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Marxistische Blätter 2_2018

Kommentar

Unterstützung für die 28-Stunden-Woche

Prof. Dr. Mohssen Massarrat u.a.

Aktuelles

Über Afrin zum Faschismus

Was Erdogan mit seinem Angriffskrieg bezweckt

Murat Çakır

Zum Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2017

Ursula Möllenberg

Grundeinkommen – bedingt oder bedingungslos?

Ein Denkanstoß von Anne Rieger

Betriebsratswahlen 2018 – Nazis wollen in die Betriebe

Rainer Perschewski

Thema: Demokratie in Theorie, Praxis und Zukunft

Editorial

Demokratie – von der Idee zur Agonie

Herbert Graf

Parlamentarische Demokratie und Klassenherrschaft

Ekkehard Lieberam

Riskanter »Antiterrorkampf«

Innere Militarisierung und Aufrüstung zum präventiv-autoritären Sicherheitsstaat?

Rolf Gössner

Wie die Public-Relations-Industrie mitregiert

Jörg Becker

Formierungsmaschinen und Herrschaftsautomaten

Über die Auswirkungen von Computer und Internet auf das Alltagsleben

Werner Seppmann

Lenin über revolutionär-demokratische Aufgaben im Imperialismus

Beate Landefeld

Demokratie

Kleine Marx/Engels-Anthologie

zusammengestellt von Hermann Klenner

Dokumentation

Gemeinsam der vier größten Bedrohungen Herr werden

Jeremy Corbyn

Gewerkschaften international im Kampf um Frieden, Abrüstung und Rüstungskonversion

Wolfgang Lemb

Diskussion

Ein Kommentar zu einem Kommentar betreffend das Buch: Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden (MBl 1_2018)

Franz Hinkelammert

Gott aus der Mottenkiste geholt?

Zum »Kommentar zu einem Kommentar« von Franz Hinkelammert

Daniel Stosiek

Positionen

Klarheit vor Sammlung!

Zu den Überlegungen von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht über eine neue linke Sammlungsbewegung

Andreas Wehr

Lehren des Kampfes um die Befreiung der Frau

Jenny Schreiner (SACP)

Land Grabbing: China als neuer Kolonialherr in Afrika?

Marianna Schauzu

Und wenn es keinen Oktober gegeben hätte?

Alexander Charlamenko (Moskau)

Rezensionen

Sandro Mezzadra/Mario Neumann: Jenseits von Identität und Interesse (Pablo Graubner)

Domenico Losurdo: Wenn die Linke fehlt… Gesellschaft des Spektakels (Andreas Wehr)

Siegfried Prokop: »Die DDR hat’s nie gegeben«. Studien zur Geschichte der DDR 1945 bis 1990 (Ludwig Elm)

Werner Seppmann: Kritik des Computers. Der Kapitalismus und die Digitalisierung des Sozialen (Klaus Wagener)

Werner Ruf: Islamischer Staat & Co (Stefan Kühner)

Karina Urbach: Hitlers heimliche Helfer. Der Adel im Dienst der Macht (Rainer Venzke)

Michael Stiels-Glenn: Therapie mit Pädophilen? Pädophile beurteilen ihre Therapie (Wolfgang Jantzen)

Es schrieben diesmal

Impressum

Kommentar

Unterstützung für die 28-Stunden-Woche*

Prof. Dr. Mohssen Massarrat u.a.

Endlich macht die IG Metall nach über 30 Jahren auch die Arbeitszeitverkürzung zum Gegenstand von Tarifverhandlungen. Sie fordert neben 6% Lohnerhöhung auch die Regelung einer befristeten Arbeitszeitverkürzung auf 28 Stunden pro Woche mit teilweisem Lohnausgleich für Kinderbetreuung, Pflege und durch Schichtarbeit besonders belastete Beschäftigte.

Die Forderung ist nach unserer Auffassung nicht nur aus Gründen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf vernünftig. Sie kann auch zur Entlastung des Arbeitsmarktes beitragen.

Nach offiziellen Angaben sind über 2.5 Millionen Menschen in Deutschland immer noch arbeitslos. Bei einer seriösen Berechnung leiden jedoch mehr als doppelt so viele unter Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt, dass 2017 kurioserweise ca. 1,9 Milliarden Überstunden geleistet wurden, davon 0,9 Milliarden ohne Bezahlung. Angesichts forcierter Digitalisierung und Produktivitätssteigerung droht eine neue Welle von Massenentlassungen. Insofern ist eine flächendeckende und dauerhafte Verkürzung der Regelarbeitszeit eine sozial- wie arbeitsmarktpolitische Maßnahme ersten Ranges.

Wir halten die IGM-Forderung daher für einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Diese Forderung muss allerdings um zwei wichtige Elemente ergänzt werden: Zum einen muss jede Arbeitszeitverkürzung an einen entsprechenden Personalausgleich gekoppelt werden. Sonst liefe man Gefahr, dass die Arbeitsintensität mit negativen Folgen für die Beschäftigten stiege. Dies zeigen die Erfahrungen bei der Einführung der 35-Stundenwoche im Metallbereich. Dadurch sind bei den Beschäftigten Kraft und Interesse verloren gegangen, sich für weitere Arbeitszeitverkürzungen einzusetzen.

Zum anderen muss jede Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich verbunden werden. Den Unternehmen mangelt es nicht an Geld, sie schwimmen sogar im Geld, das sie schon seit mehreren Dekaden in den Finanzsektor zu Spekulationszwecken investieren. Die sinkenden Investitionsraten von ca. 22% in 1980 auf 17% in 2016 sind der beste Beleg dafür. Die Gegenargumente der Unternehmer halten einer Überprüfung nicht stand:

  1. Der Fachkräftemangel würde durch die Arbeitszeitverkürzung verschärft. Beinahe eine Million Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, auch in Branchen, die angeblich unter Fachkräftemangel leiden, widerlegen dieses Argument von Unternehmerseite. Bei einem wirklichen Fachkräftemangel müssten alle diese unter Diskriminierung, ungerechten Löhnen und Unsicherheit leidenden Menschen eigentlich sofort in Normalarbeitsverhältnisse übernommen werden.
  2. Die deutsche Wirtschaft verlöre an Wettbewerbsfähigkeit. Tatsächlich schwimmen aber deutsche Unternehmen im Geld. Durch massiven Druck auf die Löhne haben sie allein zwischen 1991 und 2012 schätzungsweise 15 Tausend Milliarden (!) überschüssigen Gewinn erwirtschaftet. Diese Überschüsse wurden nicht in Produktivkapital umgewandelt, sondern sie landen überwiegend zu Spekulationszwecken im Finanzsektor. Arbeitszeitverkürzung, Schaffung von zeitgemäßen Normalarbeitsverhältnissen mit deutlich höheren Löhnen ist insofern auch ein wirtschaftspolitisch dringend gebotener Schritt zur Begrenzung des Finanzsektors.

Wir fordern die Bundesregierung und die Parteien dazu auf, die IGM-Initiative uneingeschränkt zu unterstützen.Berlin, 1.2.2018

* Aufruf, der bis Redaktionsschluss von über 70 Persönlichkeiten unterzeichnet wurde, darunter auch vom verantwortlichen Redakteur dieser Zeitschrift. (Dokumentiert auf Frankfurter Rundschau online, 3.2.2018)

Aktuelles

Über Afrin zum Faschismus

Was Erdogan mit seinem Angriffskrieg bezweckt

Murat Çakır

Unter dem zynischen Namen »Operation Olivenzweig« hat die Türkei einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen. Seit dem 20. Januar 2018 steht der nordsyrische Kanton Afrin, nachweislich eines der wenigen befriedeten Gebiete Syriens, unter massivem Beschuss der zweitgrößten NATO-Armee. Berichte belegen, dass der türkische Angriffskrieg längst zu einem Vernichtungskrieg ausgeartet ist: Türkische Artillerie und F16-Kampfjets bombardieren nicht nur zivile Wohngebiete und vermeintliche Stellungen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ), sondern auch die Infrastruktur und historische Kulturgüter. Die Angriffe forderten bisher zahlreiche zivile Opfer, darunter viele Frauen und Kinder.

Selbst bürgerliche Medien bestätigen den Einsatz von Kampfpanzern des Typs »Leopard 2« aus deutscher Produktion und Napalmbomben auf Wohngebiete. Gemeinsam mit jihadistischen Mörderbanden versucht die türkische Besatzungsarmee auf Afrin vorzurücken. Die von der türkischen Regierung als »einheimisch und national« bezeichnete so genannte »Freie Syrische Armee« ist im Grunde eine lose Koalition, die aus unterschiedlichen jihadistischen Gruppen … sowie vom türkischen Geheimdienst (MIT) angeheuerten kriminellen Söldnern besteht – eine Ansammlung von Mördern.

Der türkische Angriff war von langer Hand vorbereitet, das Regime wartete nur noch auf einen Anlass. Mit der Erklärung der US-Armee, man werde in Nordsyrien eine von Teilen der »Syrischen Demokratischen Kräften« gebildete »Grenztruppe« aufbauen, war dieser Anlass scheinbar gegeben. Die diplomatische Vorarbeit der Erdoğan-Regierung war erfolgreich. Nach dem die Russische Föderation, die USA, die EU, der Iran und das Assad-Regime ihr Stillhalten signalisiert hatten, gab Erdoğan den Startschuss. Obwohl Afrin für die Türkei keine Bedrohung darstellte begann der massive Angriff. Warum? Was bezweckt das AKP-Palast-Regime damit? Warum stehen alle »strategischen Gegner«, die in Syrien unterschiedliche Ziele verfolgen, jetzt auf der Seite des türkischen Aggressors?

Dorn im Auge aller – Das demokratische Projekt

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Türkei das demokratische Projekt, welches unter größten Anstrengungen und unter den Bedingungen eines imperialistischen Stellvertreterkriegs aufgebaut werden konnte, mit aller Macht zerschlagen will. In Afrin wird daher nicht nur eine Stadt bombardiert. Mit den Bombardierungen sollen die Errungenschaften der demokratischen Revolution vernichtet werden. In den nordsyrischen Kantonen wird versucht, ein Leben jenseits kapitalistischer Verwertungslogik, imperialistischer Fremdbestimmung und staatlicher Bevormundung aufzubauen. Diese demokratische Revolution steht allen Vorstellungen einer Gesellschaft entgegen, wie sie das AKP-Palast-Regime vertritt.

Doch es ist nicht nur die Befürchtung, dass dieses demokratische Experiment in den kurdischen Regionen der Türkei Nachahmung findet. Reich an billigen Arbeitskräften und natürlichen Ressourcen sowie mit seinen Handelswegen und Pipelines ist Kurdistan das Tor zum Nahen Osten und hat damit für die herrschenden Klassen in der Türkei eine immense regional- und militärstrategische Bedeutung. Der Verlust der Kontrolle über Kurdistan käme einem Kontrollverlust über Arbeitskräfte, Märkte, Handelswege, Ressourcen, kurz über Produktivkräfte und Akkumulationsmittel gleich. »Operation Olivenzweig« ist der verzweifelte Versuch, die Kontrolle über Kurdistan zu behalten und somit die erhebliche Schwächung der türkischen Bourgeoisie zu vermeiden. Mit ihrer Schlüsselrolle als Energieumschlagplatz und wahrscheinlich vielen Zugeständnissen hat die Türkei die Einwilligung der anderen Akteure in der Region sich erkaufen können.

Aber der Revolutionsprozess ist auch für die Interessen der anderen Akteure sehr problematisch. Demokratische Strukturen und der antikapitalistisch ausgerichtete Gesellschaftsvertrag könnte in anderen Ländern der Region Schule machen. Alleine die Vergesellschaftung natürlicher Ressourcen kann weder von den USA und der EU, noch von Russland, Iran und dem Assad-Regime akzeptiert werden. Das Beispiel eines nichtkapitalistischen Entwicklungsweges und erfolgreicher Abwehr imperialistischer Strategien trotz »taktischer Allianzen mit strategischen Feinden« hat sich – trotz libertär-anarchistischer Tendenzen von Öcalans Thesen – für unterschiedliche revolutionäre Kräfte zur Inspirationsquelle entwickelt. Die demokratische Revolution in Nordsyrien hat weit über die Region die Machbarkeit einer emanzipatorisch-demokratisch-sozialen Alternative sichtbar gemacht. Das internationale Stillhalten gegenüber dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei zeigt den Willen der unterschiedlichen staatlichen Akteure, ggf. die Revolution im eigenen Blute ertrinken zu lassen.

Die USA, die EU sowie Russland, Iran und das Assad-Regime verfolgen jeweils ihre eigenen Strategien, um die kurdische Befreiungsbewegung zur Kollaboration mit ihnen zu drängen. Das scheint den Revolutionär*innen bewusst zu sein. So sagt das Mitglied des Exe­kutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Riza Altun: »Das Ziel der russischen Politik ist es, die kurdische Freiheitsbewegung und ihren Kampf in das bestehende System einzubinden. (…) mit der Liquidierung des IS sind die bestehenden Widersprüche in Syrien auf eine neue Ebene getreten. Vor diesem Hintergrund versucht Russland nun, die Kurden unter einen so enormen Druck zu setzen, dass sie letztlich sich ›freiwillig‹ in das syrische Regime integrieren lassen.«[1] Zur Politik der USA sagt er weiter: »(…) wenn wir die Beziehung im strategischen und taktischen Sinne betrachten, dann ist eine strategische Beziehung zwischen den USA und z.B. der PYD nicht möglich. Es gab nur die Möglichkeit eine taktische, konjunkturelle Beziehung aufzubauen. (…) Doch diese Beziehungen umfassten nicht das Potenzial für die gemeinsame Entwicklung einer politischen Lösung der syrischen Frage. Im Gegenteil, die USA hat stets versucht die Kurden aus den Friedensverhandlungen für Syrien herauszuhalten. (…) Allein diese Tatsache lässt uns die ganze Angelegenheit besser verstehen«.

Altuns Aussagen belegen, dass die Kantone aufgrund des Fehlens der aktiven Unterstützung der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen in den Nachbarländern und ohne deren Aufbegehren gegen die herrschenden Klassen im eigenen Land keine andere Alternative hatten, als taktische Allianzen mit unterschiedlichen Akteuren zu akzeptieren. Altun unterstreicht, dass diese taktischen Allianzen weder politisch, noch ideologisch sind. »Es wird von uns ein anti-imperialistischer Kampf geführt. Deshalb kann eine anti-imperialistische Kraft nicht sagen, dass die Imperialisten sie verraten hätten. So wie der globale Imperialismus und die regionale hegemoniale Linie Ausdruck einer strategischen Situation ist, so ist auch das von den Kurden hervorgebrachte Paradigma Ausdruck einer klaren Linie und einer eindeutigen Haltung. Die strategischen Partner unserer Linie sind die globalen demokratischen Kräfte, die gesellschaftlichen Kräfte und die anti-systemischen Kräfte«, so Altun weiter.

Kriegskoalition und Faschismusaufbau

So wie der gescheiterte Putschversuch im Juli 2015 für das AKP-Palast-Regime ein »Segen Gottes« für die Installation eines autoritären Präsidialsystems war, ist dieser Angriffskrieg ein weiteres, aber mächtiges Instrument für die gesellschaftliche, politische und rechtliche Organisierung des Übergangs zu einer offenen faschistischen Diktatur. Noch ist die Notwendigkeit einer offenen faschistischen Diktatur nicht gegeben – immerhin besteht seit dem Angriff auf Kobanê eine Kriegskoalition der bürgerlichen Parteien und weiterhin eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Faktisch bildet die AKP mit der neofaschistischen MHP die Regierung. Aber auch die neugegründete rechtskonservative »Iyi Parti« und größere Teile der kemalistischen CHP unterstützen den Angriffskrieg. Während die türkische Bourgeoisie dank des immer wieder verlängerten Ausnahmezustandes – was u.a. die Möglichkeit gibt, alle Streiks zu verbieten – »goldene Zeiten« erlebt, stehen größere gesellschaftliche Gruppen hinter Erdoğans Kriegspolitik. Insofern kann von einer breiten Mobilmachung der Gesellschaft gesprochen werden. Das hängt zum einen damit zusammen, dass bürgerliche Mittelklassen, die ihre Reproduktionsgrundlagen gefährdet sehen, die Auffassung der türkischen Bourgeoisie über die »Kolonie Kurdistan« teilen und zum anderen die Arbeiter*innenklasse ebenfalls eine offene Flanke für diese Wahrnehmung aufweist, da in der Konkurrenz innerhalb der werktätigen Klassen sich die ethnische Zugehörigkeit in Hierarchien auf dem »Arbeitsmarkt« niederschlägt, bei dem Kurd*innen i.d.R. ganz unten stehen.

Hinzukommt, dass Teile der vom Kemalismus beeinflussten türkischen Linken, die kurdische Befreiungsbewegung als »Kollaborateur des Imperialismus« betrachten und teilweise von einem latenten Rassismus befallen sind. Obwohl zahlreiche andere linke Parteien gemeinsam mit kurdischen Gruppen in dem Linksbündnis HDP organisiert sind, entsteht keine breite gesellschaftliche Opposition, zumal die HDP durch Inhaftierungen und Verboten erheblich eingeschränkt agieren kann.

Das Fehlen eines breiten gesellschaftlichen Oppositionsbündnisses und der Verbindung unterschiedlicher Widerstandsherde ist keine neue Erkenntnis. Neu ist auch nicht, dass jegliche Opposition mit massiven Repressionen unterbunden wird. Selbst eine humanitäre Erklärung der Ärzteunion reicht aus, um ihnen »Landesverrat« vorzuwerfen und sämtliche Vorstandsmitglieder zu verhaften. Neu ist jedoch, dass mit Präsidialdekreten die Bewaffnung von AKP-Anhängern vorangetrieben und Oppositionelle zum Freiwild erklärt werden. So sieht ein neues Gesetz vor, dass zivile Personen, die gegen »Putschisten« Gewalt anwenden, straffrei bleiben. Zudem werden AKP-nahe so genannte Sicherheitsfirmen wie SADAT, die militärische Ausbildungscamps unterhalten, in den Nationalen Sicherheitsrat berufen und bewaffnete Vereine wie HÖH (Spezialteams des Volkes) gebildet. So wird Massakern an Oppositionellen oder Minderheiten Tür und Tor eröffnet.

Gerade deshalb gilt es heute, auch und insbesondere hier in der BRD, Widerstand zu entwickeln und Solidarität auszuüben. Es ist die nahezu bedingungslose politische Rückendeckung aus Berlin, die Ankara ermutigt hat, diesen Völkerrechtsbruch zu begehen. Die BRD ist faktisch Kriegspartei in Afrin. Und wer den Krieg stoppen will, darf nicht vom deutschen Imperialismus schweigen! 

[1] Siehe Interview vom 27.1.2018, in: http://civaka-azad.or/altun-unsere-strategischen-partner-sind-die-globalen-demokratischen-kraefte/

Zum Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2017[1]

Ursula Möllenberg

Der im Sommer 2017 veröffentlichte Zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (GSB) ist sowohl Bilanz dessen, was im Zeitraum von fünf Jahren, seit Erscheinen des Ersten Gleichstellungsberichts im Juni 2011, erreicht wurde, als auch Analyse der aktuellen Situation und Handlungsempfehlung für die Weiterentwicklung der Gleichstellung.

Der Hauptbestandteil des GSB, das Gutachten der Sachverständigenkommission, trägt den Titel »Erwerbs- und Sorgearbeit ge­meinsam neu gestalten«. Die Ergebnisse der Analyse und dementsprechend die Handlungsempfehlungen unterscheiden sich, außer in der wissenschaftlichen Fokussierung, nicht vom Ersten Gleichstellungsbericht, der »Neue Wege – Gleiche Chancen« betitelt war. Die Leitidee für den ersten GSB war die der Wahlfreiheit für verschiedene Arrangements von Erwerbs- und Familienleben. Die für den zweiten GSB maßgebliche Leitidee ist die Weiterentwicklung einer Gesellschaft mit gleichen Verwirklichungschancen für Frauen und Männer.

Gleichstellung der Geschlechter sei in Deutschland (wie auch in [EU-]Europa) ein nach wie vor nicht erreichtes Ziel, stellt das Gutachten – wenig überraschend – fest. Wie die empirischen Ergebnisse zeigen, sind Frauen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen benachteiligt, haben schlechtere Ausgangsbedingungen für Verwirklichungschancen und besteht entsprechender Handlungsbedarf.

Belegt wird dies anhand verschiedener Indikatoren. Diese Indikatoren sind stark verdichtete statistische Kennziffern, von denen einige dargestellt werden: U.a. der Gender Equality Index: Auf einer Skala von 1 (keine Gleichstellung) bis 100 (völlige Gleichstellung) liegt Deutschland bei einem Wert von 55,3. Der Gender Pay Gap ist der bekannteste Indikator. Er zeigt die Entgeltlücke auf, die in Deutschland aktuell bei 21% (23% in den alten Bundesländern und Berlin, 8% in den neuen Bundesländern) liegt. Der Gender Lifetime Earnings Gap bemisst den Unterschied des Gesamterwerbseinkommens im Lebensverlauf von Frauen und Männern. Er liegt in Deutschland bei 48,8% (europäischer Durchschnitt: 41,4%). Der Gender Pension Gap beziffert den Unterschied der erarbeiteten Rentenansprüche: In Deutschland beziehen Frauen eine um 53% geringere eigene Alterssicherungsleistung als Männer. (Nach EIGE, einer Untersuchung auf europäischer Ebene, die auf einer anderen Datenbasis beruht, betrug dieser Wert im europäischen Durchschnitt 38%, für Deutschland 45%, was den schlechtesten Wert aller untersuchten EU-Länder darstellt.)

Das Gutachten arbeitet mit Begriffen, die bereits im Gutachten von 2011 vorgestellt wurden. Dazu gehört die Lebensverlaufsperspektive, die von den einzelnen Lebensphasen determiniert wird. Der Begriff der linked lives, der verbundenen Leben, fokussiert die Tatsache, dass Menschen sich entscheiden, sich zu verbinden und Verantwortung füreinander zu übernehmen. »Ab diesem Moment werden Entscheidungen nicht mehr unabhängig voneinander getroffen, häufig werden auch Arbeitsteilungen vereinbart.« An den aus der Lebensverlaufsperspektive sich ergebenden Knotenpunkten werden Entscheidungen getroffen, die sich oft auf die Gleichstellung auswirken. Diese Knotenpunkte sind: Ausbildungs-, Studien- und Berufswahl, Geburt oder Aufnahme eines oder mehrerer Kinder, Entscheidungen bezüglich der Familien- und Sorgearbeit und/oder eigener Karriere, Krankheit, Pflege- und Sorgezeit für Eltern und Familienmitglieder, Berufsausstieg und Alterssicherung. Insbesondere wenn Kinder da sind, ist die Familie von grundlegender Bedeutung. Für die meisten findet nach der Geburt eines Kindes eine Retraditionalisierung statt. D.h., selbst wenn in der Paarbeziehung, auch bei alleinerziehenden Müttern, nichttraditionale Einstellungen für die Lebensführung bestehen, sind nach der Geburt oder Aufnahme eines Kindes in den Haushalt die erwerbsarbeitenden Eltern aufgrund der vorherrschenden gleichstellungsbehindernden Strukturen zur Anpassung an diese gezwungen.

Erwerbs- und Sorgearbeit im Fokus

Der Fokus des Gutachtens liegt auf der Gestaltung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Viele Nachteile für Eltern in ihrer beruflichen Entwicklung hängen damit zusammen, dass sie »die Lebenswelten der Elternschaft, der Erwerbsarbeit, der Pflege eigener Angehöriger und der Selbstsorge während wichtiger Lebensphasen mühsam ausbalancieren müssen.« »Aufgrund der gesellschaftlichen Geschlechterstereotypen treffen die entstehenden Nachteile heute ganz überwiegend diejenigen Frauen und Männer, die in der Familie die Hauptverantwortung für die Sorgearbeit übernehmen [also vor allem die Frauen! – U.M.]. Das Ergebnis sind hohe Risiken im weiteren Lebensverlauf in Form geringer Aufstiegschancen, geringer Einkommen und geringer Renten.«

Das Gutachten benennt Hindernisse für gleiche Verwirklichungschancen: Diskriminierung, die aufgrund von Vorurteilen, Rollenerwartungen und Machtverhältnissen entsteht; Gewaltverhältnisse, von denen die geschlechterbezogene Gewalt eine besonders schwerwiegende Form des Machtmissbrauchs und der Menschenrechtsverletzung darstellt, der aber 37% der in Deutschland lebenden Frauen mindestens einmal in ihrem Erwachsenenleben ausgesetzt waren oder sind. Unter die strukturellen Benachteiligungen fallen u.a. die Einschränkungen, die Eltern mit Kindern erfahren müssen. Deren »Handlungsmöglichkeiten werden […] nach wie vor durch eine unzureichende Betreuungsstruktur, starre Arbeitszeitmodelle und staatliche Anreize geprägt und eingeschränkt.« »Arbeit und Gesellschaft [sind] in Deutschland so organisiert, dass die eigenständige Existenzsicherung auf einem Vollzeitarbeitsverhältnis aufbaut. Damit sind nicht alle Beschäftigten in der Lage, Erwerbsarbeit und Sorgearbeit gemäß ihren Lebensvorstellungen zu gestalten.« Nach wie vor existierende Rollenbilder und Geschlechterstereotype gehören ebenso zu den Ursachen von Geschlechterdiskriminierung, die auch auf unterschiedliche Präferenzen der Betroffenen selbst zurückgehen können. Jede strukturelle Benachteiligung, heißt es im Gutachten, sei mit einer ungleichen Verteilung von Anerkennung, Ressourcen und Chancen verbunden. Dabei könne es durchaus rational sein, wenn Menschen »einen Weg wählen, der geringeren gesellschaftlichen Widerstand verspricht«, sich z.B. für einen Beruf entscheiden, der den Geschlechterstereotypen entspricht. »Denn Geschlechterstereotype und Anreize für rollenkonforme Entscheidungen haben zur Folge, dass nichtstereotypes und nichtrollenkonformes Verhalten großen Verwirklichungsproblemen unterworfen und mit Schwierigkeiten beim Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen verbunden ist.« Zum Thema Berufseinstieg stellt der Bericht fest, dass dieser sowie Tätigkeitswechsel im Laufe eines Lebens zunehmend häufiger erfolgen, was als Erwerbshybridisierung bezeichnet wird. Damit sind Mehrfachbeschäftigung und Kombination verschiedener Beschäftigungsarten gemeint. »Manche pendeln als ›Grenzgänger des Arbeitsmarkts‹ zwischen abhängiger Beschäftigung, Selbstständigkeit und Arbeitslosigkeit hin und her, ohne einer dieser Statusgruppen über einen längeren und stabilen Zeitraum hinweg anzugehören. Dies betrifft Frauen und Männer unterschiedlich.«

»Die Erhöhung der Erwerbstätigenquote von Frauen […] geht vor allem auf einen Anstieg der Teilzeitbeschäftigung zurück. […] In den niedrigen eigenständigen Rentenanwartschaften von Frauen in Deutschland spiegeln sich gleichzeitig und kumulativ niedrige Erwerbsbeteiligung, hohe Teilzeitraten, niedrige Entgelte, häufigere und längere Erwerbsunterbrechungen sowie die Beschäftigung in den nicht sozialversicherungspflichtigen Minijobs. […] Erwerbsarbeit in Deutschland [ist] nach wie vor so organisiert, dass sie von einem Idealbild des in Vollzeit erwerbstätigen Arbeitnehmers geprägt ist, dessen Verfügbarkeit für den Beruf nicht durch Verantwortlichkeiten in der Sorgearbeit beschränkt ist.« Das Gutachten zeigt Schritte auf, um einer Gesellschaft mit gleichen Verwirklichungschancen von Frauen und Männern näherzukommen. Die Analyse nimmt dabei das »Geschlecht als soziale Kategorie« wahr, »die nicht isoliert von anderen sozialen Kategorien«, z.B. der »Klasse« gelebt wird. »Diese Verwobenheiten und Überkreuzungen müssen analysiert werden. […] es geht ›nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen‹«, wird aus einer sozialwissenschaftlichen Studie (Katharina Walgenbach, Intersektionalität – Eine Einführung, 2012) zitiert, »wobei auch Differenzen und Machtverhältnisse innerhalb der Genusgruppen zu erfassen« und »Geschlechterverhältnisse im Kontext weiterer Differenz- und Hierarchieverhältnisse zu betrachten seien.« Dem sind die Gutachter gefolgt, und in Anerkennung dieser gesellschaftlichen Realität des in Klassen gespaltenen Kapitalismus gelang ihnen eine gründliche Analyse eines der wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche, der Erwerbsarbeit, besonders der abhängigen Erwerbsarbeit, mit Schwerpunkt auf Arbeitsorganisation und -zeiten. Schon im Ersten GSB war die »Weiterentwicklung sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit im Rahmen eines Gesetzes zu Wahlarbeitszeiten vorgeschlagen« worden. Hier wird nun betont, dass »trotz der vorhandenen betrieblichen Modelle für flexible Arbeitszeiten und des gesetzlichen Anspruchs auf Arbeitszeitreduzierung […] die Lebensphasenorientierung in der Arbeitszeitgestaltung bislang kaum vorangekommen« sei. Die Rechtslage hierzu sei unübersichtlich und unzureichend, »besonders ist Teilzeitarbeit gegenwärtig eine ›Falle‹, da es keinen Rechtsanspruch darauf gibt, eine Reduktion der Arbeitszeit zu befristen und/oder wieder auf Vollzeit zu erhöhen«. Betriebe sind sich inzwischen durchaus der Bedeutung einer familienfreundliche Personalpolitik in der Konkurrenz um Arbeitskräfte bewusst. Während die »Wirtschaft« flächentariflich geregelte Arbeitszeitverkürzungen generell ablehnt, ist sie auf betrieblicher Ebene zu individuellen Arbeitszeitmodellen bereit. Die Sachverständigenkommission empfiehlt im Gegensatz dazu die Einführung eines allgemeinen Rechts auf eine Anpassung der Arbeitszeitverteilung über den Tag und die Woche. »Die Aufsplitterung in zahlreiche individuelle Rechtsansprüche ist nicht nur zu intransparent, um einen gleichstellungsorientierten Wandel der Arbeitskulturen einleiten zu können. Die Fokussierung auf individuelle Rechtsansprüche geht auch an der Notwendigkeit eines strukturellen Wandels der betrieblichen Routinen vorbei.«

Die Stellungnahme der Bundesregierung

Schon der erste Gleichstellungsbericht enthielt weitreichende Empfehlungen an die Bundesregierung. Die wichtigsten geforderten Maßnahmen waren: Erprobung pädagogischer Konzepte für männliche Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern, Ergreifen eines geschlechts-atypischen Berufs, Anspruch auf Teilzeitausbildung, Aufwertung der personenbezogenen Dienstleistungsberufe, Erwachsenenbildungsförderung, Entzerrung von Bildungsphasen, berufliche Aufstiegsfortbildung, Reversibilität bei Verkürzung der Arbeitszeit, Entgeltgleichheit für Männer und Frauen, Frauen in Führungspositionen, Abschaffung der Sonderstellung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, Ersetzen von Lohnsteuerklassenkombination bei verheirateten Frauen (Abschaffung Ehegattensplitting). Kaum etwas davon wurde von der Bundesregierung umgesetzt. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in Deutschland ist nach dem Bericht der Gutachter seit dem letzten GSB sogar noch gewachsen. Den Parteien der Großen Koalition ging es bei den von ihnen beschlossenen Gesetzen offenbar in erster Linie um weibliche Wählerstimmen, nicht um die Beseitigung der Probleme. Etliche der aufgeführten Maßnahmen beleidigen die Intelligenz an Emanzipation interessierter Frauen und Männer. So heißt es zur Forderung nach Abschaffung der Sonderstellung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen mit dem Ziel, alle Erwerbsverhältnisse sozialversicherungspflichtig zu machen, in der Darstellung der Regierung strikt neoliberal: »[…] Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung kann durch die Schaffung guter Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsbedingungen gefördert werden. […] Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass ein wesentlicher Teil der ausschließlich geringfügig Beschäftigten kein Interesse hat, den Umfang einer geringfügigen Beschäftigung auszuweiten.«

Inzwischen realisieren auch junge Frauen, die noch vor einigen Jahren befremdet waren, wenn sie etwa auf die Quotenregelung als ein Beispiel für notwendige Frauenförderung angesprochen wurden, dass ihr Geschlecht gesellschaftlich massiv benachteiligt wird, dass beispielsweise Frauen am Arbeitsmarkt, bei Löhnen oder als Konsequenz in der Altersversorgung oft bedeutend schlechter gestellt sind als Männer.

Neugestaltung der Erwerbsarbeit

Zu den als vordringlich angesehenen Forderungen aus dem Zweiten Gleichstellungsbericht gehören:

  1. Die Einführung eines Wahlarbeitszeitgesetzes (sowie flankierend flexible Arbeitszeiten mit Gesundheitsschutz und Grenzmanagement [zum Schutz vor »entgrenzter« Arbeitszeit])
  2. Eine öffentliche Debatte über die Vorstellungen von »Vollzeit«
  3. Die Förderung von Entgelttransparenz insbesondere durch gesetzlich verpflichtende betriebliche Entgeltaudits und Auskunftsansprüche (sowie flankierend Berichterstattung und Verbesserungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz [AGG])
  4. Maßnahmen der betrieblichen Gleichstellungspolitik und deren Flankierung durch gesetzliche Pflichten zu Berichterstattung und Gleichstellungsaktionsplänen (sowie ergänzend Erweiterung des Anwendungsbereichs des FüPoG[2])
  5. Diskriminierungsfreie und gleichstellungsorientierte Personalbeurteilung im öffentlichen Dienst.

Dass der Gleichstellungsbericht einmal pro Legislaturperiode erstellt werden muss, war bereits ein wichtiger Schritt im Bemühen um die Durchsetzung allgemeiner und besonders der Frauenemanzipation. Obwohl seine Rezeption und die Arbeit mit ihm »gefühltermaßen« vorerst nur auf eine kleine Minderheit von Spezialist*innen begrenzt ist, ist er eine gute Grundlage für die Entwicklung der notwendigen Sensibilität und eben »Genderkompetenz« als Voraussetzung des Kampfs um volle Gleichstellung.

In Bezug auf die Durchsetzbarkeit weitergehender Forderungen aus dem Ersten wie aus dem Zweiten Gleichstellungsbericht ist in Anbetracht des Widerstands (nicht nur) der »Wirtschaft« Skepsis gewiss angebracht. An der Notwendigkeit, für diese in gewerkschaftlichen Kämpfen, in Initiativen und Bündnissen und auf der Straße zu streiten, kann aber kein Zweifel bestehen.

[1] https://www.gleichstellungsbericht.de/zweiter-gleichstellungsbericht.pdf. Alle Zitate nach dieser Quelle.

[2] Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, seit dem 1.5.2015 in Kraft

Grundeinkommen – bedingt oder bedingungslos?

Ein Denkanstoß von Anne Rieger

Ein »Gutes Leben für Alle« in einer solidarischen, demokratischen Gesellschaft ohne Existenzangst, selbstbestimmt, mit menschenwürdigem, bezahlbarem Wohnraum und freiem Zugang zu Bildung und Kultur, mit sozial nützlicher und ökologisch sinnvoller Arbeit mit kurzer Vollzeit und auskömmlichem Einkommen, in sauberer Umwelt, mit guten sozialen Kontakten, gesellschaftlicher Teilhabe und demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten.

Das wollen sowohl diejenigen, die ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern, als auch diejenigen, die dem skeptisch oder gar ablehnend gegenüber stehen.[1] Der Weg in die oben beschriebene Gesellschaft wird unterschiedlich gesehen. Aber gibt es nicht Berührungspunkte? Sind nicht gemeinsame Schritte auf einem Teil des Weges zum Ziel »Ein gutes Leben für alle« denkbar?

»Das Grundeinkommen ist eine bedingungslose, finanzielle Zuwendung, die jedem Mitglied der Gesellschaft in existenzsichernder Höhe, ohne Rücksicht auf sonstige Einkommen, auf Arbeit oder Lebensweise als Rechtsanspruch zusteht und eine Krankenversicherung inkludiert« erläutert das »Netzwerk Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt – B.I.E.N – Austria«. Damit soll jeder individuell in die Lage versetzt werden zu entscheiden, ob er arbeiten will oder nicht.

In Europa und weltweit, gab und gibt es Experimente mit sogenannten bedingungslosen Grundeinkommen. In der Realität sind aber all diese Grundeinkommen an bestimmte Bedingungen geknüpft, sind also bedingte Grundeinkommen. Im Unterschied zu den meisten Transferleistungen sind sie aber nicht mit Repressionen verbunden und ebenso wenig mit dem unwürdigen Zwang, sich immer wieder bewerben zu müssen, ohne auch nur im Ansatz Aussicht auf einen Job zu haben.

Aktuelles Beispiel ist Finnland. Dort erhalten 2.000 Arbeitslose, die bisher Arbeitslosenhilfe bekamen, zwischen 25 und 58 Jahren alt sind, zwei Jahre lang ein Grundeinkommen von 560 Euro. Es subsumiert Arbeitslosengeld, Krankengeld und Elterngeld, zusätzlich gibt es Geld für Sozialversicherung. Die wichtigste Änderung gegenüber der vorherigen Auszahlung ist, dass zusätzliche Einkommen nicht vom Grundeinkommen abgezogen werden. Der finnischen Regierung ist das Projekt 20 Millionen Euro wert.

Dieses Grundeinkommen hängt von mindestens drei Bedingungen ab:

  1. gilt es nicht für alle, man muss ausgewählt werden, hier Arbeitslose
  2. ist es auf zwei Jahre begrenzt
  3. nur eine begrenzte Menge Geld steht zur Verfügung

Auch Grundeinkommens-Experimente in anderen Staaten sind an bestimmte Bedingungen gebunden (Grad der Armut) bzw. auf bestimmte Personengruppen beschränkt[2]. In allen Fällen gibt es Transferleistungen – meistens staatliche – ohne dass eine gleichzeitige ökonomische Gegenleistung durch die Empfänger gefordert wird oder Repressionen erfolgen.

Solche bedingten Grundeinkommen können ein Fortschritt gegenüber dem aktuellen Zustand im Kapitalismus sein, vorstellbar für Menschen, denen kein Arbeitsplatz oder ein zu gering bezahlter Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt wird. Wie die Bedingungen aussehen, ist entscheidend dafür, ob den betroffenen Menschen ein Leben in Würde ohne Repression ermöglicht wird. Über diese Bedingungen müsste gesellschaftlich demokratisch entschieden werden.

Heute entscheiden Regierungen im Auftrag der Kapitalisten und verbinden damit den Zwang zur Annahme jeder Lohnarbeit. Damit werden auch jene unter Druck gesetzt, die noch Arbeit haben. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und einem Leben mit den beschränkten Mittel der Mindestsicherung, lässt sie viele Zugeständnisse machen. Der staatliche verordnete Arbeitszwang muss aufgelöst werden. Die Bedingungen müssen humanisiert werden. So könnten z.B. Menschen oberhalb einer bestimmten Altersgruppe für die heute im Kapitalismus keine Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden, Transferleistungen ohne weitere Bedingungen erhalten, oder diejenigen, die eine Aus- oder Weiterbildung in nachgefragten, qualitativ hochwertigen, kollektivvertraglich bezahlten Berufen machen. Welche Menschengruppen das sein sollen, muss gesellschaftlich und solidarisch entschieden werden.

Was aber nicht sein kann ist, dass Einzelne selber bestimmen, ob sie arbeiten oder nicht. Das wäre der Weg in die Spaltung der abhängig Beschäftigten, der LohnarbeiterInnen. Denn jede Transfer- bzw. Unterstützungsleistung, jedes bedingungslose Grundeinkommen, sei sie aus Steuergeldern, aus Vermögenssteuern, aus Versicherungsleistungen bezahlt, wurde vorher von den Produzenten des Reichtums, also den arbeitenden Menschen erarbeitet. Niemand anders als die KollegInnen in den Betrieben erarbeiten die Mittel, die dann für Transferleistungen verwendet werden. So wäre es vollkommen unsolidarisch, wenn jeder Einzelne in der Gesellschaft auf Grund eines bedingungslosen Grundeinkommens für sich entscheidet, ob er arbeitet oder nicht und damit entscheidet, dass andere für ihn aufkommen sollen. Denn in jeder Gesellschaft gibt es die Notwendigkeit, die lebensnotwendigen Mittel zu erarbeiten.

In einer solidarischen Gesellschaft der Zukunft wird gemeinsam entschieden werden, wer wie viele Stunden wofür arbeiten muss. Im Kapitalismus geschieht das durch den Zwang zur Lohnarbeit durch die Besitzer der Produktionsmittel. Aber auch im Kapitalismus – bei verschobene Machtverhältnissen zugunsten der Arbeiterklasse – wäre es denkbar, dass auf einer kollektiv solidarischen Basis entschieden werden könnte, wie Transfermittel an diejenigen gehen sollen, die sie benötigen. Natürlich, eine drastische Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich sowie ein früheres Renteneintrittsalter, und eine qualitativ hochwertige Ausbildung für jeden, muss parallel dazu durchgesetzt werden. Auch schon ein solches bedingtes Grundeinkommen braucht eine breite Machtbasis in der Arbeiterklasse. Es könnte ein Stück gemeinsamer Weg zu einem »Guten Leben für Alle« sein.

[1] Zur grundsätzlichen Kritik am Bedingungslosen Grundeinkommen siehe Anne Rieger: »Kommunismus im Kapitalismus?« in MBl 1_2017, S. 27 ff. oder auch http://www.grundeinkommen-kritik.de

[2] z.B. in Kenia, den Niederlanden und der Schweiz (Lausanne), Brasilien, Indien und Namibia, Kanada, Oakland und Zürich.

Betriebsratswahlen 2018 – Nazis wollen in die Betriebe

Rainer Perschewski

Die Vorbereitungen von Betriebsratswahlen sorgen alle vier Jahre für große Aufmerksamkeit und das nicht ohne Grund, denn letztlich entscheidet sich in den Betrieben auch der gesellschaftspolitische Einfluss des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften. Von März bis Mai 2018 werden die Betriebsratswahlen in Deutschland durchgeführt. Die Gewerkschaften haben ihre Kampagnenpläne zur Unterstützung der Gewerkschaftslisten abgestimmt. Über alle Branchen hinweg sind etwa zwei Drittel der Betriebsratsmitglieder gleichzeitig in einer Mitgliedsgewerkschaft des DGB organisiert. Daneben gibt es eine Reihe von Berufsgewerkschaften oder Standesorganisationen und so genannte »Freie Listen«, die sich ebenfalls um Mandate in den Betriebsräten bewerben. Dass es auch rechte Listen bei den Betriebsratswahlen gibt, ist nichts Neues und so könnte man zur Tagesordnung übergehen. Jedoch:

Angestachelt durch die über dem Durchschnitt liegenden Wahlergebnisse der AfD bei Gewerkschaftsmitgliedern und Werktätigen bei den Wahlen in Bund und Ländern, laufen seit einiger Zeit auch von rechter Seite Vorbereitungen, in den Betrieben Fuß zu fassen. Auf einer Konferenz der rechten Zeitschrift »Compact« und ihres Hauptakteurs Jürgen Elsässer Ende November letzten Jahres in Leipzig, sammelte sich eine illustre Gesellschaft: neben AfD-Mitgliedern, Vertretern der Identitären, Pegida-Chef Lutz Bachmann und einer sich Gewerkschaft nennenden rechten Vereinigung namens »Zentrum Automobil«, die bei Daimler Untertürkheim schon seit 2010 mit zunächst zwei und seit 2014 mit vier Sitzen im Betriebsrat vertreten ist. Aktuell haben sie eine Liste mit über 180 Mitgliedern für die BR-Wahl eingereicht. Oliver Hilburger, Daimler-Betriebsrat und Vorsitzender von Zentrum Automobil machte auf der Konferenz deutlich, dass es ein Irrtum sei, wenn behauptet würde, dass es ohne Gewerkschaften keine sozialen Standards gebe. Für einen Sozialstaat bräuchte es einen Staat und der würde durch das linke Establishment immer weiter zerstört. Daher würden die Beschäftigten die in diesen linken Gewerkschaften seien mit ihren Gewerkschaftsbeiträgen etwas finanzieren, was gegen ihre eigenen Interessen sei. Schließlich beklagte er, dass national gesinnte Menschen aus den Betrieben gedrängt würden. Es komme also darauf an, die Deutungshoheit und Macht der Gewerkschaften zu brechen. Abschließend stellte er gleichgesinnte Betriebsräte von VW, Opel und AMG vor und kündigte eine Offensive bei den Wahlen an. Elsässer war schon einige Monate zuvor auf einer Veranstaltung dieser Vereinigung aufgetreten und war schwer begeistert über diese »neue Front« für den Kampf der Bewegung. Er forderte die Teilnehmer auf, diesem erfolgreichen Beispiel in der Automobilindustrie zu folgen und die Bewegung in alle Industriebetriebe zu tragen, damit alle Räder stillstehen, wenn der »blaue Arm es will«. Inzwischen gab es laut Medienberichten Aktionen dieser Vereinigung vor weiteren Betrieben und ähnlich ausgerichtete Betriebsratslisten planen einen gemeinsamen Auftritt zu den Wahlen. Im Internet ist dazu ein Wahlspot zu finden, den diese Vereinigung mit dem rechten Internetblog »einprozent.de« gestartet hat: Patriotische Betriebsräte schützen Arbeitsplätze – so die Aussage. Dieser Internet-Aufritt macht deutlich, dass auch Finanziers vorhanden sein müssen. Die Rede von Hilburger wurde kurz unterbrochen, als Ovationen aufkamen und Hilburger feststellte, dass der AfD -Rechtsaußen, Björn Höcke den Saal betreten hat. Auch er zollte Höcke seine Anerkennung.

Die neoliberalen wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen rechter Organisationen wie der AfD stehen zwar im Gegensatz zu einer sozial gerechten Politik, aber das spielt in der Wählerschaft derzeit keine Rolle. Björn Höcke möchte die Partei auf einen völkisch-sozialen Kurs trimmen, ihren hohen Wähleranteil unter Arbeitern und Arbeitslosen sichern. Dabei bedient er sich bekannter Demagogie und erklärt »sich verstärkt der kleinen Leute anzunehmen«, er will »die sozialen Errungenschaften von 150 Jahren Arbeiterbewegung gegen die zerstörerischen Kräfte des Raubtierkapitalismus verteidigen«.

Der Versuch der AfD, sich mit einer vermeintlich stärkeren sozialen Ausrichtung zu bemänteln, ist nicht neu. Mit dem »Alternativen Arbeitnehmerverband Mitteldeutschland (ALARM)«, der »Alternativen Vereinigung der Arbeitnehmer (AVA)« und dem Verein »Arbeitnehmer in der AfD (AIDA)« gibt es gleich mehrere Vereinigungen, mit denen um Werktätige geworben wird. Dabei sind die Inhalte und Vorgehensweisen immer nach dem gleichen Grundmuster gestrickt. Um Werktätige an faschistische Kräfte heranzuführen, wurde schon in vergangenen Zeiten ein antikapitalistisches Auftreten bemüht. Verbindendes Element aller rechten Gruppen war und ist dabei die Gegnerschaft gegen die Gewerkschaften, die Arbeiterbewegung und alle Organisationen, die für gleiche soziale Rechte von benachteiligten Bevölkerungsgruppen eintreten. Diese Minderheiten werden als Feinde angesehen, da sie nicht dem propagierten Menschenbild entsprechen oder aber der Gemeinschaft angeblich einfach nur auf der Tasche liegen.

Forciert wird die Gegnerschaft zu den Gewerkschaften vor allem auch durch die rechten Medien bzw. transportiert durch die so genannten »Sozialen Medien«. »Gewerkschaftsbashing« ist dort genauso gern gesehen wie gegen Migranten zu hetzen. Mit scheinbar antikapitalistischem Vokabular, gepaart mit rechten Parolen oder Faschismusrelativierungen, gelingt es dieser »neurechten« Szene, Verbreitung zu finden. Seit dem Zusammenbruch des Nazi-Reiches hat es keine nennenswerten betrieblich orientierten Vereinigungen dieser Art gegeben. Die Konferenz der »neurechten« Akteure macht aber deutlich, dass Nazis in die Betriebe wollen.

»Bislang – so unser Eindruck – haben Unternehmen und der Deutsche Gewerkschaftsbund das Problem unterschätzt und es als Randphänomen abgetan. Ob es bei dieser Linie bleiben kann?«, fragte, ein Moderator bei Report Mainz Ende Januar in der ARD nach einem Bericht der Sendung unter dem Titel »Neue Gewerkschaftsfront – Rechte wollen Macht in den Betriebsräten ausbauen.« Und in der Tat machen die öffentlichen Äußerungen aus dem DGB nicht den Eindruck als würde hier eine Gefahr gesehen. Bisher ist die Situation auch sehr unklar und es kann derzeitig schlecht zwischen übertriebener rechter Propaganda der man nicht auf dem Leim gehen will und der realen Situation unterschieden werden. Dennoch betreiben alle Gewerkschaften in ihren Medien Aufklärung und tauschen nicht nur ihre Beobachtungen im Land aus, sondern beraten auch mögliche Reaktionen. Unabhängig davon, ob Propaganda, oder nicht stehen wir erstmalig seit dem Ende der faschistischen Herrschaft in Deutschland 1945 vor der Situation, dass es gezielte Versuche gibt rechte Organisationen in den Betrieben zu etablieren. Daher ist die Ankündigung von Zentrum Automobil zur Gründung einer Dachorganisation durchaus ernst zu nehmen. Für die »neue Rechte« ist der Gang in die Betriebe und damit der Kampf um die Köpfe der Werktätigen, der Kampf um die Macht in diesem Land. Auch das wurde in den Reden hervorgehoben. Es unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es ist, sich in den Einheitsgewerkschaften des DGB zu organisieren. Der Kampf um die Betriebsratsmandate ist auch ein Kampf um demokratische Errungenschaften, wenn auch die Arbeiter- und Soldatenräte vor nunmehr einhundert Jahren sehr viel weitreichendere Vorstellungen hatten.

Thema: Demokratie in Theorie, Praxis und Zukunft

Editorial

Kurz vor Redaktionsschluss flatterte uns der Newsletter des Schweizer Blogs infosperber.ch auf den Rechner. Unter der Überschrift »Der weltweite Krebsgang der Demokratie« wird dort auf jüngste Ergebnisse der bürgerlichen (!) Demokratie-Forschung hingewiesen: den Demokratie-Index der britischen Zeitschrift Economist und den Jahresbericht des (staatlich finanzierten!) US-Institutes »Freedom House« vom Januar 2018. Nach Economist habe die Demokratie 2017 weltweit »signifikante Rückschritte« gemacht. Es sei das schlechteste Jahr seit der Finanzkrise von 2008. Die Hauptprobleme: Einschränkungen von Pressefreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung, schwindendes Vertrauen in Wahlen und die staatlichen Institutionen, schwindender Einfluss der einstigen Volksparteien bei gleichzeitig wachsendem Einfluss nicht-gewählter und nicht-legitimierter Institutionen.

Die Kategorien und Kriterien der Economist – Wissenschaftler und ihr durchaus interessantes Demokratie-Ranking der untersuchten 167 Länder sollen hier nicht weiter kritisch erörtert werden. Nur so viel: Laut Economist droht Spanien wegen des repressiven Verhaltens der Regierung in Madrid gegenüber der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien von einer »vollständigen« in eine »unvollständige Demokratie« abzurutschen. Dort seien die USA bereits angelangt und zwar nicht wegen Donald Trump. »Bereits vor seinem Amtsantritt haben die Economist-Forscher die Vereinigten Staaten zur ‚unvollständigen Demokratie‘ erklärt, und zwar wegen des massiven Verlustes von Vertrauen in öffentliche Institutionen, dem extremen, kaum überbrückbaren Graben zwischen den beiden großen Parteien in wichtigen Fragen und der wachsenden sozialen Polarisierung.« Michael J. Abramowitz, Präsident von Freedom House, bezeichnet den Niedergang demokratischer Werte in den USA zwar auch als »äußerst dramatische Entwicklung«, hat dabei aber Donald Trump im Fokus. Für den Rest der Welt kommt er jedoch zu ähnlichen Schlüssen wie der Economist. Demokratie und Grundrechte haben 2017 »ihre schwerste Krise seit Jahrzehnten« erlebt.

[1]

[1] Uwe-Jens Heuer, Überlegungen zur sozialistischen Demokratie, Vortrag am 21.3.1985, in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jahrgang 1986, Nr. 7/G, S. 26.