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Inklusiver Unterricht kompakt

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Claudia Omonsky, Geistig- und Körperbehindertenpädagogin, war als Ausbildungsleiterin für die Heilpädagogische Zusatzausbildung sowie als Referentin in der Schulaufsicht tätig. Seit 2005 arbeitet sie u. a. als Seminarrektorin für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Oberpfalz.

Im Ernst Reinhardt Verlag ebenfalls erschienen:

Petra Breuer-Küppers / Rüdiger Bach:

Schüler mit Lernbeeinträchtigung im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte (2016, ISBN: 978-3-497-02636-4)

Karin Terfloth / Henrike Cesak:

Schüler mit geistiger Behinderung im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte (2016, ISBN: 978-3-497-02635-7)

Tilly Truckenbrodt / Annette Leonhardt:

Schüler mit Hörschädigung im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte (2., durchgesehene Aufl. 2016; ISBN: 978-3-497-02613-5)

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02679-1 (Print)

ISBN 978-3-497-02635-7 (PDF)

ISBN 978-3-497-60405-0 (E-Book)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Cover unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com / Christopher Futcher

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1       Personenkreis und Menschenbild

1.1    Was bedeutet „schwere Behinderung“?

1.2    Inklusion und Lernbedingungen

2       Zusammenarbeit und Kooperation

2.1    Elternarbeit

2.1.1  Grundsätze erfolgreicher Elternarbeit

2.1.2  Anlässe für erfolgreiche Elternarbeit

2.2    Teamarbeit

2.2.1  Mobile Dienste und Sonderpädagogik

2.2.2  Teamteaching

2.2.3  Schulbegleitung

2.2.4  Therapie

3       Alltagssituationen und Pflege

3.1    Förderpflege

3.2    Gestaltung der Lernumgebung

3.3    Essen und Trinken

3.4    Körperhygiene

3.5    Lagerung und Bewegung

3.6    Verabreichung von Medikamenten

4       Kommunikation

4.1    Alles Verhalten ist eine Mitteilung

4.2    Kontaktaufnahme und Ansprache

4.3    Unterstützte Kommunikation

4.3.1  Einsatz von UK am Beispiel „Step-by-Step“

5       Unterricht und Förderung

5.1    Klare Förderziele

5.1.1  Entwicklungsalter

5.1.2  Materialien und Medien

5.2    Rahmenbedingungen

5.2.1  Klassenklima

5.2.2  Rituale und Regeln

5.3    Innere Differenzierung im gemeinsamen Unterricht

5.4    Individualisierung in der Einzelförderung

5.5    Unterrichtspraktisches Beispiel „Wasser“

5.6    Belastungssituationen und Konfliktlösung

5.6.1  Epileptische Anfälle

5.6.2  Aggression und Autoaggression

5.6.3  Chronische Erkrankungen

5.6.4  Stereotypien

5.6.5  Tod und Sterben

Literatur

Sachregister

Vorwort

Anwendung und Inhalt

Diese Handreichung ist für alle Pädagogen geschrieben, die die schulische Entwicklung von Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung begleiten. Denn diese Schüler sind in besonderer Weise darauf angewiesen, dass ihre Grundbedürfnisse abgesichert und Hindernisse aus dem (Lern-)Weg geräumt werden, die sie nicht selbst bewältigen können. Sie brauchen Unterstützung in der Pflege und den Verrichtungen des täglichen Lebens – unabhängig vom gewählten Lernort. In diesen Feldern erwerben sie gleichzeitig Kompetenzen für ihre Alltagsaktivitäten.

Darüber hinaus sollen sie an allem partizipieren dürfen, was als Kultur bezeichnet wird; sie sollen Bildung erfahren können. Im Kontext von Schule sind Pädagogen dazu aufgefordert, hier passende und hilfreiche Lern- und Förderangebote zu machen.

Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung brauchen demnach Lehrkräfte, die sich ihrer mit der entsprechenden inneren Haltung und dem nötigen didaktisch-methodischen Handwerkszeug annehmen.

Für die inklusive Schule bedeutet dies, sich neben allen anderen Anforderungen moderner Schullandschaft auch an den sonderpädagogischen Standards zu orientieren, um den Lern- und Bildungsbedürfnissen aller Schüler gerecht zu werden. So können Schüler mit und ohne Behinderung miteinander lernen – und damit dem Grundgedanken der Inklusion näher kommen.

Hinweise

Zu Beginn eines jeden Kapitels wird kurz der jeweilige Inhalt eingeführt. Konkrete Empfehlungen für den Unterricht sind grau hinterlegt. Die Randspalte dient der Orientierung mittels Symbolen (s. Übersicht) oder Schlagworten. Am Ende eines Kapitels befindet sich im Memo eine Zusammenfassung der zentralen Inhalte.

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Weiterführende Informationen

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Empfehlungen

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Merke!

1 Personenkreis und Menschenbild

In diesem Kapitel geht es darum, sich dem Personenkreis der Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung anzunähern. Eine Mehrfachbehinderung entsteht durch das komplexe Zusammentreffen mehrerer entwicklungshemmender Faktoren. Mit welchem Menschenbild wir den Schülern begegnen, bestimmt unser Handeln. Im Kontext der Inklusion kann es nicht nur um die soziale Teilhabe und das Dabeisein dieser Schüler gehen, sondern auch darum, ihren Bildungsanspruch mit passenden, individuellen Förderansätzen zu verwirklichen.

1.1 Was bedeutet „schwere Behinderung“?

Wer wird mit der Bezeichnung „schwer und mehrfach behindert“ tituliert? Die Beschreibung der Personengruppe stellt sich als sehr vielschichtig dar, denn es handelt sich nicht um eine homogene Gruppe. Behinderungen zeigen sehr vielfältige und höchst unterschiedliche Ausprägungen und Konsequenzen. Der Gesetzgeber zieht dabei eine klare definitorische Grenze zwischen Behinderung und schwerer Behinderung (§ 2 SGB IX).

Komplexität der Beeinträchtigung

Aufgrund der Komplexität der Beeinträchtigungen ist es in der Praxis jedoch oft nicht leicht, zwischen Behinderung, Schwerbehinderung oder Schwerstbehinderung zu unterscheiden. Unterschiedliche Perspektiven wie z. B. eine medizinische, pädagogische oder rechtliche Sichtweise nutzen darüber hinaus erschwerend auch differierende Begriffe und Definitionen – je nachdem, welche Zielsetzung mit der jeweiligen Perspektive verbunden ist. Ungeachtet des Bedürfnisses einer Einteilung nach Leitsymptomen, Normen oder Grenzwerten gibt es „den“ Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung also nicht.

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schwere Behinderung ist Mehrfach-behinderung

Eine schwere Behinderung betrifft immer den ganzen Menschen und ist in der Regel eine Mehrfachbehinderung, die sich aus sehr unterschiedlichen Faktoren zusammensetzt. Dabei können die Fähigkeiten eines Menschen in sozialer, emotionaler, kognitiver, kommunikativer oder körperlicher Hinsicht betroffen sein.

Die daraus resultierenden Kombinationen aus mehreren einschränkenden Bereichen sind überaus vielfältig. Für Lehrkräfte von Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung bedeutet dies, sich in den jeweiligen schwerpunktmäßigen Förderbereichen sehr gut auszukennen. Je nach Ausprägungsform spezialisieren sie sich in mehreren sonderpädagogischen Förderschwerpunkten, sei es geistige und körperlich-motorische Entwicklung, Verhalten oder Sinnesbehinderung.

ICF-Modell

Das sog. ICF-Modell (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) der WHO dient zur interdisziplinären Beschreibung von Behinderung. Von schwerer und mehrfacher Behinderung spricht das ICF-Modell dann, wenn Beeinträchtigungen in mindestens zwei Funktionsbereichen vorliegen. Zugleich schließt das ICF-Modell auch die Aspekte von Aktivitäten und Partizipation mit ein. Es beschreibt damit verschiedene Lebensbereiche, in denen Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung Anregung und Unterstützung benötigen, um dem Ziel der Selbstverwirklichung in sozialer Integration näherzukommen (ISB 2015).

Kompetenzstatt Defizitorientierung

Eine defizitorientierte Beschreibung von einschränkenden und behindernden Faktoren hilft im pragmatischen Kontext von schulischer Inklusion nicht weiter. Eine phänomeno-logische Annäherung an den Begriff der schweren Behinderung hingegen kann hier auf kurzem Raum nicht erfolgen. Als innere Haltung und Hintergrund möchten wir annehmen:

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Jeder Schüler ist individuell und verschieden – in seinen Kompetenzen und zugleich in seinem jeweiligen Förderbedarf, unabhängig von der Schwere der belastenden Faktoren.

1.2 Inklusion und Lernbedingungen

Im Kontext Inklusion tauchen Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung dennoch bisher eher selten auf. Sie sind hier in besonderer Weise auf passende Angebote und Lebensbedingungen angewiesen. Diese müssen vielfach erst noch geschaffen werden, um Lernen und Teilhabe zu ermöglichen. Mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 orientiert sich das Schulrecht aller Bundesländer an deren Vorgaben und versucht, sie schrittweise umzusetzen.

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Die Regelungen der jeweiligen Bundesländer sind jeweils auf den Internetportalen der entsprechenden Ministerien abrufbar.

Die Schullandschaft wird sich jedoch nicht allein durch die Einforderung rechtlicher Vorgaben und Setzungen verändern.

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positive Grundhaltung

Ein wesentlicher Faktor für das Gelingen von inklusiven Bemühungen ist vor allem auch die positive Grundhaltung und Achtung gegenüber Menschen – sei es mit oder ohne Behinderungen.

Dabei ist es zunächst nicht so wichtig, um welchen schulischen Rahmen es sich genau handelt.

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Hogenboom, M. (2014): Menschen mit geistiger Behinderung besser verstehen. Angeborene Syndrome verständlich erklärt. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München

Neuhäuser, G. (2004): Syndrome bei Menschen mit geistiger Behinderung. Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen. Lebenshilfe-Verlag, Marburg

Memo

2 Zusammenarbeit und Kooperation

Bei der Beschulung eines Schülers mit schwerer und mehrfacher Behinderung stehen alle Beteiligten vor einer komplexen Herausforderung. Denn Art und Tempo der therapeutisch-pflegerischen, erzieherischen und unterrichtlichen Angebote unterscheiden sich in der Regel erheblich von denen anderer Schüler, auch im Förderzentrum – insbesondere aber in der Regelschule. Die Fähigkeit zur konstruktiven Zusammenarbeit wie auch das Streben nach bestmöglicher Förderung des Schülers mit schwerer und mehrfacher Behinderung bilden zwei wesentliche Faktoren für das Gelingen schulischer Inklusion.

2.1 Elternarbeit

Meist sind sehr viele Personen mit unterschiedlichsten Professionen bei der Beschulung schwer- und mehrfachbehinderter Schüler beteiligt, z. B. Buspersonal, Pflegekräfte, Therapeuten, Schulbegleitung, Personal der Tagesstätte, Erzieher, Lehrer, Beratungsdienste / MSD (Mobiler Sozialer Dienst), Ärzte, Behörden / Schulamt und nicht zuletzt die Eltern.

Die Erfahrung zeigt: Je schwerer die Behinderung des Schülers ausgeprägt ist, desto mehr muss nicht nur mit ihm, sondern auch über ihn gesprochen werden. Hierbei kommt es zwangsläufig auch leicht einmal zu Missverständnissen oder Unstimmigkeiten, es „menschelt“.

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Erfolgreiche Inklusion hängt maßgeblich auch davon ab, dass alle Beteiligten danach streben, eine kooperative, effektive und professionelle Zusammenarbeit zu pflegen.

Erziehung als gemeinsame Aufgabe