Über das Buch

Die ganze Stadt steht unter Schock: Einen Tag, nachdem Kommissar Fors von unbekannten Tätern brutal überfallen und bestohlen wurde, ereignet sich in der Schule eine Schießerei, bei der drei Kinder ums Leben kommen - erschossen mit Fors' gestohlener Dienstwaffe. Die Ermittlungen gehen mühsam voran, bis entscheidende Hinweise eingehen, wer Fors die Waffe entwendet hat. Doch hat die Polizei mit den drei Jugendlichen, die Fors zusammengeschlagen haben, auch den Amokschützen?

Mats Wahl

Kill

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch

Carl Hanser Verlag

1

Wenn kleine Kinder wissen, dass sie sterben müssen, haben sie keine Angst vorm Tod, denn sie können ihn sich nicht vorstellen. Kleine Kinder, die wissen, dass sie sterben müssen, haben Angst, allein gelassen zu werden.

Der Mann, der aus dem grünen Golf stieg, trug Jeans und ein helles Leinenjackett, er war mittelgroß und braun gebrannt. Er betrat den Laden, der auch abends geöffnet hatte, und das Mädchen hinterm Tresen sah ihn zu den gekühlten Waren gehen, eine Glastür öffnen und eine Packung Milch herausnehmen. Das Mädchen fragte ihn, ob er eine Tüte für die Milch haben wollte, und er nickte. Sie steckte die Packung in eine Tüte und reichte sie ihm.

Der Mann hatte kurz geschnittene graue Haare. Er zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Hose, nahm einige Scheine Wechselgeld entgegen und hatte die Brieftasche noch in der Hand, als er wieder hinaus auf die Straße trat. Er hatte sein Auto am Fußgängerüberweg geparkt und wollte die Brieftasche gerade in die Gesäßtasche stecken, als ihn der Tritt im Nacken traf. Er fiel gegen das Auto und kippte mit dem Oberkörper über den Kühler. Ihn traf noch ein Tritt, diesmal an der Wange. Er fiel neben dem Vorderrad des Autos auf die Knie und bekam mehrere schnelle Tritte gegen Rücken, Arme und Brustkorb und noch einen gegen den Kopf.

Bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er: »Das Messer, nimm das Messer!«

Im Krankenwagen kam er wieder zu sich. Ihm war schlecht und er übergab sich in eine Pappschale, die man ihm unters Kinn hielt. Er hörte zu, wie man sich über Funk über seinen Blutdruck unterhielt. Im Krankenhaus wurde er in ein Untersuchungszimmer gerollt und eine Ärztin mit rabenschwarzen Haaren und einem unaussprechlichen Namen kümmerte sich um ihn. Die Wunde über seinem Auge wurde genäht und Fors bat telefonieren zu dürfen. Er rief bei der Kripo an. Stjernkvist meldete sich.

»Hallo, hier ist Fors.«

»Grüß dich, hast du nicht frei?«

»Ich bin überfallen worden.«

Stjernkvist verstummte und Fors sah auf seine Armbanduhr.

»Halb zehn, vor dem Laden im Ugglevägen. Sie haben mir die Pistole geklaut.«

»Sie haben dir die Pistole geklaut«, wiederholte Stjernkvist. »Wo bist du?«

»In der Notaufnahme, hier bin ich seit fast einer halben Stunde. Warum ist niemand von der Schutzpolizei hier?«

»In Skäggesta brennt es.«

»Gib eine Fahndung raus wegen der Pistole. Und schick jemanden in den Ugglevägen.«

»Hast du sie gesehen?«

»Einige Tritte, und dann wurde alles schwarz. Ich hab absolut nichts gesehen. Auf der anderen Straßenseite standen Leute bei der Würstchenbude. Jemand muss es gesehen haben.«

»Ich fahr selbst hin«, sagte Stjernkvist. »Und ich unterrichte Hammarlund — nein, der ist in Sälen. Also benachrichtige ich Nylander. Wie geht es dir?«

»Ich muss gleich kotzen«, sagte Fors.

Dann legte er das Handy weg, und die Schwester hielt ihm wieder eine Pappschale hin. Fors erbrach Galle.

»Wie haben Sie geschlafen?«, fragte die Schwester, die das Frühstück brachte.

»Danke, gut. Aber ich glaube, ich möchte nichts essen. Wie spät ist es?«

»Halb neun.«

»Ihr müsst mir ein starkes Schlafmittel gegeben haben. Es ist lange her, dass ich mal bis nach acht durchgeschlafen habe.«

»Im Flur sind ein paar Herren, die Sie sprechen wollen.«

»Lassen Sie sie rein«, sagte Fors. »Ich möchte nur ein Glas Wasser. Nehmen Sie den Kaffee bitte wieder mit. Von dem Geruch wird mir übel.«

Die Frau nickte und nahm das Tablett. Sie stieß die Tür mit der Schulter auf und verschwand. Die Tür hatte sich kaum geschlossen, da wurde sie von der anderen Seite geöffnet und Molgren und Kranz von der zentralen Ermittlung kamen herein. Molgren trug Jeans, eine Jeansjacke und ein blendend weißes T-Shirt, Kranz einen schlammfarbenen Kordanzug. Das Jackett trug er überm Arm. Sie nickten Fors zu und Kranz nahm auf dem einzigen Stuhl Platz. Molgren schaltete das Tonbandgerät ein und stellte es auf den Tisch neben Fors.

»Armer Kerl«, sagte Molgren. »Wie geht es dir?«

»Mir ist schlecht.«

»Musst du länger hier drin bleiben?«

»Die Ärztin von der Notaufnahme meint, ich sollte vielleicht zur Beobachtung bleiben. Aber heute hab ich noch keinen Arzt gesehen.«

»Auf der Backe kriegst du ein wunderschönes Veilchen«, sagte Kranz. »Ist die Wunde unter dem Pflaster groß?«

Fors zog eine Grimasse. »Drei Stiche.«

»Jetzt erzähl mal von Anfang an«, schlug Molgren vor und verschränkte die Arme.

»Wer ist für die Ermittlung verantwortlich?«, fragte Fors.

»Svensson.«

Oberstaatsanwalt Christer Svensson war meistens für die Ermittlungen zuständig, die von der zentralen Ermittlungsgruppe bearbeitet wurden, der Gruppe, die in Fällen ermittelte, die darauf hindeuteten, dass ein Polizist ein Verbrechen oder einen Dienstfehler begangen hatte. Fors kannte Christer Svensson aus dem Fliegenfischer-Club, in dem sie beide Mitglied waren.

»Erzählst du jetzt von Anfang an?«, bat Molgren erneut.

Fors lehnte sich gegen die Kissen und musterte seine Kollegen.

»Natürlich nur, wenn du das Gefühl hast, du schaffst es«, sagte Kranz.

»Klar«, sagte Fors.

Kranz sah auf seine Armbanduhr und beugte sich zu dem Aufnahmegerät. »Verhör mit Kriminalkommissar Harald Fors wegen verlorener Dienstwaffe. Verhörsleiter ist Kriminalinspektor Lars Kranz. Verhörszeuge ist Kriminalinspektor Felix Molgren. Ort ist die Notaufnahme des Allgemeinen Krankenhauses.«

Dann nannte Kranz Uhrzeit und Datum und lehnte sich zurück.

Fors räusperte sich einige Male und meinte, seine eigene Stimme nicht zu erkennen: »Wir haben beim Motorclub in Vebe zugegriffen und hatten den ganzen Tag gearbeitet. Auf dem Heimweg wollte ich einen Liter Milch kaufen. Ich parkte vor dem Laden im Ugglevägen, der abends geöffnet hat. Es war ungefähr halb neun, ich betrat den Laden und kaufte mir Milch. Als ich wieder herauskam, hatte ich die Milch in der einen und die Brieftasche in der anderen Hand. Ich war schon fast beim Auto, da traf mich ein Stoß in den Nacken. Ich fiel vornüber auf den Kühler. Dann bekam ich einen Tritt gegen den Kopf und mehrere gegen den Körper. Ich weiß, dass ich über den Kühler rutschte und noch dachte, dass ich versuchen müsste, mich aufzurichten, aber es ging nicht. Dann lag ich auf dem Boden und hörte jemanden sagen: ›Nimm das Messer‹. Jetzt ist es aus, dachte ich und verlor das Bewusstsein.«

»Was hast du gesehen?«, fragte Kranz.

»Nichts.«

»Nichts?«

»Nicht das Geringste.«

»Und vorher?«

»Bei der Würstchenbude auf der anderen Straßenseite standen mehrere Leute, aber an die hab ich nicht gedacht. Im Laden war ein Mädchen hinter dem Tresen. Vielleicht hat sie was gesehen.«

»Du hast nicht gesehen, wie viele es waren?«

»Mindestens zwei. Sie haben mich von beiden Seiten getreten, als ich auf dem Kühler lag. Vielleicht waren es drei, aber das weiß ich nicht. Ich hab nichts gesehen.«

»Keine Hosenbeine, keine Schuhe?«

»Nichts.«

»Und die Stimmen?«

»Klangen wie Jungenstimmen.«

»Wie alt?«

»Jungs eben, unter dreißig.«

»Kein Akzent?«

»Das Einzige, was ich gehört habe, war: ›Nimm das Messer‹. Kein Akzent, kein Dialekt.«

»Haben sie dich geschnitten?«

Fors zeigte zum Schrank an der Längswand.

»Hol mal die Hose.«

Molgren ging zu dem Schrank, auf den Fors zeigte, öffnete ihn und holte Fors’ Jeans hervor. In den Schlaufen hingen die Reste eines breiten Ledergürtels mit vernickelter Schnalle. Molgren gab Kranz die Hose.

»Sie haben die Hose aufgeschnitten, um an das Holster zu kommen.«

»Ja«, sagte Fors. »Anders wären sie nicht an die Waffe herangekommen, also mussten sie die Hose aufschneiden.«

»In jedem Fall hatten sie ein scharfes Messer«, sagte Molgren und musterte die Schnittkante.

»Wir nehmen deine Hose mit«, sagte Kranz.

Fors starrte ihn an.

»Und wie stellst du dir bitte vor, soll ich dann von hier wegkommen? Wie eine Art heiliger Depp in Boxershorts und Jackett auf dem Weg ins Zentrum, um die Täter zu jagen, die seine Waffe geklaut haben?«

»Wir sorgen dafür, dass du eine andere Hose bekommst«, sagte Kranz. »Was genau haben sie ergattert?«

»Die Dienstwaffe mit acht Patronen im Magazin, ein Nokia- Handy und eine schwarze Brieftasche aus Leder. Darin waren vier Scheckkarten, ein Bibliotheksausweis und einige private Fotos. Vierhundert Kronen in Scheinen. Das ist alles.«

»Und du hast wirklich nichts gesehen?« Molgren sah ihn misstrauisch an.

»Nicht das Geringste«, sagte Fors. »Entschuldigt bitte, ich glaub, ich muss kotzen.«

Molgren und Kranz entfernten sich vom Bett. Molgren trat ans Fenster und schaute auf den Parkplatz.

»Heute wird es genauso warm wie gestern«, sagte er seufzend.

»Meine Tochter fährt morgen nach Griechenland«, sagte Kranz. »Ihre erste Auslandsreise ohne Eltern. Und hier ist es wärmer als in Athen.«

Fors würgte, ohne dass etwas hochkam. Er stellte die Pappschale auf den kleinen Tisch. Kranz drehte sich zu ihm um, ohne näher ans Bett zu treten.

»Du warst nicht im Dienst, als du die Milch gekauft hast. Warum warst du bewaffnet?«

»Wegen der Motorradgang in Vebe«, antwortete Fors. »Dort haben wir im Frühling ermittelt. Ich bin mehrere Male bedroht worden und Hammarlund hat angeordnet, dass ich auch außerhalb des Dienstes die Waffe trage und sie in meiner Wohnung verwahre.«

»Hast du das schriftlich?«, fragte Molgren.

»Hammarlund hat das Original, die Kopie ist in meinem Büro.«

Molgren nickte und Kranz fragte: »Und du hast nicht an der Waffe herumgespielt?«

»Was meinst du damit?«

»Den Druckpunkt verändert oder irgendwas in der Art.«

»Nein.«

»Und du benutzt Sicherheitsmunition?«

»Ja.«

»Hattest du kein Reservemagazin?«, fragte Molgren.

»Nein.«

»Hat deine Waffe besondere Merkmale?«

»Nein.«

»Und im Lauf steckte keine Kugel?«

»Nein.«

Molgren und Kranz sahen sich an.

»Tja«, sagte Kranz, »es scheint unkompliziert zu sein. Du bist beraubt worden. Deine Waffe ist weg. Du hattest Order, bewaffnet zu sein und die Waffe in der Wohnung zu verwahren. Du hast nichts mit der Waffe angestellt und sie auch nicht mit unerlaubter Munition geladen?«

»Nein«, sagte Fors.

»Sauber«, sagte Kranz. »Ganz sauber. Hoffentlich bist du bald wieder auf dem Damm. Wir werden jetzt mit Leif Holmberg reden. Kennst du den?«

»Nicht näher als nötig.«

Kranz nickte. »Heute ist der Tag, an dem wir uns alle Sündenregister vorknöpfen. Aber das mit Holmberg ist ein paar Nummern größer.«

»Kann ich mir denken«, sagte Fors.

Polizeiinspektor Leif Holmberg hatte sich vor einigen Wochen zusammen mit zwei Kollegen eines betrunkenen Mannes angenommen. Die Polizeistreife hatte sich gezwungen gesehen, dem Betrunkenen die Hände auf den Rücken zu fesseln. Trotzdem hatten sich die drei bis an die Zähne bewaffneten Polizisten von dem zweiundsechzigjährigen Mann bedroht gefühlt. Dieser wurde bäuchlings auf den Bahnhofsboden gelegt, und Holmberg hatte ihm mit solcher Kraft ein Knie zwischen die Schulterblätter gestemmt, dass eine Rippe brach. Die Rippe hatte einen Lungenflügel punktiert, und der Mann wäre fast gestorben.

»Wir sehn uns«, sagte Kranz. Molgren schaltete das Tonbandgerät aus und nahm es unter den Arm.

»Dir geht’s doch ganz gut hier drinnen«, tröstete er Fors. »Hier ist es wenigstens kühl.«

»Gute Besserung«, sagte Kranz.

Dann waren sie weg. Und mit ihnen Fors’ Hose.

Die Ärzte kamen um elf. Der eine war in Fors’ Alter, der andere ein sehr junger, sehr großer und dünner Mann, der dritte war eine Frau um die dreißig mit schönen, weichen Händen. Der ältere Mann verhielt sich passiv, der Jüngere leuchtete Fors mit einer Lampe in die Augen und fragte ihn, wie es ihm gehe. Die Frau legte nur kurz die Hand auf seine Stirn, und er wünschte, sie würde sie eine Weile dort liegen lassen, doch das tat sie nicht.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte sie, nachdem sie die Hand zurückgezogen hatte.

»Ein bisschen besser. Heute Morgen musste ich mich übergeben.«

»Sie sollten möglichst ruhig liegen bleiben«, sagte die Frau. »Wir machen noch ein paar Tests, und wenn das Ergebnis nicht beunruhigend ist, können Sie heute Nachmittag nach Hause gehen. Haben Sie jemanden, bei dem Sie wohnen können?«

»Ich bin erwachsen«, sagte Fors. »Ich kann alles allein machen, aufs Klo gehen, die Zähne putzen und telefonieren.«

Die Frau musterte Fors eine Weile, den Kopf schief gelegt. »Wenn man krank ist, sollte man sich ruhig von jemandem pflegen lassen.«

Ihr Akzent war kaum merklich, aber nicht zu überhören. Fors versuchte ihren Namen auf dem Schild an ihrem Kittel zu entziffern, aber sie stand zu weit entfernt.

»Haben sie die Räuber geschnappt?«, fragte der Ältere.

»Nein«, antwortete Fors, »noch nicht.«

»Aber man wird sie doch schnappen?«, fragte die Frau. »Ich meine, wie findet man sie denn? Haben Sie sie vielleicht gesehen?«

»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte Fors. »Aber wir werden sie kriegen.«

Die Frau seufzte und legte wieder den Kopf schräg. Sie hatte nicht nur schöne Hände, sie hatte auch schöne Augen. Der Große, Dünne notierte sich etwas auf einem Block, der ältere Arzt sagte: »Wir nehmen die Blutproben sofort, dann wissen wir bald, ob Sie nach Hause können.«

»Vielleicht möchten Sie lieber noch bleiben?«, fragte die Frau.

»Ich geh gern nach Hause«, sagte Fors.

Um halb vier kam Carin Lindblom und holte Fors’ Schlüssel, und eine halbe Stunde später kehrte sie mit schwarzen Jeans zurück. Sie verließ das Zimmer, während Fors sich anzog, und dann gingen sie zusammen zu ihrem weißen Skoda hinaus.

Der Himmel war blau und wolkenlos, und es war sehr warm.

»Ich hatte am Fußgängerüberweg geparkt«, sagte Fors. »Den Golf haben sie vermutlich abgeschleppt.«

»Wahrscheinlich«, antwortete Carin. »Das wird teuer.«

Fors hob den linken Arm und betrachtete seinen Jackettärmel. »Ein Loch«, sagte er. »Guck mal.« Er zeigte ihr den Ellenbogen. »Neu, erst im Mai in Bologna gekauft.«

»Vielleicht übernimmt das die Versicherung«, sagte Carin, während sie die Autotür an der Fahrerseite öffnete und sich hinters Steuer setzte.

»Wohl kaum«, sagte Fors.

Als Carin Lindblom vom Parkplatz des Krankenhauses fuhr, begegnete sie einem Volvo. Auf dem Rücksitz saßen zwei etwa siebenjährige Mädchen. Die beiden waren zusammen mit der Mutter des einen Mädchens auf dem Weg zum Baden am Långsee.

Die Kinder bemerkten Carin Lindblom und Fors in dem weißen Skoda nicht. Auch Fors und Lindblom bemerkten die Kinder in dem Volvo nicht. Sie fuhren aneinander vorbei und waren sich für einen Moment fast nah.

Wenn Carin Lindblom und Fors die beiden Mädchen auf Fotos sehen würden, die man ihnen später auf einem Tisch des Polizeipräsidiums vorlegte, würde das eine Mädchen tot sein und das andere im Sterben liegen.

2

Fors hatte das Bett verlassen und sich, nur mit einem Laken bedeckt, auf die Couch im Wohnzimmer gelegt. Er hatte Kopfschmerzen und überlegte, ob er noch eine Tablette nehmen sollte. Carin hatte ihm etwas aus der Apotheke geholt, eine Dose mit schmerzstillenden Tabletten und ein Schlafmittel.

Aber er konnte nicht schlafen.

Was ihn wach hielt, war das Gefühl, sich selbst überlassen zu sein, ohne etwas anderes tun zu können, als sich mit Übelkeit und Kopfschmerzen herumzuplagen. Es würde sich ändern, sein Zustand würde sich bessern, es würde anders werden, allmählich.

Darauf wartete er.

Ganz allein.

Ihn quälte der Gedanke an die verlorene Waffe. Eine unangenehme bohrende Vorahnung beschlich ihn, dass sie von jemandem benutzt werden würde, der seinen Mitmenschen nichts Gutes wollte.

Er sah die Täter im Geist vor sich und wusste, dass es falsch war, die inneren Bilder zuzulassen und sein eigenes Verhalten zu verteidigen, aber er konnte sie nicht abschalten. Er wusste nichts von den Tätern, dennoch entwickelte er Bilder von ihnen, Bilder vom Verlauf der Ereignisse, eine zusammenfantasierte Erzählung in seinem Innern.

Die Fantasien bauten auf Erfahrungen auf, die er lose zusammensetzte. Vorurteile konnten eine Ermittlung total verderben. Niemand wusste das besser als Fors. Er war sein ganzes erwachsenes Leben lang Polizist gewesen und hatte gelernt, Fakten zu suchen und sich von Vermutungen so fern wie möglich zu halten.

Doch jetzt vermutete er und gab sich seinen Fantasien hin.

Es waren drei gewesen, drei Jungen in Jeans und Hemden, die über der Hose hingen. Er stellte sich vor, dass sie kurzärmelige Hemden getragen hatten.

Warum?

Er hatte sie nicht gesehen. Woher kam diese Vorstellung von den Hemden? Er sah die Jungen in ihren großen Turnschuhen hinter sich auftauchen.

Wo hatten sie ihm aufgelauert?

Hatten sie hinter der Hausecke gewartet und ihn durch die Fensterscheibe beobachtet? Hatten sie gesehen, wie er Milch kaufte, wie die Packung in eine Tüte gesteckt wurde und er danach seine Brieftasche hervorgezogen hatte? Konnten sie seine Waffe durchs Fenster sehen?

Er trug die Pistole rechts, wie die meisten seiner Kollegen. Das Mädchen hinterm Tresen hatte die Waffe möglicherweise gesehen, als er das Jackett beiseite schob, um mit der rechten Hand die Brieftasche rauszuholen, aber dem Fenster, durch das er beobachtet werden konnte, hatte er die linke Seite zugewandt. Die Täter konnten nicht wissen, dass er bewaffnet war.

Wenn sie es gewusst hätten, hätten sie ihn dann auch überfallen? Wären sie davor zurückgeschreckt, einen Polizisten zu überfallen? Vermutlich waren sie hinter Geld her gewesen. Ein Raubüberfall auf einen Polizisten könnte die Sache kompliziert machen. Polizisten mögen es nicht, wenn ihre Kollegen angegriffen werden. Unter Polizisten herrscht eine starke Gruppenloyalität, und das wird unangenehm, wenn man gegen Kollegen ermitteln muss wie im Fall des Vergehens, das Polizeiinspektor Holmberg begangen hatte. Aber der Beruf brachte es mit sich, dass man sich enger zusammenschloss, und einzelne Polizisten schienen manchmal die letzte Verteidigungslinie gegen etwas Unerhörtes auszumachen.

Manchmal hatte Fors versucht zu begreifen, was es war, dieses Unerhörte, gegen das sich manche seiner Kollegen meinten verteidigen zu müssen, nicht nur gegen die Gesellschaft, sondern auch gegen sich selber. Er hatte darüber zum Beispiel vor einem Jahr nachgedacht, als ein Kriminalinspektor verhaftet wurde, nachdem er Tochter und Frau krankenhausreif geschlagen hatte.

Malmström hieß der Inspektor. Fors hatte sich manchmal mit ihm über die Entwicklung der Gesellschaft unterhalten. »Die Entwicklung der Gesellschaft«, hatte Malmström kopfschüttelnd gesagt, »wo soll das bloß enden? Trägheit und Desinteresse überall, Betrug und Sich-Davonstehlen als Lebensstil, was sehen wir da für eine Entwicklung in der Gesellschaft?«

Malmström hatte seiner Frau zwei Zähne ausgeschlagen und seiner Tochter ein blaues Auge und eine geschwollene Lippe verpasst. Und er war nicht einmal betrunken gewesen. Er war Antialkoholiker.

Es hieß, in Polizistenehen gehe es am schlimmsten zu — Kindesmisshandlung war in den Ehen, wo beide Polizisten waren, so alltäglich, dass man etwas dagegen unternehmen müsste. Man müsste Aufklärungsprogramme entwickeln, Hilfseinsätze organisieren. Aber es geschah nichts weiter, als dass von der Polizei eine Broschüre gedruckt und verteilt wurde.

Fors wünschte, der Schlaf würde kommen, aber er kam nicht. Seine Gedanken mahlten weiter und die inneren Bilder wollten ihn nicht in Ruhe lassen.

»Das Messer, nimm das Messer!«

Das Holster eines Polizisten ist so konstruiert, dass es einem Fremden nicht gelingt, die Waffe an sich zu reißen und sie auf den rechtmäßigen Besitzer, den Polizisten, zu richten. Man musste den Handgriff kennen, mit dem man die Waffe aus dem Holster löst.

In den USA hatte man Versuche mit Holstern gemacht, die im Bruchteil einer Sekunde den Fingerabdruck des Polizisten identifizieren konnten und sich nur für den öffneten, der das Recht hatte, die Waffe zu benutzen. Es war ein Problem in den USA, dass einzelne Polizisten bedroht, angeschossen oder mit ihren eigenen Dienstwaffen umgebracht wurden. Fors konnte sich nicht erinnern, ob je ein schwedischer Polizist mit seiner eigenen Waffe getötet worden war, aber hin und wieder berichtete ein Kollege, dass eine Person nach der Festnahme versucht hatte, die Waffe des Polizisten an sich zu reißen.

»Das Messer, nimm das Messer!«

Mit zehn hatte Fors sein Messer verloren. Es war ein finnisches Messer gewesen, mit einer kurzen Klinge und einem Metallknopf am Birkenschaft. Über den Metallknopf konnte man eine Schlaufe legen, damit das Messer fest in der Scheide steckte. Das Messer hatte ihm sein Vater geschenkt, Straßenmeister Fors, als dieser von einem Schachturnier in Pargas zurückkehrte.

Die Jungen hatten Borkenschiffchen geschnitzt. Es war im Frühling gewesen, vielleicht an einem der letzten Apriltage. Das graugrüne Eis auf dem See war gerade gebrochen. Vögel zogen in dunklen Linien über den hellen Frühlingshimmel. Unter einigen Tannen lagen noch grobkörnige Schneehaufen, die teilweise mit braunen Nadeln bedeckt waren.

Er hatte das Messer verloren und konnte sich an seine Verzweiflung erinnern. Die Freunde waren in ihr Spiel vertieft, die Boote wurden zurechtgeschnitzt und in den Bach gesetzt.

»Ich hab mein Messer verloren! Es ist weg!«

Und dann das einsame Suchen.

Vergeblich.

Weinend war er nach Hause gelaufen. Er hatte um sein Messer getrauert, als wäre es sein kostbarster Besitz gewesen. Und vielleicht war es auch so.

»Warum weinst du?«, hatte Straßenmeister Fors gefragt.

»Das Messer«, hatte der Junge, der er damals gewesen war, geschluchzt. »Ich hab das Messer verloren.«

Straßenmeister Fors hatte vom Schachbrett aufgeschaut.

»Na, na, das ist doch kein Grund zu weinen.«

»Jetzt kann ich nicht mehr mitspielen. Wir schnitzen Schiffchen. Ich hab kein Messer mehr.«

Straßenmeister Fors hatte seinem Sohn durch die Haare gewuschelt.

»Ich leih dir meins, es hängt in der Abstellkammer, du weißt schon, wo. Aber sei vorsichtig. Es gehört mir schon lange und ich möchte es gern wiederhaben.«

Und der Junge hatte das Messer des Vaters geholt. Es hatte eine schmale, rasiermesserscharfe Klinge, einen Schaft aus Rentierhorn und es steckte in einer kleinen Scheide. Unzählige Male hatte er dem Vater zugeschaut, wie er das Messer benutzte, wenn sie an Juliabenden mit selbst gebastelten Fliegen am Bach, dort, wo er sich zu einem kleinen See staute, Lachsforellen angelten, Mückenschwärme waren wie eine schwarze Wolke um ihre Köpfe und es gab einen aufgeregten Biber, der hin und wieder mit dem Schwanz schlug. Das Klatschen klang wie Pistolenschüsse.

Und dann hatte er das Messer seines Vaters verloren.

Er erinnerte sich an sein Verstummen und seine Verzweiflung, wie er dort am Bach vor den gleitenden Borkenschiffchen stand und nach dem Messer tastete. Es hätte an seiner Schlaufe am Gürtel hängen sollen, aber es war weg.

Vielleicht hatte er es nicht ordentlich befestigt?

Die bodenlose Trauer. Jetzt trauerte er nicht mehr um sein Messer. Jetzt war es das verlorene Vertrauen. Auf ihn konnte man sich nicht verlassen. Dabei hatte Straßenmeister Fors doch ständig gesagt: »Harald, das ist ein zuverlässiger Junge.«

Und während er es sagte, hatte die große Hand das Haar seines Sohnes verwuschelt.

Da war wieder das Gefühl, wie sich damals, vor langer Zeit, sein Magen zusammengekrampft hatte, vor mehr als vierzig Jahren.

Jetzt war es dasselbe Gefühl, dasselbe unangenehme Gefühl, versagt zu haben. Die Erwartungen nicht erfüllt zu haben, nichts wert zu sein.

Es war dieses Gefühl, das ihn viele Jahre davon abgehalten hatte, sich um den Dienstposten eines Kommissars zu bewerben. Erst als Hammarlund ihm erzählt hatte, dass er die Nachfolge von Polizeichef Lönnergren antreten würde, hatte Fors sich überwunden und einen Antrag gestellt, aber immer noch mit der Einstellung, dass er eigentlich nicht gut genug sei, nicht den Erwartungen entsprechen würde, dass er aus zu schwachem Holz geschnitzt war.

Er erinnerte sich an die Augen des Vaters, als er nach Hause kam und von dem verlorenen Messer erzählte.

»Zwei verlorene Messer in so kurzer Zeit, das ist nicht gut.«

Und Straßenmeister Fors hatte ihn angesehen und dann seinen Kopf an seine Brust gedrückt.

»Nicht weinen, ist ja schon gut, jeder kann mal ein Messer verlieren. Man kann sogar zwei verlieren. Als Kind hab ich auch einige verloren.«

Aber diese Behauptung stimmte nicht. Straßenmeister Fors war auf einem kleinen Bauernhof groß geworden, der sich gerade selbst versorgen konnte, wo man gar nichts verlor, am allerwenigsten Messer oder andere nützliche Gegenstände.

Am nächsten Tag waren sie zum Eisenwarenladen gefahren in dem roten Opel Kadett, den Straßenmeister Fors selbst lackiert hatte. Die Lackoberfläche fühlte sich unter den Fingern wie ein Sandstrand an.

Das Messer, das Fors an jenem Tag bekommen hatte, lag immer noch in dem Kasten, in dem er auch die Schraubzwinge aufbewahrte, mit deren Hilfe er seine Fliegen selber herstellte. Das Messer nahm er nicht mehr mit nach draußen. Er ließ es zu Hause, und beim Angeln benutzte er ein scharf geschliffenes Ding, das er für achthundert Kronen in einem Geschäft für Jagdzubehör in Stockholm gekauft hatte.

Was das Messer, das sein Vater ihm geschenkt hatte, gekostet hatte, wusste er nicht. Vielleicht waren es sechs Kronen gewesen oder sieben.

Aber es war unendlich wertvoller als das Messer aus Spezialstahl von Al Mar.

Dann dachte er wieder an die kurzärmeligen Hemden. Wieso stellte er sich eigentlich vor, dass die Jungen, die ihn niedergeschlagen und seine Waffe gestohlen hatten, kurzärmelige Hemden getragen hatten?

3

Als die Schüsse fielen, befanden sich vierundfünfzig Kinder und sechs Erwachsene im Speisesaal der Schule. Dem ersten Schuss folgten unmittelbar vier weitere, alle Schüsse wurden innerhalb von vier, fünf Sekunden abgegeben.

Die Kinder im Speisesaal fingen schon beim ersten Knall an zu schreien, obwohl noch keine Folgen der Schüsse zu sehen waren. Die vierte Kugel traf Birgitta Winblad in den linken Mundwinkel, sie streifte den Unterkiefer und trat durch die Wange unterhalb des linken Ohrläppchens wieder aus.

Birgitta Winblad, die seit zweiundzwanzig Jahren in der Essensausgabe arbeitete, hob eine Hand zur linken Wange und sah, wie Blut von der Hand zum Ellenbogen rann. Gleichzeitig sah sie den Jungen auf der anderen Seite des Tresens vornüber zu Boden fallen.

Eine Lehrerin mit einem weißen Pu-der-Bär-T-Shirt hatte einige Achtjährige zu Boden gerissen. Sie schob die Kinder unter den Tisch, an den sie sich gerade setzen wollten.

Die Lehrerin hieß Filippa Ernblad. Sie war frisch verheiratet und in der zehnten Woche schwanger. Vier Jahre lang war sie bei der Luftwaffe gewesen und wusste, wie es klingt, wenn geschossen wird. Sie war mit Schusswaffen vertraut. Als Jugendliche hatte sie beschlossen, sich bei der Luftwaffe zu bewerben, um Truppenausbilderin zu werden. Stattdessen war sie Lehrerin geworden. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, als sie an diesem Augusttag Birgitta Winblad zu einem Stuhl wanken und darauf niedersinken sah, die linke Hand gegen die Wange gepresst. Blut spritzte hervor und bildete vor ihren Füßen auf dem Boden eine Lache.

Die Kinder um Filippa herum schrien und klammerten sich an sie. Die Augen der Kinder waren schwarz von einem Entsetzen, das sie noch nie in den Augen schwedischer Kinder gesehen hatte. Filippa tastete nach ihrem Handy und wählte den Notruf.

Sie kam nicht durch. Die Nummer war besetzt.

Unter einem anderen Tisch sah sie ihre Kollegin, die gleichaltrige und hochschwangere Lina Hult, an ihrem Telefon fingern. Filippa rief Lina zu:

»Besetzt! Ruf zu Hause an!«

Nach dem fünften Schuss schien Stille einzutreten, obwohl es keineswegs still war. Kinder weinten und schrien, Lehrer riefen ihren Schülern zu, sie sollten ruhig liegen bleiben, nach einer Weile verstummten die Schreie und nur noch Schluchzen und Rufe nach den Lehrern waren zu hören.

Filippa rief ihre Freundin in der Bank an.

Die Freundin, Karin Landmark, nahm das Gespräch entgegen, während sie für eine runzlige Frau mit dicken Brillengläsern und wackelndem Kopf ein Formular ausfüllte.

»Landmark«, meldete sich Karin Landmark. »Einen Augen …«

»Karin!«, rief Filippa. »In der Schule wird geschossen!«

Karin Landmark drehte sich mit ihrem Bürostuhl, sodass sie der alten Frau mit den dicken Brillengläsern und dem wackelnden Kopf den Rücken zukehrte.

»Was!?«

»In der Schule wird geschossen. Jemand ist ins Gesicht getroffen worden und auf dem Fußboden liegt ein Junge.«

»Wo bist du?«

»Unter einem Tisch im Speisesaal. Ich komm nicht durch beim Notruf. Kannst du es bitte versuchen!«

Filippa beendete das Gespräch und setzte sich kriechend in Bewegung, und sechs ihrer achtjährigen Schüler folgten ihr, alle kriechend, genau wie die Lehrerin.

Filippa drehte sich um.

»Bleibt unter dem Tisch!«, rief sie. Und das Mädchen, das Ebba hieß, blieb unter dem Tisch, als ginge es um ein Spiel, in dem man sich ganz still verhalten musste, sobald die Lehrerin einen ansah. Filippa fiel ein, dass Ebbas Mutter Polizistin war. Filippa streckte Ebba das Telefon hin, doch ehe das Mädchen es ergreifen konnte, zog sie es zurück.

»Welche Telefonnummer hat deine Mama?«

Ebba, mit einer Gesichtshaut wie Zeitungspapier und dünnen, farblosen Lippen, ratterte die Nummer herunter. Filippa wählte.

»Polizeiassistentin Högberg«, meldete sich eine Frauenstimme auf der schlechten Handyverbindung.

»Hallo, hier ist Filippa Ernblad, Ebbas Lehrerin. Jemand schießt in der Schule, ich komme beim Notruf nicht durch. Hier gibt es einen Idioten, der auf Kinder schießt!«

Und Filippa merkte, dass sie ihren Blick starr auf den Jungen gerichtet hatte, der am Tresen gestanden hatte. Der Junge lag auf dem Rücken und bewegte eine Hand, langsam, als wäre er unendlich müde.

»Wo ist Ebba?«, fragte die Stimme aus dem Telefon.

Da begann Filippa zu weinen.

»Sie ist hier, neben mir. Ihr fehlt nichts.«

»Mama«, flüsterte Ebba.

4

Als der Notruf um elf Uhr dreiundzwanzig einging, hatten schon viele konstatiert, dass dieser Tag mindestens genauso warm werden würde wie der gestrige. Eine ganze Woche lang war es genauso warm gewesen wie in Athen. Alle hatten davon geredet, dass es nicht natürlich war, so sollte es nicht sein.

»Diese verdammte Hitze!«, seufzte Polizeiinspektor Berggren, ein stattlicher, leicht angegrauter Mann, der in dem Volvo hinterm Steuer saß, den die Polizeibehörde ihm für die Streife gegeben hatte. Neben ihm saß Polizeiassistentin Hedvig Nordenflycht, so getauft nach einer Schriftstellerin, mit der sie entfernt verwandt war. Hedvig Nordenflycht war Turmspringerin gewesen und zur Polizei gegangen, weil sie einen Job wollte, bei dem ein Teil der Arbeit aus körperlichem Training bestand. Hedvig hatte ihre hellen Haare zu einem Schwanz hochgebunden.

»Ich kaufe eine Melone«, sagte Hedvig Nordenflycht. »Schinken und Melone, was hältst du davon?«

Berggren war jetzt ein halbes Jahr mit Nordenflycht auf Streife und hatte immer noch nicht herausgefunden, wie sie zu ihm stand. Er war gut zehn Jahre älter als sie, hatte schon leicht Fett angesetzt und graue Schläfen und konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihn attraktiv fand. Aber ausschließen konnte er es auch nicht.

»Schinken mit Melone, genau das Richtige bei der Hitze anstelle von einem Mittagessen.«

»Anstelle von einem Mittagessen?«, echote Nordenflycht. »Schinken und Melone sind das perfekte Mittagessen bei dem Wetter.«

Da kam der Notruf über Funk:

»In der Vikingaschule wird geschossen, Elsa Beskows väg 35. Der Täter könnte sich noch auf dem Gelände befinden. Mehrere Verletzte. Vorsichtig nähern. Der Krankenwagen ist unterwegs.«

»Herr im Himmel«, sagte Berggren und stellte Blaulicht und Sirene ein. »Plötzlich ist der Teufel los.«

Die Vikingaschule bestand aus drei niedrigen Gebäuden mit Klassenzimmern, Lehrerzimmer und Speisesaal. Auf der anderen Seite des Rückgebäudes gab es einen asphaltierten Schulhof und eine rot geklinkerte Sporthalle. Neben der Sporthalle war ein Parkplatz, auf dem an die zwanzig Personenwagen standen, und neben dem Parkplatz ein Fahrradgestell voller Räder, die fast alle noch ganz neu wirkten. Hinter der Sporthalle lag der See.

Das Polizeiauto näherte sich von Westen. Wenn man von dort kam, musste man erst über eine Hügelkuppe, bevor man den Parkplatz erreichte. Auf dem höchsten Punkt schalteten sie die Sirene und das Blaulicht ab und hielten an.

Von hier aus hatten sie den ganzen Parkplatz und einen Teil des Schulhofs, der zwischen dem dritten Gebäude und der Sporthalle lag, im Blick. Hinter der Sporthalle waren an die vierzig Kinder und drei Erwachsene zu sehen, die sich gegen die Klinkermauer drückten. Eine der Erwachsenen hatte das Polizeiauto entdeckt und zeigte eifrig auf das Schulgebäude. Sonst schien sich niemand zu bewegen.

»Da liegt jemand auf dem Asphalt«, sagte Nordenflycht, und im selben Moment spürte sie, wie ihr Mund trocken wurde.

»Ein Kind«, sagte Berggren.

Nordenflycht zog die Waffe aus dem Holster. Berggren startete mit quietschenden Reifen und schoss mit hoher Geschwindigkeit auf den Parkplatz zu. Er fuhr im Zick-Zack zwischen zwei geparkten Volvos hindurch und bremste jäh. Das Auto kam genau zwischen dem Schulgebäude und dem kleinen Mädchenkörper auf dem Asphalt zum Stehen.

Es hielt kaum, da war Nordenflycht schon hinausgesprungen, kauerte sich neben den Kühler und hielt ihre Waffe mit beiden Händen auf das knapp zwanzig Meter entfernte Schulgebäude gerichtet. Gleichzeitig öffnete Berggren die Tür auf seiner Seite, lief geduckt um das Auto herum und kniete sich neben das, was wie ein liegendes Kind aussah. Erst als er sich darüber beugte, sah er, dass es zwei Kinder waren.

»Jesus!«, flüsterte Berggren, der selbst mehrere Kinder hatte.

Und dann begann er zu weinen.

Das oben liegende Mädchen trug einen rot karierten Baumwollrock und ein hellblaues Pikee-Shirt. Die kurzen Zöpfe wurden von mehreren farbigen Gummibändern zusammengehalten. Die Haare hatten diese helle Farbe, die im Sommer fast weiß wurde. Das Mädchen hatte eine Wunde am Hals. Ihre hellblauen Augen waren weit geöffnet, ihre Lippen farblos. Aus der Wunde war viel Blut geflossen.

Berggren nahm ihre Hand.

»Kleines, jetzt werden wir dir helfen.«

Dann schob er eine Hand unter den Nacken des Mädchens und die andere unter ihren Rücken, zog sie zur Seite und legte sie flach auf den Asphalt. Unter ihr lag noch ein Kind. Es hatte genauso helle Haare wie das erste und trug rote Shorts und ein weißes T-Shirt. Dort, wo das rechte Auge sein sollte, hatte es einen dunklen, blutigen Fleck. Getrocknetes Blut von dem Mädchen, das auf ihr gelegen hatte, bedeckte das Gesicht und klebte in den Haaren.

Berggren schaute zu dem Mädchen im Rock. Er bildete sich ein, dass es seine Bewegungen mit dem Blick verfolgte.

»Kleines, wir helfen dir«, sagte er wieder und die Tränen strömten ihm über die Wangen.

Weit entfernt hörte er Sirenen.

Berggren erhob sich, ging zum Auto, holte den Erste- Hilfe-Kasten hervor. Als er wieder bei dem Mädchen war, hatte er den Kasten bereits geöffnet. Er bereitete einen Druckverband vor, da hielt schon der erste Krankenwagen neben dem Polizeiauto, und die Sanitäter sprangen heraus.

»Das Mädchen im Rock«, sagte Berggren zu einer rothaarigen Frau in grüner Hose und einem grünen kurzärmligen Baumwollhemd. »Das andere …«

Er beendete den Satz nicht.

Die beiden Sanitäter kauerten bei dem Mädchen im Rock. In dem Augenblick, als das zweite Polizeiauto auf der Hügelkuppe auftauchte, kam der Hubschrauber über den Wald und begann sich auf die Wiese hinter der Sporthalle zu senken.

Berggren lehnte sich gegen das Autodach neben Nordenflycht. Beide spähten zum Schulgebäude.

»Was siehst du?«

»Nicht das Geringste«, antwortete Nordenflycht.

In dem Augenblick tauchte eine Frau an einem offenen Fenster auf. Sie winkte mit dem rechten Arm und rief: »Hier drinnen gibt es Verletzte!«

Berggren warf einen Blick über die Schulter. Neben dem Krankenwagen hielt der zweite Polizeiwagen. Hansson und Frändberg stiegen aus, und aus dem Fond stieg der Chef der Schutzpolizei, Kommissar Nylander. Er kam sofort auf Berggren zu. Ihm gefiel es nicht, dass Berggren geweint hatte und dass ihm immer noch Tränen über die Wangen liefen.

»Rapport«, kommandierte Nylander und sah Berggren an.

Nordenflycht beachtete er mit keinem Blick, denn Nylander gehörte zu den Polizisten, die der Meinung waren, dass Frauen nichts bei der Polizei zu suchen hatten. Und wenn sie unbedingt Polizistinnen sein wollten, sollten sie sich gefälligst der Verkehrspolizei und der Sitte widmen. In seinem Bereich wollte er sie nicht haben.

»Hier ist geschossen worden. Wir wissen nicht, wer der Schütze war. Kein Schuss mehr, seit wir vor einigen Minuten gekommen sind«, berichtete Berggren. Er wandte sich halb ab und zeigte auf den Krankenwagen.

»Ein Kind ist ins Auge getroffen worden und war vermutlich sofort tot. Das andere hat viel Blut verloren.«

»Wir gehen rein«, sagte Nylander. »Nordenflycht bleibt hier und deckt die Fenster. Hansson und Frändberg gehen von der westlichen Seite rein, Berggren und ich von der anderen Seite.«

Hinter ihnen liefen die Sanitäter mit einer Trage auf den Hubschrauber zu, der hinter der Sporthalle zu hören war.

Hansson und Frändberg zogen ihre Waffen und liefen auf die eine Schmalseite des Schulgebäudes zu. Berggren und Nylander zogen ebenfalls die Waffen und setzten sich in die andere Richtung in Bewegung.

Als Berggren und Nylander die Tür erreichten, stand dort eine Frau. Sie trug eine pfifferlingsgelbe Schürze und zeigte ins Innere des Gebäudes. Nylander sah sie an.

»Haben Sie jemanden schießen sehen?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Wie viele Verletzte sind da drinnen?«

Die Frau schluckte, ehe sie antwortete. »Zwei, glaube ich.«

»Und Sie wissen nicht, wer geschossen hat?«

Die Frau gab einen Laut von sich wie ein junger Hund, dem man aus Versehen auf den Schwanz getreten hat.

Nylander nickte Berggren zu. »Ich geh voran, du gibst mir Deckung.«

Dann bewegte er sich an der Wand entlang, die ausgestreckte Waffe vor sich auf den Boden gerichtet. Berggren folgte ihm, den Blick ständig nach hinten gerichtet. Die winselnde Frau vor der Tür war auf dem Fußgitter niedergesunken und in Tränen ausgebrochen.

Nylander erreichte die Schulküche, ging an Wagen voller Tabletts und an der Ablage für das schmutzige Geschirr vorbei, wo ein neonfarbener Wasserschlauch einen Teller spülte, der zuvorderst in einem Gestell mit einer Reihe gleichartiger Plastikteller stand. Er ging zu der Schwingtür mit den kreisrunden Fenstern in Kopfhöhe, stieß sie auf und war im Speisesaal.

Sofort begegnete er dem Blick einer jungen Frau, die ein Pu-der-Bär-Shirt trug. An ihre Beine klammerte sich ein halbes Dutzend Kinder, keins war älter als acht, mehrere weinten. Die Pu-der-Bär-Frau zeigte auf einen Jungen, der auf dem Rücken lag. Er lag in einer Blutlache, die Nylander später als »groß genug, um darin eine Katze zu ertränken« bezeichnen würde.

Er drehte sich zu Berggren um, der mit der Waffe in der Hand dastand. »Kümmre dich um den Jungen!«

Berggren steckte die Waffe ins Holster, ging zu dem verletzten Jungen und kniete sich neben ihn.

Nylander sah sich um. Überall Kinder, die schluchzten oder nur dasaßen und vor sich hin starrten. Einige Erwachsene, die um jemanden herum standen, der auf einem Stuhl saß. Nylander sah das Blut, in das sie getreten waren, nachdem sie beiseite gegangen waren. Er nahm das Funkgerät aus dem Gürtel.

»Hier ist Nylander!«, rief er, als würde er den Funkverbindungen nicht trauen und wünschen, seine Stimme trüge bis zum drei Kilometer entfernten Polizeipräsidium. »Ich befinde mich im Speisesaal der Vikingaschule. Es gibt zwei Verletzte, wir brauchen Krankenwagen. Eventuell gibt es mehr Verletzte, das weiß ich noch nicht. Sorgt dafür, dass ein Arzt kommt und bereitet das Krisenteam vor. Wir durchsuchen jetzt das Gebäude nach dem Täter.«

»Bleib bei dem Jungen«, sagte Nylander zu Berggren. Dann öffnete er ein Fenster und rief Nordenflycht zu: »Schick einen Sanitäter rein und komm dann zu uns.«

Danach drehte er sich um und stand Auge in Auge Filippa Ernblad gegenüber. »Waren Sie hier, als es losging?« Er sprach so laut, als ob er wollte, dass alle ihn hören konnten.

Sie nickte.

»Was ist passiert?«, fragte Nylander und sah einen achtjährigen Jungen an, der sich in die Hose gemacht hatte.

»Jemand hat geschossen«, antwortete Filippa. »Fünf Schüsse.«

»Haben Sie den Schützen gesehen?«

»Nein.«

»Gar nicht?«

»Nein. Aber es war eine Pistole.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich war bei der Luftwaffe. Ich habe mit Pistolen geschossen.«

Nylander nickte. »Wo könnte er gestanden haben?«

»Dort.« Filippa zeigte zum Korridor auf der anderen Seite der eingezogenen Wand, die den Speisesaal vom Korridor trennte. »Er muss hinter den Pflanzen gestanden haben.«

Zum Korridor hin gab es nur die eingezogene Wand und eine Bank. Auf der Bank standen riesige Pflanzen, deren Namen Nylander nicht kannte, aber er wusste, dass seine Frau die gleichen in ihrem Wohnzimmer hatte.

»Und Sie sind sicher, dass es eine Pistole war?«, fragte er.