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Vorwort

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Als mir vor drei Jahren in einem staubigen Dorf in Ecuador ein müder, hungriger Hund auffiel, der still um Futter bettelte, begann sich mein Leben zu verändern. Es änderte sich zum Besseren und auf eine Weise, wie ich es mir nie hätte träumen lassen.

Dass Arthur heute glücklich als geliebtes Familienmitglied bei uns in Schweden lebt, habe ich zum großen Teil der enormen Unterstützung von Menschen aus der ganzen Welt zu verdanken. Menschen, die Arthur gut versorgt wissen wollten und sich für uns ein gemeinsames glückliches Leben wünschten. Seit wir nach diesem folgenreichen Tag alles in Bewegung gesetzt haben, um ihn zu retten, fragen mich diese Leute – täglich –, wie es ihm und uns geht.

Weil ich von Arthur, meinem Freund (denn genau das ist er) gern berichte, komme ich den Bitten dieser Leute mit Freude nach und erzähle, was seit den Ereignissen aus unserem ersten Buch passiert ist. Da ich mich beim Schreiben zwangsläufig in unsere anstrengende Zeit im Dschungel von Ecuador zurückversetzt fühlte, habe ich auch darüber ein bisschen geschrieben. Ich hoffe also, dass man mir und Arthur die Treue hält, wenn ich Bekanntes neu erzähle, und dass allen unsere neuen Geschichten gefallen.

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Es war meine Hoffnung, dass die Geschichte von Arthurs Rettung und seinem neuen Leben als glücklicher und geliebter Hund Menschen ansprechen würde, die darüber nachdenken, geretteten Hunden zu helfen, und auch alle, die Hunde einfach mögen. Am Ende war ich verblüfft, wie viele Leute Kontakt zu mir aufgenommen haben, um mir ihre Geschichten von Tierschutzhunden aus aller Welt zu erzählen, von Hunden, die auf irgendeine Weise ihren Menschen gefunden haben und nun mit ihm ein gemeinsames Leben führen. Ich würde mich freuen, wenn auch diese Geschichten andere inspirieren.

Mikael Lindnord, im Herbst 2017

Kapitel 1

Im Herzen des Dschungels

„Geh noch einen Schritt weiter, das schaffen nicht viele.“

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Dschungel von Ecuador, November 2014

Die Vegetation wurde immer undurchdringlicher und mit jedem Schritt blieb mehr Schlamm an unseren Schuhen hängen. Alle vier Mitglieder unseres Teams waren wahrscheinlich so erschöpft wie nie zuvor und das ist bei unserer Extremsportart ein Zustand, den sich die meisten wohl überhaupt nicht mehr vorstellen können.

Ich betrachtete unser neues, fünftes Teammitglied: einen verdreckten, verletzten Hund, der vor Matsch und Blut nur so starrte. Bei seinem zähen Trott durch den Schlamm, aus dem er mühevoll Pfote für Pfote wieder herauszog, konnte man erkennen, dass irgendwo unter der Schmutzschicht ein wunderschön goldfarbenes Tier steckte. Während wir uns Seite an Seite weiter vorwärtskämpften, fiel mir auf, dass ich unbewusst in sein Tempo gefallen war. Ich wollte mich weder vor ihn setzen, da es ihm offenbar schon schwerfiel, mit uns Schritt zu halten, noch wollte ich so langsam werden, dass alle Hoffnung dahin wäre, in diesem zunehmend mörderischen Rennen das Ziel noch zu erreichen.

Die Weltmeisterschaft war – und ist – der Höhepunkt des Jahres für jeden Adventure-Racer. Und es war dieses Rennen tief im Dschungel von Ecuador, auf das wir uns in monatelangem herzzerfetzenden, muskelschindenden Training vorbereitet hatten. Staffan, Karen, Simon und ich waren als Team aus vier durchtrainierten Sportlern aufgebrochen, entschlossen, unter die ersten drei der Weltrangliste zu kommen, wenn nicht gar auf Platz eins. Und jetzt musste ich, der Kapitän dieses Teams, feststellen, dass ich durch diesen Hund abgelenkt war, der sich an meiner Seite vorwärtskämpfte.

Offenbar wollte er kein Mitleid, er schien einfach entschlossen mir nicht von der Seite zu weichen. Dabei hatte ich ihn lediglich bemerkt, mit ihm geredet und ihm etwas zu fressen gegeben. Und doch fühlte ich mich bei all der fieberhaften Anstrengung mitten im Dschungel ebenso zu dieser abgekämpften Kreatur hingezogen wie sie sich anscheinend zu mir.

Irgendwann war er plötzlich weg; er schoss ins Unterholz davon, einem Tier hinterher, das nur er sehen oder wittern konnte. Ich sagte mir, dass er jetzt wahrscheinlich endgültig weg sei, unterwegs in irgendeiner Mission, von der man als Mensch keine Ahnung haben könne, und dass ich mir wahrscheinlich nur eingebildet hätte, da sei irgendeine Bindung zwischen uns beiden gewesen. Ich biss mir auf die Lippe und dachte, ich würde ihn nie wiedersehen. Dass ein Hund – irgendein Streuner, der aus dem Nichts aufgetaucht war – eine solche Wirkung auf mich haben sollte, konnte ich nicht glauben.

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Und dann, fast so plötzlich, wie er verschwunden war, war er wieder da. Unbeirrt schaute er voraus und trottete entschlossen neben mir her, als wäre er nie weg gewesen.

Vielleicht war das der Augenblick, in dem ich begriff, dass dieser Hund und ich immer Seite an Seite unterwegs sein würden.

Örnsköldsvik, November 2015

Bikehandschuhe? Check! Moskitonetz? Check! Trekkingschuhe? Check! Als ich im Wohnzimmer mein Equipment für den Flug nach Brasilien und das nächste Weltmeisterschaftsrennen sortierte, dachte ich daran, wie ich vergangenes Jahr um diese Zeit alles wie gewohnt für Ecuador vorbereitet hatte. Damals hatte mir Helena geholfen und manchmal war mir unsere kleine Philippa ein bisschen in die Quere gekommen, aber jetzt herrschte Trubel im ganzen Haus, denn drüben in der Küche machte sich mein drei Monate alter Sohn Thor bemerkbar.

Zu meinen Füßen ruhte das andere neue Familienmitglied, Arthur mit seinem inzwischen gepflegten goldfarbenen Fell. Er lag auf seiner glänzend schwarzen Matte, die eine Pfote wie üblich untergeschlagen, und während ich meine Ausrüstung zurechtlegte, sah er entspannt zu mir auf, als wollte er sagen: „Ich weiß, was du machst. Und das bedeutet, dass du weggehst. Aber ich weiß, du kommst zurück. Darauf kann ich mich ja verlassen.“

Ich legte die Tasche hin, in der ich gerade Stirnlampe und Batterien verstaut hatte, und ging zu ihm. Ich wusste, dass er mir vertraute, hatte aber irgendwie das Gefühl, dass eine kleine Bestätigung angebracht war.

„Hey, du“, sagte ich, als ich mich vor ihn hinkniete. „Du weißt doch, dass ich wiederkomme, oder?“ Ich kraulte ihn hinter seinen dunkelgoldenen Ohren und schaute ihn an, wobei sich unsere Nasen fast berührten. Arthurs Augen – mit der charakteristischen schwarz umränderten bernsteinfarbenen Iris, die seine weise, stille Ausstrahlung noch zu betonen schien – schauten mich unverwandt an.

Ich gab ihm einen schnellen Kuss auf die Nasenspitze und drehte mich um, um meinen Sohn auf den Arm zu nehmen. Thor schwenkte beide Arme in Arthurs Richtung, also hielt ich ihn näher hin, damit er ihn begrüßen konnte. Als seine winzige, pummelige Hand ihn erreichen konnte, drückte er freundlich Arthurs Nase.

Arthur, ganz würdevoller Gentleman-Hund, blieb vollkommen ruhig und sanft, genau wie bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem neugeborenen Thor. Er legte nur seinen Kopf auf die Pfote, blickte zu uns auf, von einem zum anderen, seufzte kurz und schloss die Augen.

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So vertraut ich mit den üblichen Vorbereitungen auch war, so seltsam fühlte es sich dieses Jahr an, eine vierköpfige Familie zurückzulassen.

Es war fast auf den Tag genau ein Jahr her, dass ich Arthur begegnet war, aber es kam mir vor, als hätte er schon immer zu uns gehört. Tatsächlich fällt es mir und auch Helena schwer, an eine Zeit ohne Arthur zurückzudenken, und wir können uns kaum vorstellen, wie wir je einen Tag geplant haben, ohne ihn einzubeziehen.

Oft werde ich gefragt, wie er uns verändert hat und wie wir es geschafft haben, plötzlich einen Hund in unser Leben zu integrieren. Darauf weiß ich nur eine Antwort: Er gehört einfach zur Familie, nicht mehr und nicht weniger.

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Brasilianischer Regenwald, November 2015

Die Weltmeisterschaft in Brasilien war wie immer eine große Herausforderung und ein bedeutendes Rennen für uns als Team. Es sah ganz danach aus, als könnten wir unseren Platz unter den besten Fünf der Welt verteidigen, wenn wir so gut abschnitten, wie wir hofften, und als eines der sechs besten Teams ins Ziel kamen. Wir wussten, dass wir das schaffen konnten, und hatten wie immer monatelang trainiert, um uns auf das Highlight des Jahres vorzubereiten. Wie damals vor der Reise nach Ecuador hatten wir wieder und wieder unser Equipment überprüft und unsere Strategie besprochen und wir waren ausgeruht und fit durch unser intensives Training – zu Hause wie im Trainingscamp in der Türkei.

Wie die Planer der Strecke angekündigt hatten, sollte das Rennen durch das Feuchtgebiet Pantanal in Westbrasilien so anspruchsvoll wie unvergesslich werden. Sie hatten mit beidem nicht übertrieben.

Ich bin in meiner Karriere als Adventure-Racer an vielen ungemütlichen und gefährlichen Orten gewesen, aber dieser brach wahrscheinlich alle Rekorde. Wir wurden vor Jaguaren, Wildschweinen, Krokodilen und Schlangen gewarnt, von Tropischen Riesenameisen, Vogelspinnen und Moskitos ganz zu schweigen. Näher kommt man an Indiana Jones nicht heran.

Außerdem stellten die Organisatoren weder Schlaf- oder Ruhevorschriften auf, noch gab es vorgeschriebene Dark Zones, die nur bei Tageslicht bestritten werden durften – es zählte allein, wer als Erster durchs Ziel kam. Die Karten waren bestenfalls skizzenhaft, das Terrain war so sumpfig und schwierig, wie wir es nur in den schlimmsten Fällen erlebt hatten, und dazu kamen Temperaturen über vierzig Grad Celsius.

Unser Team war anders zusammengesetzt als noch in Ecuador: Zu Staffan und mir kamen Marika und Jonas. Doch wir waren gut eingespielt und ich freute mich, dass wir im Sommer bei den „Chile Series“ Zweite geworden waren. Es würde ein hartes Rennen werden, doch darauf waren wir ausreichend vorbereitet, glaubte ich.

Eine Racerin aus einem anderen Team hatte am Morgen vor dem Start eine Grundschulklasse besucht, mit den Kindern gesprochen und gemeinsam gelesen. Sie wurde gefragt, ob sie sich vor Jaguaren fürchte. Als sie zurückfragte, ob sie denn Angst haben müsse, nickten alle lange und ernst. Wie sich herausstellte, hatte jedes der Kinder bereits einen Jaguar gesehen. Ich war mir nicht sicher, ob die Tatsache, dass alle das Zusammentreffen überlebt hatten, mir Mut machen sollte oder ob ich mir Sorgen machen musste, dass wir nicht so viel Glück haben würden.

Am Anfang des Rennens stand eine Kajaketappe flussaufwärts. So schön, wie sich das anhört, war nur die erste Stunde. Schon bald wurde es drückend heiß, eins unserer Boote leckte und Wolken ausgehungerter Moskitos fielen über uns her. Da das Warten auf ein neues Boot wertvolle Zeit verschlungen hatte, versuchten wir auf der folgenden Trekkingetappe so schnell wie möglich durch den Wald zu gelangen. Vielleicht zu schnell, doch noch fühlten wir uns für ein zügiges Tempo frisch genug und joggten, so oft es möglich war.

Den Kopf gesenkt und ganz auf den Pfad konzentriert registrierte ich kaum die Spuren der Dschungelbewohner, die vor uns hier gewesen waren. Doch als ich den Untergrund genauer betrachtete, bemerkte ich riesige Pfotenabdrücke. Durch unsere Laufgeräusche hörte ich zuerst nicht das bedrohliche Rascheln ein paar Meter weiter rechts. Da ich den anderen gerade ein Stück voraus war, hielt ich an, um zu lauschen, ob ich mir das nicht nur einbildete. Nein – da raschelte es wieder und ich könnte schwören, dass auch ein Kauen zu hören war. So laut, wie dieses Geräusch war, konnte es nur von dem großen Tier stammen, zu dem auch die Spuren passten. Von einer Großkatze. Einem Jaguar.

Ich spürte, wie sich alle Muskeln anspannten, und hatte wieder die Bilder im Kopf, die ich von Jaguaren auf der Jagd gesehen hatte. Aber dann musste ich an Arthur denken, den leidenschaftlichsten Katzenjäger der Welt. Was würde er jetzt tun? Roch ich womöglich nach Hund, und war das gerade gut oder eher schlecht? Dann aber ließ mich der Gedanke an Arthur mit seiner ruhigen Ausstrahlung, der in einem ebenso gefährlichen Dschungel überlebt hatte, zur Ruhe kommen. Wenn er im Regenwald überleben konnte, konnte ich das auch.

Ich wartete auf die anderen, wir zogen das Tempo an und dann liefen wir bergab (immer gern genommen, besonders bei vierzig Grad) bis zu einer Wechselzone an einem weiten See, dem Übergang zum Packrafting. Die anderen hatten von einem Jaguar nichts mitbekommen, aber Staffan versicherte mir, er habe zwei Wanderspinnen gesehen, eine Art, die – wie es die Informationen der Rennorganisatoren fröhlich verlauten ließen – als „die giftigste der Welt“ galt. Selbst wenn man von dem Schlafentzug und der Entkräftung einmal absieht, ist Adventure-Racing nichts für schwache Herzen.

Packrafts sind leichter und stabiler als Kajaks und außerdem viel langsamer. Am Anfang waren wir noch auf einem Flusslabyrinth unterwegs, wo das keine große Rolle spielte, aber als wir dann bei Gegenwind auf einen weiteren See hinausfuhren, machte das eine Menge aus. Wir kamen nur langsam voran und ich war mir ziemlich sicher, dass wir inzwischen ein gutes Stück hinter unseren beiden größten Rivalen zurücklagen – dem Team der schwedischen Armee und den Litauern. Daher war es vielleicht nachvollziehbar, dass meine Teamkollegen, als wir schließlich die Landezone erreichten, am liebsten zügig den steilen Berg hinaufkommen wollten, der sich aus dem Wasser erhob.

Ich bin nun schon fast zwanzig Jahre Adventure-Racer und weiß, dass es bei wirklich extremen Bedingungen die wichtigste Regel ist, seine Kräfte einzuteilen. Hat man also bei vierzig Grad einen praktisch senkrechten Anstieg vor sich und sprintet dann hinauf, so schnell einen die Füße tragen, kann das nicht gut gehen. Der dichte Dschungel am Fuß des Bergs war schon schwierig genug zu bewältigen, aber der Anstieg danach war grässlich – grässlich schweißtreibend, bei grässlich schwergängigem Untergrund.

Ich ermahnte mein Team, dass sich alle ein bisschen zurückhalten und ihre Kräfte einteilen sollten, aber dann kam kurz vor dem Gipfel ein extrem steiler Grat, der letzte Anstieg, bevor es wieder eben wurde. Irgendwoher nahm Staffan die Superkräfte, um die letzten fünfzig Meter hinaufzurennen. Also rannten wir anderen ebenfalls, um zusammenzubleiben, aber die Gluthitze – es ging nicht das kleinste Lüftchen – forderte zu guter Letzt doch ihren Tribut und wir saßen einfach da, unfähig uns zu bewegen.

Bei der Ankunft in der nächsten Wechselzone waren wir nicht mehr gut in Form – und dass uns das Wasser ausgegangen war, machte es nicht besser. Da sich ein Streckenabschnitt, der auf der Karte wie die einfache Überquerung eines Hügels aussah, als viel länger und anstrengender herausgestellt hatte, kam uns der Verdacht, dass das ganze Rennen viel härter werden würde als alle, an denen wir bisher teilgenommen hatten.

Am Beginn der nächsten Etappe erwarteten uns erneut große Hitze und noch mehr Berge, aber dafür nicht ganz so viele böse Überraschungen, wie ich befürchtet hatte. Lange ging es über Geröll einen Kamm entlang, von dem aus man die Ebene des Pantanal überblicken konnte, und die Götter schickten uns eine sanfte Brise, die uns vor den Stichen der höllischen Moskitos bewahrte. Doch schon bald stand die Sonne wieder hoch am Himmel und mit ihr war auch die Hitze zurück, sodass die folgenden fünfunddreißig Kilometer eine ebenso große Strapaze wurden wie der Aufstieg am Tag zuvor. Wieder ging uns das Wasser aus, aber diesmal beschlossen die Götter uns Bäche und Flüsse vorzuenthalten. Wir hatten schrecklichen Durst und litten, obwohl wir dank der relativ kühlen Nacht zwei, drei Stunden Nachtruhe bekommen hatten, an schwerem Schlafmangel.

Durst und Hitze machen nicht nur alles schlimmer, man ist vor allem dehydriert und dadurch wahrscheinlich verwirrt und blöd im Kopf. Jedenfalls fiel es mir schwer, die anderen anzuspornen, und ich war deprimiert, weil wir so schleppend vorankamen. Wie ein Racing-Freund immer sagt: „Wenn du gemütlich zu Hause sitzt, wärst du gern draußen beim Adventure-Racing, und mitten im Rennen würdest du gern gemütlich zu Hause sitzen.“ Ich war gerade ständig in Gedanken zu Hause.

Als wir endlich die Wechselzone erreichten, wollten wir nichts als essen, trinken und schlafen. Vor allem schlafen. Aber es war keine Zeit, sich ordentlich auszuruhen; wir mussten schnell wieder auf die Beine und weiter – wenn meine Schätzungen stimmten, konnten wir mindestens noch zwei Plätze gutmachen, wenn wir unsere Ruhepause kurz hielten.

Als wir also zur Kajaketappe wieder am Wasser ankamen, waren wir genauso fertig wie am Tag davor. Trotzdem war mir auf unserem Weg hinunter zu den wartenden Booten klar, dass wir auf dieser Etappe eine besonders gute Zeit erreichen mussten, wenn wir unter den ersten Fünf landen wollten.

Beim Fertigmachen der Kajaks spürte ich von hinten einen leichten Windhauch. Wir konnten also mit Rückenwind stromabwärts paddeln. Zum ersten Mal waren die Bedingungen wie dafür gemacht, eine meiner Ideen auszuprobieren, mit denen man Rennen gewinnt. Nachdem ich die beiden Kajaks miteinander vertäut hatte, setzte ich das kleine Segel, dass wir tief unten in unserer Equipmentbox mitgebracht hatten. Marika und Jonas sprangen in das erste Boot, Jonas und ich kletterten in das zweite.

„Jetzt bekommen wir unsere zwei Stunden Schlaf“, sagte ich zu meinem Team, als wir ablegten. Alles lief genau nach Plan. Da beide Boote miteinander vertäut waren, konnten wir uns mit Paddeln und Schlafen abwechseln, wir steuerten vorsichtig durch die Nacht und kamen gut vorwärts.

Besonders bequem schläft man zwar nicht – eingewickelt in eine dünne Rettungsdecke wie ein Würstchen im Schlafrock auf dem Boden eines Kajaks –, aber wenigstens mussten wir mit dem Schlafen nicht bis zum Beginn der nächsten Etappe warten. Wir erreichten die Wechselzone sogar schneller, als ich gehofft hatte. Das war eine der besten Etappen meiner gesamten Adventure-Racing-Karriere. Und so traten wir zum nächsten Abschnitt – dem offenbar härtesten dieses Rennens – etwas zuversichtlicher an.

Eine Stunde später wateten wir durch Sümpfe und Flüsse und kamen nur quälend langsam vorwärts. In diesem Dschungel gab es offenbar nur knochentrockene Gluthitze oder Sümpfe und alles bedeckendes Wasser, aber nichts dazwischen. Und dieser Abschnitt war ein nasser. Uns blieb nichts anderes übrig, als so gut es ging durchs Wasser zu waten – und dabei vor uns mit unseren Stöcken nach Stachelrochen zu tasten.

Eine weitere Stunde später waren Rochen noch das geringste Problem. Jetzt schwammen um unsere Beine ganz andere Wesen herum. Da ich die hilfreichen Hinweise der Veranstalter noch im Kopf hatte, wusste ich auf einmal, welche: Piranhas – eine Art „mit kräftigen Kiefern, wie dafür geschaffen, Fleisch zu zerreißen“.

„Oha! Das ist jetzt nicht wahr, oder?“, rief ich den anderen zu. „Schaut euch die Kerle an. Piranhas. Das müssen Hunderte sein.“

„Ahaaa“, sagte Jonas. „Ist aber wohl in Ordnung. Ich glaube, im Buch stand, dass die nur angreifen, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen oder wenn Blut im Wasser ist.“

„Gut“, sagte ich, „also Ruhe bewahren und bitte nicht bluten.“

Das schien mir auch für den nächsten Flussabschnitt zu gelten. Wir kamen um eine Biegung, als es gerade dunkel wurde, trotzdem konnte ich eine Menge junger Krokodile ausmachen, die nebeneinander am Ufer lagen. Wir hörten die Schnappgeräusche ihrer Kiefer. Es klang, als würden sie sich für die nächtliche Jagd in Stimmung bringen.

Während wir durch den Sumpf, der sich an beiden Ufern erstreckte, langsam an ihnen vorbeiwateten, wurde es immer dunkler. Uns blieb nichts anderes übrig, als unsere Stirnlampen anzuschalten, obwohl wir genau wussten, was dann passieren würde.

Und tatsächlich, als hätten sie hinter den Kulissen nur auf das Bühnenlicht und ihr Stichwort gewartet, waren plötzlich überall Moskitos, Riesenwespen und fliegende Ameisen. Wir spürten ihre bösartigen, juckenden Stiche. Die Ruhe zu bewahren und nicht zu bluten wurde immer schwieriger. Besonders als uns einfiel, dass die Brasilianer diese Tageszeit „Schlangenzeit“ nennen.

Bei unserem letzten Blick auf die Karte war es besonders schwierig gewesen, unsere Position zu bestimmen – wenn im Maßstab 1 : 100 000 ein Zentimeter für einen Kilometer steht, kann man sich vorstellen, dass die Karte nicht besonders detailreich ausfällt. Und wir standen in einem Regenwaldgebiet von 200 000 Quadratkilometern! Gut möglich, dass wir zuletzt ganz falsch gegangen waren, aber wahrscheinlich behielten wir am besten einfach unsere Richtung bei und hofften, dass wir uns grob auf das richtige Gewässer zubewegten, wo die nächste Etappe begann.

„Das ist ja noch schlimmer als Ecuador! Nur dass wir uns diesmal nicht noch um einen Hund kümmern müssen.“ Staffan beugte sich frustriert über die Karte.

Bei dem Gedanken an Arthur überkam mich plötzlich eine seltsame Schwäche. Da stand ich hier in dieser Hitze am anderen Ende der Welt, während er zu Hause im Schnee bei dem Rest unserer Familie war. Hätte ich nicht selbst am besten gewusst, wie viel mir dieser Sport bedeutete, ich hätte mich gefragt, was ich eigentlich hier zu suchen hatte. Ich konnte nichts tun, als kurz innezuhalten und zu hoffen, dass er gerade fröhlich durch den Schnee rannte und mich nicht zu sehr vermisste.

Gleichzeitig wurden die Angriffe der Insekten immer heftiger. In dem Versuch, mich selbst zumindest ein bisschen zu schützen, schaltete ich meine Stirnlampe aus und hoffte auf das Beste. Auf festem Boden bewegten wir uns zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr; überall um uns herum war Wasser. Wir mussten beim Schwimmen versuchen die Richtung beizubehalten, schoben gleichzeitig mit unseren Stöcken die dichte Vegetation vor uns zur Seite und wehrten größere Schlangen und Fische ab.

Schließlich stießen wir wieder auf Land und beschlossen uns eine Pause zu gönnen und einen Blick auf die Karte zu werfen. Wir legten sie auf den Boden, schalteten die Lampen an und beugten uns darüber. Gerade als unsere müden Augen versuchten unseren vermutlichen Standort zu fokussieren, erschreckte uns ein vielfaches durchdringendes Quietschen von links. Wildschweine. Eine ganze Rotte.

Hinter uns war Wasser und links und rechts der Dschungel. Staffan schlug vor, auf einen der drei, vier Bäume zu klettern, die gleich am Ufer standen. Ich fand, sie sahen viel zu dürr aus, um unser Gewicht zu tragen, aber das Quietschen und die Hufgeräusche kamen immer näher und waren schon so laut, dass wir vermutlich auch versucht hätten Bambusstangen hochzuklettern. Just als wir uns an den Ästen hochzogen, hörten wir neues Gequietsche, diesmal von der anderen Seite. Noch eine Wildschweinrotte.

Irgendwo im Dschungel trafen beide aufeinander. Schließlich mussten sie sich geeinigt haben, denn nach einem weiteren quietschenden Gezeter erstarb das Geräusch der Hufe und wir blieben aufgewühlt am Flussufer zurück. Mitten in die Stille hinein war plötzlich ein lautes Krachen zu hören. Das Geräusch von schnappenden Krokodilkiefern ganz in der Nähe in der Dunkelheit.

Jetzt, fand ich, war es angebracht, sich ein kleines bisschen zu fürchten.

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Wie sich herausstellte, waren wir tatsächlich in die richtige Richtung geschwommen und nach weiteren drei Stunden erkannten wir eine Landebahn und mehrere Gebäude. Nachdem wir uns in der Wechselzone dankbar auf den Boden hatten fallen lassen, erfuhren wir, dass zwar vier Teams bereits durchgekommen waren, die Veranstalter aber entschieden hatten, es bliebe nicht genug Zeit, die ganze Rennstrecke zu absolvieren. Bei nur zwei weiteren Renntagen lag noch die Packraftingetappe vor uns und danach 27 Kilometer Trekking, 85 Kilometer Kajak und 251 Kilometer auf dem Mountainbike. Das war selbst für durchtrainierte Ausdauerathleten ein bisschen viel.

Das Rennen wurde daher verkürzt und die Teams wurden in Dreisitzerflugzeugen zum Start der abschließenden Bikeetappe geflogen. Als wir zusammengequetscht in dem winzigen, lauten Doppeldecker über die Ebenen und den Regenwald des Pantanal flogen, war mir nicht danach zumute, die Aussicht zu bewundern. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt auszutüfteln, welche Konsequenzen all das für unsere Position im Rennen haben würde. Zwar war es unmöglich, die Platzierungen auch nur annähernd genau vorherzusagen, doch ich war mir recht sicher, dass unser Platz unter den ersten Sechs der jährlichen Gesamtwertung ernsthaft in Gefahr war, solange vier Teams ins Ziel kamen. Als wir nach einem unruhigen Landeanflug, der unseren Nacken strapazierte, auf dem holprigen Runway aufsetzten, war ich ziemlich niedergeschlagen. Keine gute Einstellung vor dem Start einer zweihundertfünfzig Kilometer langen Bikeetappe, die als eine der härtesten in diesem ohnehin extrem harten Rennen ausgewiesen war.

Fast unmittelbar nach dem Start wurden unsere Bikes durch den Sand ausgebremst, der in alle Ritzen zu dringen schien, von unseren Rädern angefangen bis hin zu unseren Augen und unseren Schuhen. Die Temperatur stieg wieder über vierzig Grad und bald ging uns das Wasser aus. Es war so glühend heiß, dass es niemanden überraschte, als wir ausgerechnet mitten auf unserer Strecke in einiger Entfernung Flammen lodern sahen: offenbar ein riesiges Buschfeuer.

Je näher wir kamen, desto heißer wurde es, und bevor es dunkel wurde, wollten wir abseits unseres Weges versuchen, irgendwo Wasser zu finden – egal in welcher Form. Unser Weg führte uns nah an das Feuer heran, doch als wir es durch das angrenzende Dickicht umgingen, erhellte es mit einem Mal eine schillernde, glitzernde Fläche. Ich begriff, wie es Menschen geht, die in der Wüste halb verdurstet halluzinieren. Dann aber, ganz leise, hörten wir das Geräusch zuschnappender Kiefer. Das konnten nur Krokodile sein, und das wiederum konnte nur bedeuten, dass es hier tatsächlich Wasser gab. Gute und schlechte Nachrichten zugleich.

Es war nicht viel mehr als ein Tümpel. Während wir auf Knien unsere Wasserflaschen füllten, versuchte ich die inzwischen vertrauten Schnappgeräusche auszublenden. Beim Aufschauen jedoch sah ich drei große Augenpaare durch das Halbdunkel schimmern. Die Krokos lagen gerade mal auf der anderen Seite des kleinen Gewässers. Zügig füllten wir unsere Flaschen. Ich hielt meine in den Strahl der Stirnlampe, um nachzusehen, was wir da abgefüllt hatten. Es sah aus wie schlammige Cola. Und es schmeckte dreimal schlimmer. Wir beteten, dass wir uns mit dem Wasser keine obskuren Krankheitserreger eingefangen hatten, und legten uns hin, um eine Stunde dringend benötigten Schlaf aufzuholen.

Als gefühlte Minuten später die Sonne aufging, sah der Himmel viel dunkler aus als am vorherigen Tag. Sollte das tatsächlich bedeuten, dass Wolken aufzogen – und damit Regen? So war es. Als es zu regnen begann, schauten wir zum Himmel auf und es kam uns vor, als würden unsere Körper das ersehnte Nass wie Schwämme aufsaugen.

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Wenig später führte unser Weg einen Fluss entlang. Da uns von den vorherigen Tagen noch immer alles wehtat, entschied ich, dass wir am besten mithilfe unserer Bikes stromaufwärts schwimmen würden – die Luft in den Reifen hielt sie an der Oberfläche und wir kamen gut vorwärts. So gut, dass ich Gelegenheit hatte, mich umzusehen.

Einen Augenblick lang begriff mein Gehirn nicht, was ich da vor mir sah. War es ein besonders dicker Reifen, vielleicht von einem Traktor? Oder eine Baumwurzel, die aus irgendeinem Grund bis in die Flussmitte ragte? Dann begriff ich, dass es eine Anakonda war. Und ich konnte Beulen in ihrem Körper erkennen: Sie fraß gerade etwas. Etwas, das fast so groß war wie sie selbst. Unwillkürlich musste ich an ein Video zurückdenken, in dem eine Anakonda eine Kuh verschlingt. Ich versuchte den Gedanken wegzuschieben und konzentrierte mich darauf, so ruhig ich konnte weiterzuschwimmen, obwohl sie an einem Punkt kaum drei Meter von mir entfernt war.

Als wir die Flussmündung erreichten, hatte ich die vage Ahnung, dass am Ufer Leute angelten, und ebenso vage nahm ich wahr, dass sie uns mit offenem Mund anstarrten. Jau, dachte ich, vermutlich sind wir tatsächlich so bescheuert, wie wir aussehen. Gleichzeitig empfand ich einen tiefen Respekt für die Menschen, die hier lebten – in einem Land, das offenbar alles daransetzte, uns durch die Mangel zu drehen – so wie es die Anakonda machte, an der ich gerade vorbeigekommen war.

Allerdings hatte der Adrenalinschub mir arg zugesetzt, denn sobald wir uns wieder auf unsere Bikes setzten, war die Erschöpfung wieder da und ich fühlte mich fiebrig. Inzwischen stand die Sonne hoch. Die Hitze war unerträglich und der Sand machte es noch schwerer voranzukommen als bisher. Da ich nicht in der Lage war, durch den Sand bergauf zu fahren, schob ich mein Bike. Allmählich stellten sich die klassischen Symptome eines Hitzschlags ein