Vorwort



8 spiralförmig um eine Säule sich windende, mit Buntglas zum Betrachter hin verschlossene und von innen beleuchtete Holzschaukästchen sind das augenfälligste Element einer über Jahre hinweg entstanden Installation im restaurierten und zum Gastraum der Kulturkneipe roccafé umgestalteten Maschinenraum einer alten Fabrik im Ortskern der nur wenige Kilometer nördlich von Freiburg im Breisgau gelegen Gemeinde Denzlingen.

Die Gläser der Holzschaukästchen zeigen lodernde Flammenzungen. Wer die Säule umrundet und mit Blicken die Schaukästchen vom Sockel Richtung Kapitell abwandert, kann erkennen, dass ihre Flammenzungen jeweils einen Buchstaben formen. Als wären es auch Münder schreien sie gemeinsam den Namen G i o r d a n o. Gemeint ist Giordano Bruno, Philosoph der Renaissance, unstrittig einer der Könige des freien Denkens und das nicht nur, weil er für seine Lehren den Flammentod sterben musste. Die Giordano Bruno-Säule will an ihn und mit ihm an die vielen Freidenker und Freidenkerinnen vor und nach ihm erinnern.

Der nachfolgenden Text ist der Versuch, den vielen Nachfragen zur Giordano Bruno-Säule, zum Leben und Wirken ihres Namengebers und auch zur Bedeutung des Bruno-Zitates1

, das die Säule dem Betrachter achtfach präsentiert, mit einer verständlichen Einführung in sein Denken zu antworten und zu zeigen, wohin Bruno von den freien Schwingen seines Denkens getragen wurde: einerseits zu einem für die damalige Zeit revolutionären und noch heute von der Kirche bekämpften Gottes- bzw. Naturverständnis und andererseits zu einem Menschenbild, das sehr modern ist, nicht nur weil es zeigt, wie man sich das Eingebettet-Sein des Menschen in Brunos Gottes- bzw. Naturverständnis vorzustellen hat, sondern weil es auch nach dem Selbstverständnis fragt, das sich aus diesem Eingebettet-Sein heraus entwickelt, also danach fragt, wie es für den Menschen ist, wie es sich anfühlt, Teil des Ganzen von Gott und Natur zu sein. Bruno wird deutlich machen: Im Vollzug menschlicher Existenz transformiert sich die unbewusste Dynamik seines kosmo-ontologischen Gottes- und Naturverständnisses zur erlebten Dynamik konkret gelebten Lebens. Der Mensch hat keine Wahl, er muss die kosmo-ontologischen Verhältnisse, in die er ganz und gar hineingehört und deren bewusstseinsfähiger Spiegel er ist, in leidenschaftlich brennender Vergeblichkeit durchleben.

Brunos Philosophie von Gott und Natur übergipfelt vormalige Gottes- und Naturphilosophien, ist ihnen aber in Anwendung der überkommenen aristotelisch-scholastischen Methodik verpflichtet. Gleichzeitig aber schlägt sein Denken eine moderne Richtung ein und eröffnet den Denkraum, mit dem und in dem philosophische Anthropologie und Existenzphilosophie entstehen konnten.2

Bruno gelingt es zu beschreiben, wie sich die Strukturen der einzigen und alles umfassenden Wirklichkeit im menschlichen Leben „verexistenzialisieren“, d.h. zu etwas werden, was uns nicht egal sein kann, weil es Leid und Freud unseres Lebens ausmacht.

Die vorliegende Einführung lässt vieles beiseite, was sich zu Brunos Denken noch sagen ließe, konzentriert sich auf die Darstellung zentraler Positionen seiner Naturphilosophie und Anthropologie und auf den Aufweis ihrer Modernität. Die erste Absicht setzt voraus, dass aufgezeigt wird, vor welchem wissenschafts- und methodengeschichtlichen Hintergrund Brunos eigene Philosophie entstehen und Kontur annehmen konnte, die zweite Absicht verlangt Ausblicke auf neuere philosophische, psychologische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Biographische Episoden, Anmerkungen zum Inquisitionsprozess, der gegen Bruno geführt wurde, und ausführlichere Einlassungen zur Rezeptionsgeschichte werden den naturphilosophischen und anthropologischen Themenschwerpunkten an die Seite gestellt und komplettieren diese Einführung. Sie wurde verfasst, um die Kühnheit seiner Philosophie und die Faszination, die noch heute von seinem Denken ausgeht, auch für Nicht-Philosophen greifbar werden zu lassen.

1. Wiedergeburt der Philosophie im Denken Giordano Brunos



Was meinen wir, wenn wir vom Menschen in der Epoche sprechen, vom griechischen Menschen oder vom Menschen der Neuzeit? Wir anerkennen, dass es kulturellen Wandel gibt und dass dieser sich im Denken und Wirken der Menschen auf lebendige und individuelle Weise spiegelt. Giordano Bruno war ein Mensch der Renaissance. Als „lebendiger Spiegel“ dieser bewegten Zeit wurde er zerbrochen, am 17. Februar 1600 auf dem Platz der Blumen (Campo de` Fiori), in Rom. Ob er auch gebrochen war, als er nackt, wie es heißt, und auf der Grundlage einer Verurteilung als Ketzer durch das Heilige Offizium „an einen Pfahl gebunden und bei lebendigem Leib verbrannt wurde“3, lässt sich wohl nicht mehr in Erfahrung bringen.

Nun sind alle Menschen Kinder und damit lebendige Spiegel ihrer Zeit. Manche aber gibt es, auf die zeigt man noch nach Jahrzehnten und Jahrhunderten, weil sie sichtbar geblieben sind durch ihre Werke und Taten und weil das, was noch heute von ihrem Schaffen kündet, den Anschein vermittelt, als hätten sie das Charakteristische ihrer Zeit nahezu idealtypisch verkörpert, weil ihr Leben und Wirken die typischen Konflikte ihrer Zeit besonders deutlich hervortreten ließen, weil sie vor den großen Herausforderungen ihrer Zeit bravourös bestanden oder tragisch daran scheiterten. In der Rückschau werden sie so zu Vorzeigefällen, zu Exempla, zu Fall- und Lehrbeispielen für das Besondere ihrer Zeit, sei es im Guten wie im Schlechten, im Hohen wie im Gemeinen, in Siegen oder in Niederlagen. Bruno ist ein solches Exemplum. Das erschließt sich aus den Quellen, die uns vorliegen, etwa aus den Akten und Berichten zu den Inquisitionsprozessen, die in Venedig und Rom gegen ihn geführt wurden, aber auch aus seinen Schriften, die neben seinen wissenschaftlich-philosophischen Lehren vielzählige Hinweise enthalten auf die Lebensumstände, denen er sich stellen musste. So tritt uns aus den Quellen ein Gelehrter entgegen, der eine der wichtigsten Kennzeichnungen des Renaissancezeitalters auf eigenwillige, individuelle Weise durchlebte, durchlitt und mit seinem Denken exemplarisch vorführte: Die Befreiung der Philosophie aus einer jahrhundertelang währenden Indienstnahme durch die Theologie.



1.1. Die Schlacht um die Gedankenfreiheit auf dem „Kampfplatz“ der Metaphysik


Mit und als Philosophie hat abendländische Wissenschaft begonnen. Wissenschaft meint hier nicht schon moderne Naturwissenschaft, Wissenschaft ist viel älter und umfassender. Wissenschaft lässt nur eine bestimmte Art von Aussagen als wissenschaftliches Wissen, als wissenschaftlich wahre Aussagen über die Wirklichkeit und ihre Teilbereiche gelten, nämlich solche, die nicht mehr in esoterischen Zirkeln und mit Hilfe des „mystisch-magischen“4 Erkenntnisweges gewonnen wurden, sondern öffentlich und unter Einsatz der Vernunft. Wissenschaftliches Wissen liegt nicht mehr bildhaft erzählerisch vor, sondern streng begrifflich, es liegt auch nicht mehr zusammenhangslos nebeneinander, sondern Wissenschaft versucht die Aussagen, die sie für wahr hält, aufeinander zu beziehen und zu einem Systemganzen zu verknüpfen.

Das Menschheitsprojekt Wissenschaft konnte starten, als Philosophie begann, als der Zweifel an den mythischen Welt- bzw. Wirklichkeitserklärungen wuchs, als mit dem Zweifel zugleich das Ideal der Wahrheit, bzw. der Wahrheitssuche erwachte und als man sich einig wurde, dass die menschliche Vernunft, das also, was die Griechen den „logos“ nannten, zum Einsatz kommen müsse, um mit der Wahrheitssuche ans Ziel kommen zu können. Erkenntnis, wenn sie Wahrheit beanspruchen wollte, durfte nicht länger naiv den Göttergeschichten der Priester, Magier und Wahrsager entnommen werden, sondern musste begründet werden, mithilfe von Argumenten und Schlussfolgerungen und idealerweise auch in der Auseinandersetzung mit den Aussagen und Argumenten anderer Wahrheitssucher. Philosophie bzw. die philosophische Wissenschaft ist Vernunftwissenschaft, sie hat „den Anspruch, dass alle ihre Aussagen vernünftig sind, dass also jedes Vernunftvermögen (jeder Mensch) einsehen müsste, dass und warum diese Aussagen Stringenz beanspruchen“.5

Nun gibt es eine Besonderheit mit der menschlichen Vernunft, eine Problematik, so könnte man auch sagen, auf die Kant hingewiesen hat: Sie hat nämlich „das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“6. Wir können diesen plagenden Fragen nicht ausweichen, doch eine Chance, sie objektiv gültig zu beantworten, gibt es auch nicht. Dennoch wäre es falsch und zudem unmenschlich, sie nicht zu stellen. Die Fragen, von denen Kant spricht und die – wie er sagt – zu „endlosen Streitigkeiten“ unter den Menschen führen, sind metaphysische Fragen.

Metaphysik ist Philosophie der „letzte Fragen“, sie ist, wie es in einem philosophischen Wörterbuch heißt, „die philosophische Grundwissenschaft, in der alle philosophischen Disziplinen wurzeln.“7 Wenn hier vom „Grund“ und vom „Wurzeln“ die Rede ist, dann ist das nicht nur historisch gemeint, weil schon die platonische und die aristotelische Philosophie in weiten Teilen Metaphysik war, sondern es meint auch, dass Metaphysik mit ihren Fragen in Bereiche vorzudringen versucht, von woher sich alles Erfahrbare letztgültig und letztbegründend verstehen lässt. Metaphysik – so hat es Martin Heidegger einmal formuliert – stellt die Grundfrage: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“8 Sie ist Philosophie, die nach „den letzten, den nicht-empirischen Gründen“9, Wurzeln und Voraussetzungen alles Empirischen fragt. So gesehen ist sie philosophische Universal- und Fundamentalwissenschaft.

Der Metaphysikbegriff ist nicht so alt, wie die Sache, die er bezeichnet. Einer oft vertretenen Auffassung nach haben Peripatetiker des ersten vorchristlichen Jahrhunderts den Titel „Metaphysik“ (von griech. meta ta physika, „nach, bzw. hinter dem Physischen“) ausgewählt, um damit jene aristotelischen Schriften zu bezeichnen, mit denen Aristoteles die philosophische Grundwissenschaft erstmals systematisch und für die nachfolgende Philosophiegeschichte Beispiel gebend ausgearbeitet hatte und die man seinen Schriften zur Philosophie der Naturdinge (im Regal) nachfolgen ließ, weil Aristoteles darin „das für uns erst nach den konkreten Naturdingen Erkennbare, diesen Zugrundeliegende und somit an sich erste behandelte.“10 Weil sie das „Zugrundeliegende“ und das „an sich erste“ thematisiert, hat man die Metaphysik auch „Erste Philosophie“ genannt. Ab der Spätantike und im Mittelalter ist dann der Schriftentitel „Metaphysik“ zum Titel der entsprechenden Disziplin überhaupt geworden.

Die Auseinandersetzung mit Brunos Philosophie wird zeigen: Ihre Befreiung aus der Indienstnahme durch die Theologie musste sich die Philosophie erkämpfen, genauer gesagt, zurückerkämpfen auf ihrem ureigensten Feld der Metaphysik, auf dem sie selbst einst zu Größe und Ruhm gekommen war. Hier herrschte seit Jahrhunderten das christlich-theologische Denken und Philosophie war an die Kette theologischer Vorgaben gelegt.

Kant sagt über die Metaphysik, sie sei ein „unhintertreibliches“11 Anhängsel der menschlichen Vernunft, denn diese „geht unaufhaltsam, ohne dass bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können, und so ist wirklich in allen Menschen, sobald Vernunft sich in ihnen zur Spekulation erweitert, irgendeine Metaphysik zu aller Zeit gewesen, und wird auch immer darin bleiben“12.

Wenn das geschieht, wenn die Vernunft Metaphysik treibt und über letzte Fragen spekuliert, dann sind ihre Einsichten wohl eher „vernünftelnde“ Schlüsse als „Vernunftschlüsse“, wie Kant es ausdrückt, „wiewohl sie, ihrer Veranlassung wegen, wohl den letzteren Namen führen können, weil sie doch nicht erdichtet, oder zufällig entstanden, sondern aus der Natur der Vernunft entsprungen sind. Es sind Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen … kann“13.

Kant forderte kein Ende der Metaphysik und das wird es, solange es Menschen gibt, auch nicht geben, das war ihm bewusst. Kant wollte, dass uns bewusst ist, was wir tun, wenn wir Metaphysik treiben. Es ging ihm um Selbstdurchsichtigkeit hinsichtlich unseres Erkenntnisvermögens, um eine Selbstkritik der Vernunft mit Blick auf die Grenzen ihres sinnvollen, weil echte Erkenntnis gewinnenden Gebrauchs und auch um eine davon sich ableitende Entspanntheit im Umgang mit metaphysischen Dingen, bei denen sich objektive Wahrheit nicht erlangen lässt.

Von Metaphysik-, bzw. Vernunftkritik und von einer Entspanntheit im Umgang mit metaphysischen Dingen war man zu Zeiten Brunos noch weit entfernt, letzteres wird er leidvoll zu spüren bekommen, durch die Lebensumstände, die man ihm aufzwingt und den Tod, den man ihm bereitet. Die Zumutungen, die seine Antworten auf zentrale metaphysische Fragen den theologischen Dogmenhütern bereiteten, waren erheblich. Bruno entwickelt diese Antworten im Rahmen und im Zuge seines Nachdenkens über Natur und Gott. Seine Schrift „Über die Ursache, das Prinzip und das Eine“ (im Folgenden mit „UPE-Schrift“ abgekürzt), die die Ergebnisse seiner Natur- und Gottesphilosophie in konzentrierter Form zusammengefasst enthält, ist Metaphysik, wie überhaupt die ganze theoretische Philosophie vor Kant Metaphysik war. Die UPE-Schrift ist also – um es mit Kant zu sagen – ein Beispiel frühneuzeitlicher Spekulation und vernünftelnder Sophistikation, aber – und das wird Bruno zum Problem werden – sie ist keine Philosophie mehr im Dienste der Theologie.



1.2. Theologie versus Philosophie


Menschen existieren in einer Erfahrungswirklichkeit. Die Erfahrungswirklichkeit wird eröffnet, wird erfahrbar, ist „da“, sobald wir wach, sobald wir bei Bewusstsein sind (von der Möglichkeit des Traumerlebens sei an dieser Stelle abgesehen). Die Erfahrungswirklichkeit ist ein in sich strukturiertes Ganzes, eine Strukturganzheit.

Eine befriedigende naturwissenschaftliche, die biologischen und neuronalen Voraussetzungen und Bedingungen dieser Strukturganzheit bedenkende Erklärung ihrer Emergenz, bzw. ihres „Sich-Eröffnens“, steht noch aus und manche Denker vermuten, aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, dass dies so bleiben und es niemals gelingen wird, eine naturalistische bzw. materialistische Geisttheorie zu finden, die den Geist als Naturphänomen, als Kind der Natur zu erklären vermag.

Wollte man versuchen, die Ganzheitlichkeit der Strukturganzheit der Erfahrungswirklichkeit sprachlich zum Ausdruck zu bringen, so wäre Heideggers Begriff des „In-der-Welt-seins“ nicht schlecht gewählt. „Das In-der-Welt-sein, dieses ‚Apriori‘ der Daseinsauslegung ist keine zusammengestückte Bestimmtheit, sondern eine ursprüngliche und ständig ganze Struktur. Sie gewährt aber verschiedene Hinblicke auf die sie konstituierenden Momente. Bei einem ständigen Im-Blick-behalten des je vorgängigen Ganzen dieser Struktur sind die Momente phänomenal abzuheben.“14 Die phänomenologischen Analysen, die Heidegger unternimmt, um diese Momente „phänomenal abzuheben“ bzw. aufzuweisen, können wir hier nicht weiter verfolgen, nur so viel sei gesagt: Die Erfahrungswirklichkeit ist ein Ganzes, in dem das „Selbst“ als derjenige Teil „vorkommt“, der sich auf den Teil, der es nicht selbst ist und den wir „Welt“ nennen dürfen, bezieht. Das Selbst existiert in vielerlei Bezügen zur Welt. Im Vollzug seines Sich-Beziehens erfährt und versteht es nicht nur die Welt, das „Worauf seines Bezogen-Seins“, sondern auch sich selbst in seinem Bezogen-Sein und als dieses Bezogen-Sein. Sören Kierkegaard wird diesen formalen existenzialontologischen Sachverhalt zur Art unserer Selbst-Gegebenheit im 19. Jahrhundert wie folgt ausdrücken: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“15 Selbst- und Welterfahrung jedenfalls gehören zusammen, sind notwendig miteinander verbunden, sie hängen voneinander ab und beide verändern sich und werden auf eine nicht mehr alltägliche Weise erfahren, wenn Menschen ins Fragen kommen, d.h. eine Fragehaltung einzunehmen beginnen.

Ins Fragen kommen Menschen immer dann, wenn sie ihre alltägliche und „zunächst und zumeist“ gegebene Vertrautheit im besorgenden Umgang mit der Welt und mit sich selbst verlieren, wenn „defiziente Modi des Besorgens“16 auftreten, wie Heidegger es nennt. Diese „defizienten Modi“ machen Teile oder das Ganze der Erfahrungswirklichkeit fragwürdig, man erfährt sich selbst in eine Fragehaltung versetzt, spürt das Erwachen von Erkenntnisinteresse und beginnt Fragen zu stellen, an die Welt und auch an sich selbst, das können kleine, lebenspraktische Fragen sein, aber eben auch jene großen Fragen, die die philosophische Metaphysik auf vernunftwissenschaftliche Art zu klären versucht.

In Zeiten vor dem Epoche machenden Schritt vom Mythos zum Logos erzählte man Mythen, um sich diese großen Fragen zu beantworten. Mythen sind Geschichten von dunkeln und hellen Mächten, von Göttern und ihrem Eingreifen in die Belange der Welt, es sind nicht-wissenschaftliche Universal- und Fundamentalerzählungen, Philosophie dagegen – wir hörten davon – ist Universal- und Fundamentalwissenschaft, sie ist um wissenschaftliche, d.h. vernunftwissenschaftliche Antworten bemüht.

Und was im Vergleich zur Philosophie ist die Theologie, die christliche zumal? Auch die Theologie fragt nach dem Universalen, d.h. nach der Erfahrungswirklichkeit im Ganzen und nach dem Fundamentalen, d.h. nach den letzten Wirklichkeitsursachen und Wirklichkeitsgründen und auch sie gibt nicht-empirische Antworten auf diese Fragen und dennoch ist Theologie keine Universal- und Fundamentalwissenschaft wie die Philosophie, vielmehr ist sie eine auf das Universale und Fundamentale abzielende Pseudowissenschaft.

Die Entstehung der abendländischen christlichen Theologie konnte beginnen, als man anfing, priesterliche Gotteserzählungen im Schein von Wissenschaftlichkeit abzuhandeln. Durch einen langen Prozess der Verwissenschaftlichung der christlichen Lehre, man könnte auch sagen, einen Prozess der Anpassung und damit Nutzbarmachung der griechischen Philosophie für die Sache der christlichen Kirche, reifte die Theologie zu der alleinigen, allmächtigen, keine Frage unbeantwortet lassenden Erklärungsinstanz des Spätmittelalters heran. An diesem Adaptationsvorgang arbeitete ein Heer von philosophisch geschulten Männern des Glaubens – an erster Stelle zu nennen sind Augustinus, Albertus Magnus und Thomas von Aquin.

Wir wollen versuchen, den Unterschied zwischen Philosophie und Theologie noch etwas deutlicher zu fassen und stellen deshalb mit Arno Anzenbacher die Frage: „Warum ist aber die Theologie nicht in gleicher Weise Vernunftwissenschaft wie Philosophie?“17 Seine Antwort lautet: Weil Theologie Aussagen kennt, „die nicht aus bloßer Vernunft aufgewiesen werden“, Aussagen, die sich „unverfügbar“ von einem „Sinn-Grund“ herschreiben, der sich nur Auserwählten offenbart. Philosophische Metaphysik dagegen bleibt jederzeit, auch dann, wenn man mit Kant einräumen muss, dass sie nur „vernünftelt“, in Reichweite der Vernunftkritik, Aussagen der theologischen Metaphysik hingegen sind „übervernünftig“ und somit dem Vernunftdiskurs entzogen.

Philosophie ist keine Theologie, genau darauf wollten sich Renaissance-Philosophen vom Schlage Brunos wieder besinnen. Zwar stellen beide Disziplinen, anders etwa als die Kunst, ihre „Wahrheit nicht in sinnfälligen Symbolen und konkreten Gestaltungen dar, sondern in Begriffen“18 und beide bemühen sich, aus ihren Begriffen und ersten Sätzen „deduktiv-dogmatisch“, wie die Wissenschaftstheorie es nennen würde, Theorien abzuleiten, doch die Theorien und zentralen Inhalte der christlichen Theologie stehen schon fest, ihre Begriffe und Sätze müssen sich diesem Feststehenden fügen, sind also letztlich aus einer ganz anderen Erkenntnisquelle geschöpft als diejenigen der Philosophie.

Philosophie ist Selbsterhellung und keine durch Gnade oder Offenbarung gewährte Erhellung, sie „begibt sich“ – so hat es Heidegger einmal ausgedrückt – „der Möglichkeit des sich Haltens an Offenbarung“19. Theologie aber tut genau das. Theologie will Offenbarungswissenschaft sein und will nicht gelten lassen, dass darin ein Widerspruch liegt. Philosophisches Fragen, auch wo es nur spekulierend voranschreitet, „vollzieht sich ausschließlich als Anstrengung der menschlichen Vernunft. Demnach schließt die Philosophie alle jene Aussagen aus, die nicht aus bloßer Vernunft allein aufgewiesen werden“20. Im Gegensatz dazu ist offenbartes Wissen unangreifbar, liegt außerhalb des von der Vernunft selbst zu verantwortenden Denkbereiches. Letzte Instanz der Theologie ist immer Gott, bzw. eine vermeintlich göttliche Vernunft, „letzte Instanz der Philosophie ist die menschliche je eigene Vernunft.“21

Ein weiteres Kennzeichen philosophischer Vernunft ist ihre Entwurfsfreiheit, man könnte auch sagen Verspieltheit. Philosophie ist unvoreingenommen vernünftig, ihre Neugier nimmt sich die Freiheit, auf der Grundlage neuer Prämissen zu denken und auf diese Weise neue Möglichkeiten des Verstehens auszuloten. Theologie dagegen legt sich fest, ihre Grundsätze und ihre Wahrheit sind in Stein gemeißelt und sie verbittet sich jegliche Kritik daran. Philosophie hingegen fordert Kritik an ihren Theorien ein, sie sucht den Dialog, die Disputation und bleibt so stets dem Risiko ausgesetzt, dass ihre Theorien durch bessere Argumente widerlegt und von neuen Theorien abgelöst werden.

Philosophie ist Ideologiekritik, sie bleibt kritisch und streitbar gegenüber dem vermeintlich Unumstrittenen. Sie ist immer bereit zu zweifeln, das macht sie so ruhelos. Ihr Zweifel will nicht zerstören, aber er stört und wird so zum Motor eines nicht endenden Weiterfragens. Dadurch hält sich eine Dynamik des unablässigen Wechsels von Erkenntniszuversicht und Erkenntnisfrust in Gang. Schon Platon wusste davon und auch Bruno wird den epistemischen und emotionalen Schaukelgang des Philosophietreibens in seinem Werk „Von den heroischen Leidenschaften“ (im Folgenden mit „HL-Schrift“ abgekürzt) thematisieren. Beide Denker beschreiben die Weisheitsliebe als unentwegten Weg, als chronischen Prozess des Suchens, Findens und wieder Verlierens philosophischer Wahrheit. Im platonischen „Gastmahl“ heißt es über den Dämon Eros, die personifizierte Philosophie: „Einerseits ist er stets arm, gar nicht zart und schön, wie man allgemein glaubt, sondern hart und struppig, barfuß und unbehaust; er schläft stets auf der Erde ohne Decke, übernachtet vor der Tür und auf der Straße im Freien; darin ist er wie seine Mutter, und die Not wohnt immer bei ihm. Aber vom Vater hat er, dass er immer dem Schönen und Guten auflauert, mannhaft, verwegen und beharrlich, als großer Jäger, immerfort Listen spinnend, ein Erkenntnis-Sucher und Weg-Finder, Weisheit liebend sein Leben lang, ein mächtiger Zauberer, Hexenmeister und Sophist. Er ist nicht wie ein Unsterblicher und nicht wie ein Sterblicher: Bald blüht er und lebt, sobald er seinen Weg findet, nach der Weise seines Vaters aber stets verliert er wieder die Bahn. So ist Eros nie arm und nie reich, auch zwischen Weisheit und Torheit steht er in der Mitte.“22

Bruno hat den Unterschied zwischen der philosophischen, den Zweifel und die Verunsicherung nie ganz ablegenden Wahrheitssuche und der theologischen Wahrheitsverwaltung, die Zweifel und Verunsicherung nicht zulässt, mit seinem Leben und Wirken bezeugt und sichtbar gemacht und ist zum Märtyrer des freien Denkens geworden. Er wollte sich das unabhängige, nur der Vernunft verpflichtete Nachdenken über Natur, Mensch, Gott nicht verbieten lassen und das zu einer Zeit und in einer Gelehrtenwelt, in der die Kirche und ihre Theologen das letzte Wort hatten und sich nicht scheuten, diesem Wort mit Gewalt Geltung zu verschaffen.

Bruno, aber auch andere Denker trotzten der kirchlichen Drohkulisse. Ihnen ist die Wiederbelebung echter Philosophie zu verdanken, ohne diese Wiederbelebung wäre der Aufbruch in die Neuzeit, wenn es ihn überhaupt gegeben hätte, anders ausgefallen. Mutigen Denkern wie Bruno ist zu verdanken, dass philosophische Wissenschaft wieder blühen konnte, wie sie schon einmal blühte in vorchristlicher Zeit, bevor sie zur vielzitierten „ancilla theologiae“ des christlichen Mittelalters wurde, weil man sie von der Verpflichtung zur je eigenen Vernunft zwangsentbunden hatte, weil man ihre Kritikbereitschaft nicht duldete und weil man ihr den Zweifel austrieb, so dass sie gefügig gemacht wurde und am Gängelband theologisch-christlicher Dogmen gehalten werden konnte.



1.3. Beginnende Naturwissenschaft


Es ist kein Zufall, dass die Wiedergeburt der Philosophie mit den Anfängen der modernen Naturwissenschaft zusammenfällt. Die moderne Naturwissenschaft hat sich aus der wiedergeborenen Philosophie heraus entwickelt. Es darf geradezu als Beleg für die wiedergewonnene Freiheit der Philosophie gelten, dass sich der Wissenschaftszweig der modernen Naturwissenschaft von ihr abspalten und im weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte zum Inbegriff von Wissenschaftlichkeit überhaupt werden konnte.

Diese Entwicklung nahm ihren Lauf, als sich Forscher, wie Galileo Galilei, Nikolaus Kopernikus, dessen Werk und „Hochsinn“ Bruno lobte,23 oder Andreas Vesalius – um nur einige zu nennen – mit ihrer Wahrheitssuche auf die Empirie, aufs Beobachten und aufs Messen verlegten. Mit nie gekanntem Zutrauen gingen sie daran, den Phänomenen und Phänomenbereichen der sichtbaren und sinnlich erfahrbaren Natur – dem sichtbaren Kosmos oder dem menschlichen Körper – auf die Schliche zu kommen, d.h. ihnen ihre Gesetzmäßigkeiten und Funktionsweisen zu entlocken. Das konnte gelingen, weil man anfing genauer und systematischer zu beobachten und weil man umzusetzen begann, was Galilei so programmatisch seinem Zeitalter zugerufen haben soll: „Alles messen, was messbar ist – und messbar machen, was noch nicht messbar ist!“24 Wer diesem Aufruf folgen wollte, musste Messinstrumente zwischen sich und die unmittelbare Naturerfahrung schieben, musste eine unmittelbare zu einer mittelbaren, durch Messdaten vermittelten Naturerfahrung machen. Diese neue Art der metrisierenden und quantifizierenden Naturerfahrung bedeutete eine thematische Reduzierung der Natur. Nur wenn sie sich durch das Nadelöhr der Messinstrumente zwängen ließ, konnte sie zum Thema werden. Natur wurde gleichbedeutend mit messbarer Natur und mit den Messdaten und mit Hilfe der Mathematik wurden abstrakte, von der ursprünglichen, von Messinstrumenten nicht verstellten Naturerfahrung abgelöste Naturmodelle ersonnen. Ließen sich solche Modelle und das, was man mit Ihnen vorhersagen konnte, an der Erfahrung bestätigen, so durften sie für wissenschaftlich wahr gelten. Erfahrung wurde zum Prüfstein der Theorie und deshalb die Überprüfbarkeit zum entscheidenden Wahrheitskriterium. Die dadurch notwendig gewordene Überprüfungspflicht hat einen folgenreichen Doppeleffekt: Eine gelungenes Überprüfungsverfahren lässt das, was zuvor nur eine auf der Basis von empirischen Daten erstellte Hypothese war, zu einer belegten Theorie mutieren und ist zugleich auch schon der erste Schritt zur technischen Verwertbarkeit dieser Theorie. Der „äußere Aspekt“, d.h. der praktisch-physikalische Aspekt der Überprüfungshandlung – so drückt es der Wissenschaftsphilosoph Paul Hoyningen-Huene aus – kann eben meistens auch „mit anderem Handlungsziel“ als dem der Hypothesenprüfung durchgeführt werden.25

Bruno kannte und diskutierte die Einsichten jener seiner Wissenschaftskollegen, die wir heute als Begründer der modernen Naturwissenschaft verehren. Wie erfolgreich dieser neue Weg der Wissenschaft war, sollte sich alsbald zeigen. Naturerscheinungen ließen sich besser prognostizieren und manipulieren, viele Erscheinungen entdeckte man allererst, weil man neue Instrumente zur präziseren Beobachtung zum Einsatz brachte. Ein schönes Beispiel dafür ist Galileis Entdeckung der Jupitermonde mit Hilfe eines Teleskops. Sie gelang ihm im Jahre 1609, da war Bruno schon neun Jahre tot und sie leistete einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Anerkennung der Lehre des Kopernikus, die seinerzeit noch sehr umstritten war.

Die Erfolgsgeschichte der damals noch in den Kinderschuhen steckenden Naturwissenschaft lässt sich als eine Art von Beschränkung begreifen. Moderne Naturwissenschaft beschränkt sich mit ihren Fragen auf Teilbereiche der Erfahrungswirklichkeit, sie klammert Fragen nach dem Ganzen der Erfahrungswirklichkeit aus, sie erklärt „Empirisches durch Empirisches“26 und kümmert sich nicht um die Suche nach letztgültigen und letztbegründenden Antworten. Carl Friedrich von Weizsäcker hat es einmal so ausgedrückt: „Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingungen des wissenschaftlichen Verfahrens war. Damit ist also behauptet, dass die Wissenschaft ihren Erfolg unter anderem dem Verzicht auf das Stellen bestimmter gewisser Fragen verdankt.“27



1.4. Humanismus und die Anfänge subjektivistischer Philosophie


Die Wiedergeburt der Philosophie fällt nicht nur mit den Anfängen der modernen Naturwissenschaft zusammen, sondern auch mit den Anfängen neuer philosophischer Disziplinen, für die metaphysische Fragen in den Hintergrund rücken, weil sie sich mit dem Menschen, seiner Lebenssituation und seinen Existenzbedingungen befassen wollen. Die Philosophie wird humanistisch, entdeckt das Subjekt und verschiedene Hinsichten auf das Subjekt.

Auch Brunos Denken bezeugt dieses neue Interesse am Menschen: Während die UPE-Schrift noch eine naturphilosophisch-metaphysische Schrift ist, ist die ein Jahr später erschienene HL-Schrift von ganz anderem Charakter. Die UPE-Schrift bezeugt, welche Gestalt ein metaphysisches Weltbild annehmen kann, wenn das Denken keine Rücksicht auf theologische Dogmen nehmen will, die HL-Schrift dagegen wendet sich der Lebenssituation des nach Glück und Wahrheit strebenden Menschen zu. Mit ihr beginnt etwas durchaus Neues in der Philosophie: die philosophische Frage danach, was es bedeutet, Mensch zu sein. Gemeint ist die Frage nach der Konstitution unseres Weltverhältnisses, nach der „typischen Seinsgestalt, der inneren Struktur und Dynamik“28 dieses Verhältnisses, aber auch nach dem typischen Seinsgefühl, das mit ihm verbunden ist.

Es geht der HL-Schrift also nicht bloß um eine formale Bestimmung des Wesens des Menschen, wie sie von der Metaphysik ja auch geleistet wird, etwa durch die aristotelische Metaphysik, die den Menschen als „animal rationale“ als vernunftbegabtes Lebewesen fasst, vielmehr zielt sie mit ihrem Erkenntnisinteresse auf das Herz des Menschen. Sie beschreibt und will verstehen, wie es für uns Menschen ist und zuweilen sein kann, unser wie auch immer bestimmtes Wesen sein und erleben und durchleben zu müssen. Das Thema der HL-Schrift ist also eher ethisch, anthropologisch, lebensphilosophisch und existenzialistisch, denn metaphysisch zu nennen, auch wenn es sich – aufs Ganze der brunianischen Philosophie gesehen – einfügen lässt in seine Metaphysik, bzw. mit seiner Metaphysik zusammen ein faszinierendes Ganzes bildet.



1.5. Akademisches Wanderleben


Eine Kirchenkarriere stand Bruno offen, wie sie hätte aussehen können, zeigt ein interessanter Vergleich des Sprachwissenschaftlers Wolfgang Wildgen zwischen den Lebensläufen von Bruno und dem im Jahre 1930 heiliggesprochenen Jesuiten und Kardinal Robert Bellarmin, der als Großinquisitor den Häresieprozess gegen Bruno leitete und ihn ins Feuer schickte. Bellarmin kam aus der Toskana und war nur wenige Jahre älter als Bruno. Wie Bruno genoss auch er eine „klösterliche Elite-Erziehung“ und war mit erheblichem intellektuellem Talent gesegnet. Was die beiden unterschied und über Wohl und Weh ihres Verhältnisses zur Kirche entschieden hat, drückt Wildgen so aus: „Bellarmin und Bruno können zeitlos für zwei Typen von Wissenschaftlern oder Intellektuellen stehen, für einen Scheideweg … zwischen zwei Arten des intellektuellen Engagements.“29 Brunos Wahrheitssuche war rücksichtslos gegen die längst schon ausgehandelten Wahrheiten einer Kirche, die Bellarmin Rückhalt und Sicherheit gewährte, weil er seine Geisteskraft nutzte, sie zu verteidigen. Bruno wagte es, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue zu suchen, Bellarmin wollte ausgetretene Pfade sichern, sie noch breiter und prächtiger ausbauen.

Die Befreiung des Denkens, von der Brunos Philosophie Zeugnis ablegt, ist, aufs Ganze des 16. Jahrhunderts gesehen, ein Prozess, der nur von einer kleinen Gruppe gebildeter, Wissenschaft treibender Menschen in Gang gebracht und in Gang gehalten wurde und doch war er stark genug, Grundstürzendes auf den Weg zu bringen und unser Bild der Zeit zu prägen. Dabei sollte uns bewusst bleiben, was nicht nur für kulturgeschichtliche sondern auch für individualgeschichtliche Entwicklungen gilt: Der Aufbruch zu Neuem ist immer auch eine Ablösung vom Alten und Ablösungen – wenn sie überhaupt gelingen – gestalten sich oft zäh und langwierig. Das Alte bleibt noch lange stark, auch weil es das Gewohnte und Eingeübte ist und Sicherheit und Halt verspricht. Unser Blick in die Geschichte, so diagnostiziert es der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga, neigt dazu, die zurückliegenden Verhältnisse zu verzerren: „Wir sind so empfindlich für die Verwandtschaft, die wir in der Vergangenheit entdecken mit demjenigen, was später voll aufgeblüht ist, und an dem auch wir teil haben, dass wir fast immer die erst knospenden Elemente einer Kultur überschätzen. Die Quellen selbst müssen uns immer wieder korrigieren, indem sie uns die Zeit viel primitiver zeigen, viel schwerer beladen mit der Aufstapelung des Alten, als wir erwarten.“30 Der Tod, den Bruno gezwungen wurde zu sterben, zeigt auf traurige und grausame Weise, wie mächtig das Alte in der Zeit des Aufbruchs zu Neuem noch war. Dass es im Falle Brunos soweit kommen musste, ist dennoch nicht allein seinen radikal neuen, vor allem das Verhältnis von Gott und Natur betreffenden Einsichten geschuldet. Sein Denken vollzog sich nicht im Stillen und nahm wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten seiner Zeit. Er wollte sagen, was er dachte, wollte disputieren, suchte die Öffentlichkeit und hat sich dadurch immer wieder in Gefahr gebracht, konnte nirgends lange bleiben, musste fliehen vor denen, die nicht gelten lassen wollten, was er sagte und schrieb, solange bis es keine Fluchtmöglichkeit mehr gab, weil er eingekerkert wurde, zunächst im Jahre 1592 in Venedig, im Gefängnis des Dogenpalastes, dann, nach seiner Überführung nach Rom, für sieben Jahre, von 1593 bis zur Urteilsverkündung am 8. Februar 1600 im Keller des Gebäudes des Heiligen Offiziums und schließlich, nachdem er dem „weltlichen Arm“, d.h. dem Präfekten von Rom zur Urteilsvollstreckung übergeben wurde, für die letzten Tage bis zur Hinrichtung, im Stadtgefängnis im „Tor di Nona“, einem kleinen Viertel am der Engelsburg gegenüberliegenden Tiberufer.

Dabei begann alles so vielversprechend: Bruno wurde im Jahre 1548 im Königreich Neapel, unweit von Neapel, im Ort Nola geboren. In Neapel studierte er Logik sowie die humanistischen Fächer Grammatik, Rhetorik und Poetik und tritt siebzehnjährig in das dortige Dominikanerkloster San Maggiore ein. Viele Jahre des Ordensstudiums folgen. Im Jahre 1573 wurde er zum Priester geweiht und im Jahre 1575 schloss er sein Theologiestudium „mit einer Verteidigung der Summa contra gentiles des Thomas von Aquin und der Sentenzen des Petrus Lombardus“31 ab. Diese kurze Aufzählung der Stadien seiner frühen Laufbahn verbirgt, dass es schon damals erhebliche Unruhe um seine Person gab. Achtzehnjährig ist er auffällig geworden, weil er den Marien- und Heiligenkult ablehnte und im Jahre 1576 geriet er gar unter „Häresieverdacht in Fragen der Inkarnation und des Arianismus und wegen der Lektüre von Kirchenvätern in der Ausgabe des Erasmus von Rotterdam“.32