

»Mein Name ist Bernau. Ich untersuche im Auftrag der Witwe den Tod von Jens Scherer.« Ihr Blick ging ruckartig nach unten. Das Lächeln war weg.

»Welche Fragen gibt es da noch? Für die Polizei ist der Fall doch klar.« Ihre Stimme klang eher unsicher als abweisend.

»Frau Scherer sieht das anders. Ihr Mann wäre nicht der Typ, der Selbstmord begeht, sagt sie. Zu ambitioniert, zu viele Pläne, die er durchziehen wollte.«

»Was glauben Sie, wie hier der typische Klient aussieht? Geld besitzen die alle, Ehrgeiz auch.« Sie drehte ständig den Ring am Mittelfinger ihrer linken Hand und warf mir nur einen kurzen Blick zu. »Scherer war okay. Er hatte eine freundliche Art, hat gleich was in unsere Kaffeekasse geschmissen. Keine der Kolleginnen dachte, dass er sich was antun könnte. Er war häufig abends im Ort noch mal unterwegs, er stammte ja aus Kronberg und kannte sich aus.« Sie griff nach einem Kaffeebecher, führte ihn in Richtung ihrer ziemlich roten Lippen. »Wollen Sie einen?«

»Gerne. Bitte mit Zucker und Milch, wenn es geht.«

Sie lächelte jetzt wieder. Ich hatte den Eindruck, dass sie froh war, aus dem engen Schwesternzimmer in die kleine Küche gegenüber verschwinden zu können.

Obwohl draußen die Sonne schien und hier drinnen die kreisrunde Neonröhre über dem Schreibtisch leuchtete, war es im Schwesternzimmer nicht hell. Der Baum vor dem vergitterten Fenster ließ keine Sonnenstrahlen herein und die Lampe war einfach zu schwach. Die Urlaubspostkarten an der Pinnwand aus Kork lagen in einem dämmrigen Licht. Spanien, Kroatien, Türkei. Die Strände ähnelten sich. Auf dem Tisch stapelten sich dicke Kladden. Ich beugte mich vor und versuchte etwas zu erkennen. Viele verschiedene Handschriften hatten darin Namen von Medikamenten hinterlassen, ich kannte das eine oder andere Schmerzmittel. Einige Zahlen, wahrscheinlich die Dosierung. Patientennamen gab es nicht. Ich musste nicht nach Scherer suchen.

Auffällig, dass die Schwestern keinen PC hatten. Das passte in diese Klinik mit der Anmutung eines altehrwürdigen Hotels. Der ganze moderne Kram blieb draußen. An der Wand rechts neben dem Schreibtisch standen graue Schränke, bei einem war die Tür geöffnet. Medikamentenpackungen in allen Größen und Farben füllten die Schubladen. Eine Packung von jedem Mittel war herausgezogen, kleine Zettel mit Notizen ragten hervor. Dahinter reihten sich die nächsten Schachteln derselben Arznei auf wie in einer Apotheke. Aus der Küche hörte ich nach dem Surren der Espressomaschine das Klimpern eines Löffels im Becher. Ihre Pumps machten auf dem Linoleumboden trotz der hohen Absätze kaum ein Geräusch. Schwester Angela hatte einen langen Kittel an, wie ihn sonst nur Ärzte trugen. »Bitte, ich hoffe, dass genug Zucker drin ist.«

Ich nahm einen ersten, zu heißen Schluck und nickte. Der alte Bürostuhl knarrte, als sie sich setzte. Diesmal blieb ihr Blick an mir haften.

»Jens Scherer verbrachte vier Tage in der Klinik«, sagte ich. »Warum, glauben Sie, sollte er sich nach so kurzer Zeit umbringen?«

»Er ist nicht zu uns gekommen, weil es ihm gut ging. Unser Haus ist oft der letzte Ausweg nach einer Reihe von Therapien. Und außerdem ...«

»Ja?« Es war ihr deutlich anzusehen, wie unangenehm das war, was sie nicht aussprechen mochte.

»Ich will nicht, dass wir in einem falschen Licht dastehen. Patienten können manchmal mit ihrem Leben nichts mehr anfangen. Das ist nicht unsere Schuld.« Sie hielt sich mit beiden Händen an ihrer Kaffeetasse fest. »Selbstmord ist schrecklich für alle. Niemand steckt das so einfach weg.«

»Es ist auch in Ihrem Interesse, dass ich den angeblichen Freitod widerlege.« Ein plumper Versuch, den ich da startete. Ich brauchte Informationen aus der Klinik.

»Kein Suizid, das bedeutet Mord. Schlimmer geht es nicht. Wer lässt sich dann hier noch behandeln?« Sie verzog das Gesicht, Falten legten sich auf ihre Stirn.

»Es muss nicht bei Ihnen passiert sein. Scherer ist lediglich auf Ihrer Station gestorben. Die Tat fand sonst wo statt.« Ich versuchte, ihr Mut zu machen.

»Klingt gut, wenn man da von gut reden kann. Aber Selbsttötung ist in einer Psychiatrie, egal ob privat oder öffentlich, nicht ungewöhnlich.«

»Wie oft geschieht das?« Das war ihr wunder Punkt.

Sie machte mit ihrem Kaffeebecher aus dem Handgelenk heraus leicht kreisende Bewegungen, während ihr Blick immer mehr im Kaffee zu versinken schien. »Es kommt vor. Manchmal nur einmal im Jahr.« Der Becher kreiste weiter.

»In letzter Zeit ist es öfter passiert. Jetzt zum dritten Mal in fünf Monaten.« Sie löste sich vom Becher, ihre Stimme war leise. »Davon zwei auf dieser Station.«

»Wieso bringen sich die Leute nicht zu Hause um? Oder irgendwo anders? Warum in der Klinik, wo man ihnen hilft?«

»Weil Dinge in der Therapie zum Vorschein kommen, die die Patienten so nicht erwarten. Für viele ist das ein Schock. Das Unterbewusste hält einige Überraschungen parat.«

»Und Sie haben hier die Mittel. Im Fall von Jens Scherer waren das verschiedene Beruhigungsmittel.«

»Das ist Quatsch!« Sie wurde lauter, klang entrüstet, aber auch Frust schwang mit. »Er war erst seit vier Tagen bei uns, zwei Tage bekam er diese Medikamente. Die Tabletten habe ich ihm einzeln, pünktlich zur Einnahme, zweimal am Tag gegeben.« Sie stellte ihren Kaffeebecher geräuschvoll auf den Schreibtisch.

»Schwester Angela, ich will Sie nicht mit dem Tod von Scherer in Verbindung bringen. Nur, er ist durch solche Pillen gestorben. Da darf man vermuten, dass die von hier stammen.« Ich zeigte auf die offenstehende Tür des Arzneischrankes. Sie holte sichtbar Luft, wollte gerade antworten, aber ein Klopfen ließ sie innehalten. Die Tür öffnete sich.

Braungebrannt, grauer Lockenkopf, eine edle, runde Hornbrille. »Schwester Angela, ich suche die Akte Neumeyer.«

»Ja, sie liegt im Schrank.« Die Krankenschwester zog die Schublade eines Rollcontainers auf, suchte kurz und reichte dem Arzt die gewünschte Aktenmappe. Erst jetzt bemerkte er mich.

»Wir kennen uns noch nicht. Dr. Hartung, ich bin der Chefarzt. Seit wann sind Sie bei uns?« Er streckte seine gepflegte Hand nach mir aus. Die hellgrauen Augen sahen mich freundlich an.

»Angenehm, Roland Bernau.« Um mit dieser eindrucksvollen Erscheinung auf Augenhöhe zu reden, stand ich vom alten Holzstuhl auf. Sein Händedruck fiel erstaunlich weich aus. Von einem Mann, fast so groß wie ich, hatte ich mehr Druck erwartet.

»Ich dachte für einen Moment, dass Sie Patient sind, Herr Bernau. Charlotte Scherer hatte Sie bereits avisiert.« Sein Blick glitt an meinem Körper hinab, bis er an meinen Schuhen zum Stillstand kam. »Es tut uns wirklich außerordentlich leid, was mit Jens Scherer passiert ist. Wir sind äußerst bestürzt.« Er setzte sich auf eine Ecke des Schreibtisches, nickte der Schwester kurz zu und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich Platz nehmen durfte. Bei dieser typischen Geste eines Arztes fühlte ich mich wie ein Schuljunge.   Ich   folgte   der   Aufforderung   der Autorität.

Freundlich und unangenehm, das war mein Eindruck von diesem Chefarzt.

»Dieses schreckliche Unglück, so plötzlich, damit konnte niemand rechnen.« Er machte ein ausdrucksvolles Gesicht, schob leicht die Unterlippe nach oben und ließ ein paar Sorgenfalten auf der Stirn erscheinen. »Er war gerade hier angekommen, hatte erst mit der Therapie begonnen. Nichts Dramatisches, es ging zuerst einmal um Entspannung. Wir mussten ihn von seiner Überlastung bei der Arbeit befreien.« Eine ausladende Geste mit beiden Armen unterstrich seine Bemühungen. »Es sah nicht kompliziert aus. In unserem Haus gibt es ständig Fälle, die deutlich schwerere Symptome zeigen. Scherer schien kein besonders problematischer Patient zu sein, eher ein Mann, der sich regenerieren wollte.«

Mein Stuhl wurde jetzt langsam, aber sicher härter. Wenn man versuchte, mich zu beschwichtigen, kroch eine Unruhe in mir hoch. »Wie konnte es dann so weit kommen? Warum ahnte das niemand?«

Er wich meinem Blick aus. »Sehen Sie, es muss eine starke Veränderung innerhalb kürzester Zeit gegeben haben, die ihn innerlich zum Einsturz brachte.« Er sah Schwester Angela an, die unbewegt am Tisch saß, seit Hartung bei uns war. »Wir wissen nicht, was das ausgelöst hat.« Seine Hände machten eine entschuldigende Bewegung; offene Handflächen, die nach oben zeigten.

So leicht kam er mir nicht davon. Zu glatte Worte, sein Bedauern hielt sich in Grenzen. »Scherers Medikamente waren rezeptpflichtig. Er konnte nicht in die Apotheke spazieren und sich schnell mal eine Packung kaufen. In der Klinik liegen die haufenweise. Da liegt es doch nah, dass die Pillen aus Ihrem Hause stammen.«

»Auf gar keinen Fall. Die Kolleginnen registrieren jede einzelne Tablette bei der Ausgabe. Die Patienten bekommen nur, was sie im jeweiligen Moment brauchen. Nicht eine mehr!« Hartung verlor deutlich an innerer Ruhe. Seine Hände verschwanden in den Taschen seines perfekt gebügelten Chefarztkittels.

»Er konnte eine ganze Schachtel mitgehen lassen.«

»Wir schließen das Zimmer ab, wenn wir rausgehen. Kein Patient bleibt alleine hier drin«, sagte Schwester Angela, die sich wieder traute, etwas zu sagen. Der Chef warf ihr einen dankbaren Blick zu.

Polizeidirektion


Ich öffnete die Autotür, ein Schwall heißer Luft strömte mir entgegen. Der Schatten unter den alten Kastanien vor der Klinik nützte im Juli nicht viel. Mein antikes Siemens­Handy, das im Wagen lag, zeigte mir den vergeblichen Versuch von Susanne, mich zu erreichen. Susanne Söllner hatte ich mit der Detektei geerbt. Sie war weniger eine Assistentin im Büro, mehr eine Managerin.

»Roland hier, wo brennt’s?«

»Ich möchte dich an deinen Termin mit Herrn Barthel erinnern. Vierzehn Uhr in Höchst, Tor Ost.« Susanne, die auf keinen Fall Susi genannt werden wollte, war sparsam mit Worten. Für eine Frau erschien mir das eher untypisch.

»Würdest du ihn bitte anrufen und ihm sagen, dass ich einen Tick später komme? Maximal zwanzig Minuten. Ich muss erst bei Schmitz vorbeischauen.«

»Okay. Bis dann.« Kürzer gingen Gespräche wirklich nicht mehr.

Für unnatürliche Todesfälle in Königstein war die Polizeidirektion Bad Homburg zuständig. Ich hatte einen Termin mit Ralf Schmitz. Seit einigen Jahren leitete er das Kommissariat 10, Kapitaldelikte, landläufig Mordkommission genannt. Früher saßen wir beide im alten Frankfurter Polizeipräsidium und hatten den Kriminaldauerdienst an der Backe. Das Präsidium lag in der Nähe des Hauptbahnhofs, Langeweile existierte nicht. Der Dienst im 4. Revier war allerdings noch unbeliebter. Mitten im Bahnhofsviertel. Fast alle neuen Beamten dort stellten einen Versetzungsantrag, manche an ihrem ersten Arbeitstag.

Ich ließ meinen Wagen aus dem gefürchteten Königsteiner Kreisel Richtung Bad Homburg rollen. Mittags gab es hier zum Glück selten Stau. Der Ausblick über den Opelzoo freute mich jedes Mal. Unten die Elefanten, links die Kronberger Altstadt mit der Burg, im Hintergrund die Frankfurter Skyline. New York für Arme, aber schön.

Die Polizeidirektion lag an der Bundesstraße, die in den Hochtaunus führte. Ich hielt auf dem Besucherparkplatz. Zwei Beamte der KTU schoben einen Totalschaden aus der Untersuchungshalle.

Der Wachtmeister am Eingang saß hinter Panzerglas. Er kannte mich, nickte mir zu und drückte den Summer.

Ein kaum künstlich herzustellender Duft zog in meine Nase. Es roch nach Siebzigerjahre, vermischt mit den Ausdünstungen der Ausnüchterungszellen im Keller und denen der Aktenberge. Die Fahndungsaufrufe an den Wänden zeigten mal mehr, mal weniger präzise die Gesichter. Fotos von Bankräubern neben Phantomzeichnungen von Männern, die ihr Unwesen im Kurpark trieben. Ein Handtaschenraub, eine versuchte Vergewaltigung, ein Mord. Das vergällte den Kurgästen den Spaß zwischen dem Spielkasino und den Restaurants an der Kaiser­Friedrich­Promenade gewaltig. Zumindest die Lautstärke aus Schmitz’ Büro sowie einzelne Wortfetzen ließen darauf schließen. Ich klopfte sicherheitshalber an.

»Ja.« Viel mürrischer konnte man das nicht betonen. Ich steckte nur den Kopf durch die Tür, um nicht aufdringlich zu wirken. Womöglich hätte ich sonst als Blitzableiter für den nächsten Einschlag gedient. Ralfs Wutausbrüche sollen in letzter Zeit häufiger und heftig sein. Mit der Beförderung war die Frustschwelle deutlich gesunken.

»Ach, Roland, komm rein. Das läuft mal wieder ganz prima. Der Bürgermeister macht Druck beim Direktor, die Zeugen widersprechen sich allesamt. Die halbe Mannschaft hat Urlaub oder feiert Überstunden ab. Besser geht’s nicht.«

»Also alles wie immer.«

»Du sagst es. Setz dich. Hier ist der Bericht zu deiner Leiche.« Er warf einen dünnen Schnellhefter auf die Ecke seines Schreibtisches, vor der ein Stuhl mit rotem Kunstlederbezug wartete. Ich rückte näher an den Tisch und begann zu blättern.

»Viel wirst du an diesem Fall nicht verdienen. Der Obduktionsbericht ist eindeutig. Überdosis von diesem Zeug, Todeszeitpunkt gegen halb neun abends.« Die Wirkstoffe standen fettgedruckt im Protokoll des gerichtsmedizinischen Instituts: Calciumphosphat, Magnesiumstearat, Eisenoxid, Methylphenidat. Letzteres in letaler Dosis. Darunter eine Liste der Medikamente, die diese Substanzen enthielten.

»Das sind in der Psychiatrie zwar gängige Mittel«, sagte ich, »aber ohne Rezept ist Scherer da nicht drangekommen. Die Klinik hat angeblich alle Tabletten bestens verschlossen.«

Ich schaute Schmitz von meinem niedrigen Stuhl aus an, während er in seinem Chefsessel hin und her drehte. Die Jahre im Polizeidienst hatten sich in sein Gesicht gegraben. Augen und Haut strahlten eine ungesunde Röte aus, zahlreiche Furchen zogen ihre Bahnen. Seine Gesichtszüge wirkten auf mich deprimiert. Von der ehemals kölschen Frohnatur spürte ich nichts mehr.

»Mag ja sein«, sagte er. »Heutzutage ist es doch kein Problem, Pillen unter der Hand zu bekommen. Ich sage nur Internetbestellung. Ob Doping oder Potenzmittelchen, kein Thema, die Post liefert es, wohin du willst.«

»Okay. Scherer war aber alles andere als depressiv, wenn ich seiner Frau und seinem Chef glaube. Es gibt keinen Abschiedsbrief. Ein Abgang ohne besonderen Anlass, das erscheint mir unwahrscheinlich.«

Schmitz blieb hartleibig. »Selbstmord mit Beruhigungsmittel in der Psychiatrie. Die Zahl der Mordermittlungen in Deutschland würde sprunghaft ansteigen, wenn wir jeden einzelnen Fall aus den Kliniken haarklein untersuchen. Wer bringt denn jemanden um, der schon in der Klapse ist?«

So leicht wollte ich mich nicht geschlagen geben. »Habt ihr überhaupt ermittelt, außerhalb des Labors?«

»Es gab keinerlei Spuren von Gewalt. Trotzdem sind wir in seine Bank gegangen. Hat nicht viel gebracht, du kennst ja die Brüder. Schlechte PR löst da keine Begeisterung aus. Alle nur voll des Lobes, aber niemand weint ihm eine Träne nach. Nicht mal seine Sekretärin. Er war zu stramm auf Karriere getrimmt. Die wollen zwar Macher, etwas Gefühl darf wohl aber auch dabei sein.«

»Bringt sich jemand um, der als kalt gilt?«

»Soll es schon gegeben haben. Seine Frau kommt übrigens nicht infrage, erstens hat sie ein Alibi - sie war auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung, zusammen mit einem Herrn Dörnberg. Und zweitens, du weißt ja, warum du ermittelst. Sie braucht einen Täter, um das Geld der Versicherung zu kassieren.« Ralfs Lust zu ermitteln tendierte gegen null. Kein Wunder, dass wir uns im Kreise drehten.

»Wie geht es bei euch weiter?«, wollte ich von ihm wissen.

»Gar nicht. Wenn das Labor diese Pillen in ihm gefunden hat, klappt für uns der Deckel zu. Die Leiche ist seit gestern Abend freigegeben.« Ralf zog mit einem schiefen Lächeln eine Augenbraue hoch.

»Wie läuft dein Laden sonst so?«

»Du weißt doch, man sucht immer Gründe, um zu jammern. Es läuft zurzeit recht rund. Vielleicht gehen viele Opfer lieber gleich zu uns. Ihr macht aus ihren Problemen einen Aktendeckel. Wenn überhaupt.«

»Komm, hau ab. Sonst gibt es eine Verwarnung wegen groben Unfugs.« Ralf grinste und drohte, mit eben jenem Aktendeckel nach mir zu werfen. Ich verabschiedete mich von ihm und war froh, dass ich diesen Raum verlassen durfte. Ralf war ja ganz nett. Chef zu sein, bekam ihm nicht.

Es klang zwar logisch, was er sagte, doch dass es ein amtlich bestätigter Selbstmord sein sollte, ging mir zu schnell. Keine entsprechende Krankengeschichte, flotter Lebenswandel, wie Dörnberg meinte, jede Menge Kohle. Jens Scherer hatte es geschafft: Eine intelligente Frau, schön, Tochter eines einflussreichen Politikers. Was ich am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Scherer war auf der Karriereleiter zügig vorangekommen, bis zum leitenden Revisor einer großen deutschen Bank. Seine Karriere war noch lange nicht beendet gewesen. Bringt sich so jemand um?

Auf dem Parkplatz neben der Direktion griff ein Abschleppwagen den Totalschaden aus der KTU. Krachend fiel der Schrotthaufen auf die Ladefläche. Ich konnte die Marke des Autos nicht mehr erkennen. Für die Insassen tödlich.

Beeindruckt von so viel zerfetztem Blech fuhr ich langsamer als sonst zu meinem Termin nach Höchst. Sicherheit kann trügerisch sein, selbst in einem schwedischen Wagen.

Kelkheim


Eine Stunde hatte ich mich mit Herrn Barthel unterhalten. Er war stellvertretender Betriebsratsvorsitzender. Barthel wollte sich darüber informieren, ob ich ihm bei der Lösung eines innerbetrieblichen Problems helfen könnte. Das versprach lukrativ zu werden. Nach dem Fall Scherer sicher interessant.

Vom Werksgelände in Höchst war ich in zehn Minuten in meinem Büro. Dass ich jemals meinen Schreibtisch und meine Wohnung in einem betulichen Städtchen wie Kelkheim haben würde, hätte ich früher nicht geglaubt. In der Mitte von Frankfurt und Wiesbaden. Im Rhein­Main­Gebiet lebten über zwei Millionen Menschen. Der Speckgürtel lieferte bei wenig Konkurrenz die beste Kundschaft. Und zwischen Hofheim und Bad Homburg war der Speck besonders dick.

Ich fuhr in die Tiefgarage unter der Stadtmitte. Das Klappern der Plastikflaschen im Kofferraum erinnerte mich an den dringend nötigen Einkauf. Ich nahm den Aufzug, auch wenn ich mir immer wieder sagte, Laufen wäre gesünder. Noch verteilten sich meine einhundertfünf Kilo relativ ordentlich auf 1,94 Meter. Siebzig Stufen belehrten mich meistens eines Besseren.


Susanne kam aus unserer kleinen Kaffeeküche.

»Kuchen?« Sie hielt mir ihre Riesenportion frischen Apfelkuchen vor die Nase. Sie wusste genau, dass ich mich am Nachmittag mit dem Essen beherrschen konnte. Allzu gern gönnte sie sich den Spaß, meinen inneren Schweinehund mit den schönsten Leckerlis zu locken.

»Nein, danke, wirklich lieb von dir.«

»Wie du willst. Im Kühlschrank warten übrigens noch drei Stückchen. Nur, wenn du später was brauchst.« Mit dem Teller in der Hand kippte sie im Sessel in eine bedrohlich schräge Position. Der ehemalige Chefsessel war meinen Rückenschmerzen nicht förderlich. Auf ihrem aufgeräumten Schreibtisch wartete ein Latte macchiato. Er sah nach einem Doppelten aus. Falls es das gab. Mit großem Appetit verputzte sie die Kalorien, die natürlich keinerlei Spuren an ihrer Figur hinterließen. Beneidenswert. Mein Heißhunger kam ab neun Uhr abends. Da schmeckte es am besten, mit sichtbaren Konsequenzen.

»Deine alte Freundin hat angerufen«, sagte sie und schob die überladene Gabel über ihre dezent geschminkten Lippen.

»Wen meinst du?«

»Na, Frau von und zu Scherer. Sie lässt dir ausrichten, dass morgen Nachmittag in Kronberg die Beerdigung ist.«

»Das ging jetzt schnell.«

»Vielleicht möchte sie noch in den Urlaub fahren, bevor das schöne Augustwetter rum ist.« Susanne hatte eine ziemlich schnippische Art. Das entsprach eigentlich gar nicht ihrem spröden, ostwestfälischen Charme. Solange ich nicht das Opfer ihres Spotts war, hatte ich meinen Spaß daran. Wenn Klienten im Büro auftauchten, erschien sie so seriös, dass ich Respekt bekam. Ihre Wandlungsfähigkeit war erstaunlich. Normalerweise trug sie lässige Kleidung. Jeans, Pulli, selten eine Bluse, eher ein T­Shirt. Das passte alles gut zu ihren langen, dunkelblonden Haaren. Hatten Kunden sich angekündigt, half ein kurzer Griff in den kleinen Kleiderschrank neben den Aktenregalen. Nach fünf Minuten stand sie in dunklem Blazer, frisch geschminkt, mit Hochsteckfrisur vor ihrem Schreibtisch, um die potenziellen Auftraggeber zu empfangen.

»Da kommen jede Menge feiner Leute, von denen du was wissen möchtest. Also schwarzer Anzug statt alter Jeans«, sagte sie.

»Der wartet noch in der Reinigung.« Kaum hatte ich es ausgesprochen, hielt sie mir den Zettel entgegen, den sie ganz ordnungsliebend in der obersten Schublade ihres Rollcontainers aufbewahrt hatte.

Bevor ich zur Schnellreinigung an der Ecke ging, wollte ich mir im Internet die genaue Wirkung der Tabletten anschauen, die man in Scherer gefunden hatte. Der PC brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis er endlich hochgefahren war. Zeit, um die Tastatur von dem Papier zu befreien, das den Rest meines viel zu kleinen Schreibtisches erobert hatte. Susanne war froh, dass es kein gemeinsames Büro gab. Sie mochte dieses Elend nicht dauernd sehen.

Auf Wikipedia fand ich eine Beschreibung des Wirkstoffes, den Scherer angeblich freiwillig genommen hatte. Methylphenidat, ein Arzneistoff mit stimulierenden Folgen. Zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms, kurz ADS. Bei Kindern und Jugendlichen ab sechs Jahren eingesetzt. War im Betäubungsmittelgesetz aufgelistet, gehörte zu den amphetaminähnlichen Substanzen. Die Ärzte verordneten es auch zur Verstärkung von Antidepressiva. Bei starker Überdosierung konnte es zu Krämpfen, Delirium und zum Koma führen. Schließlich Herzstillstand. Alles nicht ohne, was Patienten verabreicht wurde. Apotheker sagten gerne: keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Je nachdem, wie dringend jemand ein Mittel brauchte, nahm er die unerwünschten Begleiterscheinungen in Kauf. Manch einer schreckte von vornherein vor der Einnahme zurück. Bei meiner Oma äußerte sich das in einer von Pillen prall gefüllten  Handtasche.  Das  merkte  mein  tieftrauriger Großvater erst nach ihrem Tod. Wäre es anders gekommen, hätte sie all diese Tabletten genommen? Kein Mensch wusste das. Mein Opa machte sich schreckliche Vorwürfe, nicht besser auf sie geachtet zu haben.

Jetzt war es an mir herauszufinden, wie sich Scherer die Medikamente beschafft hatte. Das wiederum hieße, ich würde der Selbstmordtheorie folgen, was nicht meinem Auftrag entsprach. Der Fall versprach, noch einigermaßen verzwickt zu werden.

Trauer

Wie konnte es anders sein, bei Beerdigungen regnete es immer. Wenn ich dabei war, kannte Petrus kein Erbarmen. Er verlangte einen Regenschirm. Vor Trauerfeiern legte ich den prinzipiell in meinen Kofferraum.

Der Friedhof in Kronberg lag unterhalb der Altstadt. Die Trauergäste mussten durch die engen Gassen fahren. Mein nicht mehr taufrisches Auto ächzte auf dem groben Kopfsteinpflaster. Die Kurven wurden stetig enger, es gelang mir nur mit Mühe, an keinem der Fachwerkhäuschen anzuecken. Der Talweg zog sich lang hin, bis an die Streuobstwiesen am Ortsrand. Diesem Tal verdankte der Gottesacker seinen Namen, nicht dem hier liegenden Geldadel: Thalerfeld. Jede Menge dunkler Karossen fuhren vor mir her, passend für den Anlass. Die geländefähigen SUV strahlten weniger Pietät, eher die übliche Protzigkeit aus. Ich stellte den Wagen in der äußersten Ecke des Parkplatzes ab.

Eine breite Treppe führte auf eine Anhöhe. Vor mir gingen in einer Reihe junge Männer, die nach Bank aussahen. Gut fünfzig Stufen. Ich musste meinem Hals mehr Platz verschaffen. Einen Schlips hatte ich seit ewiger Zeit nicht getragen. Eine ältere Dame überholte mich und schaute dabei auf meine Finger, wie sie den Krawattenknoten lockerten. Der Weg lag unter Platanen, ihre Blätter gaben kaum etwas vom wolkenverhangenen Himmel preis. Sie schützten vor den ersten Regentropfen.

Die Kapelle sah nach Achtzigerjahre aus. Raue Natursteine wechselten mit glatten Betonflächen. Der Turm stieg zu einem steilen Dreieck an, auf einer Seite von Efeu überwuchert. Die meisten Trauergäste betraten zu zweit den großen Andachtsraum. Fast alle Bankreihen waren besetzt. Ganz hinten saß noch niemand, hier drückte ich mich hinein.

Zwischen all den Köpfen erkannte ich Charlotte. Sie lehnte sich an ihren Vater. Neben vielen Kollegen kamen Leute, die ich für Nachbarn der Scherers oder Bekannte der Eltern hielt. Aus den vorderen Reihen konnte ich leises Schluchzen hören. Die Orgel begann, traurige Töne zu spielen. Aus einem Seitenraum erschien der Pfarrer. Die Trauerzeremonie dauerte eine halbe Stunde. Im Turm begann eine Glocke zu schlagen, mit dem hohen Klang der Totenklage. Sechs Männer in grauer Uniform trugen den Sarg würdevoll aus der Kirche. Gut, dass ich in der hintersten Bank saß. Die ganze Trauergemeinde ging an mir vorbei.

Charlotte hakte sich links bei ihrer Mutter, rechts bei ihrem Vater unter. Eine große, dunkle Sonnenbrille verbarg ihre Augen. Ihr langes Haar fiel ins blasse Gesicht. Die Eltern von Jens Scherer folgten ihnen. Seine Mutter schaffte es nicht, ihre Tränen zu trocknen. Es war ihr Schluchzen, das ich vorhin über die Reihen hinweg gehört hatte. Der Vater hielt sich an ihr fest. Einen Arm um ihre Schultern, seine Hand umfasste ihre. Danach weitere Familienmitglieder. Mit Abstand kam Dörnberg, umgeben von jüngeren Kollegen, alle korrekt im schwarzen Anzug. Ich bewegte mich jetzt aus meiner Bank. Mit einer Gruppe, die ich als Nachbarn oder Freunde aus dem Tennis­ und Golfclub einordnete, verließ ich die Kirche. Es begann, heftig zu regnen.

Die Kronberger Burg lag auf der Spitze des gegenüberliegenden Hügels in einem letzten Sonnenstrahl. Dieser Blick auf die Burg und die sich anschmiegende Altstadt war der schönste, den ich bislang auf Kronberg hatte.

Die Sargträger erreichten das Grab. Ich zog mich zurück, um mir die Situation mit mehr Abstand anzusehen. Einige Leute hatten sich vom Trauerzug entfernt. Sie standen an den Grabreihen, die seitlich lagen. Ältere Herrschaften, die nicht zum inneren Kreis der Familie gehörten. Eine einzelne Dame mit ihrem Pudel. Sie war vorher nicht in der Kapelle gewesen. Ein Ehepaar, das keine dunkle Kleidung trug. Nicht dazu passen wollte ein Mann, halb verdeckt hinter einer Platane. Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig. Schwarzer Anzug, kurze, braune Haare, sportliche Figur. Er rang mit seiner Fassung.

Mit meinem Regenschirm kam ich näher, grüßte und nahm ihn unter den Schirm. Ich versuchte es mal. »Schlimm. So jung noch. Was aus dem alles hätte werden können.«

Er fing an zu weinen, zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich das Gesicht trocken. »Ja, bestimmt.«

»Sie waren Kollegen?«

Er nickte, sah mich jetzt direkter an, wollte einschätzen, mit wem er es zu tun hatte.

»Ja. Und gute Freunde. Wie standen Sie zu Jens?«

»Charlotte hat mich gebeten, ihr zu helfen. Sie versteht es nicht. Ich versuche, die Umstände seines Todes zu klären. Bernau mein Name, Roland Bernau.« Ich streckte ihm meine Hand hin.

»Philipp Gerich.« Sein Händedruck war weich, nicht so übertrieben fest, wie Männer gerne zudrückten. »Ich kenne seine Frau nicht näher. Jens hat sie mir nie vorgestellt. Sie leidet jetzt sicher schlimme Qualen.«

»Sie schafft es nicht, zu begreifen, wie das passieren konnte.«

»Das ist vollkommen verständlich«, sagte er. »Jens und Selbstmord, das kann ich mir nicht vorstellen.«

Vom Grab drangen einige Worte des Pfarrers herüber. Er ließ Erde auf den Sarg fallen, legte die kleine Schaufel ab und reichte Charlotte beide Hände. Gerich drehte den Kopf zur Seite, atmete schwer.

»Kannten Sie ihn so gut, dass Sie das ausschließen können?«, fragte ich.

»Er hatte Ziele. Das wussten alle. Manche Kollegen hielten ihn für kalt. Das war nur die halbe Wahrheit.« Das Reden fiel Gerich jetzt leichter, seine Stimme wurde fester. »Er konnte äußerst nett und höflich sein. Nur bei der Arbeit, da war er manchmal das Gegenteil.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Er setzte sich über die Gefühle anderer hinweg. Wenn er seinen Vorteil sah, gab es für ihn keinen Zweifel mehr, ob er sich für einen Menschen oder für seinen eigenen Nutzen entschied.«

»Dieser Egoismus hat auch Sie getroffen?«

Ich bekam einen kurzen Blick von ihm zugeworfen.

»Einmal.«

Er senkte den Kopf, machte ein paar Schritte vorwärts, drehte sich zu mir um. »Ich beneide Sie nicht darum, der Witwe zur Seite zu stehen. Machen Sie es gut.« Er ging Richtung Friedhofspforte.

Die Trauergesellschaft löste sich allmählich auf. Die Familie blieb noch am Grab, nahm die letzten Trauerbezeugungen entgegen. Dörnberg kam an mir vorbei, winkte mir, mitzukommen.

»Was halten Sie von Gerich?«, fragt er.

»Er ist ein offener, gefühlsbetonter Mensch.«

»Stimmt absolut. Er macht aus dem, was er denkt, kein Geheimnis.«

»Sind Ihre Kollegen alle so aufgeschlossen? Vielleicht ein Ausgleich zum strengen Bankgeheimnis?«

»Kommen Sie am Montag in die Bank, finden Sie es selber raus. Ich stelle Ihnen die Mitarbeiter von Scherer gerne vor.« Dörnbergs Blick sollte wohl ironisch wirken. Das passte nicht zum Friedhof.


Ich fuhr nach Kelkheim, erledigte den dringend notwendigen Einkauf. Der Inhalt meines Kühlschranks sackte ständig viel zu schnell auf ein unannehmbares Niveau ab.

Mails checken. Eine Nachricht von Susanne. Sie hatte einen Termin in der Frankfurter Pathologie für mich vereinbart. Ich wollte selbst mit dem Rechtsmediziner sprechen, und mich nicht auf die spärliche Polizeiakte verlassen.

Außer dem Spam, der mir die Vergrößerung bestimmter Körperteile anbot, lag nichts in der Mailbox.