Über Eric Ambler

Eric Ambler, geboren 1909 als Sohn eines Schauspieler- und Entertainerpaars in London, studierte Maschinenbau und arbeitete zunächst als Werbetexter. In den dreißiger Jahren schrieb er seine ersten Agentenromane. Im Zweiten Weltkrieg war er Artillerist, dann Produktionsleiter von Lehrfilmen in der britischen Armee, nach 1946 arbeitete er u.a. als Drehbuchautor und Produzent und gewann für drei seiner Bücher den Edgar-Allan-Poe-Preis. Er starb 1998 in London.

Im Jahre 1806 schickte Napoleon sich an, den König von Preußen aufs Haupt zu schlagen. In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt erlitten die preußischen Armeen eine vernichtende Niederlage. Was von ihnen übrig blieb, marschierte nach Osten und stieß zu einer russischen Armee unter Bennigsen. Auf diese vereinigte Streitmacht traf Napoleon im Februar des Folgejahrs bei dem Städtchen Preußisch-Eylau nahe Königsberg.

Eylau war eine der blutigsten und schrecklichsten Schlachten Napoleons. Sie begann bei Schneesturm und Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Beide Heere waren halb verhungert und kämpften schon um das jämmerliche Obdach der Gebäude von Eylau mit verzweifeltem Ingrimm. Beide Seiten erlitten schwere Verluste: Es fielen fast ein Viertel der an der Schlacht Beteiligten. Als die Kämpfe am zweiten Tag bei Einbruch der Dunkelheit endeten, geschah es eher aus Erschöpfung, nicht weil eine Entscheidung herbeigeführt worden war. Dann, im Laufe der Nacht, begann sich die russische Armee Richtung Norden zurückzuziehen. Damit hatten die Überlebenden des preußischen Korps, dessen Flankensicherungsaktion gegen Neys Truppen fast den Sieg gebracht hätte, keinen Grund mehr zum

Diese Einheit stand in einem widersprüchlichen, für die damalige Zeit in Mitteleuropa jedoch nicht ungewöhnlichen Verhältnis zur übrigen preußischen Armee. Wenige Jahre zuvor – die älteren Soldaten konnten sich noch gut daran erinnern – war das Regiment die einzige berittene Streitmacht des unabhängigen Fürstentums Ansbach gewesen und hatte seinen Fahneneid dem herrschenden Markgrafen geschworen. Dann waren schlimme Zeiten für Ansbach angebrochen, und der letzte Markgraf hatte sein Land und sein Volk an den König von Preußen verkauft. Ein neuer Fahneneid war zu leisten. Der neue Herr freilich erwies sich als ebenso wankelmütig wie der Alte. Im Jahr vor der Schlacht von Eylau hatte sich die Staatsangehörigkeit der Dragoner abermals geändert. Preußen hatte das Gebiet von Ansbach an Bayern abgetreten. Da Bayern mit Napoleon verbündet war, hätten die Ansbacher streng genommen gegen die Preußen und nicht an ihrer Seite kämpfen müssen. Die Dragoner allerdings standen dieser widersinnigen Situation ebenso gleichgültig gegenüber wie der Sache, für die sie kämpften. Der Begriff der Nationalität bedeutete ihnen wenig. Sie waren Berufssoldaten in dem Sinne, den das Wort im achtzehnten Jahrhundert hatte. Wenn sie zwei Tage und eine Nacht lang gekämpft und gelitten hatten, marschiert und gefallen waren, dann weder aus Liebe zu Preußen noch aus Hass auf Napoleon, sondern weil man sie entsprechend ge

So konnte Wachtmeister Franz Schirmer, während sein Pferd sich in jener Nacht einen Weg durch die Wälder am Rande von Kutschitten suchte, ohne größere Gewissensbisse über seine Situation nachdenken und Pläne machen, wie er sich daraus befreien könnte. Von den Ansbacher Dragonern waren nicht mehr viele übrig, und von denen, die es waren, würden nur wenige die kommenden Strapazen überleben. Die Verwundeten und diejenigen, die schwere Erfrierungen erlitten hatten, würden als Erste sterben; dann, wenn die Pferde verendet oder aufgegessen waren, würden Hunger und Krankheit nur die jüngsten und widerstandsfähigsten übrig lassen. Vierundzwanzig Stunden zuvor hätte der Wachtmeister mit Fug und Recht erwarten dürfen, zu den wenigen Überlebenden zu zählen. Nun nicht mehr. Am späten Nachmittag war er selbst verwundet worden.

Die Wunde hatte eine seltsame Wirkung auf ihn gehabt. Ein französischer Kürassier hatte den Wachtmeister mit einem Säbelhieb am rechten Arm getroffen. Die Klinge hatte die Deltamuskeln knapp über dem Ellbogen schräg bis auf den Knochen durchschnitten. Es war eine hässliche Wunde, doch der Knochen war nicht gebrochen, sodass sich Schirmer wenigstens nicht der Tortur der Feldscher aussetzen musste. Ein Kamerad hatte ihm die Wunde verbunden und den Arm mit einem Bandelier an den Körper geschnallt. Der Arm pochte schmerzhaft, doch die Blutung war offenbar zum Erliegen gekommen. Schirmer fühlte sich

Es hatte sich eingestellt, während die Wunde verbunden wurde. Die Überraschung und das Entsetzen über das seinen unbrauchbaren Arm hinabströmende Blut hatten sich plötzlich gelegt, und an ihre Stelle war ein absurdes, großartiges Gefühl der Freiheit und Unbeschwertheit getreten.

Er war ein etwas schwerfälliger, praktisch veranlagter junger Mann, der sich keine Illusionen machte. Mit Wunden kannte er sich ein wenig aus. Die seine hatte noch geblutet, als sie verbunden worden war, und konnte daher als sauber gelten; seine Chancen, dem Tod durch Wundbrand zu entgehen, standen trotzdem nicht besser als fünfzig zu fünfzig. Auch mit dem Krieg kannte er sich aus, und er begriff deshalb nicht nur, dass die Schlacht wahrscheinlich verloren war, sondern auch, dass der Rückzug sie durch eine Gegend führen würde, die von durchziehenden Armeen bereits restlos ausgeplündert war. Doch diese Erkenntnis erfüllte ihn keineswegs mit Verzweiflung. Es war, als wäre ihm mit seiner Wunde eine besondere Vergebung seiner Sünden zuteil geworden; eine durchgreifendere und umfassendere Absolution, als sie ihm jeder sterbliche Priester hätte erteilen können. Er spürte, dass Gott selbst ihn angerührt hatte und dass jedweder drastische Schritt, den er ergreifen musste, um zu überleben, von Gott gebilligt würde.

Er dachte einen Moment darüber nach. Nach einer derart verbissen geführten zweitägigen Schlacht war es äußerst unwahrscheinlich, dass es noch französische Kavallerietrupps gab, die imstande waren, den Rückzug von der Flanke her zu stören. Die Flankensicherung war daher nichts weiter als eine Vorsichtsmaßnahme nach dem Reglement. Sie war es keinesfalls wert, dass man dafür Risiken einging. Er gab ein kurzes Kommando, und die Kolonne schwenkte wieder zur Straße hin in den Wald ein. Er hatte keine große Angst davor, dass sein Ungehorsam entdeckt wurde. Falls doch, würde er einfach behaupten, er habe die Orientierung verloren; man würde ihn nicht schwer dafür bestrafen, dass er sich der Aufgabe eines Offiziers nicht gewachsen zeigte. Er hatte jedenfalls Wichtigeres zu bedenken.

Etwas zu essen war am vordringlichsten.

Er zwang ein aufsteigendes Panikgefühl nieder. Er würde bald etwas unternehmen müssen, und Panik würde ihm dabei nichts nützen. Schon spürte er, wie die Kälte an ihm zehrte. Es konnte nur noch wenige Stunden dauern, bis Fieber und Erschöpfung unwiderruflich ihren Tribut forderten. Er presste unwillkürlich die Knie gegen die Sattelklappen, und in diesem Augenblick kam ihm die Idee.

Das Pferd hatte unter dem Schenkeldruck leicht gescheut und war seitwärts gegangen. Wachtmeister Schirmer lockerte die Oberschenkelmuskeln, beugte sich vor und tätschelte dem Tier mit der linken Hand liebevoll den Hals. Er lächelte vor sich hin, während das Pferd sich wieder beruhigte. Als die Abteilung die Straße erreichte, war sein Plan gefasst.

Den Rest der Nacht und den größten Teil des folgenden Tages über zog das preußische Korps langsam ostwärts auf die Masurischen Seen zu; dann wandte es sich

Außerdem war er beinahe am Ende seiner Kräfte. Schon der Marsch von Eylau bis zu der Stelle, wo er desertiert war, hatte ihm alles abverlangt; der Querfeldeinritt von dort wäre selbst für einen Unverwundeten eine Strapaze gewesen. Inzwischen waren die Schmerzen in seinem Arm zuweilen unerträglich, und das Fieber und die bittere Kälte schüttelten ihn so sehr, dass er sich kaum im Sattel halten konnte. Er begann sich sogar schon zu fragen, ob er Gottes Absichten nicht vielleicht doch falsch eingeschätzt hatte und ob das, was ihm wie ein Zeichen göttlicher Gnade erschienen war, sich am Ende als Ankündigung seines nahenden Todes erweisen würde. Jedenfalls war ihm klar, dass er sterben würde, wenn er nicht bald ein Obdach fände, wie es sein Plan erforderte.

Er verhielt sein Pferd und hob mit Mühe abermals den Kopf, um sich umzusehen. Weitab zu seiner Linken, jenseits der weißen Öde eines zugefrorenen Sees, konnte er den flachen schwarzen Umriss eines Bauernhauses ausmachen. Sein Blick ging weiter. Womöglich gab es ja ein näher gelegenes Gebäude zu erforschen. Aber da war nichts. Ohne Hoffnung lenkte er sein Pferd auf das Bauernhaus zu und setzte seinen Ritt fort.

Die Gegend, in der sich der Wachtmeister mittlerweile befand, war zu jener Zeit zwar Teil des Königreichs

Als erfahrener Soldat hatte der Wachtmeister durchaus mit Verwüstung gerechnet. Sein Plan fußte sogar darauf. Ein Gebiet, das gerade eine russische Armee versorgt hatte, würde eine Zeit lang keine andere anziehen. Ein Deserteur durfte sich hier einigermaßen sicher fühlen. Nicht gerechnet hatte Schirmer freilich damit, dass der Hunger die Bevölkerung vertrieben haben könnte. Seit dem Morgengrauen war er an mehreren Bauernhäusern vorbeigekommen, und sie waren allesamt verlassen gewesen. Mittlerweile war ihm klar geworden, dass die Russen (vielleicht weil sie es mit Polen zu tun hatten) noch schlimmer als sonst gehaust und dass die Bewohner – außerstande, genügend Nahrungsmittel zu verstecken, um bis zum Frühjahr zu überleben – sich in Gebiete weiter südlich geflüchtet hatten, die vielleicht verschont geblieben waren. Falls sämtliche Bauern in der Nähe sich den anderen angeschlossen hatten, war er verloren. Er hob abermals den Kopf, zwinkerte, um seine Wimpern von dem daran haftenden Eis zu befreien, und spähte voraus.

Er stieg als dünner Faden vom Dach des Hauses empor, auf das Schirmer zuhielt, und er sah ihn nur einen Moment lang, ehe er wieder verschwand. Obwohl Schirmer ein ganzes Stück davon entfernt war, wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. In dieser Gegend wurde Torf gestochen, und das war Rauch von einem Torffeuer. Seine Stimmung hob sich, während er sein Pferd vorwärtstrieb.

Er brauchte noch eine halbe Stunde, bis er das Gehöft erreichte. Im Näherkommen sah er, dass es ärmlich und heruntergekommen war. Es bestand aus einer niedrigen Holzkate – Wohnhaus und Stall in einem –, einer leeren Schafhürde und einem kaputten Wagen, der fast vollständig unter einer Schneewehe begraben war. Das war alles.

Die Pferdehufe verursachten im gefrorenen Schnee nur ein leises Knirschen. Ein Stück vom Haus entfernt löste Schirmer sorgfältig seinen Karabiner aus dem langen Sattelschuh. Nachdem er die Waffe schussfertig gemacht hatte, klemmte er sie quer über den Satteltaschen an den zusammengerollten Decken am Sattelknopf fest. Dann nahm er die Zügel wieder auf und ritt weiter.

Am einen Ende des Gebäudes befand sich ein kleines Fenster mit geschlossenen Läden und daneben eine Tür. Im Schnee davor waren Fußspuren zu erkennen, doch abgesehen von dem dünnen Torfrauchgekräusel über dem Dach gab es kein Zeichen von Leben. Schirmer hielt an und blickte sich um. Das Gatter der Schafhürde

Er ließ die Zügel durch die Finger gleiten, und das Pferd schüttelte den Kopf. Das Klirren des Gebisses kam ihm sehr laut vor. Er blickte rasch zur Tür des Hauses hin. Falls man das Geräusch dort gehört hatte, würde die erste Reaktion Angst sein; und Angst wäre nützlich, vorausgesetzt, sie führte dazu, dass man ihm umgehend die Tür öffnete und seinen Wünschen prompt entsprach. Falls sie allerdings dazu führte, dass man die Tür vor ihm verrammelte, kam er in Schwierigkeiten. Er würde die Tür aufbrechen müssen, und er konnte es erst riskieren abzusitzen, wenn er sicher war, dass sein Ritt hier endete.

Er wartete. Von drinnen war kein Laut zu hören. Die Tür blieb geschlossen. Seinem Dragonerinstinkt hätte es entsprochen, mit dem Gewehrkolben dagegenzuhämmern und den Bewohnern zuzubrüllen, sie sollten herauskommen, wenn ihnen ihr Leben lieb sei; aber er widerstand der Versuchung. Der Gewehrkolben würde vielleicht später noch Verwendung finden, doch zunächst wollte er es wie geplant mit Freundlichkeit probieren.

Er versuchte »Heda!« zu rufen, doch der Laut, der ihm aus der Kehle drang, war nichts weiter als ein Schluchzen. Verzweifelt versuchte er es erneut.

Diesmal gelang es ihm, das Wort zu krächzen, doch zugleich überfiel ihn ein tödliches Gefühl der Hilflosigkeit. Er, der eben noch erwogen hatte, mit seinem Gewehr gegen eine Tür zu hämmern, ja sie einzuschlagen, hatte nicht einmal mehr genügend Kraft, um zu rufen. In seinen Ohren war ein Dröhnen, ihm wurde schwindlig. Er schloss die Augen und kämpfte das schreckliche Gefühl nieder. Als er sie wieder aufschlug, sah er die Tür langsam aufgehen.

Das Gesicht der Frau, die in der Tür stand und zu ihm aufblickte, war so vom Hunger verwüstet, dass es schwerfiel, ihr Alter zu schätzen. Wären die um ihren Kopf gewundenen Haarflechten nicht gewesen, hätten auch hinsichtlich ihres Geschlechts Zweifel bestanden. Die wallenden Bauernlumpen, die sie anhatte, waren völlig formlos und ihre Füße und Beine nach Männerart mit Sackleinen umwickelt. Sie starrte ihn dumpf an, sagte dann etwas auf Polnisch und machte Anstalten, wieder ins Haus zu gehen. Er beugte sich vor und sprach sie auf Deutsch an.

»Ich bin ein preußischer Soldat. Es hat eine große Schlacht gegeben. Die Russen sind geschlagen.«

Er sagte das, als verkündete er einen Sieg. Sie hielt inne und blickte erneut auf. Ihre tief in den Höhlen liegenden Augen waren völlig ausdruckslos. Er hatte die merkwürdige Vorstellung, dass das auch dann so bliebe, wenn er seinen Säbel zöge und sie niederhaute.

»Wer ist sonst noch da?«, fragte er.

Wieder bewegten sich ihre Lippen, und diesmal sprach

»Was fehlt ihm?«

»Er hat die Schwindsucht.«

»Ah!« Wenn es die Pest gewesen wäre, wäre er lieber im Schnee gestorben, als hierzubleiben.

»Was wollt Ihr?«, wiederholte sie.

Anstatt eine Antwort zu geben, löste er die Schließen seines Mantels und schlug ihn über seinem verwundeten Arm zurück.

»Ich brauche Obdach und Ruhe«, sagte er, »und jemanden, der mir mein Essen kocht, bis meine Wunde geheilt ist.«

Ihr Blick huschte von seinem blutbefleckten Rock zu dem Karabiner und den prallen Satteltaschen darunter. Er nahm an, dass sie überlegte, ob sie die Kraft hatte, das Gewehr an sich zu reißen und ihn zu töten. Er legte die Hand fest auf die Waffe, und ihre Blicke trafen sich wieder.

»Es gibt nichts zu essen«, sagte sie.

»Ich habe reichlich zu essen«, antwortete er. »Genug, um mit denen zu teilen, die mir helfen.«

Sie starrte ihn immer noch an. Er nickte beruhigend, dann schwang er, den Karabiner fest in der linken Hand, das rechte Bein über den Sattel und ließ sich vom Pferd gleiten. Als seine Füße den Boden berührten, gaben sie unter ihm nach, und er schlug der Länge nach in den Schnee. Von seinem Arm schoss ein brennender Schmerz in jede Faser seines Körpers. Er schrie auf und lag ein, zwei Momente lang schluchzend da. Endlich

Die Frau hatte keinerlei Anstalten gemacht, ihm zu helfen. Sie hatte sich nicht einmal gerührt. Er drängte sich an ihr vorbei durch die Tür ins Innere der Hütte.

Drinnen blickte er sich wachsam um. In dem von der Tür einfallenden Licht, das durch den Torfqualm sickerte, konnte er verschwommen ein grobes Holzbett ausmachen, auf dem etwas lag, das wie ein Haufen Sackleinen aussah. Von dort kam nun ein wimmernder Laut. In einem primitiven Lehmofen in der Mitte glomm trübe das Torffeuer. Der gestampfte Boden war weich von Asche und Torfstaub. Der stinkende Dunst machte Schirmer würgen. Er wankte um den Ofen herum und zwischen den Stützbalken des Daches hindurch in den Teil der Kate, in dem man die Tiere gehalten hatte. Das Stroh unter seinen Füßen war schmutzig, doch er schob es an der Rückseite des Ofens zu einem Haufen zusammen. Er wusste, dass die Frau ihm gefolgt und zu dem Kranken hinübergegangen war. Nun hörte er die beiden flüstern. Er machte sich aus dem Strohhaufen so etwas wie ein Lager und breitete, als er fertig war, seinen Mantel darüber. Das Geflüster war verstummt. Er nahm eine Bewegung hinter sich wahr und drehte sich um.

Die Frau stand ihm gegenüber. Sie hatte eine kleine Axt in den Händen.

»Das Essen«, sagte sie.

Er nickte und ging wieder vors Haus. Sie folgte ihm und sah zu, wie er sich, den Karabiner zwischen die

»Das Essen«, wiederholte sie.

Er hob den Karabiner, drückte sich den Kolben gegen die linke Hüfte und ließ die Hand zum Schloss hinabgleiten. Mit Mühe gelang es ihm, den Hahn zu spannen und den Zeigefinger an den Abzug zu legen. Dann setzte er dem Pferd knapp unterm Ohr die Mündung an den Kopf.

»Da ist unser Essen«, sagte er und drückte den Abzug.

Vom Knall des Schusses klangen ihm die Ohren, während das Pferd mit zuckenden Beinen zu Boden sank. Der Karabiner war Schirmer aus der Hand gerissen worden und lag rauchend im Schnee. Er hob die Decken auf und klemmte sie sich unter den Arm, ehe er die Waffe wieder an sich nahm. Die Frau beobachtete ihn immer noch. Er nickte ihr zu, wies auf das Pferd und ging zum Haus zurück.

Noch bevor er die Tür erreichte, lag sie neben dem sterbenden Tier auf den Knien und machte sich mit der Axt darüber her. Er blickte sich um. Da war der Sattel samt Inhalt, außerdem sein Säbel. Damit könnte sie ihn ohne weiteres umbringen, während er hilflos dalag. Die flache Ledertasche unter seinem Uniformrock enthielt, nach ihren Begriffen, ein Vermögen. Einen Moment lang betrachtete er die raschen, hektischen Bewegungen ihrer Arme und den dunklen Blutfleck, der sich im Schnee unter ihr ausbreitete. Sein Säbel? Sie würde keinen Säbel brauchen, wenn sie vorhatte, ihn umzubringen.

 

Die Frau hieß Maria Dutka und war achtzehn, als Wachtmeister Schirmer sie zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Sie hatte schon als Kind ihre Mutter verloren, und da es keine weiteren Kinder gab und ihr Vater keine zweite Frau fand, hatte sie früh die Arbeit eines Sohnes und Hoferben verrichten müssen. Überdies war die chronische Krankheit, an der Dutka litt, nun schon von langer Dauer, und die Phasen der Besserung waren immer seltener geworden. Maria war es bereits gewohnt, selbstständig zu denken und zu handeln.

Sie war jedoch nicht eigensinnig. So kam es ihr zwar in den Sinn, den Wachtmeister umzubringen, um das tote Pferd nicht mit ihm teilen zu müssen, aber sie besprach die Sache zuerst mit ihrem Vater. Sie war von Natur aus zutiefst abergläubisch, und als er andeutete, dass beim glücklichen Auftauchen des Wachtmeisters womöglich eine übernatürliche Macht die Hand im Spiel gehabt hatte, begriff sie, wie gefährlich ihre Absicht war. Sie begriff außerdem, dass die übernatürlichen Mächte, selbst wenn der Wachtmeister an seiner

Infolgedessen pflegte sie ihn mit so etwas wie banger Hingabe, die für den dankbaren Wachtmeister leicht misszuverstehen war. Später dann tat sie etwas, was ihn noch mehr für sie einnahm. Als er während seiner Genesung den Versuch machte, ihr dafür zu danken, dass sie ihren Teil der Vereinbarung so getreu eingehalten hatte, setzte sie ihm in aller Schlichtheit und Offenheit ihre Beweggründe auseinander. Damals belustigte und beeindruckte ihn das zugleich. Als er hinterher darüber nachdachte, was sie gesagt und dass sie es ihm überhaupt gesagt hatte, überkamen ihn noch erstaunlichere Empfindungen. Während das Essen, das sie miteinander teilten, ihr jugendliches Aussehen und ihre Vitalität wiederherstellte, folgte er immer häufiger den Bewegungen ihres Körpers und begann seine früheren Zukunftspläne auf angenehme Weise abzuändern.

Er blieb acht Monate lang im Hause Dutka. Unter dem Schnee konserviert, versorgte der Pferdekadaver sie alle mit Frischfleisch und, als Tauwetter einsetzte, mit den geräucherten und getrockneten Überresten. Bis dahin war der Wachtmeister auch imstande, mit seinem Karabiner in den Wald zu gehen und Wild mitzubringen. Gemüse begann zu wachsen. Dann erholte sich der alte Dutka ein paar bemerkenswerte Wochen lang so weit, dass er, mit dem Wachtmeister und Maria als Gespann, schließlich sogar sein Land pflügen konnte.

Dass der Wachtmeister blieb, galt mittlerweile als

Es wurde Sommer. Die Schlacht von Friedland wurde geschlagen. Auf einem Floß, das im Niemen verankert war, trafen der französische und der russische Kaiser zusammen. Der Vertrag von Tilsit wurde unterzeichnet. Preußen verlor alle seine Gebiete westlich der Elbe und sämtliche polnische Besitzungen. Bialla, nur wenige Meilen südlich von Dutkas Gehöft, lag mit einem Mal an der russischen Grenze, und Lyck wurde Garnisonsstadt. Preußische Infanteriepatrouillen suchten Rekruten, und der Wachtmeister flüchtete mit den anderen jungen Männern in die Wälder. Während einer dieser Zeiten seiner Abwesenheit starb Marias Vater.

Nachdem die Beerdigungszeremonien vorüber waren, holte der Wachtmeister seine lederne Geldtasche hervor und setzte sich mit Maria zusammen, um seine Er

Anfang November 1807 machten sie sich mit einem Handkarren, den sie aus Dutkas altem Wagen fabriziert hatten, zu Fuß Richtung Westen auf. Es war eine beschwerliche, gefahrvolle Reise, denn ihr Weg führte durch Preußen, und sie wagten nur bei Nacht zu marschieren. Hunger allerdings litten sie nicht. Sie führten ihr Essen auf dem Karren mit sich, und es hielt bis Wittenberg vor. Dies war auch die erste Stadt, die sie am helllichten Tag betraten. Sie hatten preußischen Boden endgültig hinter sich gelassen.

Sie blieben jedoch nicht in Wittenberg. Für den Wachtmeister war die Stadt der preußischen Grenze unangenehm nahe. Gegen Mitte Dezember erreichten sie Mühlhausen, das soeben dem Königreich Westfalen

Sein Geschäft florierte. Die Wogen der napoleonischen Kriege erreichten den Hafen, den er und Maria gefunden hatten, nur mehr als sanftes Plätschern. Mehrere Jahre lang schien es, als seien die schlimmen Zeiten vorüber. Dann wurde Maria von der Krankheit befallen, unter der schon ihr Vater gelitten hatte. Sie starb zwei Jahre nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Hans.

Nach einer gewissen Zeit heiratete Wachtmeister Schirmer wieder und hatte mit seiner zweiten Frau zehn Kinder. Er starb im Jahre 1850 als angesehener und erfolgreicher Mann.

 

Nur ein einziges Mal in all den glücklichen Jahren in Mühlhausen suchten Franz Schirmer unerfreuliche Erinnerungen an seine Fahnenflucht heim. 1815 wurde Mühlhausen durch den Vertrag von Paris zur preußischen Stadt.

Es war das Jahr, in dem der Wachtmeister zum zweiten Mal heiratete; zwar hielt er es für unwahrscheinlich, dass man die Kirchenbücher nach den Namen von Deserteuren durchgehen würde, doch es bestand jederzeit die Möglichkeit, dass man sie zur Überprüfung von Mobilisierungslisten heranzog. Er konnte dieser Gefahr gegenüber einfach nicht gleichgültig bleiben. Nach so vielen Jahren der Straflosigkeit hatte er es sich abge

Was also war zu tun? Er dachte eingehend über das Problem nach. Früher, machte er sich klar, hatte er auf Gott vertraut; und in Zeiten großer Gefahr war Gott stets gut zu ihm gewesen. Aber konnte er denn auch weiterhin schlicht auf Gott vertrauen? Und war dies, so fragte er sich kritisch, wirklich eine Zeit großer Gefahr? In den preußischen Armeelisten standen schließlich unzählige Schirmers, und einige davon hießen sicherlich auch Franz. War es wirklich nötig, sich an Gott zu wenden, um sich gegen die Möglichkeit zu versichern, dass die Liste der Mühlhausener Bürger, die sich vom Kriegsdienst freigekauft hatten, mit der Liste der Deserteure in Potsdam verglichen wurde? Und war es überhaupt klug? Könnte es nicht sein, dass Gott, der schon so viel für Seinen Diener getan hatte, verstimmt darüber wäre, mit einer solchen Lappalie behelligt zu werden, und deshalb gar nicht reagieren würde? Gab es denn nichts, was Sein Diener selbst in dieser Angelegenheit unternehmen konnte, ohne die Hilfe des Allmächtigen zu erflehen?

Aber gewiss!

Er beschloss, seinen Namen in Schneider zu ändern.

Dabei stieß er nur auf eine einzige, geringfügige Schwierigkeit. Seinen Nachnamen und den des Kindes Hans zu ändern war einfach. Er hatte gute Freunde im Rathaus, und dass es in einer nahe gelegenen Stadt ei

Der Namenswechsel bereitete dem Wachtmeister niemals auch nur die geringste Sorge oder Unannehmlichkeit. Was sich an Sorgen und Unannehmlichkeiten daraus ergab, hatte über hundert Jahre später Mr. George L. Carey auszubaden.

George Carey kam aus einer Familie in Delaware, die aussah, als wäre sie einer Werbung für eine teure Automarke entsprungen. Sein Vater war ein wohlhabender Arzt mit schlohweißem Haar. Seine Mutter entstammte einer alten Familie in Philadelphia und war ein wichtiges Mitglied des Gartenclubs. Seine Brüder waren hoch gewachsen, kernig und gut aussehend. Seine Schwestern waren schlank, kräftig und lebhaft. Alle hatten schöne, regelmäßige Zähne, die man sah, wenn sie lächelten. Die ganze Familie wirkte derart glücklich, sorglos und erfolgreich, dass einem unwillkürlich der Verdacht kam, die Wahrheit über sie sähe womöglich ganz anders aus. Aber nein, sie waren tatsächlich glücklich, sorglos und erfolgreich. Sie waren außerdem ungemein selbstgefällig.

George war der jüngste Sohn, und obwohl seine Schultern nicht so breit waren wie die seiner Brüder und sein Lächeln nicht so selbstzufrieden, war er der Begabteste und Intelligenteste in der Familie. Seine Brüder hatten, als der Ruhm ihrer Zeit als Footballspieler verblasst war, ohne rechtes Ziel den Weg ins Geschäftsleben genommen. George hatte von dem Moment an, als er von der High-School abging, klare Zukunftspläne. Ungeachtet der Hoffnungen seines Vaters auf einen Nachfolger

Die Anwaltskanzlei Lavater, Powell und Sistrom in Philadelphia zählt zu den wirklich bedeutenden Kanzleien im Osten der Vereinigten Staaten, und die lange Liste ihrer Teilhaber liest sich wie eine Auswahl vielversprechender Kandidaten für einen frei werdenden Sitz im Supreme Court. Bis zu einem gewissen Grad rührt ihr gediegener Ruf sicherlich noch von der Erinnerung an den gewaltigen Handel mit Versorgungsanleihen her, mit dem sie in den Zwanzigern befasst war; andererseits hat es in den letzten dreißig Jahren kaum einen wirtschaftsrechtlichen Fall von einiger Größenordnung gegeben, in dem die Kanzlei nicht ein wichtiges Mandat innegehabt hätte. Sie ist nach wie

George hatte somit allen Grund, mit dem Fortgang seiner Karriere zufrieden zu sein, während er sich mit seinen Habseligkeiten in einem der komfortabel ausgestatteten Büros der Kanzlei einrichtete. Gewiss, für die etwas untergeordnete Position, die er einnahm, war er schon ein bisschen alt, aber er war schlau genug, um sich klarzumachen, dass seine vier Jahre bei der Luftwaffe aus beruflicher Sicht keine völlig verlorene Zeit und dass seine Kriegsauszeichnungen für sein Hiersein ebenso ausschlaggebend gewesen waren wie seine Leistungen auf der Universität und die warmen Empfehlungen des gelehrten Richters. Wenn daher alles gut ging (und warum sollte es das nicht?), konnte er mit einem raschen Aufstieg, wertvollen Kontakten und wachsendem persönlichem Ansehen rechnen. Er hatte das Gefühl, es geschafft zu haben.

Die Nachricht, dass er sich mit dem Fall Schneider-Johnson beschäftigen sollte, war daher ein unangenehmer Schlag. Sie war auch in anderer Hinsicht überraschend. Die Fälle, mit denen Lavater normalerweise zu tun hatte, waren von der Art, die ebenso gewiss Ansehen wie Geld einbrachte. Nach allem, was George noch von dem Fall Schneider-Johnson wusste, handelte es sich dabei um eine jener grotesken Affären, die sich jeder Wirtschaftsanwalt, der auf seinen Ruf bedacht ist, auf Armeslänge vom Leibe hält.

1938 war Amelia Schneider-Johnson, eine senile alte Dame von einundachtzig Jahren, in Lamport, Pennsylvania, gestorben. Sie hatte allein in dem heruntergekommenen Holzhaus gelebt, das ihr der verblichene Mr. Johnson zur Hochzeit geschenkt hatte, und ihre letzten Jahre in einer Atmosphäre vornehmer Armut zugebracht. Nach ihrem Tode jedoch hatte man festgestellt, dass zu ihrem Nachlass drei Millionen Dollar in festverzinslichen Wertpapieren gehörten, die sie in den zwanziger Jahren von ihrem Bruder Martin Schneider, einem Soft-Drink-Magnaten, geerbt hatte. Aufgrund eines übersteigerten Misstrauens gegen Banken und Schließfächer hatte sie die Wertpapiere in einer Blechschatulle unter ihrem Bett aufbewahrt. Sie hatte auch Anwälten misstraut und daher kein Testament gemacht. Die seinerzeit in Pennsylvania geltende Erbfolge war durch ein Gesetz von 1917 geregelt worden, welches besagte, dass noch der entfernteste Blutsverwandte des Erblassers unter Umständen Anspruch auf einen Teil des Nachlasses hatte. Amelia Schneider-Johnsons einzige bekannte Verwandte war Miss Clothilde Johnson, eine ältere Jungfer, gewesen. Aber sie war lediglich mit Amelia verschwägert und kam daher als Erbin nicht in Betracht. Unter begeisterter und sich verheerend auswirkender Mithilfe der Presse hatte eine Suche nach Amelias Blutsverwandten begonnen.

Und landesweit war das Interesse tatsächlich gewesen. Bis Anfang 1939 war der Nachlassverwalter von über achttausend Anwärtern auf das Erbe in Kenntnis gesetzt worden, ein Heer von Winkeladvokaten hatte sich eingeschaltet, um sie auszubeuten, und die ganze Sache war zügig in ein Wolkenkuckucksheim von Phantasterei, Schwindel und juristischer Farce entschwebt, wo sie verblieb, bis sie bei Ausbruch des Krieges plötzlich in Vergessenheit geriet.

Was Lavater für ein Interesse daran haben konnte, einen derart unappetitlichen Leichnam wiederauferstehen zu lassen, konnte George sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Mr. Budd, einer der Seniorpartner, klärte ihn darüber auf.

Die Hauptlast des Nachlasses Schneider-Johnson war von Moreton, Greener und Cleek getragen worden, einer altmodischen, hochangesehenen Anwaltskanzlei in Philadelphia. Als Anwälte von Miss Clothilde Johnson hatten sie auf deren Anordnung hin die offizielle Suche nach einem Testament durchgeführt. Nachdem das Fehlen eines solchen von Amts wegen festgestellt worden war, kam die Angelegenheit vor das Waisengericht in Philadelphia, und das Testamentsregister hatte Robert L. Moreton als Nachlassverwalter eingesetzt. Das war er bis Ende 1944 geblieben.

»Und nicht zu seinem Nachteil«, sagte Mr. Budd. »Wenn er nur so viel Verstand gehabt hätte, es dabei

Mr. Budd war ein hühnerbrüstiger Mann mit länglichem Schädel, einem ordentlich gestutzten Schnurrbart und einer Bifokalbrille. Er war immer schnell mit einem Lächeln bei der Hand, hatte die Angewohnheit, veraltete Redewendungen zu gebrauchen, und trug eine Miene sorgloser Gutgelauntheit zur Schau, der George zutiefst misstraute.

»Das Gesamthonorar«, sagte George vorsichtig, »muss bei einem Nachlass dieser Größenordnung ziemlich hoch gewesen sein.«

»Kein Honorar«, erklärte Mr. Budd, »ist so groß, dass es sich für eine anständige Kanzlei lohnte, sich mit einer Bande von Unfallgeiern und Schurken gemein zu machen. Auf der ganzen Welt gibt es Dutzende unabgeschlossener Erbschaftsfälle. Sehen Sie sich nur den Nachlass Abdul Hamid an! Den haben die Briten am Bein, und das nun schon seit über dreißig Jahren. Er wird vermutlich nie geregelt. Oder sehen Sie sich den Fall Garrett an! Überlegen Sie nur, wie viele Menschen er ihren guten Ruf gekostet hat. Alles Quatsch! Es ist doch immer das Gleiche. Ist A ein Hochstapler? Ist B geistesgestört? Wer ist vor wem gestorben? Ist das auf dem alten Foto Tante Sarah oder Tante Flossie? War hier ein Fälscher mit blässlicher Tinte am Werk?« Er wedelte wegwerfend mit den Armen. »Ich sage Ihnen, George,