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Andriana Andreou

Denn die Würde hast
Du uns geschenkt

Autobiographische Erzählungen
aus der Jugendzeit

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Copyright © 2018: Andriana Andreou
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Titelbild: © Mykhaylo Pelin (123rf.com)

Inhalt

Vorwort

Rückbesinnung und Anrufung

Großvaters Berg

Die Eltern

Meine Kindheit im Dorf

Die Reise in die Fremde

Das Leben in Deutschland mit meine Eltern

Rückkehr ins Dorf

Wieder zurück nach Deutschland

Hoher Besuch

Die Verlobung

Die Hochzeit und der Anfang einer Kinderehe

Mein Leben in der neuen Familie

Das Leben in der Stadt Teil I

Mein Leben in der Stadt Teil 2

Sommer 1996, der Wendepunkt

Zurück in Deutschland

Der Weg zu Versöhnung und Verzeihen

Deutschland wird zu meiner Wahlheimat

Gedanken zu Würde und innerer Freiheit

Vorwort

Da keiner von uns vollkommen ist und keiner behaupten kann, er sei unfehlbar, müssen wir, um zu einem gegenseitigen Verstehen und friedlichen Auskommen zu gelangen, auch die Wahrheit der anderen akzeptieren und bereit sein, die Dinge auch aus deren Perspektive zu sehen. Es liegt in der Verantwortung eines jeden Einzelnen, zu hinterfragen, ob das, was einem als gesellschaftliche Normen und Traditionen sowie Religion vorgegeben wird oder was man aus den Medien erfährt, auch seine Richtigkeit hat und wessen Erwartungen dadurch erfüllt werden sollen.

Das Buch schildert verschiedenartige andauernde Konflikte auf mehreren unterschiedlichen Ebenen, insbesondere Beeinträchtigungen der Würde und Selbstbestimmung eines jungen Mädchens aus einem Dorf im Norden Griechenlands.

Einen Anlass für Konflikte bilden die Charaktere der Eltern des Mädchens: Ihr Vater ist überzeugter revolutionärer Kommunist, der das gegenwärtige Gesellschaftssystem ändern will, Religion und Kirche generell ablehnt. Er ist arm, durch seine Jugend traumatisiert und mit seiner Familie am unteren Rand der Gesellschaft ansässig. Die Mutter des Mädchens ist eine geduldige angepasste Bürgerliche, deren Sorge hauptsächlich darin besteht, dass ihre Töchter einen Mann finden, der ihnen ein Auskommen bieten kann. Beide Eltern gehen, um Geld zu verdienen, als Gastarbeiter nach Deutschland, leben dort in einfachsten Verhältnissen und geben ihre Kinder in die Obhut der Großeltern, die in dem Dorf in Griechenland bleiben. Später holen die Eltern die Kinder nach Deutschland. Das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern ist distanziert und angespannt.

Die Integration in die deutsche Gesellschaft inklusive Schulbesuch ist ein weiteres konfliktbesetztes Thema.

Ein ebenfalls beherrschendes Thema ist die alte, aber hochgehaltene Tradition, bei der überkommene Rituale beachtet werden und in der noch das Gesetz der Blutrache gilt. Zu dieser fragwürdigen Tradition gehört auch, dass die Dorfbewohner nur Menschen aus der eigenen Sippe heiraten sollen.

Weil das Mädchen, von dem die Geschichte handelt, besonders schön ist und auch den weiteren Erwartungen der Tradition entspricht, bemüht sich eine reiche Familie des Dorfes, das noch minderjährige Kind als Braut für ihren Sohn zu gewinnen. Dabei spielt für die Mutter des Sohnes nicht etwa eine entscheidende Rolle, dass das Mädchen besonders wissbegierig und intelligent ist, sondern dass es aus besonders armen Hause stammt, mit einem sozial umstrittenen wenig angesehenen Vater. Vor diesem Hintergrund erwartet die zukünftige Schwiegermutter von der Schwiegertochter absoluten Gehorsam und Willfährigkeit.

Die bitteren Erfahrungen dieses leidenschaftlichen Lebens zeigen, dass es notwendig ist zu hinterfragen, ob das, was einem gesagt und befohlen wird, auch richtig ist: die Zwänge der Gesellschaft, die alten Traditionen, die Religion. Der Mensch hat selbst die Verantwortung zu entscheiden, ob er in einem ungerechten patriarchalischen überholten System leben will oder nicht.

Dagegen zu kämpfen und aus einem patriarchalischen und sozial ungerechten, auf Gewalt basierendem System herauszukommen erfordert Mut, Courage und die Bereitschaft, den Preis dafür zu bezahlen.

Man darf sich nicht entmutigen lassen und muss kämpfen: für die persönliche Würde, die Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben – auch für die anderen. Wer den Kampf um die Menschenwürde aufgibt, der hat auch den Glauben an Gott und den Sinn des Lebens verloren.

Verzeihen und Vergeben führt am Ende zu innerer Freiheit und Frieden.

Andriana Andreou

Rückbesinnung und Anrufung

Jeden Morgen schenkt der unendlich große Himmel unserer Erde erneut den Aufgang und das Wiedererscheinen der strahlend leuchtenden Sonne, was nicht nur fröhliches, glückliches Singen und Zwitschern unzähliger munterer Vögel auslöst, sondern auch unseren Herzen Wärme und Licht bringt, alle Finsternis und Kälte hinwegnimmt, die uns in falschen Vorstellungen und Unwissenheit immer wieder straucheln und dem Irrtum anheimfallen lassen. So lass uns nun doch auch wieder neu Hoffnungen schöpfen und mit Freude und Dankbarkeit die Tage und den Schöpfer loben und preisen.

Dem Werke Deiner Hände, lieber himmlischer Vater, gedenke ich in Staunen und Ehrfurcht. Offenbart hast Du Dich überall, in den Sternen und ihren fernen Höhen bis in die Abgründe und Tiefen der Meere – und auch in uns Menschen. Es gibt keinen Ort, wo Du nicht bist. Und noch nie gab es eine Zeit, wo Du nicht warst. Zeige mir Deine Wege, lasse mich Deine Botschaft hören und Deine Gerechtigkeit verstehen. Ich vertraue Dir. Nimm meinen Kummer von mir und auch von den Menschen, denen ich aus Unwissenheit Kummer bereitet habe. Denn Du bist mein Gott und ihr Gott. Auf Dein Erscheinen harre ich. Ich zähle, wie viele Sommer und Winter, wie viele Frühlingswinde und Herbststürme über meinem einsamen Warten übers Land ziehen.

Weißt Du auch, lieber himmlischer Vater, was mit mir war und geschah, vor vielen, vielen Jahren? Vor jetzt genau 44 Jahren? Natürlich weißt Du es, Du warst immer dabei, obwohl Tage, Wochen, Monate, Jahre, Ewigkeiten eigentlich nichts für Dich bedeuten. Was sollte die Zeit für Dich auch sein? Du bist der Herr der Welt und der Zeit und stehst selbst außerhalb aller Zeit. Du lässt Zeit mit all ihren Inhalten auf Deinen Ruf hin erscheinen und dann, wenn Du die Zeit gesehen und betrachtet hast, wenn Du genug von ihr hast und von ihren Früchten, dann lässt Du die Zeit mit ihrem ganzen schalen Geschmack von süß und bitter und dem Ansehen von Schönheit und Hässlichkeit auch wieder vergehen und verschwinden. Wenn Inhalte der Zeit im Bewusstsein oft so schmerzlich sind, Ängste erregen und verderblich sein können, krank machend, ist das wohl auch gut so.

Was die Zeit an Demütigungen und Kränkungen so mit sich bringt, kann ausweglos sein, furchtbar, wie fiebrige nächtliche Albträume. Selbst Erinnerungen eines wachen Bewusstseins wollen die Inhalte der Zeit und von Träumen oft lieber nicht festhalten.

Davon will ich berichten und Dir auch von den Irrtümern erzählen, denen ich und auch meine Familie ausgesetzt waren.

Großvaters Berg

Ich war damals ein kleines Mädchen auf dem Land, in einem Dorf im Norden von Griechenland in den Bergen. Ich war vier Jahre alt. Du kennst die Gegend, denn Du bist nicht nur Herr der Zeit, sondern auch Herr des Raumes, der alle Räume im Himmel und auf Erden erschaffen hat und auch die zwischen den beiden Welten. Dieser Raum, diese Gegend, dieser Ort, in welchem Du mich aufwachsen ließest, wo ich lernte zu laufen und zu sprechen, wo mich andere Kinder und Leute zum Lachen und zum Weinen brachten, liegt unmittelbar an der Grenze zu Albanien.

Die Leute in dieser Gegend sprechen einen sehr eigenen Dialekt, unabhängig von der Grenze. Es ist Griechisch und doch nicht Griechisch. Regierungen von Staaten meinen unglücklicherweise meist, Grenzen festlegen zu müssen, sie bauen Zäune, erheben auf Waren Zoll und bestellen Grenzbeamte, die bunte Uniformen tragen müssen und von Leuten, die über die Grenze wollen, Reisepässe oder Ausweispapiere verlangen. Aber in meiner Gegend kümmerte sich niemand darum. Hüben und drüben sprach man den gleichen Dialekt und die Leute heirateten auch über die Grenzen. Ein Besucher aus Athen hätte den Dialekt, den unsere Dorfbewohner sprachen, kaum verstanden. Aber wir waren alle vom Blut her Griechen und sehr stolz auf unser Land, unsere Herkunft und unsere Geschichte, nicht nur wegen unserer Philosophen der Antike und den Mythen und Göttern, die früher dort herrschten und angebetet wurden.

In meinem Herz und Geist musst Du, Himmlischer Vater, damals schon immer tief verinnerlicht gewesen sein, auch wenn mein irdischer Vater mir den Glauben an Dich streng verbot und auszutreiben versuchte. Mein Vater, der war leider ein gottloser Kommunist. Sein Glauben, seine Hoffnung waren die Lehren von Karl Marx und Lenin und der dialektische Materialismus. Dass mein Vater Kommunist wurde, hatte seine Gründe. Ich werde später darauf zurückkommen. In gewisser Weise war er ein Idealist.

Wenn der Vollmond aufging über dem Berg des Großvaters – damals waren die Nächte meist klar und am Himmel strahlten unendlich viele helle Sterne – dachte ich, ich bräuchte nur den Berg erklimmen und dann wäre ich bei Dir, in meines Vaters Haus, im Himmel, wo Zuflucht zu finden ist. Ich war mir sicher, ich könnte bald bei Dir sein.

So nahm ich meine etwas ältere Schwester an die Hand und sagte zu ihr: »Lass uns zu meinem Vater gehen, da oben ist Sein Haus.« Und wir gingen los, an einem Abend im Sommer, als der Vollmond die ganze Gegend mit seinem Licht erleuchtete, sodass wir uns zwischen duftenden Kräutern und Gräsern, Sträuchern, Löchern und Steinen auf dem Weg in die Höhe ganz gut zurechtfanden. Je höher ich mit meiner Schwester den Berg hinaufkletterte, desto höher stieg auch der Mond am Himmel. Das war merkwürdig.

Irgendwann fühlten wir, dass unser Ziel und auch der Weg zu weit für uns waren. Traurig und betrübt kehrten wir um, gingen wieder zurück nach Hause. Die Großmutter wartete schon mit dem Abendessen und ihre Gesichtszüge zeigten, dass sie sich Sorgen gemacht hatte über das Ausbleiben ihrer Enkelkinder.

Meine Großmutter war eine starke Frau, die viel im Krieg erlebt hatte. Griechenland hat immer wieder Kriege erlebt. Warum das so sein musste, hat mir noch nie jemand richtig erklären können. Auch die Großmutter konnte es mir nicht begreiflich machen. Die Sonne, die für das Wachstum der Felder und reiche Ernten benötigt wird, scheint ja auch über anderen Gegenden und wenn es allzu trocken ist, lässt Gott, der alles gemacht hat, es auch in anderen Regionen regnen. Doch andere Völker wollten immer wieder unser Land, unsere Bodenschätze, auch unsere Frauen, und verwickelten uns in Kriege. Dabei weiß eigentlich jeder, dass Kriege nur Leid und Unglück bringen und den Menschen nichts als Not und Armut.

Großmutters Kinder, darunter auch meine Eltern, sind als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen und haben mich und meine Geschwister in ihrer und Großvaters Obhut gelassen. Es gab nicht genug Verdienstmöglichkeiten in unserem Land – wenn man nicht verhungern wollte, musste man weggehen. Man war frei sich zu entscheiden, aber den Konsequenzen der Entscheidung konnte niemand sich entziehen.

So gingen also unsere Eltern nach Deutschland. Dort schien manches besser. Der Zweite Weltkrieg mit seinen Schrecken war überstanden, das Land musste wieder aufgebaut werden. Dazu brauchte Deutschland Arbeitskräfte.

Den Berg, den ich hochgehen wollte, um zu Dir, lieber Gott, zu kommen, haben wir übrigens den Berg Großvaters genannt. Mein Großvater ging dort immer nachmittags mit uns spazieren und erzählte uns unter dem Gebimmel der Glöckchen unzähliger Schafe, die um diese Zeit von der Weide zurück in den Stall geführt wurden, viele Geschichten. Großvater erzählte über seine Zwillingsschwester, die nach seinen Worten sehr schön gewesen war. Er erzählte, dass sie sich umbrachte, weil sie einem Mann versprochen war, den sie nicht liebte. Sie war damals noch ganz jung, erst 16 Jahre alt. Es gab damals auf dem Land Gebräuche und Traditionen, die sehr schlimm waren. Dazu gehörten im Patriarchat der Vlachen auch die arrangierten Kinderehen. Das Mädchen wusste: Wenn sie sich dieser versprochenen Ehe verweigern würde, würde man ihren Bruder zur Rechenschaft ziehen und ihn umbringen. Es herrschte das finstere Gesetz der Blutrache zwischen den Dörfern. Um ihren Bruder zu schützen, hat sie sich dann in einem Fluss außerhalb des Dorfes umgebracht, indem sie sich ertränkte. Ich verstehe heute nicht, wieso die orthodoxe Kirche solche Traditionen von Zwangsehen zuließ. Ich habe auch nicht gefragt, ob der Selbstmord des Mädchens zum Schutz meines Großvaters erfolgte. Ich traute mich nicht zu fragen. Aber ich spürte, wie Großvater an dieser traurigen Geschichte litt, obwohl das Geschehen lange zurücklag.

Trotzdem war es meine schönste Zeit, als ich bei meinen Großeltern sein durfte. Ich fühlte mich so geliebt, verstanden und frei. Alles was ich brauchte, was mir wichtig war, hatte ich, auch die Natur mit ihrer wunderbaren Schönheit und ihren verborgenen Geheimnissen.

Die Eltern

Ich wuchs also nicht bei meinen Eltern auf. Weil meine Großeltern sehr liebevoll waren, vermisste ich meine Eltern nicht. Nur ab und zu kamen meine Eltern aus Deutschland. Mein Vater konnte etwas öfters in unser Dorf kommen, sodass ich ihn besser kennenlernte als Mutter. Für ihn war es die Heimat und unsere Großeltern waren seine Eltern.

Bei meiner Mutter war das anders. Ihr war es nur selten möglich zu kommen, warum, weiß ich bis heute nicht recht. Möglicherweise war die lange Reise einfach zu teuer. Vielleicht war das Verhältnis meiner Mutter mit ihren Schwiegereltern auch nicht so gut. Mutter war mir deshalb eher fremd. Als sie mal aus Deutschland kam, wollte sie in der Nacht, dass meine Schwester und ich in ihren Armen einschlafen sollten. Meine älteste Schwester wollte das nicht und hat sich sehr dagegen gesträubt, das machte Mutter sehr traurig. So bekam meine Schwester von Mutter eine Ohrfeige. Da gab es dann natürlich Tränen und ein großes Geheul. Meine Mutter hatte aus purer Verzweiflung so reagiert. Sie hatte sich auf ihre Töchter gefreut und sicher etwas anderes von ihnen erwartet. Nun dachte sie, wir würden sie nicht lieben, das war zu schmerzlich für sie. Wie auch immer: Wir kannten sie einfach nicht, weil sie fast immer abwesend war.

Unsere Begegnungen standen leider öfter unter keinem guten Stern. Meine Mutter hatte einmal, als sie aus Deutschland zurückkam, für uns Kinder etwas zum Anziehen mitgebracht, wohl ein Kleid, und wollte es meiner Schwester anziehen. Diese wollte es aber nicht. Als meine Mutter an meiner Schwester zerrte, um ihr es dennoch anzuziehen, kam gerade Großvater dazu. Als mein Großvater sah, dass meine Mutter an meiner Schwester herumzerrte, um ihr etwas anzuziehen, was sie aus Deutschland mitgebracht hatte, hat er mit ihr sehr geschimpft. Er sagte: »Was machst du da, Schwiegertochter. Du kannst das Kind nicht zwingen, es kennt dich gar nicht.« Meine Mutter ließ von meiner Schwester ab und fing an zu weinen. Mir tat sie leid und ich ging zu ihr, um sie zu trösten.

Ich weiß noch von einer anderen Begegnung zu erzählen: Einmal, als unsere Mutter aus Deutschland kam, um uns zu besuchen, waren wir noch im Kindergarten. Von ihrem anstehenden Besuch hatten wir nichts erfahren. Dann, als wir vom Kindergarten zum Haus der Großmutter zurückkamen, war da plötzlich diese Frau. Sie wollte auf uns zu laufen. Ich erschrak, versteckte mich hinter meiner Schwester und sagte »Maria, wer ist diese Frau? Sie sieht aus wie unsere Mutter.« Das muss ihr sehr wehgetan haben. Sie konnte nichts dafür. Und wir eigentlich auch nicht.

Meine Mutter war die einzige Tochter ihrer Eltern und hatte vier Brüder. Ihre Eltern hatten sie sehr lieb und als einziges Mädchen wurde sie ziemlich verwöhnt. Trotz der wirtschaftlich schweren Zeit damals, Ende der 40er-Jahre, hatte meine Mutter alles, was andere Kinder nicht hatten. Als sie meinen Vater kennenlernte und ihn heiratete, war sie eine wohlbehütete Tochter aus gutem Hause.

Meine Großeltern von Mutters Seite hatten uns auch sehr lieb. Sie verstanden sich aber nicht so gut mit meinem Vater, da er seine Frau, also ihre Tochter, nicht gut behandelte. Sie wurde oft von ihm geschlagen, auch vor unsere Augen.

Meine Mutter wollte eigentlich gar nicht, dass wir zu den Großeltern gebracht wurden, aber sie hatte keine Chance, sich gegen meinen Vater durchzusetzen. Mit der Zeit wehrte sich nicht mehr.

Das Komische an der ganzen Geschichte ist, dass meine Mutter meinen Vater trotzdem sehr liebte und ihm bis heute treu geblieben ist. Man muss dazu wissen, dass mein Vater eine sehr schwere Kindheit hatte, die sein ganzes Leben prägte. Seine rebellische Veranlagung, seine Sturheit, sein Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit sind darauf zurückzuführen. Aber er war auch sehr autoritär und wollte, dass alle das tun, was er sagte. Er liebte es, uns Angst einzuflößen. Damit meinte er, Respekt und Gehorsam zu erlangen.

Weißt Du, lieber himmlischer Vater, er konnte eigentlich auch nichts dafür. Als er noch ein Kind war, herrschte in Griechenland Krieg, danach dann der Bürgerkrieg. Er hat miterlebt, wie Dorfbewohner von den Nazis verbrannt wurden, wie seine Eltern gefoltert wurden, um zu verraten, wo ihr ältester Sohn steckte, der als Partisan und Freiheitskämpfer in den Bergen war. Partisanen aus der Bevölkerung verübten Sabotage, bekämpften Kollaborateure und sprengten bei günstiger Gelegenheit Brücken, Eisenbahntrassen oder Straßen, über welche den feindlichen Truppen der logistische Nachschub an Nahrungsmitteln, Waffen und Munition geliefert werden sollte. Sie beteiligten sich als Teil einer Widerstandsbewegung gegen die Besatzungsmächte außerhalb der regulären Streitkräfte am Krieg. Partisanen waren wegen ihrer Störaktionen bei den Deutschen Truppen in Griechenland gefürchtet und zur Abschreckung zukünftiger Partisanenaktionen wurden deshalb immer wieder grausame Exempel an der Zivilbevölkerung vollstreckt.

Mein Vater vergötterte seinen älteren Bruder, wurde von ihm kommunistisch beeinflusst und erzogen. Und somit wurden Stalin, Lenin und Karl Marx seine Götter. Dementsprechend hat mein Vater auch die Geistlichen und die Kirchen gehasst. Für ihn standen sie auf gleicher Ebene wie Dämonen. Er sagte von ihnen, dass sie unser Hirn manipulieren, und verbot uns, in die Kirche zu gehen. Leider hat er auch Dich, Herr, mit den Religionen gleichgestellt und somit auch Dich gehasst. Als Kind hatte er auch eine sehr schwere Zeit, die von Schlägen und Missbrauch geprägt war. Mein Vater erzählte, dass er von seinem Vater an einen Großbauern verkauft wurde. Ihm sollte er als damals Sechsjähriger in den Bergen die Schafe hüten. Wenn er nicht wollte oder mit den Schafen nicht zurechtkam, bekam er Schläge. Es ist alles so grausam, lieber Gott. Vater hat auch nur Gewalt erlebt.

Er wollte viele Söhne, aber stattdessen bekam meine Mutter erst drei Töchter, dann kam der ersehnte Sohn. Bei fünf Kindern hat er aufgehört, noch einen Sohn zeugen zu wollen. Er hat uns Mädchen oft seine Abneigung gezeigt, weil wir keine Jungen waren, wie er es eigentlich wollte.

Das alles brachte es mit sich, dass das Verhältnis zu meinen Eltern schwierig war und ich eigentlich nie das Gefühl hatte, dass sie meine Eltern waren. Auch meine Geschwister, die ich liebe, habe ich immer mehr als meine Freundinnen gesehen. Ich fühlte mich dieser Familie nicht zugehörig. Ich wusste, dass meine Familie woanders war. Diese Suche nach der Familie ist es wohl, die mich antreibt, sie immer wieder zu suchen. Öfters hatte ich das Gefühl, dass ich nicht aus dieser Familie stamme und dass Du, lieber Gott, mich aus irgendeinem Grund dorthin gebracht hast.

Ich habe als Kind immer alleine gespielt oder mit Freundinnen von der Schule. Ich hatte eine Freundin, die ich zu meiner Schwester erkor, obwohl ich richtige Schwestern hatte, die mich immer beschützen wollten. Aber ich fühlte mich nie als ein Teil von ihnen. Ich baute meine eigene Fantasiewelt auf und errichtete einen Kreis um mich, den niemand betreten durfte, wenn ich damit nicht einverstanden war. Es war ein geistiger, virtueller Kreis. Hinter ihm versteckte ich mich immer, wenn alles um mich von Gewalt beherrscht wurde.

Und nun noch ein Wort zu diesem Tag, als meine Mutter aus Deutschland kam. Ich weiß noch: Weil sie nicht traurig sein sollte, habe ich in dieser Nacht bei ihr geschlafen. Irgendwann ist die Mutter dann auch wieder gegangen. Sie musste ja in Deutschland arbeiten, als Gastarbeiterin. Sie hat damals in einem Krankenhaus bei Ordensschwestern gearbeitet, in Hamburg.

1960 hatte die Bundesrepublik Deutschland ein Abkommen zur Beschäftigung von Fremdarbeitern mit Griechenland vereinbart. Meine Eltern gingen 1963 nach Deutschland. Sie mussten sich durch ein Komitee von Ärzten untersuchen lassen, um festzustellen, ob sie kräftig genug waren zum Arbeiten. Meine Mutter war damals 18 und mein Vater 25, beide jung und stark. Sie kamen wie viele andere auch mit Sonderzügen nach Deutschland. Am Zielbahnhof wurden sie registriert, mit einer warmen Mahlzeit versorgt und auf die Züge verteilt, die sie zu ihren zukünftigen Arbeitgebern im Bundesgebiet fahren sollten. Dort wurden die meisten in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Die Betriebe organisierten Dolmetscher, die den Ankömmlingen den Anfang erleichtern sollten. Sie erklärten, wie man in Deutschland einkaufte, Straßenbahn und Busse benutzte und halfen beim Anlernen am Arbeitsplatz.

In Deutschland hatten Kinder im Leben von Gastarbeitern keinen Platz, jedenfalls nicht am Anfang. Deswegen brachten mich meine Eltern mit sechs Monaten mit meinen beiden älteren Schwestern zu den Großeltern in Griechenland. Ähnlich war es auch bei vielen anderen Familien. Im Dorf blieben die Großeltern und die Kinder zurück. Wer gesund und kräftig genug war, ging nach Deutschland, um dort zu arbeiten und Geld zu verdienen. Als meine Mutter ging, spürte ich keinen Trennungsschmerz. Den musste ich ein paar Jahre später erleben, als ich von meinen Großeltern getrennt wurde.

Mein Vater konnte sich anderen nicht leicht unterordnen. Er hat deshalb nur wenige Jahre in einer Fabrik gearbeitet, irgendwo in Bielefeld, wo ich geboren wurde. Bielefeld ist eine Großstadt im Nordosten Nordrheinwestfalens. Arbeitsplätze fanden sich dort besonders in der Metallverarbeitung, beim Maschinenbau, Chemie und Bekleidung. Ich glaube, er war zu sehr traumatisiert als Kind, durch den Krieg und die Besetzung durch die Deutschen. Er wollte sich von dem deutschen Chef nichts sagen lassen, somit musste er sich schnell irgendwie selbstständig machen. Er hatte eine Taxi-Lizenz beantragt und diese auch bekommen. Dann fuhr er im Dorf in Griechenland ein eigenes Taxi. Ab und zu ging er wieder nach Deutschland, um seine Frau zu sehen.

Aber mit dem Taxi hatte Vater Probleme. Viele Dorfbewohner boykottierten seine Arbeit und fuhren lieber mit einem anderen Taxiunternehmer. Diesen bezeichnete mein Vater als seinen Erzfeind und nannte ihn einen Faschisten. Die Familie meines Vaters war eben nicht beliebt, weil sie eine kommunistische Vergangenheit hatte und deswegen, wie auch andere Kommunisten, polizeilich registriert war. Mein Vater machte sich sein Leben auch nicht gerade leicht. Wegen seiner politischen Überzeugung stritt er sich oft mit den Dorfbewohnern und beschimpfte sie als Faschisten. Kein Wunder, dass diese ihn dann boykottierten. Aber mein Vater hat sich trotzdem nie gebeugt.

Natürlich hatte mein Vater auch gute Seiten. Er hat uns sehr weltoffen erzogen. Für ihn gab es kein nationalistisches Denken. Ein Grund, warum er auch kein Freund der Kirche war, ist, dass die Kirche nationalistisches Gedankengut verbreitete. Da aber die orthodoxe Kirche in Griechenland sehr viel Macht hat, musste er sich bis zu einem gewissen Grad schon beugen, sonst hätte er aufgrund der Gesetze seine Bürgerrechte verloren. Jedenfalls versuchte er immer, den Lehren dieser Kirche entgegenzusteuern, was unsere Erziehung anbelangt. Im Kindergarten lehrten sie uns, Nationallieder zu singen – in diesen Liedern ging es um griechischen Nationalstolz. Im Text kam Völkerhass vor gegen Türken und Albaner. Als Kind lernt man, diese Lieder zu singen, aber nicht ihre Bedeutung. Aber mein Vater wusste, welche Macht die Lieder ausübten und wollte nicht, dass seine Kinder dieses Gedankengut verinnerlichten. Für meinen Vater gab es das Proletariat und die Genossen. Die Genossen kamen aus allen Nationen dieser Welt, deswegen war nationalistisches Denken für ihn unannehmbar. Jedenfalls verbot er uns diese Lieder zu singen, die wir in der Schule lernten. Er sagte, dass diese Lieder Hass in unseren Herzen schüren gegenüber anderen Völkern. Die anderen Völker würden dasselbe machen. »Und daraus«, sagte er, »resultieren dann Kriege.« Zwei Sachen hat er immer gehasst: religiöses Gedankengut und Nationalstolz. Mein Vater sagte, dass dies beides das Unheil der Menschheit sei. Traurig nur, das er Dich, oh Gott, nicht von Religionen und ihren Lehren zu unterscheiden wusste. Für ihn war beides menschengemachtes Blendwerk.

Er spielte immer wieder mit uns und wenn er gut gelaunt war, hat er gesungen. Er hat uns viele Lieder beigebracht, darunter auch kommunistische revolutionäre Lieder. Damit wollte er, wie er immer sagte, dem verdorbenen imperialistischen System entgegensteuern. Vater erzählte uns auch Geschichten von seiner Kindheit, einer Kindheit, die geprägt war von Krieg, Gewalt und Hunger. Manchmal, wenn ich sah, dass er traurig war, habe ich ihm immer ein bestimmtes Lied vorgesungen und dabei getanzt. Und dann lachte er wieder.

Trotz seiner kommunistischen Ideen, die ich eigentlich gar nicht so schlecht fand, machte es mich traurig, dass in seinem Denken kein Platz für Dich, mein Gott, vorhanden war. Ich war mir sicher, dass Du existierst. Deswegen wollte ich auch zu Dir, aber mein Vater wollte es nicht. Er hat meine spirituelle Neigung gesehen und hatte Angst um mich, dass ich wegen der Religion verblöden könnte. Verblödung wäre, meinte er, an deine Existenz, oh Gott, zu glauben. Für ihn gab es Dich nicht. Die Zustände der Welt schienen ihm in gewisser Weise auch recht zu geben.

Meine Kindheit im Dorf

Bei uns im Haus hatten sich Schwalben ein Nest gebaut. Sie kamen jeden Frühling und jeden September haben wir zugeschaut, wie sie wieder weggeflogen sind. Ich und meine Schwester, die ein Jahr älter ist, liebten es, den Vögeln zuzusehen. Meine Schwester liebte die Vögel besonders. Mein Vater erklärte uns warnend, wenn man ihr Nest kaputt mache, würden die Schwalben nie wiederkommen.