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Judith Spörl

Lena startet durch

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Mit Illustrationen von Doreen Goedhart
und Kim Turlach

© 2017 Judith Spörl

Umschlag, Illustration: Doreen Goedhart

In der Reihe bereits veröffentlicht: LENA FLIEGT SICH FREI

ISBN
Paperback:978-3-7439-6705-2
Hardcover:978-3-7439-6706-9
e-Book:978-3-7439-6707-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle in diesem Buch geschilderten Personen und Flugzeuge sind frei erfunden, bis auf Immelmann und die Stöllner Flugplatzkapelle. Sonstige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Flugzeugen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Der Jahrestag

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Flugplatz – Betreten durch Unbefugte verboten stand groß auf dem weißen Schild am Zaun des Flugplatzes Moorbach. Philipp stand davor und wurde langsam ungeduldig. Er kontrollierte nochmal sein Handy. Keine neue Nachricht.

Lena: BIN IN 10 MIN BEI DIR, KUSS

hatte Lena geschrieben. Das war vor fünfundzwanzig Minuten. Wo blieb sie denn? Jedes Mal das Gleiche. Genervt kickte Philipp einen Kieselstein gegen das Blechschild. Kein Mensch weit und breit. Er seufzte laut und ließ sich auf eine Bank vor dem Vereinsheim des Fliegerklubs fallen. Das Gebäude stand für Besucher gut erreichbar außerhalb der Flugplatz-Umzäunung.

Heute wollten sie doch feiern! Seit einem Jahr waren sie jetzt zusammen. Auf den Tag.

Philipp konnte sich noch genau daran erinnern, wie Lena damals mit ihrem Segelflugzeug neben dem Fußballplatz außengelandet war. Absaufen nannten die Flieger das, wenn man keine Aufwinde mehr fand und sicherheitshalber eine Wiese zum Landen suchte. Zumindest wenn kein Flugplatz in der Nähe war. So ein Segelflugzeug hatte ja keinen Motor.

Anfangs hatte es Philipp total beeindruckt, dass Lena so cool durch die Gegend flog. Ihn selbst reizte das ja überhaupt nicht. Doch sein bester Kumpel Martin flog auch hier in Moorbach und sogar dessen Freundin Isabella. Sie alle waren in derselben Klasse. Manchmal wurde es jetzt mühsam für Philipp, sich bei seinen Freunden in ein Gespräch einzuklinken, da sich meistens alles um den Flugplatz drehte. Zuerst fand er es noch nicht so schlimm, besonders im Winter nicht. Da standen die anderen höchstens mal am Wochenende ein bisschen in der Werkstatt, um die Segler zu warten oder zu reparieren. Oder sie hatten Theorieunterricht. Zum Segelfliegen war es dann auf jeden Fall zu kalt, und es gab wohl auch keine Thermik1, also Aufwinde, die sie brauchten, um sich in der Luft zu halten.

Lena hatte den ganzen Winter über für ihre Theorieprüfung und das Funksprechzeugnis gebüffelt. Das fand er gemütlich, da hatte er ihr sogar helfen können. Stundenlang hatten sie in Lenas Zimmer auf der Couch herumgefläzt und er konnte sie abfragen: Wetterkunde, Luftrecht, Navigation – solche Sachen.

In Navigation und Technik war Philipp sogar richtig gut. Einige Dinge konnte er besser erklären als Lena. Deswegen versuchte sie auch ständig ihn zu überreden, es doch auch einmal zu versuchen mit der Fliegerei.

Philipp suchte mit den Augen den Himmel ab. Ein Flugzeug war noch in der Luft, sonst schien alles ruhig. Aber da saß Lena doch sicher nicht drin, sie würde nie während des Fluges Nachrichten verschicken. Wo blieben sie alle nur?

Nein, für ihn war das nichts. Dann hätte er keine Zeit mehr fürs Fußballspielen – denn das war seine große Leidenschaft. Ein Stück weit konnte er Lena ja verstehen: Sie brannte für das Fliegen genauso wie er fürs Kicken! Aber der Aufwand, ein Segelflugzeug in die Luft zu kriegen, war schon enorm. Dann das Warten auf gutes Wetter, für die Anderen da sein, helfen, Verpflichtungen. Jetzt war Frühling und immer öfter fand sich Philipp, wo alle seine Freunde im Flugplatzfieber waren, am Zaun wieder – wartend und müde nach seinem Training. Er fühlte sich zunehmend ausgeschlossen. Die gemeinsamen langen Winterabende waren vorbei. Lena hatte ihre Theorieprüfungen abgeschlossen und bestanden. Martin war sogar inzwischen schon stolzer Flugscheininhaber und Isabella, die später angefangen hatte mit dem Fliegen, bereitete sich wohl auf ihren ersten Soloflug vor. Für die drei ging es nur noch um Thermik und Flugzeuge.

Endlich sah Philipp am Waldrand einen alten, rostigen Jeep, den nannten sie Lepo, auf das Klubheim zufahren. Oder vielmehr zuhoppeln. Der Lepo düste mit Vollgas durch sämtliche Schlaglöcher entlang des Weges und hob dabei mehr als einmal ab. Philipp konnte sich schon denken, wer da am Steuer saß. Isabella war bekannt dafür, dass sie immer aufs Gas drückte, je schneller desto besser.

Das war auch noch so eine Sache: Die fuhren hier alle Auto, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Da konnte er mit seinem kleinen Moped natürlich nicht mithalten.

Der Lepo kam mit quietschenden Reifen vor dem Zaun neben dem Schild zum Stehen. Isabella, die tatsächlich am Steuer saß, kurbelte das Fenster herunter. Man sah ihr nicht an, dass sie den ganzen Tag über den Flugplatz gerannt war. Ihr blonder Zopf saß perfekt, keine Strähne hatte sich gelöst, eine schneeweiße Jeansjacke, eleganter Schal – sie hätte genauso gut von einer Shoppingtour zurückkommen können.

»Mein lieber Phil, hier hast du deine herzallerliebste Flamme, gehet dahin und feiert und amüsieret euch«, frotzelte Isabella grinsend.

»Wir putzen dann deine Matschmücken auf der ASK23 mit weg!«, stichelte Martin aus dem hinteren Teil des Wagens.

»Danke, mach mir noch ein schlechtes Gewissen, ich dachte, das haben wir geklärt«, lachte Lena, die gerade aus dem Auto gesprungen war.

Sie steckte ihren Kopf zurück durchs Fenster.

Martin saß zusammengekauert auf der Werkzeugkiste und feixte: »War nur Spaß, haut ab, genießt den Abend.« Lena angelte ihren Rucksack vom Rücksitz und verpasste Martin aus Versehen eine Kopfnuss.

»Huch – so sorry, na dann bis morgen«, lachte sie und kam um den alten Lepo herum auf Philipp zu. Isabella winkte und brauste weiter Richtung Flugzeughangar. Philipp saß immer noch stumm auf der Bank.

»Tut mir so leid!« Mit Schwung ließ sich Lena neben ihm fallen, so dass die alte Holzbank bedenklich krachte.

»Dann schreib nicht 10 Minuten, sondern sei konkret – das ist schon das dritte Mal, dass ich mir hier die Füße in den Bauch stehe«, maulte Philipp schlecht gelaunt. Ihren gemeinsamen Abend hatte er sich anders vorgestellt. Das ging ja wieder mal gut los. Er hatte nicht das Gefühl, als freute sich Lena, jetzt loszufahren. Lena rückte näher und warf ihre Beine über seinen Schoß. Liebevoll zerstrubbelte sie ihm die Haare. Die waren zwar nicht mehr halb so lang wie früher, aber sie konnte trotzdem nie die Finger davon lassen. Lena schaute fast ein bisschen zerknirscht.

»Ich weiß, tut mir echt leid, aber Piet fing auf einmal von dem Wettbewerb an und fand kein Ende – das wird so cool!«, sprudelte sie begeistert los.

»Was für ein Wettbewerb?« Philipp runzelte die Stirn.

Lena sprang auf und zog ihn ebenfalls hoch. Übermütig hakte sie sich bei ihm ein und zog ihn Richtung Parkplatz.

»Jaaaa, das wird suuuuper, aber das erzähle ich dir alles nachher beim Essen. Jetzt fahren wir besser erstmal los, sonst kommen wir nie bei Nino an, und du schaust weiter sooo sauer drein, das kann ich nicht mit ansehen.« Ihre braunen Augen blitzten, und sie küsste ihn frech auf die Nase.

»Ach, hat man gemerkt, dass ich sauer war?«, fragte Philipp scheinheilig.

»Nur ein ganz klein wenig«, murmelte Lena in sein Ohr. Noch ein Kuss. Amüsiert und fast wieder besänftigt musterte Philipp seine Freundin. Im Gegensatz zu Isabella sah Lena nie ordentlich aus nach einem Flugplatztag. Ihre braunen Haare kringelten sich in alle Richtungen, Sommersprossen teilten sich den Platz auf Nase und Wangen mit erdigen Fingerabdrücken. Die ausgefledderte Jeans hatte Grasflecken und auf der Jacke – das waren mit Sicherheit Kaffeespritzer. Er fand sie unwiderstehlich. Lena bemerkte seinen Blick.

»Oh je, kann ich so gehen? Oder sollte ich mich umziehen?« Verlegen nestelte sie an ihrer Jacke und versuchte, die Kaffeespritzer wegzukratzen. Philipp grinste.

»Also mir gefällst du so am besten, kleiner Flugplatztroll. Nino backt uns so oder so die leckerste Pizza weit und breit. Wir verziehen uns an unseren Tisch in der Ecke beim Pizzaofen – da interessiert es niemanden, dass du den halben Flugplatz an den Schuhen mit ins Lokal gebracht hast. Darf ich bitten?«

Er küsste sie zärtlich und reichte ihr den Helm.

Lena lachte erleichtert, als sie sich auf sein klappriges Moped schwangen. Katzenwäsche vor dem Essen musste reichen.

Zum Glück stand Philipp nicht auf so durchgestylte Mäuschen! Zufrieden kuschelte sie sich so gut es ging an seinen Rücken und sie düsten los.

In Ninos Pizzeria war es wie üblich voll, laut und viel zu warm. Was natürlich auch daran lag, dass sie ihren Lieblingsplatz direkt neben dem Pizzaofen ergattert hatten. Genüsslich biss Lena in ihr Pizzastück, wobei sie umständlich mit der zweiten Hand den herabtropfenden Käse samt Belag aufzuhalten versuchte.

»Sehr elegant«, grinste Philipp spöttisch »Gut, dass du noch die Flugplatzklamotten anhast.«

»Pizza schmeckt nur, wenn man sie mit den Fingern isst – das ist wie mit Pommes«, nuschelte Lena mit vollem Mund.

»Findest du, soso. Was ist das für ein Wettbewerb, von dem du vorhin erzählt hast?«, fragte Philipp gespannt. Lena nahm einen großen Schluck Wasser, um den Rest der Pizza herunterzuspülen.

»Also. Wir wollten gerade einpacken und den Segelflugstart abbauen, da hat Piet die Bombe platzen lassen: Wir treten dieses Jahr mit einem Team beim Jugendvergleichsfliegen an!«

Lena strahlte ihn an.

»Was ist das denn?« Philipp runzelte die Stirn.

»Wir nehmen mit drei Leuten als Team, einem Fluglehrer und ein paar Helfern an einem Wettbewerb teil. Jeder muss drei Flüge absolvieren. Bewertet werden Start, Landung und ein paar Übungen in der Platzrunde. Man soll dort andere Piloten und Segelflieger kennenlernen, sich austauschen, und die Sieger qualifizieren sich dann für ein Bundesjugendvergleichsfliegen. Das ist so spannend!«

»Cool, okay, und wer ist in eurem Fall WIR? Schüler oder erfahrene Piloten?«

»Im Moment ist geplant, dass Martin, Stefan und ich mitfliegen. Egal, ob wir bis dahin unseren Schein haben oder nicht. Aber man darf nur mitmachen, wenn man den Schein noch nicht länger als zwei Jahre hat. Bella hat sich ja noch nicht freigeflogen und soll wohl nicht mitmachen – auch wenn sie bis dahin sicher solo geflogen ist.«

»Und wann findet das Spektakel statt?«

»Irgendwann an einem Wochenende im September. Und man muss sich das darauf folgende auch freihalten, falls man sich für das Bundesjugendvergleichsfliegen qualifiziert.«

»Wow.« Philipp legte sein Besteck nachdenklich zur Seite. Lena griff beherzt nach dem nächsten Pizzastück. Ihre Wangen glühten vor Begeisterung mit dem Pizzaofen um die Wette.

»Das klingt nach viel Vorbereiten und Üben, ganz schön aufwändig. Ist das gut so kurzfristig? Ihr müsst euch doch auch auf die Abschlussprüfung für die Lizenz vorbereiten, hast du gesagt, und noch einen Überlandflug machen und keine Ahnung, was noch«, Philipp sah sie ratlos an.

»Alles nicht so wild, meint Piet. Wir üben supersauberes Fliegen, das müssen wir so oder so. Das ist ja immer ganz wichtig! Außerdem geht es darum, andere Leute kennenzulernen, den Horizont erweitern, fliegen an einem anderen Platz, den Verein vertreten, so’n Kram halt.«

»Und du, Martin und der dicke Stefan sollt da mitfliegen? Was ist denn mit Bolle oder deinem tollen Maxl?«, fragte Philipp gereizt.

»Och, kannst du mal das Sticheln lassen? Das ist nicht MEIN Maxl. Außerdem lernt der jetzt Motorsegler fliegen. Und Bolle ist in der Ausbildung, hat Prüfungen oder so, und hat keine Zeit. Die kommen also nicht mit. Piet als Fluglehrer und Bella zum Helfen sind ganz sicher dabei. Mal schauen, wer noch. Du kannst doch auch helfen?«

»Nee, lass mal. Wenn das so eine Vereinssache ist, hab ich da nichts verloren. Außerdem weiß ich nicht, ob wir da nicht selbst ein Spiel haben. Wir werden es ja sehen.« Missmutig stocherte Philipp auf seiner Pizza herum.

»Was’n los?« Lena hatte genau gemerkt, dass Philipps Stimmung wieder gekippt war. Sie unterdrückte ein Seufzen.

Ging das schon wieder los! Seit ein paar Wochen wurde das immer schlimmer. Philipp war total eifersüchtig auf ihre Fliegerei und rechnete ihr jedes Mal vor, wie lange er auf sie warten oder auf sie verzichten musste, wenn sie mal wieder auf dem Flugplatz war.

Das verdarb ihr echt die Laune! Sie gönnte ihm seine Zeit auf dem Fußballplatz doch auch!

»Nichts, ich befürchte halt, das wird nicht einfach für uns«, gab Philipp traurig zu.

»Jetzt warte es doch erst mal ab.« Lena wollte sich nicht gleich entmutigen lassen. Entschlossen hielt sie ihm ihr Pizzastück unter die Nase. »Da. Abbeißen!«, befahl sie grinsend. »So wie du im Essen rumpiekst, muss man ja schlechte Laune kriegen.«

Philipp schaute sie über den klebrigen Käse hinweg skeptisch an: »Du sagst das so einfach … «, aber er biss brav ein Stück ab.

»Ja und wir hatten letztes Jahr auch einen coolen Sommer, obwohl ich auf dem Flugplatz war und du Fußball gespielt hast. Das werden wir doch wohl hinkriegen?«

Philipp wollte etwas sagen, aber jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, schob Lena Pizza nach. Das endete unweigerlich in einer unglaublichen Sauerei. Philipp versuchte halbherzig, sich zu wehren, aber Lena ließ nicht locker, und schließlich mussten beide prusten vor Lachen. Was ja für Philipp auch nicht so einfach war mit vollem Mund. Nino, der Wirt, kam schimpfend um die Ecke. »Was macht ihr mit meine gute Pizza? Muss man genießen!«

»Strafe muss sein«, grinste Lena, ließ sich aber nicht ablenken. »Dieser Herr hier verbreitet schlechte Stimmung, dabei wollen wir doch heute feiern!«

Philipp wedelte ergeben mit einer weißen Serviette.

Nino trollte sich, noch immer kopfschüttelnd, wieder zu seinem Pizzaofen. »Verrückte Kinder, die gute Pizza«, jammerte er, wild mit den Händen gestikulierend, vor sich hin.

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2. Kavalierstart

Am nächsten Morgen klingelte es bei Lena schon früh an der Haustür. Barbara Reisenberg, Lenas Mutter, öffnete die Tür und ließ Lenas Vater ins Haus.

»Hey Dad!« Strahlend kam Lena runter und stürzte sich direkt von der fünften Treppenstufe ihrem Vater Paul in die Arme, der noch fast im Eingang stand.

Lenas Eltern waren geschieden, und ihr Vater wohnte ein paar Kilometer entfernt von Holzhausen. Dort lebte Lena mit ihrer Mutter, Johannes und ihrem kleinen Halbbruder Jakob zusammen.

Heute war Papa-Tag, was zu Lenas großem Glück bedeutete, dass sie auch diesen Tag auf dem Flugplatz verbringen würde. Ihr Vater hatte nämlich früher ebenfalls in Moorbach Fliegen gelernt und war heute sogar Berufspilot. So genossen sie jetzt mittlerweile ihre gemeinsame Zeit immer am Flugplatz.

Für Barbara und Johannes war das voll in Ordnung, so mussten sie nicht immer selbst Lena und ihre Freunde zum Flugplatz kutschieren. Sofern die Schularbeiten es zuließen, musste Lena samstags bei ihrer Mutter in der Buchhandlung jobben, um etwas Geld für die Fliegerei zu verdienen. Ihre Eltern bezahlten nicht alles.

Barbara fand sowieso, Lena könne sich viel mehr Zeit lassen mit ihrem Flugschein. Sie war zwar sehr stolz auf die Erfolge ihrer Großen – fand es aber auch manchmal unheimlich, dass ihr Mädchen tatsächlich schon alleine ein Flugzeug steuern durfte. Schließlich war sie erst sechzehn Jahre alt und hatte doch noch nicht mal einen Führerschein!

Jakob sah das ganz anders. Er war neun, konnte es aber gar nicht abwarten, bis er selbst auch endlich fliegen durfte. In seinem Zimmer hingen mindestens so viele Flugzeugbilder wie in Lenas, und es gab mehr als einmal Knatsch, weil er natürlich nicht jedes Mal mit auf den Flugplatz durfte. Auch heute versuchte er es natürlich wieder. Er kam kurz hinter Lena die Treppe heruntergefegt »Paul! Ich muss dir was zeigen«, kreischte er aufgeregt. Barbara, die noch die Türklinke in der Hand hielt, stand kopfschüttelnd daneben: »Wir sollten eine Rutschbahn anstelle der Treppe einbauen, falls es irgendwem noch zu langsam geht. Achtung!« In letzter Sekunde fing Paul Jakob auf. Eine Wolke Papierflieger regnete auf sie herab.

Barbara musste gegen ihren Willen über die verdutzten Gesichter lachen.

»Das kommt davon, wenn man seine Schuhe überall herumliegen lässt«, tadelte sie ihren Sohn schmunzelnd. Jakob hatte am Vorabend Dutzende Flieger in allen Formen und Größen gebastelt und bemalt. In seiner Eile, und weil er sich nicht entscheiden konnte, welches Prachtstück er Paul zuerst zeigen sollte, hatte er natürlich überhaupt nicht auf das obligatorische Sammelsurium aus Schuhen, Mützen und Taschen auf der Treppe geachtet.

»Hoppla! Na du? Zeig mal her.« Paul hockte sich neben Jakob, der mit roten Wangen seine Flugzeuge wieder einsammelte, und betrachtete sie fachmännisch. »Was meinst du – sollen wir die am Flugplatzeinem Belastungstest unterziehen? Wenn einer vom Tower bis zur Grillhütte fliegt, spendiere ich dir ein Eis!«

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»Juchuh!«, jubelte Jakob und schleuderte begeistert alles von sich. Wieder standen sie in einer Papierfliegerwolke.

Lena stöhnte. »Oah, muss das sein, der nervt nur wieder voll rum«, maulte sie.

»Lena!« Barbara schaute ihre Tochter streng über ihre neue Brille hinweg an. Lena hatte schon mehr als einmal gefrotzelt, dass ihre Mutter die Brille allein für solche Blicke trug.

»Jetzt lasst Paul doch erstmal einen Kaffee trinken, wir besprechen das. Ihr habt ja noch Zeit«, entschied Barbara bestimmt und dirigierte alle in die Küche. Während sie Kaffee aufsetzte, sprudelte die Neuigkeit schon aus Lena heraus, und sie erzählte Paul alles haarklein. Ihr Vater war gebührend beeindruckt: »Ein Jugendvergleichsfliegen? Wow. Sowas hab ich nie mitgemacht. Im September sagst du. Hmmm, vielleicht kann ich mir da noch frei nehmen, mal sehen. Das muss ich mir ja anschauen! Wer kommt denn noch mit?«

»Martin und Stefan sollen auch mitfliegen, Bella hilft als Bodencrew, Piet ist verantwortlicher Fluglehrer und sonst – keine Ahnung.« Lena zuckte mit den Achseln.

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Paul nickte: »Nicht schlecht! Holen wir Martin und Isabella gleich noch ab?«

»Yep, bitte«, antwortete Lena. Die zwei wohnten nicht weit entfernt im selben Ort. Barbara war damit einverstanden, dass Jakob bis mittags mit zum Flugplatz durfte. Johannes hatte noch Dienst im Krankenhaus, er war Arzt, und würde ihn dann auf dem Heimweg abholen. Lena verkniff sich eine stichelnde Bemerkung und angelte sich ihr Handy, das noch in der Küche am Ladegerät hing. Drei Nachrichten. Eine von Philipp, zwei von Bella.

Jakob schaute ihr neugierig über die Schulter und säuselte übertrieben: »Ohhhhh, mein Liiiiebling, Bussi, Bussi, Bussi …!« Lena schmiss ihre Sachen sauer auf den Tisch und jagte ihren Bruder nach draußen, der schon auf dem Absatz kehrtgemacht hatte.

»Ich glaube, wir fahren dann mal – die sollten sich besser am Flugplatz austoben!«, grinste Paul und folgte beiden.

Wenig später hatten sie alles gepackt, Isabella und Martin eingesammelt und fuhren Richtung Flugplatz.

»Naaa, wie war das Jubiläumsdate?«, grinste Isabella vielsagend.

»Nicht jetzt«, zischte Lena mit Blick auf Jakob.

»Heute ist DER Tag, was, Bella?«, lenkte sie geschickt vom Thema ab. Jakob hatte nämlich schon Luft geholt zum Lästern. Stattdessen machte er jetzt große Augen.

»Wieso? Was für ein Tag denn?«

»Hör mir bloß auf«, stöhnte Isabella. Nervös zupfte sie an ihrem perfekt geflochtenen Zopf. »Ich mach mir noch in die Hosen. Hab kaum geschlafen. Und dann durfte meine Mutter ja nichts mitkriegen. Die wär jetzt völlig hysterisch.« Martin grinste.

»Worum geht’s denn?«, plärrte Jakob wieder dazwischen.

»Bella soll sich, wenn alles klappt, heute freifliegen«, erklärte Martin geduldig.

»Super, darf ich dir dann auch den Hintern versohlen?«, fragte Jakob frech. Er wusste natürlich genau, was das hieß, sich freifliegen.

So nannten sie das, wenn man das erste Mal ohne Fluglehrer flog. Drei Runden musste man alleine absolvieren, danach gab es einen stacheligen Blumenstrauß und man bekam von jedem, der dabei gewesen war, einen Klaps auf den Po. Für ein besseres Thermikgefühl im Allerwertesten. Danach stand man lieber den Rest des Tages.

Obwohl sie schon recht früh am Flugplatz ankamen, wuselten schon einige Leute betriebsam durch die Gegend. Es sollte ein schöner Tag werden, und alle wollten das gute Wetter nutzen.

Lena sah, dass Hosen-Horst, stolzer Inhaber eines Herrenbekleidungsgeschäfts in Moorbach, gut gelaunt pfeifend den Tower aufsperrte. Heute war er Flugleiter.

Die obligatorische Rentner-Gang diskutierte vor dem Klubheim, wo man heute mit den Vereinsmotorseglern zum Kaffeetrinken hinfliegen sollte. Gab es neulich am Nachbarplatz nicht diesen tollen Bienenstich in der Kantine? Lena biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen, angesichts dieser ernsthaft geführten Diskussion.

Der alte Fluglehrer Piet, eine große, hagere, wettergegerbte Gestalt, holte den Aufsitzmäher heraus, um vor dem Flugbetrieb ein wenig die Wiese zu trimmen.

Vor dem Flugzeughangar wartete schon Marianne, eine kleine, energische Frau mit kurzen blonden Haaren und freundlichem Lächeln, auf sie.

»Guten Morgen, naaaa, ausgeschlafen? Alle fit? Grüß dich, Jakob, hast du Paul wieder um den Finger gewickelt?«

Jakob strahlte sie an und zeigt Marianne begeistert seine Papierfliegersammlung. Martin, Lena und Isabella schoben die Tore des Hangars auf.

»Piet mäht noch den Flugplatzrasen, dann ist er wieder glücklich«, berichtete Marianne schmunzelnd. »Wir sollen schon mal aufbauen. Bolle, Maxl und Stefan schrauben noch an der Winde rum. Irgendwas klemmt da. Ich hoffe, Bolle kriegt das wieder hin. Seit er KFZ-Mechaniker lernt, hat er das ja immer gut im Griff.«

»Echt, Maxl hilft auch mal? Ist die Dimona kaputt? Seit er mit der Schulung für den Motorseglerschein begonnen hat, lässt der sich doch nicht mehr bei uns am Segelflugstart blicken. So ein Quirl verdirbt den Charakter, ich sag’s euch!«, stichelte Martin los, als hätte er nur darauf gewartet.

Isabella sah ihn stirnrunzelnd an. »Wieso? Wenn er das nun mal beruflich machen will? Würdest du das über Paul auch sagen? Manchmal bist du echt krass mit Maxl – ich möchte mal wissen, was DA los war. Männer!«

Lena und Martin tauschten stillschweigend einen betretenen Blick. Lena hatte ihrer Freundin nie erzählt, dass Martin früher in sie selbst verknallt gewesen war. Er anscheinend auch nicht. Lena hatte für Martin nie das gleiche empfunden, sondern war damals völlig dem Charme von Maxl verfallen. Was Martin auch ganz genau gewusst hatte. Der Freundschaft zwischen Lena und Martin hatte es zum Glück nicht geschadet, da Martin echt cool geblieben war. Mittlerweile war er ja auch schon ewig mit Bella zusammen und Lena mit Philipp. Aber es schien Martin immer mal wieder zu fuchsen, dass der Überflieger Maxl immer der Coolste, der beste Flieger war und so Eindruck bei den Mädels machte. Lena nahm sich insgeheim vor, Isabella unbedingt bald die ganze Geschichte zu erzählen, bevor es irgendwann Ärger gab. Das Drama um Maxl und Lenas Liebeskummer hatte Isabella schon mitbekommen. Aber das war ja nur ein Teil der Geschichte.

Wie aufs Stichwort lugte Maxls strubbeliger Rotschopf um die Ecke. »Moin. Könnt ihr mal mit schieben helfen? Bolle sagt, er hat’s gleich, aber das Mistding springt immer noch nicht an.«

Als Lena die Garage betrat, in der die Winde stand, hing Bolle zur Hälfte im Motorraum der Winde und werkelte fluchend vor sich hin. Daneben stand gelassen kauend Stefan. In der einen Hand ein Sandwich, in der anderen zwei Schraubenzieher. Unter seiner schmutzig speckigen Jeansjacke spannte das T-Shirt deutlich über dem Schwabbelbauch.

»Wir haben’s gleich«, nuschelte er und deutete mit dem Sandwich auf Bolle.

»Na klar, vor allem du«, frotzelte Lena. »Was sollen wir tun?«, fragte sie Richtung Motorhaube. Bolles Kopf erschien wieder, wie immer perfekt gestylt und ordentlich gegelt.

»Schiebt sie mal mit raus, vielleicht springt sie dann an«, antwortete er hoffnungsvoll und sprang in die Fahrerkabine. Lena, Martin, Bella, Maxl und Marianne schoben mit vereinten Kräften die Winde aus der Garage. Endlich sprang der Motor an. Stefan schlenderte zufrieden hinterher.

»Hat’s geschmeckt?«, stichelte Maxl ärgerlich.

»Wieso? Ich hatte die Hände eh voll.« Stefan hielt die Hand mit den Schraubenziehern vor Maxls genervtes Gesicht. Maxl verdrehte die Augen und zog ab.

»Keinen Streit, los, holt die Flieger raus, wir wollen anfangen«, ordnete Marianne an. »Bolle hat das mit der Winde im Griff und fährt vor!«

»Jawohl, Chefin!«, grinste Martin.

Marianne streckte ihm nicht sehr damenhaft die Zunge raus.

Anfang des Jahres hatte sie einen Lehrgang zur Segelfluglehrerin gemacht. Jetzt musste sie noch unter Piets Aufsicht verschiedene Schüler in unterschiedlichen Ausbildungsphasen schulen. Sie machte ihre Sache gut und war wirklich sehr engagiert. Piet war froh über die Hilfe, da sonst er und Fritz, der zweite Fluglehrer, alleine die Segelflugschulung koordinierten.

In ihrem Eifer kam Marianne allerdings manchmal wie ein Feldwebel rüber, was ihr den Spitznamen Chefin eingebracht hatte.

Der Wind kam heute aus Osten, also bauten sie den Segelflugstart zur Graspiste 09 auf, in Richtung 090° der Kompassrose. Starten und landen sollte man nämlich immer gegen den Wind.

Mittlerweile hatte auch Piet seinen Aufsitzmäher abgestellt und gesellte sich zu ihnen. Der Lepo kam mit den Windenseilen im Schlepptau die Piste entlang gedüst. Gleich konnten sie loslegen. Ein paar Männer und Frauen schoben noch ihre Privatflieger an den Start. Mit den Schulseglern standen jetzt insgesamt neun Flieger in der Reihe.

»Cool, so viele.« Lena liebte diesen Anblick und schoss gleich noch ein paar Bilder mit dem Handy.

»Jetzt packt doch mal diese Daddelkisten weg«, beschwerte sich Piet ärgerlich. »Hört mal bitte zu!«

Betreten packten Lena, aber auch Stefan und Bella die Telefone weg. Aus dem Augenwinkel sah Lena ein paar Papierflieger von der Terrasse des Towers segeln. Ihr Bruder hatte schon mal Spaß!

Der alte Fluglehrer lehnte sich gegen den Tisch, auf dem Funkgerät, Startlisten und Telefon schon bereitlagen. Natürlich trug er wie immer sein weißes Fliegerkäppi, das seine grauen Haare fast vollständig bedeckte.

»Also: Maxl, hilfst du hier am Vormittag ein bissl mit, damit die Jungens da ordentlich in die Luft kommen?« Er deutete auf die Privatflieger, die sich allerdings erstmal wieder zum Kaffeetrinken auf den Weg Richtung Klubheim gemacht hatten. Sie würden erst später bei Thermikbeginn starten. War klar. Maxl nickte.

»Du kannst dich ja nachher, wenn alle in der Luft sind, zum Mose schulen verkrümeln.« Piet zwinkerte ihm zu. »Je schneller wir einen neuen Piloten haben, desto besser!«

Die alte Cessna des Vereins, die früher auch zum Flugzeugschlepp für den Segelflug gedient hatte, gab es nicht mehr. Da es kaum Piloten für reinen Motorflug im Verein gab, hatte man beschlossen, auf einen leichten Motorsegler, kurz Mose, umzusteigen, der auch zum Flugzeugschlepp eingesetzt werden konnte. Dieser neue Motorsegler war eine Dimona.

Bei schwierigen Wetterlagen konnte man sich mit dem Flugzeugschlepp gezielt und höher in die Thermik schleppen lassen. Praktisch war es auch, wenn man auf anderen Flugplätzen landete und das Wetter nicht gut genug war, um mit dem Segelflugzeug auch wieder nach Hause zu fliegen.

Heute würden allerdings erstmal Windenstarts reichen, das war viel billiger. Die Dimona wurde daher zum Schleppen nicht gebraucht, und Maxl konnte später in Ruhe mit einem Lehrer für den Motorseglerschein schulen.

»Isabella, min Deern, wir zwei Hübschen fliegen gleich zuerst ’ne Runde«, fuhr Piet fort. »Marianne sagt, das klappt alles gut, ich bin gespannt. Noch ist ja alles ruhig – wir werden sehen.« Er hob vielsagend die Augenbrauen. Isabella schluckte und zupfte unbehaglich an ihrem Halstuch herum.

Dann wendete er sich an die anderen. »Martin – ich weiß nicht, was du heute vorhast; kannst du nehmen, was übrig bleibt? Ich würde Lena und Stefan gerne zum Fünfziger über Land schicken.« Piet zwinkerte Lena und Stefan zu.

»Ihr fliegt dann nach Niederfelden, das sind genau 53 Kilometer. Während wir hier Platzrunden fliegen und die Privaten in die Luft ziehen, könnt ihr in Ruhe Flugvorbereitung machen. Den Flugauftrag schreib ich euch dann, alles klar? Marianne hilft euch, wenn es bei der Vorbereitung Fragen gibt. Ihr knobelt selbst aus, wer welches Flugzeug fliegt. Kein Streit, ja?«

Lena und Stefan nickten aufgeregt.

»Aber falls Bella … «, setze Lena an.

»Jajaja, das kriegt ihr schon mit, keine Panik, wir haben Zeit«, schmunzelte Piet. Er gab noch ein kurzes Wetterbriefing, dann machten sich alle an die Arbeit. Stefan und Lena zogen für die Flugvorbereitung ab Richtung Tower.

»Meldet euch, wenn ihr was braucht«, rief Marianne ihnen nach. Martin übernahm den Startleiter. Maxl half Isabella und Piet beim Einsteigen in den Schulungsdoppelsitzer, die ASK21.

Marianne wuselte nervös um sie herum. Isabella war ihre erste Schülerin, die sie solo, also zum ersten Alleinflug, schicken wollte. Piet sollte jetzt nur noch einen Überprüfungsstart machen. Als Lehrerin war sie mindestens so aufgeregt wie Isabella.

Martin zapfte sich in der Zwischenzeit aus der Thermoskanne, die sie immer am Start mit dabei hatten, einen Kaffee. Er hatte letzten Herbst seinen Schein gemacht und war froh, diesen ganzen Schulungsstress hinter sich zu haben. Zwar brannte er natürlich auch darauf, bei diesem guten Wetter über Land zu gehen, allerdings fand er es auch sehr spannend, ob seine Freundin sich heute freiflog und wie es Lena und Stefan so ergehen würde. Das wollte er auf gar keinen Fall verpassen.

Über Land gehen war immer spannend. Wenn genügend Thermik war, flog man weite Strecken, gute Piloten manchmal mehrere hundert Kilometer. Fand man unterwegs keine Aufwinde mehr, musste man in einem Feld außenlanden.

Das wollte natürlich niemand. Man gab sich schon sehr Mühe, ein gewähltes Ziel auch zu erreichen. Mit Sicherheit würde das ein aufregender Tag werden. Martin wollte später starten, wenn alle in der Luft waren und ein wenig hinter Lena und Stefan herfliegen, falls das klappte.

Jetzt ging erst mal Bella an den Start. Er kannte seine Freundin. Sie flog so, wie sie Auto fuhr – immer mit Vollgas. Bisher war ja jedes Mal ein Fluglehrer mit dabei gewesen und konnte sie bremsen …

Sie musste lernen, sich zusammenzureißen und langsam zu machen! Er selbst hatte ja auch einigen Mist gemacht während der Ausbildung. Aber irgendwie war das was anderes, wenn es nicht um einen selbst ging.

Bella und Piet waren abflugbereit. Maxl klinkte das Seil ein. Dann hob er die Tragfläche an und streckte einen Arm in die Luft als Zeichen, dass es losgehen konnte. Ein wenig besorgt meldete Martin den Start über Funk an.

Marianne setzte sich nervös neben ihn. »Daumen drücken«, murmelte sie beschwörend vor sich hin.

Von ihrem Fenster im Untergeschoß des Towers konnte Lena den Start ihrer Freundin gut beobachten. Paul und ihr Bruder waren auch heruntergekommen und schauten ihr bei der Flugvorbereitung zu.

»Es geht los!« Lena deutete aufgeregt zum Fenster. Von weitem sah man an Maxls Handzeichen, dass das Seil im Gras anzog. Dann war es straff, die Winde gab vorsichtig Gas, das Flugzeug rollte los, Maxl musste rennen und gab kurz darauf die Fläche frei.

Im nächsten Moment schoss die ASK21 senkrecht nach oben.

»Scheiße!«, entfuhr es Lena laut.

Paul schüttelte bedauernd den Kopf. »Ohoh, soviel zum Thema Alleinflug. Heute nicht. Nicht nach so einem Kavalierstart!«

Jakob hüpfte ungeduldig auf und ab. »Warum? Der Flieger ist doch in der Luft?«

»Ja, aber so steil hängt man sich nicht gleich in Bodennähe an das Seil«, erklärte ihm Lena. »Stell dir mal vor, das reißt – da guckst du ganz schön blöd aus der Wäsche. Das kann echt gefährlich werden – so schnell kriegst du das Flugzeug bei ’nem Seilriss in der Höhe nicht wieder in eine normale Flugposition, um dann sicher zu landen.«

Sie seufzte. Arme Bella! Sie hatte sich doch schon so gefreut! Isabellas Mutter war außerdem ausgesprochen panisch und ängstlich, was das Fliegen betraf. Bella war deshalb ganz besonders ehrgeizig und wollte gerne beweisen, wie gut sie war. Die Freundin tat Lena echt leid.

»Tadaa! Alles programmiert, ratzfatz – kein Problem, wir sehen uns in Niederfelden, Baby, kannst mir nachfliegen!«, trompetete in diesem Moment Stefan und sprang auf.

»Was? Hast du schon alles fertig? Karte auch?« Lena war mit ihren Gedanken noch ganz woanders.

»Tja klar, hier kommt MOORBACHS NEXT TOP-PILOT, pass auf, yeehah!«, angeberisch wedelte Stefan mit der ICAO-Karte vor ihrer Nase herum und verließ gut gelaunt den Tower. Selbst Jakob blieb der Mund offen stehen.

»So ein Angeber, fliegt der echt besser als du?«, fragte er seine Schwester mitfühlend. Lena schnitt eine Grimasse.

»Mal so – mal so, das hätte er jedenfalls gerne, der klopft immer Sprüche, ich hör schon gar nicht mehr hin«, sagte sie. Aber insgeheim wurmte es sie natürlich doch. Etwas ratlos saß sie vor ihrem Logger, den sie programmieren sollte, um ihre Flugstrecke als Nachweis aufzuzeichnen. Wenn sie jetzt Marianne rief, würde Stefan sich noch mehr amüsieren. Zum Glück stand Paul noch neben ihr und konnte ihr helfen. Ein paar Minuten später war auch Lena mit den Vorbereitungen fertig, und sie machten sich auf den Weg zum Segelflugstart.

Auf halber Strecke stapfte ihnen Isabella wütend entgegen.

»Das kann doch mal passieren«, beschwerte sie sich lauthals. »Was ein Theater! Da schulst du besser nochmal ein, zwei Wochenenden mit Marianne!«, äffte sie den Fluglehrer Piet nach. »Wir machen erstmal langsam und fliegen gemeinsam büschn Thermik, blabla …« Brodelnd verschwand Isabella Richtung Klubheim.

3. Über Land

Am Segelflugstart saßen Marianne und Martin und ließen enttäuscht die Schultern hängen. Piet hatte sich in einen Klappstuhl gepflanzt und holte ein Butterbrot aus seinem Rucksack.

»Hey, da ist ja mein Lieblingspilot! Moin Jakob«, begrüßte er sie völlig entspannt.

»Dicke Luft, was?«, wollte Martin von Lena wissen.

»Was glaubst du denn, war doch klar«, antwortete sie.

»Habt ihr den Start gesehen?«, fragte Marianne bedrückt. Lena und Paul nickten.

»Meine Güte, Kinners, jetzt regt euch ab. Wir haben alle schon Kavalierstarts gemacht in der Schulung. Und nur weil die junge Dame jetzt fuchsig ist, lassen wir uns doch nicht die gute Laune verderben, was? Geduld mussten wir noch alle lernen – ne, Jakob? Gehst du ’ne Runde mit mir fliegen, junger Mann?«

Jakob strahlte bis über beide Ohren und fast um den gesamten Kopf herum. Auch wenn die anderen heute schlecht drauf waren – dies war absolut sein Tag! Paul grinste.

»Danach müsste auch Johannes kommen, um dich abzuholen, Kumpel.«

»Und mein Eis?«, erinnerte ihn Jakob entrüstet.

»Ach ja, der Flieger in der Grillhütte, du hast gewonnen, klar … sollen wir schauen, was die Kühltruhe im Klubheim so hergibt oder hältst du es noch aus bis zum nächsten Mal, dann gehen wir richtig Eis essen?«

»Mmmmmmm … nächstes Mal. ICH bin ja geduldig«, erwiderte Jakob mit wichtiger Miene und brachte damit alle zum Lachen.

Während Lena und Stefan ausknobelten, wer die ASW19 und wer die LS4 fliegen sollte, drehte Jakob seine Platzrunde in der ASK21 mit Piet.

Lena bekam die LS4. So langsam blubberte auch die Thermik los. Das hieß, es gab gute Aufwinde, mit denen sich die Segler über Land Flughöhe holen konnten, um dann wieder abzugleiten.

Lena und Stefan machten sich in ihren Fliegern für den Start bereit. Johannes erschien, um Jakob abzuholen und schaute neugierig zu Lena ins Cockpit.

»Wow, das schaut ja richtig professionell aus«, staunte er. »Paul sagt, du fliegst nach Niederfelden.«

Jakob war inzwischen gelandet und kam wieder angehüpft mit leuchtenden Wangen vor lauter Eifer.

Lena erklärte Johannes aufgeregt ihr Vorhaben. Er nickte anerkennend.

»Na dann«, Johannes gähnte herzhaft, »ich bin platt vom Dienst, wir sehen uns ja heute Abend – viel Glück! Jakob, was meinst du – sollen wir uns auf dem Heimweg noch ein Eis holen?«

»Volltreffer«, grinste Paul ihnen hinterher.

»Alles klar?« Piet reichte Lena den schriftlichen Flugauftrag. »Melde dich, wenn du in Niederfelden gelandet bist. Wir haben alles durchgesprochen. Nach deiner Außenlandung letztes Jahr bist du ja sowieso ein alter Hase, und dich kann nichts erschrecken, was, min Deern?« Er zwinkerte Lena verschwörerisch zu. Lena grinste schief zurück. Na, das brauchte sie nicht nochmal! Sie wollte unbedingt ankommen!

»Wir holen euch dann nacheinander mit der Dimona wieder im Flugzeugschlepp zurück«, versprach Paul.

»Also dann – toi, toi, toi.«

Lena startete zuerst und kurz darauf Stefan. Lena entdeckte über der Stadt einen Falken, der sich in einem Aufwind in die Höhe schraubte. Juchuh, Thermik, ich komme, freute sie sich.

Mit dreieinhalb Metern pro Sekunde ging der Bart aufwärts. Wow, das war ja Fahrstuhlfeeling! Lena tankte Höhe. Bei 1200 Meter über dem Platz spuckte die Thermik sie aus. Höher ging es nicht. Unter sich sah sie Stefan ebenfalls in dieser Thermikblase kreiseln. Schön in derselben Kreisrichtung, die Lena angefangen hatte, damit man sich nicht irgendwann entgegen kam.

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Lena flog Richtung Niederfelden ab. Die ersten 20 Kilometer waren quasi ein Heimspiel, denn da war Holzhausen, wo sie wohnte – und die Strecke war sie schon geflogen.

So super es vorher nach oben ging, so sehr ging es jetzt allerdings abwärts. Lena peilte eine Hangkante an, bei der sie aufgrund des Ostwindes auch Aufwinde vermutete. Da wo der Wind auf den Berg traf, kam er nicht weiter und wurde aufwärts abgelenkt. An der Stelle konnte sie genauso gut steigen. Glück gehabt! Sie konnte hier wieder Höhe gewinnen.

Stefan war etwas nördlicher weitergeflogen. Lena verlor ihn aus den Augen. Nachdem auch dieser Aufwind voll ausgekostet war, nahm sie wieder Kurs auf Richtung Niederfelden. War eigentlich ganz einfach. Sie musste nur der Eisenbahnlinie folgen, die war relativ gut zu erkennen.

Als sie 600 Meter tiefer noch keinen neuen Aufwind gefunden hatte, wurde Lena langsam wieder nervös. So ein Mist aber auch! Es hatte so gut angefangen! Keine Thermik-Kumuli, an denen man sich orientieren konnte, wo Aufwinde zu finden wären. Wenn überhaupt, dann Blauthermik, also ohne Wolkenbildung – aber die konnte man ja nicht sehen.

Lena betrachtete die Landschaft. Dort bis zu dem Steinbruch würde sie noch fliegen, wenn dann nichts kam, zurück zum Aufwind an der Hangkante von vorhin. Nichts. Lena wendete und flog ein Stück zurück. Dabei verlor sie natürlich immer weiter Flughöhe.

Ich will nicht außenlanden, dachte sie verkrampft. Lenas Hände waren klatschnass. Der Wind an der Hangkante sorgte zum Glück zuverlässig für Auftrieb, und Lena beruhigte sich wieder etwas.

Vielleicht sollte sie auch gleich ein Stück weiter nördlich abfliegen, Stefan hinterher? Sie versuchte es. Nach einigen Minuten kehrte sie wieder frustriert um. Das gab es doch gar nicht! Nur Saufen, das hieß, da ging es richtig abwärts!