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Titel der Originalausgabe: The Transgender Child – A Handbook for Families and Professionals, Cleis Press

© 2008 by Stephanie Brill and Rachel Pepper

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-497-02604-3 (Print)
ISBN 978-3-497-60261-2 (E-Book)
2., aktualisierte Auflage

© 2016 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Hohenschäftlarn

Covermotiv: © Jens Vogelsang, Aachen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Einführung

1 Ist mein Kind transident? Und: Was ist das?

Was bedeutet Geschlecht?

Die Entwicklung der sozialen Geschlechtsrolle: Aneignung der Geschlechtsrolle und Anpassungszwang

Die Entwicklung der Ich-Identität

Geschlechtsidentität

Was macht eine transidente Person aus?

Typische Altersabschnitte, in denen das Kind sich seiner Transidentität bewusst wird

Transidentität kann man nicht wählen

Verhaltensstile

Die nicht festgelegte Geschlechtsidentität („gender fluidity“)

Geschlechtsspezifische Ausdrucksformen oder Geschlechtsidentität?

Zwingen Sie Ihr Kind nicht, eine bestimmte Geschlechtsidentität anzunehmen

Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsvarianz

Mit der Vielfalt sexueller Orientierungen und Geschlechtsvarianz leben lernen

2 Von der Familie akzeptiert: Gestärkt aus der Krise gehen

Reaktionen des Vaters

Konflikte innerhalb der Familie

Akzeptanz benötigt Zeit

Das Kind im Übergangsstadium

Helfen, die persönliche Krise erträglich zu gestalten

Die Geschwister

Die kompetenten Eltern

3 Über Entwicklungsstadien des transidenten Kindes

Altersgruppen und Entwicklungsstufen

Pubertäre Veränderungen

4 Mein Kind abholen, wo es steht: Erziehung als Hilfe zur Identitätsentwicklung

Zerstörerische Erziehungspraktiken

Erfolgversprechende Erziehungspraktiken

Wirksame Komponenten einer unterstützenden Erziehung

5 Entscheidungen während der Übergangszeit: Ab wann soll mein Kind seine Identität im anderen Geschlecht leben können?

Die Wandlung als Prozess

Die Gefahr ambivalenter Äußerungen

Der angemessene Fahrplan für den Wandel

Wie sollen wir beginnen?

Vorübergehend ohne Pronomen auskommen

Pronomen ändern und das Geschlecht respektieren

Der Platz der Eltern in der Gefühlswelt ihres Kindes

Eltern müssen Mut zeigen

6 Sich mit der Umwelt arrangieren: Wem erzähle ich von unseren Entscheidungen – wie, warum und wann?

Die angemessene Sprache lernen und den Mut finden, sich mitzuteilen

Kommunikation mit der Verwandtschaft

Geheimnis und Privatsphäre

Die Spreu vom Weizen trennen: Welche Freunde bleiben erhalten, wenn man ein transidentes Kind hat?

Offenlegung gegenüber Dritten

Kulturelle, religiöse und ethnische Einflüsse

Die Furcht gemieden zu werden

Umgang mit negativen Reaktionen

Familienfotos

Häufig gestellte Fragen und wie man sie beantworten kann

7 Unsere Familie und das Erziehungs- und Bildungssystem

Wie Schulen geschlechtsvarianten oder transidenten Kindern helfen können – Eine schrittweise Einführung

Das Thema „Geschlecht“ im Klassenzimmer

Auf zur Uni: Entscheidungen und Herausforderungen

8 Medizinische Maßnahmen: Hormonelle Behandlungen

Medizinische Maßnahmen

Wie treffen Eltern medizinische Entscheidungen für ihre Kinder?

Besuch in einer Klinik für Geschlechtsangleichung

9 Bedenkenswerte rechtliche Aspekte

Formulare und Dokumente

Rechtliche Angelegenheiten in der Schule

Mit geschlechtsspezifischen Aktivitäten, Formularen und Dokumenten richtig umgehen

Sorgerechtsstreitigkeiten und Scheidungsfolgen

Schlussfolgerungen

Nachwort der Übersetzer zur 2. Auflage

Anhang

Modellbildende Personen für unser Kind

Beispiele für medizinische Gutachten

Glossar

Literatur

Internetadressen

Über die Autorinnen

Vorwort

Autobiografische, soziologische und psychologische Publikationen über Transidentität gibt es zur Genüge. Während in Autobiografien die Betroffenen meistens leidvoll über ihr erstes geschlechtsbezogenes Unbehagen berichten, gibt es wenige Studien darüber, ob sie eine angemessene Untersuchung, Beratung oder Unterstützung erfahren haben. Studien über frühe medizinische Betreuung fehlen gänzlich. Bis zur Einführung des Internets, waren Eltern von transidenten Kindern überzeugt, sie seien die einzigen Eltern auf diesem Planeten, die vor dem Rätsel der abweichenden Geschlechtsidentität ihres Kindes von seinem vorgegebenen genotypischen, phänotypischen und biochemischen Geschlecht stehen.

Sobald das abweichende Geschlechtsverhalten eines Kindes für die enge und weitere Familie, für Nachbarn, Schulkameraden und Schuladministratoren offensichtlich wird, werden die meisten Kinder oft zum Opfer von Spott, verbaler und körperlicher Aggression. Daher hat man Eltern geraten, das Geschlechtsverhalten ihrer Kinder „umzudrehen“ oder ihren Zugang zu gegengeschlechtlicher Kleidung und anderem Spielzeug auf ein Zimmer im Haus zu beschränken und ihren Kindern zu sagen, ihr atypisches Geschlechtsverhalten nirgends zu zeigen, weder verbal noch durch Kleidung oder Verhalten. Diese Darstellungen werden durch wenige Langzeitstudien belegt, die zeigen, dass weniger als zwanzig Prozent der Kinder mit abweichendem Geschlechtsverhalten transidente Erwachsene werden. Meistens wurden Jungen untersucht und die Mehrzahl der gefundenen Probanden mit abweichendem Geschlechtsverhalten wurde als schwul definiert. Diese Studien wurden allerdings in Frage gestellt, weil die Mehrzahl der Probanden aus Kliniken kam und noch andere Grundkrankheiten hatte. Des ungeachtet bleibt die Frage, wie man einem acht- bis zehnjährigen Kind hilft, das fünf Jahre lang oder länger mit seiner Transidentität ringt und das entsetzt ist über den zu erwartenden Beginn der Pubertät.

Ungeachtet der Tatsache, dass eine Störung der Geschlechtsidentität nach dem DSM-IV, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und statistisches Handbuch für psychische Störungen) – ein Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung – eine psychiatrische Diagnose bleibt, und obwohl es in den meisten Großstädten psychiatrische Spezialisten gibt, die in der Beurteilung und Beratung älterer Teenager, Heranwachsender und Erwachsener bewandert sind, kennen sich jedoch nur herzlich wenige mit den wirklichen Problemen vorpubertärer Jugendlicher und deren Eltern aus. Auch die Tendenz, dass Kinderärzte komplexere Fälle, wie z. B. abweichendes Geschlechtsverhalten bei Kleinkindern und Kindern, an Kinderpsychiater überweisen, die über eine langjährige Ausbildung verfügen, zeigt, dass nur wenige überhaupt Erfahrung mit primären Störungen der Geschlechtsidentität haben. Viele neigen daher dazu, Symptome dieser Art als Depression oder Angstneurosen zu diagnostizieren und zu behandeln, statt auf die zugrunde liegenden Geschlechtskonflikte einzugehen. So etikettieren sie häufig das Kind in seiner Gefühlslage als „bipolar“.

Obschon es nur wenige kompetente psychiatrische Spezialisten für das junge Kind mit abweichendem Geschlechtsverhalten gibt, so gibt es noch weit weniger Kinderärzte, Spezialisten für Heranwachsende oder pädiatrische Endokrinologen, die sich mit pharmakologischen Methoden der Pubertätshemmung und der Verabreichung von gegengeschlechtlichen Hormonen (cross-sex hormones), das sind Geschlechtshormone des angestrebten Geschlechtes, auskennen.

Erst seit kurzem ist das Thema der Geschlechtsidentität, das nicht im Zusammenhang mit Störungen der Geschlechtsentwicklung steht, Gegenstand von Diskussionen über pädiatrische Endokrinologie auf wissenschaftlichen Tagungen in Nordamerika geworden. Im westlichen Europa steht dies bereits auf der Agenda.

Pädiatrische Endokrinologen sind Spezialisten, die mit der Medikation von Hormonen, die die Pubertät hemmen oder beschleunigen, gut vertraut sind. Diese Spezialisten spielen eine Schlüsselrolle bei den schweren Entscheidungen über medizinische und chirurgische Eingriffe nach entsprechenden Beurteilungen des Kindes, dessen Genitalien nicht eindeutig oder veränderbar sind. In einigen Fällen mag das Geschlecht eines Kindes „bestimmt“ worden sein, das sich vom genotypischen Geschlecht unterscheidet. Einige unrühmliche Fälle sind in den letzten zwei Dekaden öffentlich geworden und hatten einen dauerhaften Einfluss auf die Einstellungen der Ärzte, da einige junge Erwachsene ihre genotypische Geschlechtsausprägung bestätigten und die psychiatrischen Zuweisungen zurückwiesen. Kritik von erwachsenen ehemaligen Patienten – von denen einige ihr eigenes Hilfs-Netzwerk gründeten – an ihrer früheren Behandlung drängten pädiatrische Endokrinologen und Urologen in die Defensive. Einige stellten sogar ihre Fähigkeiten, Entscheidungen über transidente Kinder zu treffen, in Frage. Auch waren Endokrinologen nur noch bedingt bereit, sich mit Störungen der Geschlechtsidentität insbesondere dann zu befassen, wenn sie als psychiatrische Gegebenheit betrachtet wurde. Die meisten hofften, dass die Patienten in psychiatrischer Behandlung blieben, bis sie alt genug waren, um von Fachärzten der Inneren Medizin oder von Endokrinologen hormonell behandelt und betreut zu werden.

Durch das Internet, durch Informationen von internationalen Konferenzen und amtliche Verlautbarungen haben Eltern, psychiatrische Fachkräfte und Ärzte nun Informationen bekommen, mit welcher Fachkompetenz die Niederländer die Pubertät verzögert und über 100 Heranwachsende mit gegengeschlechtlichen Hormonen behandelt haben. Suizidversuche, die andernorts häufig vorkommen, sind nahezu unbekannt, da Eltern und Kinder wissen, dass sie Hilfe bekommen und dass sie in einer Gesellschaft leben, die für ihre Toleranz bekannt ist.

Zurzeit stehen wir an einem Scheideweg. Wir warten darauf, das niederländische Regelwerk für die Hormonbehandlung Heranwachsender vor ihrer Pubertät übernehmen zu können. Noch haben wir keine Genehmigung seitens der Krankenversicherungen für die Kostenübernahme der teuren Arzneimittel, und es fehlt der Druck der medizinischen und psychiatrischen Gesellschaften, dies zu fordern. Die Frustration bei den Eltern steigt und wird durch die Erfahrung verstärkt, was alles gemacht werden könnte, wenn man nur wollte. Wie bei anderen, relativ seltenen Krankheiten und Phänomenen sind auch hier die Eltern den Gesundheitsfachleuten in Bezug auf Wissen und Engagement in der Regel voraus. Bis heute ist aber noch kein Ratgeber oder Handbuch über transidente Kinder und ihre Familien geschrieben worden. Nun endlich haben wir ein solches Buch, und es verdient einen Platz im Büro oder im Hause eines jeden, der sich mit transidenten Kindern und deren Eltern befasst: Gesundheitsexperten, Sozialarbeiter, Lehrer und Schuladministratoren und natürlich Eltern und Verwandte.

Norman P. Spack MD

Senior Associate, Endocrine Division
Children’s Hospital Boston
Dept. of Pediatrics, Harvard Medical School

Einführung

„Mama, ich habe es dir doch schon so oft gesagt, ich bin ein Mädchen, also hör auf, ER zu mir zu sagen!“

Alejandro hat es seinen Eltern zu sagen versucht, kaum dass er sprechen konnte, dass er eigentlich ein Mädchen ist. Er krabbelte in den Kleiderschrank seiner älteren Schwester, um ihre Kleider anzuziehen. Er wickelte seine Haare in ihre Schals und Tücher. Er war ständig mit Mamas Make-up geschminkt und trug ihre Schuhe. Mit drei Jahren weinte er sich regelmäßig in den Schlaf und fragte Gott, warum dieser einen Fehler gemacht hatte. Mit vier sprach er offen darüber, sich das Leben zu nehmen und davon, dass er nicht zu dieser Welt gehöre und lieber verschwinden wolle. Seine Eltern dachten ursprünglich, es handele sich um eine Phase, um etwas, dass jedes Kind in seiner Entwicklung irgendwann einmal durchmacht. Aber als die Phase nicht enden wollte, war die einzige Erklärung, die sie hatten, dass ihr Junge wahrscheinlich schwul sei. Ein Berater hatte damals vermutet, dass Alejandro möglicherweise transident sei.

Ninas Eltern brauchten einige Jahre um zu begreifen, dass Nina die Frage: „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“, immer auf die gleiche Weise beantwortete. Sie sagte: „Ich bin Nina.“ Zuerst fanden alle die Antwort niedlich, aber als sie älter wurde, dachten alle, Nina würde sie an der Nase herumführen, weil sie die Frage nicht beantwortete. Des Weiteren waren ihre Eltern oft mit ihr böse, weil Nina ungezogen war. Nina versuchte immer wieder zu erklären, dass sie sich weder wie ein Mädchen noch wie ein Junge fühlte. Warum spielte das alles überhaupt eine Rolle – warum konnte sie nicht einfach sie selbst sein? Ihre Eltern gaben ihr mit Nachdruck zu verstehen, dass sie ein Mädchen sei, in der Annahme, dieses Verhalten würde die Angelegenheit erledigen. Für Nina war das alles leider nicht leicht zu ertragen. Jedes Mal, wenn sie eine Geschlechtsrolle wählen musste, z. B. wenn sie sich in der Klasse zu den Mädchen oder zu den Jungen aufstellen sollte, empfand sie Beklommenheit, und es fiel ihr schwer, den Anweisungen zu folgen. Schließlich hat eine einfühlsame Lehrerin die Zusammenhänge erkannt, als Nina begann, sich in die Hose zu machen und vor dem Aufstellen in der Garderobe stehen blieb. Ein Kinderpsychiater kam dann auf die Idee, dass Nina sich möglicherweise geschlechtsunspezifisch oder mehrgeschlechtlich oder geschlechtsvariant fühlte.

Was sagen uns diese Berichte? Im Laufe der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Kinder, die die traditionellen Geschlechterdefinitionen abgelehnt haben. Aber elterliche Erziehung und gesellschaftliche Erwartungen haben immer dazu geführt, dass diese Kinder ihre Identität vor anderen und manchmal sogar vor sich selbst verstecken mussten.

Das Thema der Geschlechtsrolle gewinnt zunehmend an Bedeutung. In der Gegenwart ist es schwierig geworden, seinem Kind gegenüber zu rechtfertigen, was seine geschlechtliche Bestimmung ist oder nicht ist, denn der seelische Schaden wird offensichtlich, wenn die persönliche Identität des Kindes verleugnet wird. Mehr als je zuvor verstehen wir heute, dass die Vorgaben, die die Gesellschaft der Geschlechtsrollenidentifikation auferlegt, in vielerlei Hinsicht willkürlich sind. Die Wissenschaft erforscht derzeit, was genau angeboren und was kulturell überformt, unterstützt oder erzwungen ist. Eltern sehen sich daher heute mit der aufregenden und zugleich beängstigenden Aufgabe konfrontiert, Kinder in einer Welt großzuziehen, die das Verständnis der Geschlechtsrollenidentifikation erweitert.

Heutzutage kann die Darstellung der Geschlechtsrollen nicht länger als eine Kategorie mit zwei Optionen betrachtet werden. Diese Denkweise ist unzeitgemäß. Sie kann mit der Ansicht verglichen werden, die Welt bestehe aus klar voneinander unterschiedenen rassischen Kategorien, ohne zu erkennen, dass ein ständig wachsender Prozentsatz der Bevölkerung in wunderbarer Weise multi-ethnisch ist. Mit der Geschlechtsrollenidentifikation ist es sehr ähnlich. Den meisten von uns wurde beigebracht – und die meisten halten noch immer an dieser Vorstellung fest –, dass es nur zwei deutlich voneinander unterschiedene Geschlechtskategorien gibt, nämlich männlich und weiblich. Aber in Wahrheit sind die meisten Menschen, wenn nicht sogar alle, eine Kombination von beiden.

Auf der anderen Seite: Kindern zu erlauben, ihrer natürlichen Neigung nachzugehen, kann für Eltern befremdend und beängstigend sein, wenn dies eine Abweichung von bisher verlässlichen und gewohnten Pfaden der Erziehung bedeutet. Wir als Forscher, Autoren und Eltern sind uns der Schwierigkeiten bewusst, denen sich Eltern gegenübergestellt sehen, wenn sie zum ersten Mal ein transidentes oder geschlechtsvariantes Kind verstehen und unterstützen wollen. Wir wissen natürlich auch, dass alle Eltern letztlich nur das Beste für ihre Kinder wollen. Wir hoffen, dieses Buch wird besorgten Familien nützliche Hilfen geben, ihren Kindern mit nicht konformer Geschlechtsidentität so zu begegnen, dass diese sich sowohl in ihrem Körper als auch in der Welt wohlfühlen.

Man muss die Augen offen halten und bereit sein zu lernen, um zu erkennen, dass Kinder und Heranwachsende nicht anders können, als uns vor Augen zu führen, dass Geschlechtsidentität in Wirklichkeit ein weites Spektrum von Phänomenen darstellt. Wenn wir zusehen könnten, wie sich Kinder auf natürliche Weise – bewusst oder unbewusst – ohne die gesellschaftlichen Verstärkungen in Geschlechtsrollen und -erwartungen entfalten, wir würden staunen. Viele Eigenschaften, die wir dem Männlichen oder Weiblichen zuschreiben, werden beigebracht und gelernt. Tatsächlich sind viele Aspekte der Geschlechtsidentität nicht angeboren, sondern gesellschaftlich bedingt. Viele Anhänger der Geschlechtsrollen-Position würden daher sagen, dass man sein Geschlecht im nächsten Textildiscounter kaufen kann.

Wie aber erziehen, unterstützen und begleiten besorgte Eltern ihre Kinder zu einer „gesunden Geschlechtsidentität“? Dies ist eine komplizierte und oft verwirrende Aufgabe. In diesem Buch stellen wir uns dieser Aufgabe, indem wir mit der Aufklärung über Geschlechtsidentität beginnen. Wir werden aufzeigen, was wir alle tun können, um Kinder in der Entwicklung ihrer gesunden Geschlechtsidentität zu fördern – in ihren Herzen und in ihrem Kopf, innerhalb ihrer Familien, in ihren Schulen und in ihren Altersgruppen. Wir können Begriffe wie Transidentität und Geschlechtsvarianz nicht verstehen, wenn wir nicht verstehen, was der Begriff Geschlechtsrolle bedeutet.

Zwei wichtige Schritte müssen getan werden, um geschlechtsvariante und transidente Kinder positiv zu unterstützen und zu erziehen. Der erste Schritt besteht darin, sich gründlich über den derzeitigen Wissensstand zum Thema Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle zu informieren. Der nächste Schritt besteht darin, sich von überkommenen Überzeugungen zu lösen, um das gesamte Spektrum dessen wahrzunehmen, was Geschlechtsidentität tatsächlich ist. Dieses Erlernen und Verlernen ist wichtig für alle Eltern, also nicht nur für Eltern geschlechtsvarianter oder transidenter Kinder. Die betroffenen Eltern erfahren dann, dass sie nicht allein sind.

Da wir seit Langem schon überzeugt sind, dass es höchste Zeit ist, ein Buch für Eltern mit geschlechtsvarianten und transidenten Kindern zu schreiben und zu publizieren, haben wir beschlossen, gemeinsam dieses Buch zu schreiben. Wir wissen, dass es Tausende von Familien gibt, die jeden Tag mit den gleichen Herausforderungen kämpfen. Für sie alle kann dieses Buch eine Art Rettungsinsel sein, auf der sie lernen können, nicht unterzugehen. Und für diejenigen, die schon sicherer sind in ihrem Erziehungshandeln, kann dieses Buch eine Bestätigung sein, dass Sie auf dem richtigen Weg sind. Insofern hoffen wir, neue Ideen und Perspektiven anzubieten.

Wir beginnen dieses Buch, indem wir den Weg beschreiben, den Eltern gehen müssen, um herauszufinden, ob Ihr Kind möglicherweise transident oder geschlechtsvariant ist. Dabei werden wir unsere Begriffe definieren, um Eltern zu befähigen, Probleme besser zu verstehen und angemessen diskutieren zu können. Dann werden wir der Frage nachgehen, wie man denn ein solches Kind erzieht und wie die Familie sich am besten mit der Umwelt auseinandersetzen kann. Wir geben detaillierte und aktuelle Informationen sowie Hinweise über bekannte Therapien, Hormone und Hormonbehandlungen. Ein Kapitel über rechtliche Aspekte, die vom National Center for Lesbian Rights (NCLR) legitimiert sind, schließt das Buch ab.

Unsere persönliche Legitimation ist auf drei Ebenen angesiedelt. Erstens beruht dieses Buch auf unserer langjährigen persönlichen Erfahrung mit Familien, die geschlechtsvariante und transidente Kinder und Heranwachsende haben. Wir beide haben auch immer wieder ausführlich über transidente Teenager und ihre Erfahrungen im College, über die Entwicklung der Geschlechtsidentität bei kleinen Kindern und im Allgemeinen über Schwangerschaft und Erziehungsangelegenheiten publiziert.

Zweitens beruht dieses Buch auf jahrelanger professioneller Forschung, die wir beide über Themen, wie z. B. die soziale Konstruktion des Geschlechts und den Einfluss von Familienleben und religiösen Praktiken auf die Gesundheit und das Wohlergehen von geschlechtsvarianten Kindern und Erwachsenen, durchgeführt haben. Einige Ergebnisse dieser Forschungen werden in diesem Buch in Form von Übersichten und Interviews vorgestellt, z. T. unter Verwendung von Zitaten einiger besonders engagierter Experten auf diesem Gebiet, wie z. B. den Aktivistinnen Jenn Burtleton und Lydia Sausa, den Therapeuten Reid Vanderburgh und Jana L. Ekdahl, den Rechtsanwältinnen Shannon Price Minter und Jody Marksamer von der NCLR, Dr. Caitlin Ryan vom „Family Acceptance Project“ sowie den Endokrinologen Dr. Norman Spack, Dr. Nick Gorton und Dr. Irene Sills. Wir danken den führenden Experten für ihre Beteiligung an diesem Projekt und für ihren Glauben an dieses Projekt. Organisationen und Einrichtungen, wie z. B. das „Family Acceptance Project“ und „The Park Day School“ haben uns ebenfalls positiv unterstützt und angeregt.

Drittens ist dieses Buch durch Stephanies vielfältige Vorträge vor Sozialarbeitern, Therapeuten, Kinderärzten, Dienstleistern der pädiatrischen Gesundheitsfürsorge und des öffentlichen Gesundheitswesens, vor Mitarbeitern in Vor- und Grundschulen, High Schools, vor College-Klassen und in medizinischen Lehranstalten bereichert worden. Stephanie hat diese Arbeit sowohl alleine als auch in Zusammenarbeit mit „Gender Spectrum Education and Training“ durchgeführt. Kurz, dieses Buch ist eine Quelle, der man vertrauen kann.

Nicht zuletzt ist dieses Buch auch für Pädagogen und Fachkräfte geschrieben, die mit Kindern zu tun haben. Die Informationen in diesem Buch können Ihnen helfen, Ihr Verständnis für geschlechtsvariante und transidente Kinder zu vertiefen und ein Erziehungshandeln zu fördern, das einerseits für ein sichereres Umfeld sorgt und andererseits den Bedürfnissen von Kind und Familie gerecht wird. So kann unser Buch eine Hilfe für Profis und Eltern werden. Wir schicken nun Leserinnen und Leser mit diesem Buch auf Entdeckungsreise. Dabei sollten wir alle stets daran denken: Alle Kinder sind einzigartige, wunderbare Menschen, die unsere bedingungslose Liebe und Unterstützung verdienen. Wir hoffen auf Ihre Zustimmung.

Stephanie Brill und Rachel Pepper

1 Ist mein Kind transident? Und: Was ist das?

„Es ist so amüsant, wenn mich jemand fragt, wieso ich denn weiß, dass ich ein Junge bin. Ich frage dann einfach zurück, wie er denn wisse, dass er ein Junge ist. Das ist einfach eine alberne Frage. Es gibt Dinge im Leben, die man einfach weiß. Ich habe es schon mein ganzes Leben lang gewusst.“ (Tommy, 7-jähriger transidenter Junge)

„Wir, Andis Eltern, sind mit zwei Alternativen konfrontiert: Wir hätten ‚ihr‘ erlauben können, sich entsprechend zu verwirklichen und dann dafür sorgen können, ihr eine sie so weit wie möglich unterstützende Umwelt zu schaffen, oder wir hätten ihr beibringen müssen, ihre wahre Ich-Identität zu unterdrücken und dabei Gefahr zu laufen, dass sie in Depressionen verfällt und ein geringes Selbstwertgefühl entwickelt. Mit anderen Worten, entweder hätten wir sie an die Welt anpassen müssen oder wir hätten eine Welt schaffen müssen, die sich ihr anpasst. Wir haben uns dafür entschieden, Andi voll und ganz darin zu unterstützen, sich als das auszudrücken, was sie wirklich ist – ein Mädchen –, wo immer uns dieser Weg auch hinführen wird.“ (Elternteil eines 6-jährigen transidenten Mädchens)

Es gibt gewiss einen Anlass, warum Sie dieses Buch in die Hand genommen haben. Am wahrscheinlichsten ist, dass Sie ein Elternteil sind, der mit einem geschlechtsvarianten oder transidenten Kind lebt und dieses erzieht oder der jemanden kennt, der in einer ähnlichen Lage ist. Wenn dies zutrifft, dann entstehen bestimmt Fragen, was man in diesem Fall tun soll, wie man das Kind unterstützen und für es eintreten soll und wie man die Zukunft für das Kind und die Familie gestaltet. Dies trifft auch auf den Lehrer, Arzt oder Therapeuten zu, der ein geschlechtsvariantes Kind begleitet bzw. dieses schon als transident erkannt hat und weiterreichende Informationen sucht, wie ein solches Kind am besten zu verstehen und weiter mit ihm zusammenzuarbeiten ist. Vielleicht sind Sie unsicher, was die vielen Begriffe und Definitionen bedeuten und was sie voneinander unterscheidet. Es besteht also die Bereitschaft zu lernen. In jedem Fall aber ist die Frage aufgetaucht, ob das eigene Kind oder das anderer Eltern transident ist und es werden Antworten erwartet.

Kommen transidente Kinder häufig vor?

Wie häufig transidente Kinder vorkommen, weiß man nicht genau. Einige Experten für Geschlechterfragen sprechen von einer Häufigkeit von 1 zu 500. Dies erscheint zwar als plausibler statistischer Wert, aber die Häufigkeit dürfte tatsächlich höher liegen. Ältere Studien, die sich allerdings nur auf Statistiken von umoperierten männlichen Transsexuellen beziehen, beziffern die Häufigkeit mit 1 zu 20.000. Diese Zahl wird von engagierten und erfahrenen transidenten Erwachsenen heute stark angezweifelt und sie hat sicher in Bezug auf die Zahl der geschlechtsvarianten bzw. transidenten Kinder, die in jüngster Zeit auftauchen, keine Relevanz. Dr. Harvey Makadon von der Harvard Medical School kommt sogar zu dem Schluss, dass es nicht möglich sei, überhaupt relevante Statistiken zu erstellen, da die Ärzte in den USA bevölkerungsbezogene Studien zu diesem Thema nicht durchführen können. Somit kann derzeit niemand mit Gewissheit sagen, wie viele transidente Kinder es tatsächlich gibt.

Wie kann man feststellen, ob ein Kind transident ist?

Wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass Eltern auf die Frage: „Ist mein Kind transident?“ schnell Gewissheit haben möchten. Aber wie das mit vielen Dingen im Leben so ist, kann die Antwort schwierig sein oder sich nur im Laufe der Zeit ergeben.

Zum Glück sind die meisten Kinder in dieser Sache sehr eindeutig. Wenn ein Kind sich vor die Wahl – Junge oder Mädchen zu sein – gestellt sieht, fühlt es sich eindeutig als das eine oder andere. Natürlich gibt es auch Kinder, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen oder sogar beiden. Und je mehr Möglichkeiten man ihnen gibt, desto größer wird die Spannbreite der Antworten. Wenn allerdings die ersten Worte der achtzehn Monate alten Tochter die sind: „Ich Junge“, oder der zweijährige Sohn darauf besteht, dass er ein Mädchen ist und sich diese Äußerungen in den nächsten Jahren nicht ändern, dann kann man ziemlich sicher sein, dass das Kind transident ist. Damit ist nicht gemeint, dass man, sobald der Knirps etwas Niedliches oder Verwirrendes sagt, annehmen könnte, dieses Kind sei transident. Aber wenn das noch auf wackeligen Beinen gehende Kleinkind über eine längere Phase hinweg darauf besteht, dem anderen Geschlecht zuzugehören und diese „Phase“ kein Ende nimmt, dann handelt es sich um keine vorübergehende Phase.

Dr. Norman Spack, ein Experte auf diesem Gebiet und Gründer der GeMS Clinic am Children’s Hospital Boston, das sich auf Kinder mit Störungen der geschlechtlichen Differenzierung oder Transidentität spezialisiert hat, weist darauf hin, dass es ein paar wichtige und eindeutige Signale gibt, mit denen Kinder ihre Geschlechtsidentität in typischer Weise offenbaren. Zum Beispiel sollte man auf das Verhalten des Kindes auf der Toilette achten (Besteht die kleine Tochter darauf, beim Pinkeln zu stehen?) oder darauf, dass transidente Kinder eine sehr starke Abneigung haben, die Badesachen für ihr biologisches Geschlecht anzuziehen oder darauf, welche Art der Unterwäsche das Kind auswählt (Will der Sohn unbedingt die hochgeschnittenen Mädchenslips mit Blümchenmuster tragen?) oder darauf, ob das Kind ein ausgeprägtes Verlangen zeigt, mit dem Spielzeug des anderen Geschlechts zu spielen.

Dr. Spack hält diese vier Verhaltensweisen für zuverlässige Indikatoren der Transidentität, da die kleinen Kindern, mit denen er sich zum ersten Mal trifft und die u. U. seine Patienten werden, ja noch nicht in der Lage sind, ihre Empfindungen mit klaren Worten auszudrücken. Wenn alle vier Verhaltensweisen auftreten, so Spack, „ergibt alles einen Sinn. Diese Kinder machen mit jeder Bewegung und mit jedem Wort eine klare Aussage.“

Die überwiegende Mehrheit der geschlechtsvarianten Kinder, ist jedoch nicht transident, sondern lediglich nicht geschlechtskonform. In der Absicht, das Richtige für ihr Kind tun zu wollen, müssen sich Eltern also vorher gut über die vielfältigen Formen der Transidentität informieren. Die richtige „Diagnose“ ist nicht immer einfach zu stellen. Im Verlaufe unseres Buches, werden wir deshalb sowohl über geschlechtsvariante als auch über transidente Kinder sprechen.

Die brennende Frage: Bin ich schuld daran?
Wie kann ich Abhilfe schaffen?

Erziehung ist nicht die Ursache für Transidentität oder geschlechtsvariantes Verhalten beim Menschen. Die Phänomene sind auch nicht die Folge von Scheidung, Kindesmisshandlung, Enttäuschung über das Geschlecht des Kindes oder von zu großer elterlicher Liebe, Strenge oder häufiger Abwesenheit. Nichts, was Eltern oder Erziehungsberechtigte tun oder lassen, kann dazu führen, dass das Kind Transidentität oder Geschlechtsvarianz entwickelt; Studien, die der Erziehung den primären Einfluss auf die Entwicklung einer Transidentität oder Geschlechtsvarianz zuschreiben, sind weitestgehend widerlegt worden. Sie beruhen auf Thesen, die heute im Großen und Ganzen im psychiatrischen Gesundheitswesen und bei Medizinern keine große Rolle mehr spielen. Zudem unterscheiden sie nicht klar zwischen den Ausdrucksformen der Geschlechtsvarianz und der Transidentität. Wenn man also Ansätze dieser Art bei Ärzten, Psychologen und anderen Fachleuten vorfindet, dann sollte man sich schnell nach anderen Betreuern umschauen, die nach dem aktuellen Forschungsstand praktizieren. Auch wenn von Fachleuten behauptet werden sollte, man könnte die vom Kind angestrebte Geschlechtsidentität ändern, dann stimmt das überhaupt nicht. Man kann eben nichts tun, um die Geschlechtsidentität eines Kindes zu verändern, denn sie ist eine Kerndimension der Ich-Identität. Allerdings kann das Erziehungsverhalten der Eltern einen gewissen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung des Kindes haben, wie es sich in Bezug auf seine Geschlechtsidentität fühlt. Ehe wir weiter in das Thema einsteigen, möchten wir einige Begriffe klären, denen man in den nachfolgenden Erörterungen immer wieder begegnen wird:

Biologisches bzw. anatomisches Geschlecht: Der Begriff biologisches Geschlecht bezieht sich auf die physischen Körpermerkmale und wird verwendet, um das Geschlecht bei der Geburt zu bestimmen. Obwohl die meisten Menschen davon überzeugt sind, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, nämlich männlich oder weiblich, ist das nicht wahr. Tatsächlich gibt es eine große Bandbreite möglicher Variationen in der menschlichen Anatomie und in der Kombination der Chromosomen.

Geschlechtsidentität: Der Begriff Geschlechtsidentität bezieht sich auf die von einer Person verinnerlichte, tief gefühlte Gewissheit, männlich, weiblich, beides oder keines von beiden zu sein. Diese Empfindung kann von der bei der Geburt gegebenen und festgestellten biologischen Geschlechtszugehörigkeit abweichen. Da die Geschlechtsidentität innerlich empfunden und persönlich definiert wird, ist sie für die Außenwelt nicht sichtbar – sie wird nur vom Individuum selbst bestimmt. Die meisten Menschen haben relativ früh ein Bewusstsein ihrer tief gefühlten Geschlechtsidentität. Wenn dieses mit ihrem biologischen Geschlecht nicht übereinstimmt, dann können sie sich darüber bereits mit zwei bis vier Jahren äußern.

Geschlechtsrolle: Im Gegensatz zur Geschlechtsidentität, die ja eine innere Empfindung ist, wird mit dem Begriff Geschlechtsrolle das äußerlich gezeigte Verhalten bezeichnet, mit dem wir in unserer sozialen Umwelt unsere Geschlechtszugehörigkeit zum Ausdruck bringen und anderen mitteilen. Dies geschieht z. B. durch Kleidung, Frisur, Eigentümlichkeiten und die Art, wie wir sprechen, spielen, miteinander umgehen, unsere Rolle verkörpern und die Rollen anderer wahrnehmen.

Geschlechtsvariantes Verhalten / nicht konformes Geschlechtsverhalten: Die beiden Begriffe werden synonym verwendet. Der Begriff „geschlechtsvariantes Verhalten“ bezieht sich auf Verhaltensweisen und Neigungen, die aus dem Rahmen dessen fallen, was mit dem bei der Geburt zugewiesenen, biologischen Geschlecht allgemein als „normal“ bezeichnet wird. Das geschlechtsvariante Verhalten kann sich durch eine bestimmte Wahl von Spielzeug, Kleidung und Spielgefährten bemerkbar machen oder durch den wiederholten Wunsch des Kindes, das andere Geschlecht annehmen zu wollen. Zum Beispiel: Ein Mädchen, das beharrlich darauf besteht, ihr Haar kurz zu tragen und mit den Jungen Fußball zu spielen oder ein Junge, der Frauenkleider anziehen und sein Haar lang tragen möchte. Geschlechtsvariantes Verhalten trifft allerdings nur dann wirklich zu, wenn es sich dabei nicht nur um eine kurze Phase der Neugierde bei Kindern handelt, diese Verhaltensweisen auszuprobieren.

Transidentität / Cross-Gender (dem anderen Geschlecht entsprechend): Diese Begriffe werden wechselweise verwendet und beziehen sich auf ein Individuum, dessen Geschlechtsidentität nicht seinem bei der Geburt zugewiesenen biologischen Geschlecht entspricht. Zum Beispiel, wenn sich ein transidentes Kind selbst als Mädchen identifiziert, aber biologisch ein Junge ist. Transident oder dem anderen Geschlecht entsprechend zu sein, bedeutet allerdings nicht, dass eine bestimmte sexuelle Orientierung vorherrscht. Daher kommt es auch vor, dass transidente Menschen sich zusätzlich als heterosexuell, schwul, lesbisch oder bisexuell identifizieren.

Sexuelle Orientierung: Der Begriff „sexuelle Orientierung“ bezieht sich auf das Geschlecht derjenigen Menschen, von denen man sich romantisch oder sexuell angezogen fühlt. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität sind zwei unterschiedliche Dimensionen der Identität einer Person. Obwohl sich ein Kind vielleicht noch nicht seiner sexuellen Orientierung bewusst ist, hat es in der Regel durchaus schon ein ausgeprägtes Gefühl für seine Geschlechtsidentität.

Transjunge / Transmann: Mit diesen Begriffen werden Kinder oder Erwachsene bezeichnet, die anatomisch weiblich geboren und bestimmt wurden, aber eine männliche Geschlechtsidentität haben. Diese Begriffe werden auch von einigen Medizinern zur Bezeichnung von transidenten Jungen und Männern verwendet.

Transmädchen / Transfrau: Mit diesen Begriffen werden Kinder oder Erwachsene bezeichnet, die anatomisch männlich geboren und bestimmt wurden, aber eine weibliche Geschlechtsidentität haben. Dieser Begriff wird auch von einigen Medizinern in Bezug auf transidente Mädchen und Frauen verwendet.

Wechselnde Geschlechtsidentität (gender fluidity): Mit diesem Begriff wird die (noch) nicht festgelegte Geschlechtsidentität einer Person bezeichnet. Damit wird auf eine noch weiter gefasste und flexible Bandbreite der geschlechtlichen Ausdrucksformen hingewiesen, bei denen sich die individuellen Erscheinungs- und Verhaltensweisen sogar von Tag zu Tag erheblich unterscheiden können. Bei manchen Kindern geht die nicht-festgelegte Geschlechtsidentität auch über Verhalten und Interessen hinaus und dient dann dazu, die subjektiv gefühlte Geschlechtsidentität tatsächlich festzulegen. Mit anderen Worten, ein Kind mag sich an einem Tag als Mädchen fühlen, an einem anderen Tag als Junge oder weder als das eine noch das andere, weil keine der beiden vorgegebenen Geschlechtsbestimmungen zu passen scheint.

Uneinheitliche Geschlechtlichkeit (genderqueer): Dieser Begriff stellt ein Verwischen der Grenzen zwischen den Begriffen „Geschlechtsidentität“ und „sexuelle Orientierung“ dar. Personen, die eine uneinheitliche Geschlechtlichkeit zeigen, begrüßen eine nicht-festgelegte Ausdrucksform ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung. Der Begriff wird in der Regel zur Bezeichnung von Erwachsenen verwendet, weniger im Zusammenhang mit der Geschlechtsidentität bei heranwachsenden und vorpubertären Kindern.

Was bedeutet Geschlecht?

Ein vertieftes Wissen über Geschlecht und Geschlechtlichkeit ist für eine fürsorgliche Erziehung und unterstützende Begleitung von Kindern und Jugendlichen, deren Geschlechtsverhalten nicht konform ist, geradezu unverzichtbar.

Einstellungen zum Geschlecht und zu dem, was für das jeweilige Geschlecht als angemessenes Verhalten angesehen wird, werden bereits in der frühen Kindheit erlernt. Diese werden vielleicht im Laufe der Zeit geändert, aber sie beeinflussen dennoch unsere Vorlieben und Entscheidungen das ganze Leben hindurch. Mit anderen Worten, wie wir als kleine Kinder gelernt haben, mit unserem Geschlecht umzugehen und mit anderen zu interagieren, beeinflusst die Art und Weise, wie wir die Welt als Erwachsene wahrnehmen. Manches, das wir in diesem Buch darstellen, mag auf den ersten Blick deswegen radikal erscheinen. Das mag an der subjektiven Brille liegen, durch die jeder Einzelne das Thema Geschlecht bisher betrachtet hat.

Es kann daher durchaus sein, dass nach dieser Lektüre die Frage auftaucht, was denn das Wesentliche des männlichen und weiblichen Geschlechts ist und warum man bisher mit niemandem je über die Bedeutung des Geschlechts gesprochen hat. Dabei sind wir ständig von den Geschlechtsrollen umgeben. Auch wird uns ihre Bedeutung vom Tage unserer Geburt an vermittelt.

Wenn man es mit geschlechtsvarianten Kindern und Jugendlichen zu tun hat, sich um sie kümmert und sie erzieht, mit ihnen spricht und entsprechende Literatur über sie liest, wird auch das eigene Verständnis für die Thematik verändert. In dem Maße, wie sich das Verständnis für Geschlechtsvarianz vertieft, wird man auch immer unbefangener über dieses Thema sprechen können. Die zunehmende Vertrautheit, mit der man über Geschlecht und Geschlechtlichkeit zu sprechen und mit dem Kind umzugehen lernt, wird es den Menschen um uns herum auch leichter machen, über dieses Thema zu sprechen. Dies ist sehr wichtig, um die Ängste, Verwirrungen und Vorurteile der anderen zu verringern und abzubauen.

In der Tat gibt es eine ansteigende Lernkurve für jeden, der mit geschlechtsvarianten und transidenten Menschen interagiert. Und das ist verständlich. Denn durch Geschlechtsvarianz gerät das gesellschaftliche Fundament einer klar definierten Geschlechterordnung ins Wanken. Deswegen bringt dieses Phänomen auch die eigene Empfindung für das, was sich natürlich anfühlt, durcheinander. Unsere Absicht ist es deshalb, auf diesem neuen Gebiet eine Orientierungshilfe zur Verfügung zu stellen, damit Eltern im Umgang mit ihrem Kind möglichst reibungslos durch die verschiedenen Phasen kommen, in denen man als Eltern allmählich zu akzeptieren lernt, dass das eigene Kind eine andere Geschlechtsidentität hat. Diese Phasen können von anfänglicher Verleugnung und Betrübnis über die Andersgeschlechtlichkeit des Kindes bis hin zu dem Ziel reichen, diese Tatsache in das Leben zu integrieren und am Ende sogar glücklich darüber zu sein.

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Nun also, was bedeutet Geschlecht? Beginnen wir mit ein paar leichten Fragen. Holen Sie sich Bleistift und Papier und schreiben Sie Ihre Antworten zu den folgenden Fragen auf:

images Was macht einen Jungen zum Jungen?

images Was macht ein Mädchen zum Mädchen?

images Woher wissen Sie das?

images Ab wann weiß man, dass man ein Junge oder ein Mädchen ist?

images Sind Sie männlich? Sind Sie weiblich? Woher wissen Sie das?

images Sind Sie oder sind Teile von Ihnen beides? Woher wissen Sie das?

images Wenn sich Ihr Körper über Nacht in das andere Geschlecht verwandeln würde, würde es Ihre Selbstwahrnehmung verändern?

Legen Sie Ihre Antworten nun beiseite, aber behalten Sie diese im Gedächtnis, während Sie dieses Kapitel lesen. Es empfiehlt sich auch, diese Übung immer wieder zu machen, denn Ihre Antworten werden sich möglicherweise im Laufe der Lektüre verändern.

Tatsächlich ist die persönliche Geschlechtsidentität nicht mit dem anatomischen Körper angeboren. Das biologische Geschlecht ist vom subjektiven Geschlechtsempfinden zu unterscheiden. Dies ist eine sehr wichtige Unterscheidung, denn die meisten Menschen haben von Anfang an gesagt bekommen, dass das biologische Geschlecht und die daran orientierten Rollenvorschriften der Gesellschaft, also das soziale Geschlecht, identisch sind. In Wahrheit aber ist das soziale Geschlecht ein gesellschaftliches Konstrukt. Unsere Gesellschaft erkennt nur zwei Geschlechterkategorien an: männlich und weiblich. Diese sogenannte binäre Betrachtungsweise ist darüber hinaus mit Erwartungen und Vorschriften an das jeweilige Geschlecht verknüpft. Diese Vorschriften diktieren zwar die Normen für Bekleidung, Aktivitäten und Verhaltensweisen; aber wie die vorhergehende Übung gezeigt haben mag, passen der eigene Kleidungsstil, die Wahl der Aktivitäten oder die eigenen Verhaltensweisen nicht hundertprozentig in die eine oder andere Kategorie: männlich oder weiblich.

Weltweite Geschlechtervielfalt

Die Tatsache, dass es in den meisten, wenn nicht in allen, Kulturen weltweit transidente Menschen gegeben hat, gründet auf unwiderlegbaren Beweisen. Auch wenn diese Geschichte noch weiter erforscht werden muss, existieren bereits heute schon umfassende wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema.

Schriftsteller, wie etwa William Roscoe, haben die Ureinwohner Nord Amerikas umfassend erforscht und festgestellt, dass sie geschlechtsvariante Menschen in ihren Reihen aufnahmen und mitunter diesen mit Ehrerbietung begegneten. In einigen Fällen war man der Auffassung, dass diese Menschen über bestimmte spirituelle Kräfte verfügten und dass männliche Kinder, die in jungen Jahren weibliche Eigenschaften aufwiesen, häufig in die Lehre bei Schamanen geschickt wurden, um Heiler zu werden. Die Bezeichnung „Zwei-Seelen“, ein spezieller Begriff für die Menschen dritten Geschlechts, wird von vielen einheimischen Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transidenten oder Intersexuellen Nordamerikas verwendet. Der Begriff kann auch für die Beschreibung jener Menschen gebraucht werden, die ein ausgesprochenes Gleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Energien aufweisen, ist also nicht ausschließlich auf transidente Menschen bezogen.

Leslie Feinberg, eine bekannte transidente Interessenvertreterin und Schriftstellerin, ist Autorin des Buches „Transgender Warriors“, das einen Überblick über transidente Menschen in ursprünglichen Kulturen auf der ganzen Welt bietet. Es enthält erstaunliche Fotos und Illustrationen aus Archiven.

Wissenschaftlerinnen, wie die Transfrau Joan Roughgarden, Biologin an der Stanford Universität und Autorin von „Evolution’s Rainbow: Diversity, Gender, and Sexuality in Nature and People“ (University of California Press, 2004), tragen mit dazu bei, die (Geschlechts-)Vielfalt im Tierreich und beim Menschen zu erhellen. Roughgardens Buch enthält mehrere Abschnitte über transidente Menschen, darunter auch über die mahu in Polynesien (halb männliche, halb weibliche Menschen) und über die hijras in Indien (Menschen, die vom männlichen zum weiblichen Geschlecht übergehen und eine eigenständige religiöse Kaste bilden). Sie beschreibt auch verschiedene Rituale, wie sie etwa von den Navajo und Papago Indianern praktiziert wurden, um junge Zwei-Seelen-Menschen zu weihen und auch um zu prüfen, ob sie bei ihrem Geburtsgeschlecht bleiben oder eine andere Geschlechtsidentität annehmen wollen.

Diese Publikationen stellen bedauerlicherweise auch dar, wie diese ursprünglichen Kulturen, die geschlechtsvariante Menschen akzeptierten, von politisch und religiös anders motivierten Menschen angegriffen und unterdrückt worden sind. Als Folge dieser Unterwerfung haben sich transidente Menschen auf der ganzen Welt, um überleben zu können, verstecken müssen. Dennoch ist es unbestreitbar, dass die menschliche Geschlechtsidentität und das menschliche Verhalten immer schon als breites Spektrum existierten.

Was wir von einer männlichen oder weiblichen Person erwarten, ist überwiegend durch die jeweilige Kultur bestimmt. Die festgelegten Geschlechtsrollen haben unserer Gesellschaft eine bestimmte Struktur gegeben, aufgrund dieser die Menschen durch gemeinsam gelernte und von allen geteilte Handlungsnormen miteinander interagieren und funktionieren.

Die feministische Bewegung hat auf die ungerechten Erwartungen an die sozialen Geschlechtsrollen aufmerksam gemacht. Als sie die kulturellen Stereotype untersuchte, eröffnete sie viele ungeahnte Möglichkeiten für Frauen und Männer gleichermaßen. Heute gibt es z. B. eine weitaus gerechtere Rollenverteilung in der Familie, die geschlechtsbezogene Diskriminierung ist gesetzlich verboten und die sexuelle Belästigung ist nicht länger eine akzeptierte Form sozialer Interaktion. Und dennoch sind wir noch nicht weit genug vorangeschritten: In der Arbeitswelt sind Frauen immer noch nicht gleichgestellt, Frauen und Männer sind immer noch auf das Kleidungsangebot eingeschränkt, das ihre binäre Kultur bereitstellt und Männer sind häufig noch nicht in der Rolle des „Alleinerziehenden“ akzeptiert, der sich um die Kinder kümmert.

Die Entwicklung der sozialen Geschlechtsrolle: Aneignung der Geschlechtsrolle und Anpassungszwang

Kinder sind nachhaltig durch die Erziehung ihrer Eltern und den Einfluss der Gesellschaft in der Entwicklung ihrer Geschlechtsrolle beeinflusst. Eltern sind ständig dabei, ihren Söhnen beizubringen, wie sie als Junge zu sein haben, und ihren Töchtern, wie sie sich als Mädchen zu verhalten haben, unabhängig davon, ob sie dies aktiv oder passiv, bewusst oder unbewusst tun.

Kinder ahmen auch nach, was sie in ihrer Umwelt erleben. Durch die Interaktionen mit ihrer Umwelt lernen Kinder das ihrem Geschlecht angemessene Verhalten zu zeigen; sie erfahren sowohl situationsbezogene Rollen der Machtanwendung als auch akzeptierte Verhaltensmuster für ihre Bedürfnisse. Sie beachten und ahmen Vorbilder ihres eigenen Geschlechts entsprechend nach. Wie ein Kind seine Geschlechtsrolle wahrnimmt, kann sich im Verlauf der Zeit verändern. Diese Wahrnehmungen sind unmittelbar durch die Schichtzugehörigkeit des Kindes, seine ethnische Herkunft, sein Alter, seine Religion und seine Kultur beeinflusst. Selbst Kleinkinder werden auf die kulturell stilisierten Geschlechtsrollen – männlich oder weiblich – hin sozialisiert.

Intersexuelle Menschen