Über das Buch

Die Achtundsechziger polarisieren noch immer. Was aber hat die Jahrgänge 1938 bis 1948 überhaupt angetrieben? Heinz Bude hat mit Männern und Frauen gesprochen, die damals dabei waren. Gemeinsam ist ihnen der Aufbruch aus der Kindheit zwischen Ruinen in eine Welt des befreiten Lebens. Aber Adorno gab ihnen auf den Weg, dass es einem umso schwerer wird, sich in der Gesellschaft nützlich zu machen, je mehr man von der Gesellschaft versteht.

Heinz Bude, einer der besten Kenner der deutschen Gesellschaft, sieht in den Kindern der Revolte vor allem die Nachkriegskinder. Mit einer trostlosen Vergangenheit im Rücken wollten sie die Gesellschaft verändern, um ein eigenes Leben zu finden. 50 Jahre nach der Revolte ist es an der Zeit zu verstehen, wieviel Privates seinerzeit das Politische bewegte.

Heinz Bude

Adorno für Ruinenkinder

Eine Geschichte von 1968

Carl Hanser Verlag

Für Karin und

für meine Brüder Achim und Rainer

Das Rettende auch

Friedrich Hölderlin

Inhalt

Die Perspektive

Der Blick von Hanna Schygulla

Das bloße Begehren

Ein Asyl für Obdachlose

Die erschrockene Seele

Letzte heiße Revolution, erste coole Revolte

Irgendwann ist der Faden gerissen

Die Übergabe

Literatur

Dank

Die Perspektive

1995 habe ich unter dem Titel Das Altern einer Generation eine besonders unter der angesprochenen Generation der 68er durchaus umstrittene Untersuchung über den Ursprung und die Wirkung der Jahrgänge 1938 bis 1948 veröffentlicht. Die waren im Ereigniszeitraum von 1968 zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Dieses Buch hier ist ein Remix. Ein halbes Jahrhundert nach 1968 frage ich erneut nach der Rolle dieser Generation im Familienroman der Bundesrepublik. Erst kamen die Alten wie Adenauer, die das institutionelle Grundgerüst schufen, dann die Flakhelfer wie Enzensberger, die rieten, besser die Fahrpläne zu lesen, und dann als letzte Generation, die noch den Krieg erlebt hatte, die 68er, die den Aufstand probten. Ich selbst bin Mitte sechzig, und ich sehe die jetzt Siebzig- bis Achtzigjährigen vor mir, denen links und rechts die Altersgenossen wegsterben, und frage mich, ob die Bedeutung einer Generation zu ermessen nicht auch den Versuch darstellt, dem gerecht zu werden, was sonst unbemerkt bleiben würde.

Ich glaube nicht, dass ich der Sache nahekäme, wenn ich mich mit jemandem, der sich irgendwie der 68er-Generation zurechnet, über den unglaublichen Umstand unterhalten würde, dass der Polizist mit dem Namen Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei den Protesten gegen den Staatsbesuch von Schah Reza Pahlavi von Persien auf einem Hinterhof in der Berliner Krummen Straße durch einen gezielten Kopfschuss getötet hat, ein geheimer Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR gewesen ist. Auch der ebenso unglaubliche Umstand, dass am 9. November 1969 der erste, zum Glück gescheiterte Bombenanschlag auf eine jüdische Einrichtung nach 1945 aus dem SDS heraus von den Tupamaros West-Berlin geplant worden ist, taugte kaum als Anlass für ein Gespräch, das berühren würde, um was es damals ging und was heute davon noch wichtig ist. Der Kalte Krieg war, wie die zeitgeschichtliche Forschung mehr und mehr zu Tage fördert, eben eine Art von Krieg.

Mit 1968 verbindet man die sexualpolitischen Experimente der Kommune 1, die Spaziergang-Demonstrationen nach der »Fisch-im-Wasser-des-Volkes-Methode« von Mao Zedong, die Joghurtbomben, den adventsbekränzten Fritz Teufel, die unbekümmerte Uschi Obermaier, die Praktiken des Sit-ins und des Go-ins, Parolen wie »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment«, den Dadaismus von Rudi Dutschke, die Kinderläden, die Kritische Universität, die linken Buchläden, die Stadt- und Stadtteilzeitungen, die Roten Zellen in den Betrieben, die Arbeiterfilme, »I Can’t Get No« von den Rolling Stones, die Frage nach der sozialen Relevanz, die von Jimi Hendrix in Woodstock zerspielte amerikanische Nationalhymne, das Herstellen von Öffentlichkeit, die hochgereckten und schwarz behandschuhten Fäuste der US-amerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos auf dem Siegerpodest bei den Olympischen Sommerspielen von 1968 in Mexiko, die antiautoritäre Pädagogik, das Busenattentat auf Adorno im Hörsaal VI bei seiner letzten Vorlesung, die dieser in seinem Leben gehalten hat, den Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, die Wiederentdeckung von Georg Lukács, Walter Benjamin, Rosa Luxemburg, Karl Korsch und natürlich der großen Theorie von Karl Marx und der berühmten 11. These über Feuerbach von 1845: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Nicht zuletzt Bob Dylans Stimme mit »The Times They Are A-Changin’« und den bewaffneten Kampf der Rote Armee Fraktion, kurz: der RAF. Aber verbinden auch die 68er ihre Lebenserfahrung damit?

Ich gehe noch einmal meine Gespräche von damals durch und versuche, einem Begriff von Karl Mannheim folgend, die Erlebnisschichtung von einer Kindheit im und kurz nach dem Krieg über die Rebellion gegen das Ganze und die Adaption ans Unveränderbare zu verfolgen. Vielleicht gelingt es mir, im möglichst präzisen Spekulieren über das Leben dieser Älteren zu erfassen, welchen Verwundungen sie ausgeliefert waren und welche inneren Widerstandskräfte sie daraus gewonnen haben. Dann könnte ich besser verstehen, was ich eigentlich von ihnen wollte.

Der Blick von Hanna Schygulla

Anfang Januar 1987, als der Punk schon Geschichte geworden war und an die Öffnung der Mauer noch niemand dachte, traf ich in München Peter Märthesheimer. Auf ihn war ich gekommen, weil er gemeinsam mit seiner Frau Pea Fröhlich das Drehbuch zu Fassbinders Die Ehe der Maria Braun geschrieben hatte. Dieser Film war für mich deshalb so wichtig, weil er mich auf die Idee für mein erstes Buch über die Generationen der Bundesrepublik gebracht hatte. Ich war als Mittzwanziger auf der Stelle eines Wissenschaftlichen Mitarbeiters mit Promotionsambitionen auf der Suche nach einem Thema für mein intellektuelles Coming-out. Auf der Berlinale von 1979 lief der Film im Wettbewerb. So wie Hanna Schygulla unter der Regie von Rainer Werner Fassbinder eine junge Frau spielte, die nach einem verlorenen Krieg und dem exekutierten Völkermord den Anspruch auf ein eigenes Leben erhob, erlebte ich den Moment für meinen eigenen Start in die akademische Welt. Es war diese eigentümlich abwesende Anwesenheit nach 1945, der ich mich widmen wollte. Das Buch über die »letzten Helden des Führers« hieß dann Deutsche Karrieren mit dem etwas verhobenen Untertitel Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation. Wie konnten die um 1928 geborenen Schüler-Soldaten, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs an 8,8-cm-Flakgeschützen das Vaterland gegen die angloamerikanischen Bomberflotten verteidigt hatten, zur formativen Generation des vom Flakhelfer-Leutnant Helmut Schmidt so genannten »Modells Deutschland« werden? Damit ist die Generation von Karlheinz Stockhausen, Ernst Huberty, Joseph Ratzinger, Ingeborg Bachmann, wenn diese symbolische Naturalisierung einer Österreicherin erlaubt ist, Horst Ehmke oder Jürgen Habermas gemeint. Paul Kuhn, der als junger Mann den Jazz von den amerikanischen Besatzern gelernt hatte, hat 1963 die Hymne dieser Generation gesungen: »Es gibt kein Bier auf Hawaii (…), drum bleib ich hier.« Einen anderen Grund, im Land der Verlierer und Mörder zu bleiben, können die jungen Männer von den Flakgeschützen offenbar nicht erkennen. »Und nur vom Hula-Hula geht der Durst nicht weg.« Für mich lag die Lösung dieses Rätsels im weltabgewandt auf die Welt gerichteten Blick der Hanna Schygulla. Er verriet mir die Möglichkeit eines energischen Handelns für den sozialen Aufstieg aus dem historischen Nichts.

Der Mann, der sich gemeinsam mit seiner Frau diese Figur des Neubeginns ausgedacht hatte, sollte mich jetzt auf die Spur eines anderen Rätsels bringen. Mir war klar geworden, dass man die Unwahrscheinlichkeit der Bundesrepublik als ein westliches, liberales und stabiles Land mit einer im Zweifelsfall konkurrenzfähigen Wirtschaft nur dann begreifen kann, wenn man die Generation, die von der Zäsur von 1945 geprägt ist, im Zusammenhang mit der Generation sieht, die sich mit der Zäsur von 1968 einen Namen gemacht hat. Peter Märthesheimer schien mir der perfekte Mittelsmann zu sein. Er selbst war als Jahrgang 1937 ein früher 68er, der am Ende der ziemlich depressiven siebziger Jahre mit der Maria Braun eine Allegorie der 45er geschaffen hatte. In seiner Antwort auf meine Anfrage wegen eines Interviews hatte er zurückgeschrieben, es müsse sich noch herausstellen, ob er ein solcher 68er sei, den ich suche. Ich erinnere mich an einen hinter runden Brillengläsern sanft blickenden Mann mit klaren braunen Augen.

Er sei eigentlich kein richtiger 68er, weil er 1968 schon festangestellter Redakteur und nicht auf der Straße gewesen sei. Im Übrigen habe er die damaligen Aktionen mit freundlicher Distanz so wie ein älterer Bruder betrachtet, der sich still über das freche Auftreten seiner jüngeren Geschwister freut. Aber dann habe er subjektiv für sich entschieden, aus dem Gefühl heraus, dass er ein 68er sei, ganz unabhängig von den Einordnungskriterien. Das Gefühl über sich sei ihm das Wichtigste gewesen.

Und was war das für ein Gefühl? Im Grunde der ganz naive und doch ganz sichere Glaube, dass man als Individuum gemeinsam mit anderen etwas bewegen könne. Einfach so. Man geht auf die Straße, dreht einen Film, kippt einen Beschluss. Das sei, im Vergleich mit den Gefühlen von heute, ganz erstaunlich und auch ganz erschreckend. Dieses Gefühl habe er heute nicht mehr, es sei ihm abhandengekommen. Aber damals, erklärte er mir, habe ihn das sehr bestimmt und sehr geprägt.

Man habe unausgesprochen die Auffassung geteilt, dass man durch bestimmte Privilegierungen, bestimmte Zufälligkeiten der Biografie in den Besitz eines Wissens von der besseren Gesellschaft gelangt sei und dass man daher den vielen, vielen anderen, denen das nicht vergönnt war, auf die Sprünge helfen müsse. Wozu? Die Schleier, die ihnen die Gesellschaft vor die Augen hält, zu lüften, damit sie ihr Schicksal auf eine würdige Weise selbst in die Hand nehmen können.

Sehr pathetisch, lachte er auf, aber auch sehr wahr. Es sei nicht in erster Linie um Vergesellschaftung der Produktionsmittel und dergleichen gegangen, sondern um eine Idee von Autonomie, von selbstbestimmtem Leben, das durch fremdbestimmte Verhältnisse verunmöglicht würde. Und dass man für den Lauf der Dinge eine Verantwortung trage. Weil das nicht allein ein Glaube für die anderen, sondern ein Glaube für sich selbst gewesen sei. Als handelnder, nicht nur als erleidender Mensch zu leben. Aber davon könne jetzt keine Rede mehr sein.

Dazu muss man wissen, dass Peter Märthesheimer als Redakteur beim Westdeutschen Rundfunk für Rainer Werner Fassbinder ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Türöffner war. Er hat 1972 und 1973 die Serie Acht Stunden sind kein Tag konzipiert, produziert und betreut und 1980 den ziemlich dunkel ausgeleuchteten Mehrteiler Berlin Alexanderplatz, in dem Fassbinder Günter Lambrecht als Franz Biberkopf gegen Heinrich George ins Feld schickt, gegen heftige Anfeindungen durchgesetzt. Daneben und danach hat Peter Märthesheimer gemeinsam mit Pea Fröhlich die Drehbücher zu Fassbinders drei Frauenfilmen über die Nazizeit und die frühe Bundesrepublik verfasst: eben Die Ehe der Maria Braun, aber auch noch Die Sehnsucht der Veronika Voss über das Leben und Sterben der Schauspielerin Sybille Schmitz zwischen 1933 und 1937 aus dem Jahre 1982 und Lola über ein It-Girl im Wirtschaftswunder aus dem Jahre 1981.

Waren diese Filme Ausdruck der Ernüchterung seines Glaubens von 1968? Warum wandte sich Peter Märthesheimer jetzt der Zeit seiner frühen Kindheit zu? Wollte er herausfinden, wie viel 1945 in 1968 steckte? Ich fragte ihn, welche Recherchen er für Die Ehe der Maria Braun angestellt habe, und bekam zur Antwort, dass er sich nicht gerne auf Quellen anderer, sondern vor allem auf seine eigene Vorstellungskraft verlasse. Was für eine Geschichte hat er dann aufgeschrieben? Wie hat er sich über die Maria Braun mit Fassbinder verbunden? Wessen Blick ist der Blick von Hanna Schygulla?

Das »Väterchen« haben ihn seine Mutter und deren ältere Schwester genannt, als sie zwischen 1944 und 1946 zwischen Pommern, der Mark Brandenburg und der Pfalz in Deutschland herumgezogen sind, um bei Verwandten und Bekannten durchzukommen. Man habe, lächelte er, damals sehr viel mehr davon gehabt als heute. Weil er so dünn, so verhungert und so lieb aussah, hat er bei der Bauersfrau, von der seine Mutter schon nichts mehr gekriegt hat, noch was abstauben können. Ein Topf Wurstsuppe oder ein paar Eier. Insofern sei er so ein geheimer Agent gewesen, der die Rumpffamilie mit ernährt habe.

Der Vater war bereits 1940 in Norwegen gefallen. Da war Peter Märthesheimer drei Jahre alt. Er habe ihn schon vorher praktisch nicht gekannt, weil der seit 1938 als Angehöriger der Kriegsmarine auf einem Zerstörer unterwegs war. Aber er habe es immer als großes Glück empfunden, keinen Vater gehabt zu haben. Dadurch sei ihm diese ganze Autoritätsabarbeit erspart geblieben. Wer weiß, wohin das geführt hätte, kann man hinzufügen. Einen Brief an den Vater musste er jedenfalls nicht schreiben.

Peter Märthesheimer hat eine Kriegskindheit unter Frauen erlebt, die ohne männlichen Schutz zurechtkommen mussten und ihn deshalb als Ersatzvater behandelt haben. So lernte der kleine Peter offenbar die Frauen kennen. Was sie einem verschweigen, was sie einem verraten, wohinter sie sich verstecken und wovon sie träumen. Hier muss der Grund für die spezifische Empathie liegen, die in die Figur der Maria Braun eingegangen ist. Sie benutzt als junge Frau den älteren Mann, der ihr verfallen ist, obwohl dieser genau weiß, dass sie ihm nichts schuldig zu sein glaubt.