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G. S. Weidenburg
Sindbads achte Reise
Sieben Entwürfe

G. S. Weidenburg

Sindbads achte Reise

Sieben Entwürfe

April 2016

Copyright: © 2018: G. S. Weidenbrug
Umschlag & Satz: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

Nachdem die Rechtschreibreform so grandios gescheitert ist
– und nach Meinung des Autors völlig zu recht –
wurde dieses Buch in der alten Rechtschreibung verfasst.

Der achten Reise erste Version

An allem Anfang: das Erwachen!

Denn er - erwachte er nicht im Warmen, Bergenden? - Ja, er erwachte im Warmen, Bergenden!

Und fühlte er nicht sein Herz gelassen und gleichmäßig schlagen? - Ja, er fühlte sein Herz gelassen und gleichmäßig schlagen!

Und spürte er nicht seinen Atem ruhig und gesammelt? - Ja, er spürte seinen Atem ruhig und gesammelt!

Und schmeckte er nicht den Schlaf noch mit Zunge und Gaumen? - Ja, er schmeckte den Schlaf noch mit Zunge und Gaumen!

Und hörte er nicht draußen den Ruf der Amsel? - Ja, er hörte draußen den Ruf der Amsel!

Und schob er sich nicht endlich mit den Füßen voran aus dem Bett, Agrippa gleich? - Ja, er schob sich endlich mit den Füßen voran aus dem Bett, Agrippa gleich!

Und begrüßte er nicht den Tag? - Ja, er begrüßte den Tag, diesen und alle kommenden!

Theodor Zaug befand sich außerhalb des Bettes und öffnete die Augen. Geblendet vom Licht des Morgens schloß er sie sogleich wieder, gähnte herzhaft und ohne alle Etikette und richtete sich darauf ein, es noch einmal mit dem Augenöffnen zu versuchen.

Nun ist es an der Zeit und notwendig, daß die Farbe Rot ins Spiel komme. Statten wir also das Fenster des zaugschen Zimmers mit solchfarbenen Vorhängen aus, lassen wir das Licht der Sonne einen Augenblick durch die dichten Wolken stoßen und den Raum mit der Farbe des Lebens füllen, und lassen wir Zaug diese Farbe durch die immer noch geschlossenen Augenlider wahrnehmen. So fand er sich in eine rote Welt gestellt und beschloß den direkten Austausch mit ihr.

Er öffnete also die Augen, ging ins Bad, stellte den Hebel der Armatur am rechten Waschbecken auf 'warm', zog die Jalousie-Gardine hoch und blickte mit zusammengekniffenen Lidern hinab in den Garten. Er betrachtete die Rabatten mit den Frühlingsblühern und gewahrte zwei Amseln; die dunklen Vögel suchten zwischen den Bodendeckern nach Eßbarem, ein dritter saß auf den Stäben der nachbarlichen Dachantenne und flötete seine schmelzende Weise.

Im schwanken Geäst einer Ulme hockte ein Eichkätzchen und maß die Entfernung zu den Ausläufern eines nahen Zwetschgenbaumes. Dann sprang es von seinem nachgebenden Sitz und landete präzise beim Nachbarn, lief dessen Zweige entlang bis zum Stamm, diesen hinunter auf die Erde und verließ den Garten, sprang auf dem flachen Boden in nicht mehr so anmutigen Hopsern dem nahen Wald entgegen und verschwand.

Zaug wandte sich wieder dem Wasser zu, prüfte mit dem Finger seine Temperatur und griff zur Zahnbürste. Während des Zähneputzens blickte er in den Spiegel über den Waschbecken und sah, bedingt durch einen dem ersten vis-á-vis hängenden zweiten Spiegel eine unendliche Reihe von Zaugs, die sich gleich ihm die Zähne putzten. Er war also offensichtlich das bisher letzte Glied einer scheinbar zu den Anfängen der Zeit reichenden Kette von Zaugs, die sich die Zähne putzten, die Münder ausspülten, zu den Handtüchern griffen und sich die Gesichter trockneten. Wir wollen nicht behaupten, daß dieser Aspekt ihn beunruhigte, doch sog er einen gewissen Trost aus dem Wort 'bisher'. -

Er verließ das Bad und schraubte sich eine enge Wendeltreppe hinab, die ihn ins Wohnzimmer brachte. In der danebenliegenden Küche saß seine Frau und las bei einer Tasse Kaffee die Tageszeitung. Sie blickte auf und lächelte.

: Schon ausgeschlafen? fragte sie.

Zaugs Antwort bestand in einem undefinierbarem Brummen, das sie jedoch für eine Zustimmnung halten mochte. Sie griff wieder zu ihrer Zeitung und vertiefte sich in deren Lektüre.

Zaug öffnete die Tür zum Flur. Ein mittelgroßer, falber Hund begrüßte ihn dort als einen lange und sehnsüchtig erwarteten Ankömmling. Er umtanzte ihn wüst; als Mensch hätte er sicherlich in die Hände geklatscht, als Hund sprang er an Zaug empor und versuchte, dessen frischgewaschenes Gesicht noch einmal nach Hundeart zu säubern.

Zaug wehrte ihn halb lachend, halb ernsthaft ab, ging in die Küche zurück und setzte sich mit einer Tasse Kaffee zu seiner Frau an den Tisch, den Hund zu Füßen. -

Eine knappe Stunde später verließ er die bergende Hülle des Hauses und trat in die Kühle des Tages, sein Hund folgte ihm zunächst, prüfte mit witternder Nase vor der Türe die Morgenluft und überholte ihn dann entschlossen.

Auf dem Trottoir kam ihnen ein Kind entgegen. Das Mädchen mochte vielleicht elf, zwölf Jahre alt sein, und es grüßte überaus freundlich, als sie auf dem schmalen Bürgersteig aneinander vorbeigingen. Zaug erwiderte den Gruß verwirrt, er kannte das Mädchen nicht und vermochte sich seine Anwesenheit hier und zu dieser Stunde nicht zu erklären. Trotzdem vermittelte ihm der zuvorkommende Gruß das sichere Gefühl, angenommen zu sein, und er verfolgte seinen weiteren Weg in der Gewißheit, die Welt und die Menschen freundlich gesonnen zu finden. -

Hund und Herrchen umrundeten Nachbars Grundstück und schlugen den in den Wald führenden Weg ein; der Hund ohne Halsband und Leine zwar stets zwanzig Meter voraus, sich aber ständig vergewissernd, daß der von ihm gewählte Weg der von seinem Herrn beabsichtigte war.

Das Gras war noch naß vom kürzlich gefallenen Regen; und einmal geschah es, daß ein einzelner Sonnenstrahl einen Tropfen an einem Halm dergestalt traf, daß sich sein Licht kurz in einem Feuerwerk von Farben auffächerte.

Zaug blieb stehen, trat einen Schritt zurück und suchte das Schauspiel noch einmal zu erleben, doch hatte sich die Wolkendecke wohl wieder geschlossen, oder aber er fand die Position nicht wieder, die er zuvor eingenommen hatte, jedenfalls sah er das Gras wieder grün, die Erde braun und die Regentropfen farblos und wasserhell.

- Rot, orange, gelb, grün, blau, indigo, violett. Er zählte in Gedanken die Farben auf. Gibt zusammen weiß. Licht. Sonnenlicht.

Der Wald schloß sich um sie.

Der Wald, das war am Rande grün und braun ein Dickicht von Brombeerranken, von Wurzelwerk, Borkenkrusten und Himbeerstauden, von derben Eichenstämmen und lichten Birken, durchsetzt mit den weißen Blütendolden des Holunders, von dichtem, hartem Gras, das sich in Schwaden über den Boden legte, gebogen von der eigenen Schwere.

Der Wald, das war im Innern braun ein Dom von Fichtenstämmen, das waren dicke Teppiche von braunen Nadeln, die den Füßen schmeichelten, das war ab und zu schräg durch die Bäume fallendes Sonnenlicht, sichtbar geworden durch leichten Dunst, der vom Grund aufstieg. Dies alles erschlossen durch einen schmalen Pfad, der sich der Sonne entgegenschlängelte, und der nach einigen Dutzend Metern in einen breiten Wirtschaftsweg mündete.

Hier war grün die vorherrschende Farbe. Das Grün: das helle der jungen Buchen, wie gerade zur Welt gekommen, frisch und ausgeruht, verheißungsvoll und optimistisch, dann das leuchtende der Birken, das nur um eine Nuance dunklere der Fichtenspitzen, das sattere der Himbeeren, der Brombeeren, der Gräser, das der vorjährigen Koniferentriebe bis hin zum fast schwarzen Grün der alten Nadelbäume - grün.

Und jetzt nach dem Regen der vergangenen Nacht: die Stämme der voll belaubten Bäume zeigten durch die Nässe auf der Westseite ein dunkles Braun, welches das neue Grün vor den Stämmen umso deutlicher hervortreten ließ; die Sprossen der Fichtenzweige bildeten markant abgesetzte Säume und wirkten wie Ordensbänder oder Bordüren, die Luft war klar, kühl, jungfräulich und feucht; der Farn reichte Zaug bis zum Bauch und trug noch zarte, an den Spitzen zusammengerollte Triebe. -

Der Hund - und jetzt wollen wir der Genauigkeit halber berichten, daß es sich um eine Hündin handelt -die Hündin also war nach rechts in den Wirtschaftsweg eingebogen, und Zaug folgte ihr als einer hellen Führerin. Immer, wenn sie in ihrem Lauf eine der Lichtbahnen durchquerte, leuchtete ihr Fell blendend weiß auf, um anschließend wieder im nächsten Dunkel zu erlöschen: eine unentschlüsselte Botschaft fremder Morsezeichen.

Ein braunes Schemen huschte über den Weg, enterte eine glattstämmige Fichte und lief wie auf Geleisen den Baum hinauf. In sicherer Höhe verhielt das Tier und äugte auf Hund und Herrchen hinab. Dies alles geschah nahezu lautlos; und Zaug hatte das sichere Empfinden, daß dies nicht selbstverständlich sei -hatten sich nicht früher die Eichhörnchen laut zeternd auf die Bäume geflüchtet, wenn sie von Spaziergängern gestört worden waren? War es nicht so gewesen? - Und jetzt? Es war, als hätten sie resigniert. -

Die Luft roch angenehm nach feuchtem Humus, hin und wieder wehte ein Duft von Blüten über den Weg, dann aber herrschte wieder der leicht modrige Geruch von Nadeln und Holz vor.

Auf einer schmalen Lichtung fand sich eine Kolonie grünleuchtenden Hasenklees, und Zaug hockte sich nieder, um eine Handvoll der Pflänzchen zu pflükken. Und während er den angenehm säuerlichen Geschmack kostete, mußte er, bevor er seinen Weg fortsetzen konnte, den Hund davon überzeugen, daß dies keine Speise für ihn sei.

Das Scharren der Hundekrallen, Zaugs eigene Schritte und ein paar vereinzelte Vogelrufe bildeten die einzigen Geräusche; nur einmal strich ein großer Vogel unter lautem Schnarren kurz vor ihnen über den Weg, die Farben der kleinen, weißblauen Federn auf seinen Schwingen sprühten im Licht; und spätestens an dieser Stelle wird dem Kundigen offenbar, daß wir uns in Bayern befinden.

: Polly, bleib hier, sagte Zaug mit kaum gehobener Stimme zu seiner Begleiterin, die Anstalten gemacht hatte, hinter dem niedrig fliegenden Vogel herzusetzen, und Polly - nun verfügen wir also auch über den Namen der Hündin - tat, wie ihr geheißen.

In dem Graben, der Zaugs Weg begleitete, lag das Gerippe eines etwa mannshohen Nadelbaumes. Er lag mit der Spitze nach unten und wies dem nähertretenden Spaziergänger die ehemals weiße Scheibe des Sägeschnittes. Es war dies die denkbar würdeloseste Stellung, in der sich ein Baum befinden kann. Zaug gewahrte mit Anteilnahme ein paar vergessene Lamettafäden und einige Klumpen roten Kerzentalgs in den dürren Ästen und sinnierte über die Treulosigkeit der Welt. Was mochte man diesem Baum nicht alles vor nunmehr fünf Monaten und sieben Tagen versprochen haben, und wie erbärmlich gestaltete sich nun sein Ende! Zaug unterdrückte einen leichten Schauder und setzte seinen Weg fort.

Er passierte eine Reihe junger Buchen. Wiederholt fand er einige der zum Weg weisenden dünnen Zweige in Augenhöhe abgebrochen und an einem Rest Rinde welk und mutlos herabhängen.

- Wer mag das gewesen sein? dachte er. Wer geht durch den Wald und bricht Buchenkindern die Ästchen?

Und er wurde unmutig bei dem Gedanken, daß ungezügelte Zerstörungswut sich hier zeige. Denn es mußte ja jemand bewußt diese Zweige beschädigt, es mußte einer in gedankenloser Bosheit diesen Unsinn begangen haben - ist es doch keineswegs so, wie Karl May es erfand und ungezählte Nachfolger bis hin zu Umberto Eco bei ihm abschrieben: daß ein aus dem Dickicht tretendes Pferd zum Beispiel diese Beschädigungen zuwege brächte, woran man dann erkennen könne, daß eben ein Gaul hier des Weges gekommen sei, ein schwarzer zumal, da er denn auch noch ein Haar daran gelassen hätte.

Er ergriff die herabhängenden Enden, löste sie völlig ab und ließ sie zu Boden fallen.

: Lieber die Bruchstellen als diese traurigen Halbleichen, sagte er laut. Oder hat das etwa doch einen tieferen Sinn? Vielleicht als Versteck für irgendwelche Insekten? und er maß die nächsten welken Blätter mit zweifelnden Blicken, während er seinen Weg fortsetzte.

Dann wurde die lichte Reihe junger Buchen von alten, dunkel starrenden Fichten abgelöst. Und denen hatte bisher niemand etwas zuleide getan.

Er angelte aus der Tasche seinen Hausschlüssel und ließ die dicke Holzkugel, die sich am anderen Ende der Kette befand, im Takt seiner Schritte pendeln. Spaziergänger, die ihm begegnet waren, hatten schon einmal gemutmaßt, er schwänge - einem Meßdiener gleich - ein Miniatur-Weihrauch-Gefäß; ein Bild, das ganz nach seinem Herzen war: als schritte er grüßend und segnend durch den Wald. -

Einem Beobachter aus großer Höhe hätte sich nun also folgendes Bild geboten: In einem Forst etwa eine halbe Stunde östlich von München, der bevorzugt von dicht stehenden Exemplaren der gemeinen Fichte gebildet wurde, ging auf einem breiten Wirtschaftsweg ein in einen Lodenmantel gehüllter, einsamer Mensch Richtung Osten, der, anscheinend ein unbekanntes Ritual befolgend, eine Kugel an einer Kette hin- und herschwingen ließ, und der von einem mittelgroßen, isabellfarbenen Hund begleitet wurde, welcher sich, wie es Art eines quicken Hundes ist, mal hinter, mal neben und mal vor seinem Herrn befand, und der immer den Eindruck großer Geschäftigkeit erweckte.

Hätte! - Denn machen wir uns nichts vor: Zaug und sein Hund schlugen sich unbeobachtet und allein durch den Wald und die Welt, und unbeobachtet und allein kehrten sie nach einem großen Kreis, dessen Durchmesser geschätzte tausend Meter maß, wieder nachhause zurück. Und wie meistens: am Ende dieses Spazierganges um ein Weniges klüger als zu dessen Anfang. -

Wiederum etwa eine halbe Stunde nach ihrer Heimkehr - es mag gegen zehn Uhr sein - finden wir Zaug in einem Personenkraftwagen auf der Landstraße. Er durchfährt die Ansammlung von Häusern, die sein Dorf bilden und verläßt sie auf einer Straße, die zwischen den letzten Gebäuden hindurch Richtung Sonnenuntergang führt. Er ist allein im Auto, seine Frau und den Hund hat er zuhause gelassen.

Er fährt und denkt als der positive Mensch, der er ist, möglicherweise gut von dem Tag, der vor ihm liegt - wir wissen das nicht, und wir können das jetzt auch nicht klären, denn unser Zaug wird ganz unvermittelt gefordert.

Die Straße voraus lief etwas quer über die Fahrbahn. Es sah aus wie ein Ball auf vier Beinen, graubraun mit einem vierseitigen, grell gelb-rot unterteilten Kopf. Lief seltsam ungelenk, nickte bei jedem zweiten Schritt, bewegte diesen gelb-roten Kopf gegen den Asphalt hin, lief eckig und wie stolpernd, hielt aber Kurs, bewegte sich vor Zaug von links nach rechts, und der hatte Mühe, es zu identifizieren.

- Ein Igel! Ein Igel, der irgendwas auf dem Kopf, am Kopf hat. Eine Schachtel. Ein Igel mit einer Schachtel. Das arme Vieh!

Zaug schaltete die Warnblinkanlage ein, bremste nach einem flüchtigen Blick in den Rückspiegel, der ihm zeigte, daß niemand hinter ihm war, fuhr ganz rechts an den Fahrbahnrand, blieb stehen und stieg aus dem Auto. Er ging zu dem Igel zurück, der bereits die Bankette erreicht hatte, ergriff den Joghurt-Becher und zog daran. Der Becher rührte sich nicht.

- Der arme Kerl. Ist wahrscheinlich ein paarmal mit dem verdammten Becher irgendwo gegengerannt und immer tiefer hineingeraten.

Zaug versuchte wieder, den Becher abzulösen, dessen oberer Rand bereits von einigen Stacheln durchbohrt worden war. Er nahm ihn fest in die rechte Hand und hob ihn mitsamt dem Igel in die Höhe. Der Igel zappelte mit allen Vieren und wand sich, dann löste er sich endlich aus dem Becher und plumpste ins Gras. Während Zaug das Marterinstrument auf den Boden legte und mit dem Fuß platttrat, machte der Igel Anstalten, wieder auf die Straße zurück- und in die Richtung zu laufen, aus der er gekommen war.

: Halt, wo willst du hin? sagte Zaug, den nächsten Joghurt-Becher suchen? und er versuchte, den Igel mit den Händen aufzunehmen und wieder ins Gras zu setzen.

Allein der Stachelige rollte sich jetzt ein, und jedesmal, wenn Zaug ihn vorsichtig und möglichst ohne Erschütterung hochzunehmen versuchte, zuckte er zusammen und trieb so seine Stacheln nur immer empfindlicher in Zaugs Handflächen. Der wußte sich letztlich nicht anders zu helfen, als die pieksende Kugel behutsam mit dem Fuß in Richtung Straßengraben zu rollen.

Bisher war noch kein weiteres Fahrzeug die Straße entlang gekommen, doch jetzt näherten sich gleich von beiden Seiten Autos. Zaug trat noch einmal fest mit dem Fuß auf den Boden und klatschte dazu auch noch in die Hände, in der Hoffnung, seinem Mündel den Rückweg über die Straße zu verleiden; dann wandte er sich um, ließ einen Wagen aus der Gegenrichtung vorbeifahren und wollte sich wieder in sein Auto setzen, als der zweite Wagen, der wegen des Gegenverkehrs hinter Zaug hatte stehenbleiben müssen, stark beschleunigt an ihm vorbeipreschte. Der Fahrer schien erkennbar verärgert, hupte anhaltend und schüttelte deutlich den Kopf.

- Ein leerer Kopf läßt sich leicht schütteln, dachte Zaug, fahr du ruhig zu, du weißt ja gar nicht, was hier los war! Hättest den armen Kerl möglicherweise auf deine Art und schneller von seinem Leiden erlöst, nicht wahr? - Was die Leute so alles aus den Autos werfen! Und was das für Auswirkungen hat! Der arme Kerl - wäre eines erbärmlichen Todes gestorben. Und der andere schüttelt den Kopf! -

Er fuhr weiter. In der nächsten Ortschaft mußte er an der Bundesstraße mehrere von links kommende Fahrzeuge passieren lassen, ehe er sich in die Reihe der Autos in Richtung München einfädeln konnte.

Fred kam ihm entgegen. Dann kam Anton. Dem wiederum folgte Günther. Günther mit th. Darauf legte Günther wohl wert, denn er hatte diese Lettern auf dem Schild, anders als die übrigen, in roter Farbe drucken lassen. Danach rollten einige PKW in die Richtung, aus der Zaug gekommen war. Dann wieder einer, der signalisierte "Volker", und eine weitere Blechtafel in Höhe des Beifahrersitzes verkündete "Annemarie". Allerdings war hier die Annemarie wohl verlorengegangen, denn Volker saß allein auf dem Bock.

Im weiteren Verlauf der Strecke wurde die Reihe der Lastkraftwagen lichter.

Am Flughafen verließ Zaug die Autobahn. Nach dem Passieren etlicher Ampeln fuhr er auf einem großen Platz links an einer Reihe hintereinander abgestellter Autos entlang nach vorne und wollte eben als zweiter in der neuen Reihe hinter einem Personenwagen Aufstellung nehmen, als er von einem grün unifromierten Dienstmann an diesem vorbei in die Zielgerade gewinkt wurde. Er bog rechts um und gewahrte einen weiteren Gepäckträger, der neben einem Hügel von Koffern stand und ihm ebenfalls, assistiert von zwei Damen durch energisches Winken zu verstehen gab, bis zu ihnen vorzufahren.

Zaug quetschte sich durch die enge Gasse, die links parkende Privatautos zwischen sich und den anderen Wagen freigelassen hatten, bis er schließlich unmittelbar vor den Koffern einen Platz halb auf dem Bürgersteig fand.

: Endlich ein Kombi, rief der Dienstmann aufgeregt, was ist denn los, wir warten schon seit Ewigkeiten auf einen Kombi! Immer nur Limousinen, furchtbar! und auch die Umstehenden bekundeten Ungeduld, aber auch Freude, nun doch endlich einen Kombi gekriegt zu haben.

Zaug stieg aus, öffnete die Heckklappe und verstaute mit Hilfe des Grünbekittelten sechs Koffer und vier große Taschen im Gepäckraum seines Autos, ließ, nachdem sie den Träger entlohnt hatten, die beiden Frauen hinten einsteigen, nahm selbst wieder auf seinem Sitz Platz, schaltete die Taxiuhr ein, drückte zehnmal die Zuschlagtaste und fuhr langsam und vorsichtig unter dem Dach der Ankunftshalle nach vorne, ins Helle, ins Offene.

So ist das also: Theodor Zaug ist ein Taxifahrer. Und damit wir vollends wissen, mit wem wir es zu tun haben: Er wohnt östlich von München, der Stadt, in der er seinen Dienst versieht, er ist verheiratet, hat drei Söhne, die bereits aus dem Haus sind und einen Hund, der nur aus dem Haus geht, um unter allen Umständen wieder zurückzukehren; und er nennt auch dieses Haus sein und seiner Frau eigen, wiewohl eine kleine Kollektion von Bildern an der Wand neben der Treppe nach oben darüber Auskunft gibt, daß eben dieses Haus vom Hausherrn, seinen drei Söhnen und einem fleißigen Maurer gebaut und von der Hausherrin bezahlt worden sei und immer noch bezahlt werde, jedoch nach wie vor einem bestimmten Geldinstitut gehöre.

Und im Augenblick chauffiert er zwei Damen mittleren Alters mit sechs Koffern und vier größeren Taschen in seinem Mercedes-Kombi vom Flughafen München-Riem in die Innenstadt. Er benutzt zu diesem Zweck zunächst die Passauer Autobahn, überquert den Mittleren Ring, folgt der Einsteinstraße, umrundet zur Hälfte das Maximilianeum, fährt auf der Maximiliansbrücke über die Isar, hat das Völkerkundemuseum zur Linken und die Regierung von Oberbayern zur Rechten, überquert nun auch den Altstadtring und ist nach weiteren hundertundfünfzig Metern beim Hotel Vier Jahreszeiten, dessen enge Einfahrt die exakte Handhabung des Autos verlangt.

Diensteifrige Angestellte des Hotels öffneten die Heckklappe des Taxis und wuchteten die Koffer und Taschen auf dafür vorgesehene Karren, die dann in einem Nebeneingang verschwanden. Die eine der beiden Damen entlohnte Zaug großzügig und folgte dann der anderen ins Foyer des Hotels.

- Mensch, dreißig Mark! dachte Zaug, als er sich ebenso behutsam wieder aus der engen Vorfahrt des Hotels herauswand, wie er hineingefahren war. Na, das ist ein Start! Da lohnt es sich ja doch, einen Kombi zu haben, und er beschloß nach einem Blick auf die Uhr, noch einmal zum Flughafen zurückzufahren.

Dort mußte er sich diesmal regulär anstellen, aber alles andere wäre auch äußerst unwahrscheinlich gewesen. -

Die nun folgende Wartezeit nutzte er zu einem kleinen Spaziergang im Flughafengebäude.

Sehen wir ihn uns einmal an, den Herrn Taxifahrer. Da geht er gemächlich durch die Ankunftshalle und beguckt sich die Leute. Er hat die Hände in den Hosentaschen vergraben, ein finsteres Gesicht aufgesetzt -was ihm selbst gar nicht bewußt ist, doch weiß ers von anderen, die es ihm vorgeworfen hatten - wir können es jetzt getrost erzählen, er hört uns ja zur Zeit nicht: als Kind schon hatte er aus Gründen eines früh entwickelten und für notwendig erachteten Selbstschutzes zu diesem Trick mit dem finsteren Gesicht gegriffen. Da gab es in der Stadt seiner Kindheit eine Bäckerei, zu der er häufig geschickt wurde, und in der er regelmäßig von einer netten Verkäuferin mit den Worten "Ah, da kommt der Junge, der nicht lachen kann!" empfangen wurde, was ihn verläßlich zu einem gequälten Lächeln zwang, welches dann ebenso verläßlich mit einer kleinen Zugabe belohnt wurde.

Also, er hat ein finsteres Gesicht aufgesetzt und lenkt seine Schritte so, daß er möglichst selten den Kurs eines Reisenden oder Angehörigen des Flughafenpersonals kreuzt. Er erweckt also mithin den Eindruck eines Menschen, der den Kontakt mit anderen nach Möglichkeit vermeidet. Sollen wir uns nun wirklich mit einem solchen Griesgram beschäftigen? - Aber es ist wohl doch noch zu früh, um über ihm den Stab zu brechen, schließlich ist uns bisher nur bekannt, daß er ein Freund der Hunde und Igel und wohl auch der Bäume ist, was ja durchaus positiv zu bewerten ist; geben wir ihm eine Chance, vielleicht ist er gar nicht so, wie er uns glauben machen will. -

Eine Frau stand da, ihren Säugling auf dem Arm. Das Kind - vielleicht vier, fünf Monate alt - schien von einer grell leuchtenden Reklamefläche fasziniert: unentwegt hielt es den Blick darauf gerichtet, fixierte dies Bunte auch dann noch, als die Mama sich langsam drehte, um ihrerseits weiß Gott was zu ergründen; das Kind, solcherart aus seiner Perspektive herausgeschraubt, wandte also den Kopf und wollte länger sehen, wollte erkennen, speichern, um vielleicht später wiedererkennen zu können, wollte also den Blick partout nicht wenden, doch die Mutter - selbst- und kindvergessen - ließ nicht ab von ihrem Drehen, wollte ihre Pirouette fortführen, und das Kind gelangte an die Grenze seiner physiologischen Möglichkeiten - son Kind ist doch kein Uhu!

Und Neues fesselte sein Interesse. Doch immer noch drehte sich die treusorgende Mutter um sich selbst, diesmal zur anderen Seite, und wieder entglitt dem Kind das Angepeilte, obwohl es nach Kräften den Kopf verdrehte - ach, die Welt ist hektisch selbst vom Arm der Ernährerin aus!

Zaug ging weiter, sein Gesicht zeigte nun doch ein leises Lächeln. -

Ein kleiner Spaniel hing an seiner Leine, schnüffelte ängstlich in hundert Beine hinein und wackelte wie verzweifelt mit dem Rest Schwanz, den sie ihm gelassen hatten: fast sprachlos in seinem Bemühen, um Sympathie zu werben.

Auf den Wartebänken saßen zwei junge Leute mit einem Jungen von vielleicht fünf Jahren. Die Mutter -Zaug nahm an, daß es ihr Sohn war - die Mutter also sprach gerade mit ihm

: Du hustest ja, Jens! Bist du krank? und stellte fest, scherzend, dann müssen wir dich hierlassen. Dann können wir dich nicht mitnehmen!

Und Panik in des Kindes Augen

: Nein, nicht hierlassen! Ich huste schon nicht mehr!

: Du hast aber gehustet, ich habs doch gehört, nicht wahr, Papi, Jens hat gehustet!

Papi bestätigte lächelnd, daß Jens gehustet habe.

: Na, und wenn du erkältet bist, dann kannst du nicht in den Flieger, du steckst ja alle Leute an! Die Stewardess wird dich gar nicht reinlassen...

Zaug war vorbei. Nein, Zaug hatte sich nicht eingemischt, Zaug hatte nichts gesagt, oh nein, denn Zaug war höflich und auch feige. Doch er hatte Fantasie. Und die befähigte ihn durchaus, sich vorzustellen, wie in vielleicht zwanzig, dreiundzwanzig Jahren ein junger Mann, ganz nach Schillers Erkenntnis bezüglich der bösen Tat, mit einer verborgenen Lust am Entsetzen seinerseits in seines Kindes Augen Panik erzeugen würde.

Und jetzt war sein Gesicht wieder finster. -

Lassen wir ihn nun sein finsteres Gesicht an den Fluggästen und den Angestellten der verschiedenen Geschäfte und Dienstleister beim Münchner Airport vorbeitragen, und schauen wir uns einmal seinen Arbeitsplatz an; er wird wohl noch solange wegbleiben, daß wir diesem Verlangen in Ruhe nachgeben können.

Auf dem Instrumentenbord seines Taxis liegt ein Buch: ein brauner Leinenband, und in schwarzen Lettern der Titel: "DAS DEUTSCHE WORT". Und wenn wir das Buch in die Hand nähmen und es aufschlügen, dann würden wir auch den Verfasser erfahren, der sich Richard Pekrun schreibt.

Und nun müssen wir uns doch wundern und uns fragen, mit wem wir es eigentlich zu tun haben! Denn das ist ja nicht normal! Wer in aller Welt bringt es fertig, sich für Zeiten des Wartens mit einem Wörterbuch zu versehen? Daß man die Tageszeitung, ein Wochenmagazin, einen Börsenbericht, daß man den Kaufhauskatalog, einen Reiseprospekt und vielleicht auch noch einen Roman in der Hand eines Lesenden erblickt, ist nicht weiter verwunderlich, das ist man gewohnt, obwohl die meisten Menschen, wenn sie denn in unserer hektischen Zeit mal dazu verdammt sind, nichts zu tun, ihren Blick lieber in unbestimmte Weiten gerichtet halten und eher den Eindruck erwecken, sie seien in Gedanken in einer anderen Welt, als daß sie zu einem Buch griffen - aber ein Wörterbuch? Das hat man, wenn überhaupt, zuhause im Schrank, das schleppt man nicht mit sich herum, und das legt man ganz gewiß nicht an eine exponierte Stelle seines Autos. So etwas machen allenfalls Etymologen, und die sind keine Taxifahrer, dafür ist ihre Ausbildung zu kostspielig gewesen.

Wenn wir nun also doch ein solches Nachschlagewerk auf Zaugs Armaturenträger vorfinden, dann darf uns dies mit Fug und Recht verwundern. Nun kann man noch darüber spekulieren, ob dieses Buch vielleicht aus einem ganz anderen Grund dort liegt, als man gemeinhin annehmen möchte. Daß es also gar nicht als Lektüre für lange Wartezeiten gedacht, sondern in der Absicht dort plaziert wäre, um die Fahrgäste zu Fragen zu animieren; denn wir glauben unserem Zaug nicht, daß er jeglicher Kommunikation aus dem Wege geht. Oder es könnte als ganz raffinierter Tresor für größere Geldscheine dienen, die Zaug noch zu kassieren hofft - kein Taxiräuber käme auf die Idee, in einem Buch Geld zu suchen. Oder vielleicht preßt Zaug seine Briefmarken auf diese Weise - was wissen wir denn schon von ihm außer der Tatsache, daß er ein Tierfreund zu sein scheint, er ist für uns ja eigentlich erst zur Welt gekommen, schließlich befinden wir uns gerade einmal auf Seite sechzehn! Und schlimmer noch - es könnte sogar sein, daß das Buch aus einem ganz und gar niederträchtigen Grund dort liegt, wo es liegt - zur reinen Angabe nämlich!

Andererseits macht die Sache neugierig. Und Taxifahrern, die die Bildzeitung auf dem Beifahrersitz liegen haben, wollen wir ganz sicher nicht nähertreten, auch wenn sie aus ihrer geistigen Verfassung kein Geheimnis machen. Dann schon lieber einem, der den guten alten Pekrun im Auto hat.

Am besten wird es sein, wir warten ab, was passiert, wenn Zaug seinen kleinen Spaziergang durch den Flughafen beendet hat. -

Zaug hatte sich etwas verspätet. Als er zum Bereitstellplatz zurückkehrte, kamen ihm schon die ersten Kollegen seiner eigenen Reihe entgegengefahren, doch gelang es ihm gerade noch, sein Auto aufzusperren und nachzufahren, bevor er den Fluß der Taxis gehemmt hätte, und drei Minuten später hatte er seinen nächsten Fahrgast in Gestalt eines Geschäftsmannes im Wagen.

Entgegen den Gepflogenheiten der meisten Flughafenfahrgäste hatte sich dieser auf den Platz neben Zaug gesetzt.

: Ich möchte zu Siemens, sagte er und schloß die Tür, ich glaube, in die Hofmannstraße. Auf jeden Fall nach Sendling.

Zaug bestätigte und fuhr los. Er hielt an der roten Ampel gegenüber dem Streifenwagen der Polizei, der wie stets auf der Verkehrsinsel vor der Ausfahrt stand, und dessen Insassen den Verkehr zu beobachten schienen.

In der Schleife, die Zaug auf die Autobahn nach München brachte, eröffnete Zaugs Nebenan das Gespräch.

: Ein Wörterbuch, sagte er und wies auf das Buch über den Instrumenten, Sie fahren ein Wörterbuch spazieren?

Zaug nickte, lächelte und antwortete

: Richtig. Ich schmökere ab und an gerne in Wörterbüchern. Und dieses hier habe ich erst vor kurzem in einem Antiquariat gefunden. Deswegen liegts da.

: Darf ich mal? fragte der Fahrgast und bewegte die Hand in Richtung auf das Buch.

: Selbstverständlich, antwortete Zaug und warf einen schnellen Blick nach rechts.

- Geschäftsmann mit Sinn für Wörterbücher, dachte er. Von der letzten Dult. Fünf Mark Einheitspreis beim Stand von Frau Hammerstein.

Der Fahrgast hatte nach einem Blick auf Titel und Verlag die ersten Seiten aufgeschlagen und schien in den Spalten nach einem Begriff zu suchen.

: Erste Probe bestanden, sagte er, ließ das Buch sinken und blickte zu Zaug hinüber.

: Wie lautet die? fragte der.

: Ärar, antwortete der andere. Ich schlage als erstes in einem Wörterbuch immer den Begriff "Ärar" nach. Steht er drin, dann ist das Nachschlagwerk einer näheren Prüfung würdig, fehlt er, leg ichs auf die Seite.

: Ärar, sagte Zaug, was ist das?

: Staatsschatz, antwortete sein Fahrgast. Ein Ärar ist sowas wie ein Kronschatz, Ihr Diktonär übersetzt es ganz richtig: Staatsschatz, Staatskasse, aber auch Urkundenkammer.

: Und den Begriff braucht man, fragte Zaug. Und kostete noch einmal das Wort: Ärar.

: Nein, nein, sagte der Gast. So nicht. Aber es ist ein Qualtätsmerkmal, wenn ein Wörterbuch ihn nennt, gerade weil der Begriff auszusterben droht. Angesichts unserer Staatsfinanzen vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Er lachte.

Zaug lächelte pflichtschuldig. -

Die Autobahn war wesentlich weniger dicht befahren als vor mittlerweile zwei Stunden. Sie glitten mit ungefähr hundertundzwanzig Stundenkilometern dahin.

Zaugs Fahrgast hatte sich wieder in das Buch vertieft.

: Iatrachie, sagte er nach einer kleinen Weile und schüttelte amüsiert den Kopf, Donnerwetter. Und das Ganze nennt sich schlicht "Das Deutsche Wort".

Er schlug noch einmal die Titelseite auf.

: "Ein umfassendes Nachschlagewerk des deutschen und eingedeutschten Sprachschatzes" las er vor, umfassend, kann man wohl sagen. Da fahren Sie ja was Feines spazieren.

: Was hieß nun das wieder, fragte Zaug, Iatragie oder so?

: Iatrachie, korrigierte sein Fahrgast, die Herrschaft der Ärzte.

: Kann man doch auch sagen, antwortete Zaug, Herrschaft der Ärzte, versteht auch jeder. Wozu brauchts dann dieses Wort?

: Na ja, es handelt sich schließlich um einen Schatz, und der kann ja wohl nicht groß genug sein. Das haben Schätze doch so an sich. Mit anderen Worten: Es ist doch gewiß eine Bereicherung, wenn wir für ein und dieselbe Sache verschiedene Wörter haben, oder nicht? Zumal fast immer die einzelnen Wörter eine verschiedene Aura haben.

Zaug mußte zustimmen.

Sein Fahrgast ließ den Buchblock über den Daumen der rechten Hand schnurren. Die Seiten liefen wie lebendig von rechts nach links. Er stoppte.

: Nouveauté, las er vor, Neuigkeit, modische Neuheit. Respekt, das ist ein Wörterbuch! Und das von einem Dozenten an einer technischen Hochschule. Das hätte man doch eher von einem Germanisten an einer geisteswissenschaftlichen Universität erwartet.

Er widmete sich erneut der Lektüre.

Zaug ließ ihn lesen. Es schmeichelte ihm, daß sein Nebenan ein solches Interesse an dem Buch fand. So schien er also tatsächlich ein glückliches Händchen gehabt zu haben, als er bei der letzten Dult zugegriffen hatte.

- Man müßte überhaupt immer ein gescheites Lexikon im Auto haben - den zwanzigbändigen Brockhaus zum Beispiel, oder den Großen Meyer - und kein Platz für die Fahrgäste...

Zaug verließ die Autobahn an der Anschlußstelle Zamdorf und folgte der Parallelstraße weiter bis zur ersten Ampel, an der er links abbog, um nach einigen hundert Metern in den Tunnel Richtung Berg am Laim einzutauchen. Der Fahrgast mußte für kurze Zeit seine Lektüre unterbrechen, weil das Licht nicht mehr ausreichte.

: Doch, doch, sagte er, nachdem sie wieder im hellen Licht des Tages fuhren, und er eine weitere kleine Weile in dem Buch geblättert hatte, was immer das gekostet hat - es ist sein Geld wert. Wo fände man sonst solche Rarissima wie zum Beispiel den Begriff Impietät?

Er blickte forschend zu Zaug, der sein Augenmerk nicht vom Geschehen auf der Straße abzog.

: Impietät? fragte der gedehnt und fuhr fort, ehe der andere zu einer Erläuterung ansetzen konnte, warten Sie, ich könnte höchstens versuchen, es abzuleiten. Impietät. Also das Gegenteil von Pietät. Pius, der Fromme. Also villeicht Mangel an - er suchte nach einem Ausdruck - Mangel an Andacht oder Mitleid.

: Gut, lobte sein Nebenan, und sogar noch schärfer, so wie Ihr Pekrun das erklärt: Gottlosigkeit, Ehrfurchtslosigkeit.

: Ist ja ganz nett, sagte Zaug, aber das gehört doch wohl eher in ein Fremdwörterlexikon als in einen Diktionär, der sich "Das deutsche Wort" nennt.

: Warum nicht, antwortete sein Fahrgast, wo wollen Sie da die Grenze ziehen? und er ließ die Seiten des Buches abermals über seinen rechten Daumen laufen, das ist schließlich keine Fibel für Schulanfänger.

: Na ja, sagte Zaug, aber solche wüsten Dinger... er schwieg.

Der Fahrgast vertiefte sich wieder in die Lektüre des Buches, und sie waren bereits zwei Kilometer auf dem Mittleren Ring unterwegs, hatten also den Beginn der Autobahn nach Salzburg hinter sich gelassen, ehe er sich wieder zu Wort meldete.

: Aber auch er ist nicht gefeit gegen Fehler, sagte er, hören Sie sich das an: da schreibt er statt Solnhofer Schiefer Solhofer, doch nein, er unterbrach sich selbst, das ist eindeutig ein Druckfehler, denn alphabetisch stehts richtig nach dem Begriff Solmisation.

: Und das wiederum bedeutet..?

Der Fahrgast lachte.

: Doremifasolatido, sagte er dann, das Singen der Tonleiter.

: Aha, machte Zaug, und sonst? Kennt das Buch auch deutsche Wörter?

- Wieso eigentlich bin ich in der Offensive? dachte er. Wieso verteidigt der mein Buch? Schließlich hab ichs mir doch gekauft, weils mir gefiel. "Zauke" hab ich drin gefunden, mundartlich für "Hündin". Das fand ich doch nett: Zaug und seine Zauke gehn im Wald spazieren.

: Doch, doch, machte der Fahrgast, und als hätte er Zaugs Gedanken erraten: Nun machen Sie mal das Buch nicht schlecht, ich finds vorzüglich - in jeder Hinsicht.

Er schloß das Buch, legte es in den Schoß, hielt aber noch einen Finger zwischen den Seiten und blickte zu Zaug hinüber.

: Ich darf mir eben Titel, Verfasser und Verlag notieren, nicht wahr? Mein Antiquar wird es schon irgendwo auftreiben.

Er kramte in seiner Tasche und zog eine kleine Kladde hervor, erbat sich von Zaug dessen Kugelschreiber und notierte die Angaben von der Titelseite des Buches. Dann legte er es wieder an seinen Platz vor der Windschutzscheibe.

: Ich habe nämlich auch eine Schwäche für Wörterbücher, sagte er und lehnte sich zurück, aber das werden Sie sich ja wohl schon gedacht haben.

Zaug lachte und bestätigte diese Vermutung. -

Die Abzweigung der Boschetsrieder von der Plinganser. Zaug setzte den Blinker rechts.

Sein Fahrgast, der die letzten Minuten wie in tiefem Sinnen verbracht hatte, schrak hoch.

: Wir sind ja schon gleich da, sagte er, Ich muß ja noch nachschauen, ob ich wirklich in die Hofmannstraße...

Er befragte seinen Taschenkalender.

: Nein, sagte er nach kurzer Lektüre, er sitzt doch im Hochhaus, also dann muß ich in die Baierbrunner.

Zaug nickte und bog nach kurzem links ab.

Er hielt am Werkstor, öffnete das Fahrerfenster und drückte von seinem Sitz aus den Rufknopf der Gegensprechanlage.

: Taxi, sagte er deutlich, als eine quäkende Stimme sich meldete.

Die Schranke hob sich und Zaug fuhr die Einfahrt hinan. -

: Wissen Sie was, sagte der Fahrgast und schaute auf seine Armbanduhr, während Zaug die Quittung ausstellte und unterschrieb - Sie könnten mich in ungefähr zwei Stunden wieder abholen und zum Flughafen zurückfahren, wenn Sie mögen. So eine Fahrt ist in Taxifahrerkreisen doch hochwillkommen, wenn ich recht unterrichtet bin.

Zaug überlegte schnell. Wenn er ablehnte, hieß das, leer in die Stadt fahren zu müssen, denn es war für ihn nicht interessant, hier draußen einen Taxistand aufzusuchen, da er keine Berechtigung hatte, die Standplatztelefone zu benutzen. Und dies war eine sichere und lohnende Fahrt. Auf der anderen Seite bedeutete es aber, eine ganze Stunde und mehr vertun zu müssen. Wenn es ihm jedoch gelänge, die sinnvoll anzuwenden, würde der Nutzen überwiegen.

: Gerne, antwortete er daher, und er setzte noch hinzu, daß er unter allen Umständen pünktlich, ja, mit Sicherheit überpünktlich sein werde.

Der Fahrgast nahms zur Kenntnis, empfing das Wechselgeld aus Zaugs Hand und verschwand hinter der gläsernen Eingangstüre.

Zaug wendete und überlegte, während er langsam die Siemensallee hinunterrollte, was er mit diesen gut anderthalb Stunden anfangen könnte. Er schaute seinerseits auf die Uhr.

- Gerade halb eins vorbei. Andere Leute gehen jetzt zum Mittagessen, also dann!

Er wendete und fuhr die Straße bis zur Einmündung der Baierbrunner zurück, folgte dieser stadteinwärts bis zur Boschetsrieder und fuhr dort links, um nach etwa hundert Metern glücklich einen Parkplatz zu finden, auf dem er sein Auto abstellen konnte. In der Nähe, so entsann er sich, gab es einen Metzger, der auch fertige Brotzeiten verkaufte. -

Schon während er im Laden an einem einbeinigen Tisch stehend seinen Leberkäs mit süßem Senf nebst einer Gewürzsemmel vertilgte, fiel ihm ein, daß dies die geeignete Gelegenheit sei, ein längst gefaßtes Vorhaben auszuführen: der Besuch der Marienkirche in Thalkirchen. Die Zeit, die er dazu noch zur Verfügung hatte, würde gerade ausreichen.

So fuhr er denn nach seinem frugalen Mahl den Greiner Berg hinunter, folgte im Tal der Pognerstraße stadtauswärts und fand vis-à-vis der Kirche in der Seitenstraße einen Platz für sein Taxi. Er schloß ab, steckte den Autoschlüssel in die Hosentasche, überquerte die Straße und schritt die sieben flachen, weißgekanteten Stufen zum Portal hinauf. Die dickleibige, hölzerne Tür drehte sich schwerfällig in ihren Angeln, die folgende Pendeldoppeltüre ließ ihn ein in den Vorraum unter der Orgelempore. Zum Kircheninneren war dieser Raum durch ein schmiedeeisernes Gitter getrennt, dessen Tür in der Mitte offenstand und die Zaug mit drei kurzen Schritten erreichte, nachdem er einen kleinen Kirchenführer in Gestalt eines schmalen Heftes einem Regal an der Eingangstüre entnommen hatte.

Er stand in der Mittelachse des Hauses, und es teilte sich ihm als erster Eindruck das Gefühl von Symmetrie mit. Als harmoniebedürftiger Mensch suchte er, wohin er auch geriet, stets vorhandene Mittelachsen auf. Der Raum, an dessen Basis er stand, setzte sich über eine dreistufige Treppe hinab in einen ähnlichen zweiten fort, an dessen gegenüberliegender Seite sich ein dritter, kleinerer anschloß. Die beiden großen vermittelten, obwohl quadratischen Grundrisses, den Eindruck von Kreisen, und auch der kleinere Altarraum wirkte rund, trotz seiner, wie sich bereits beim zweiten Blick herausstellte, rechteckigen Natur. Zaug stand unmittelbar hinter einer Reihe von hölzernen Bänken, die sich ohne Lücke über fast die gesamte Breite der Kirche erstreckten, nur jeweils drei weitere fünfsitzige Bänke fanden rechts und links von ihnen noch Platz, sie reichten bis fast an die Beichtstühle; erst im nächsten Raum waren die Bänke in der Mitte geteilt, so daß sich zwischen ihnen eine Gasse bildete, die auf den Altar zulief.

- Hier also ist der Weg zum Heil zunächst einmal verstellt, dachte er ketzerisch, nicht wie in den meisten anderen Kirchen: eine Autobahn vom Eingang bis zum Altar! Hier sind entschieden die lieben Mitmenschen zunächst einmal im Weg.

Zwei mächtige Säulen rechts und links des Überganges dominierten den Raum, und sie erweckten den Eindruck, als trügen sie die gesamte Last des Bauwerkes. Auch zeichneten sie wohl für den anfänglichen Eindruck verantwortlich, daß das Kirchenschiff aus zwei aneinandergebauten Räumen bestehe.

Das gesamte Kircheninnere war in einem gebrochenen Weiß gehalten, die Gurte zwischen den Stichkappen waren hellgelb und mit altrosa Akanthusstilisierungen versehen, ebenso die Abschlüsse der Säulen.

Die beiden Deckenfresken jedoch entbehrten aller Leuchtkraft, die sie wahrscheinlich einmal besessen hatten. Der Inhalt des ersten war für Zaug nicht zu deuten, ein Brei stumpfer Farben konnte alles mögliche darstellen; das zweite behandelte wohl die Himmelfahrt Jesu, Farben und Figuren waren in einer kreisförmigen Bewegung, die sich auf eine gleißende Helle im Zentrum des Bildes ausrichtete.

Zaug umschritt links die Reihe der langen Bänke, mußte dazu natürlich die Symmetrieachse verlassen, ging die drei Stufen hinab und stellte sich nach ein paar Schritten wieder in die Mitte.

Den Durchgang zum Altarraum begrenzten zwei Pilaster, neben diesen befanden sich in Augenhöhe zwei Reliquienschreine, aus deren linkem ein reich geschmücktes Skelett die Zähne fletschte, während der rechte einen mumifizierten Mann mit kalkweißem Gesicht und schwarzem Vollbart barg. Der Altar bekam von der linken Seite Licht von vier schmalhohen Fenstern, an der rechten Seite traten zwei Loggien hinter die Wand zurück. Frontal nun und in der Mitte thronte Maria, die Himmelskönigin. Zwei hohe Fenster rechts und links des Altars spendeten mildes Licht und ein intensiv gelbgetöntes Fenster hinter ihrem Haupt, unterteilt in eine Sonne mit Strahlenkranz, verlieh ihr die nötige Gloriole.

Der Altar selbst, so entnahm Zaug der kleinen Broschur in seiner Hand, dürfe als einer der schönsten Barockaltäre in München und sogar ganz Bayern gelten. Die drei Figuren (Maria und die beiden Bischöfe) seien von Gregor Erhart aus Ulm gefertigt.

Im eigentlichen Kirchenraum befand sich an der rechten Seite die Kanzel. Eine kurze Treppe führte vom Ende des Schreins zu ihr hinauf. In gleicher Höhe zwei Konsolen mit Heiligenfiguren, der Heilige Joachim nackt mit Kreuz in der Hand, daran eine Schleife, ein Tierfell oder ähnliches über die Schulter geworfen und die Heilige Anna, natürlich bekleidet, ein aufgeklapptes Buch in der Linken und eine Gänsefeder in der Rechten, beide dem Kirchenführer nach von Ignatz Günther. Darunter das Taufbecken mit einer Darstellung des Jesu taufenden Johannes. Am Kreuz, das Johannes in der linken Hand hält, befand sich oben ein Banner, darauf der Imperativ: Ecce Agnus Deï!

Diesem Ensemble gegenüber befand sich an der linken, der Nordwand, ein Seitenaltar.

- Für die reichen Bauern, dachte Zaug. Die, die von vier Herren unter die Erde gebracht wurden: einer, der vorne die Messe laut las und drei andere, die sie schweigend zelebrierten. Mit allem Drum und Dran: Meßdiener, Weihrauch und Brimborium. - Pfarrer - auch komische Figuren darunter. Wie der unserer Nachbargemeinde - leidenschaftlicher Jäger. Entblödete sich nicht, eine verflogene Taube mit seiner Knarre vom Altar herunterzuholen! Apart, nicht wahr? Schießt das Symbol für den Heiligen Geist -immerhin ein Dritteil der sakrosankten Trinität - mit eigner Hand - der von ungezählten Gläubigen geküßten Hand - vom Allerheiligsten herab.

Zaug drehte sich um. Vor der Orgel auf der Empore standen auf der fürsorglichen Balustrade vier hölzerne Engelsfiguren. Alle vier verfügten über gewaltige Flügel und blickten ins Proszenium.

- Zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken... dachte Zaug. Fehlen immer noch zehn. Aber son Engel braucht auch mal ne Auszeit. Haben wahrscheinlich Urlaub, jetzt, wo niemand in der Kirche ist.

Wie um ihn zu widerlegen, öffnete sich das schwere Eingangsportal, dann ein Flügel der Pendeltür. Ein altes Weiblein wurde sichtbar, das nur mit Mühe den Türflügel aufzog. Es warf Zaug durch die gesamte Tiefe des Kirchenraumes einen grauen Blick zu, wechselte die Einkaufstasche von der einen Hand in die andere, tauchte die nun freie Rechte in das Weihwasserbecken und schlug über seinen dürren Leib und die gefurchte Stirn das Kreuz. Dann ging es in die entfernteste Ecke und kniete sich in eine Bank, wo es die faltigen Hände vereinigte und den Blick auf sie senkte.

- Will ihren Gott beeinflussen. Warum nur werden alle Betenden mit nach oben gerichtetem Gesicht dargestellt? Es ist doch natürlicher, wenn man sich zum Zweck der Sammlung in sich verschließt. So wie die Alte dort. Aber auf Bildern oder Skulpturen - immer die Augen nach oben verdreht. Am Fuße des Kreuzes - ja, das mag angehen, aber sonst... Wir suchen IHN immer noch oben, Aufklärung und Raumfahrt haben daran nichts geändert.

Die Alte öffnete ihre Hände, kramte in der Tasche und zog einen Rosenkranz hervor. Sie nahm wieder ihre Andachtsstellung ein und ließ die Perlen durch die Finger laufen.

- Rosarium, dachte Zaug, drei Gruppen. Was ist heute dran? Mittwoch. Der schmerzensreiche Rosenkranz. Nein, das war gestern. Der glorreiche, Ja, Mittwoch, Samstag und Sonntag.

Zaug wandte den Blick von der betenden Alten ab. Ein Zitat kam ihm in den Sinn.

- Wie man ja ein ernstes und ehrbares Gefühl haben soll auch für den Gott, den andere glauben, wer hat das gesagt? - Keller! Keller im Grünen Heinrich,

Zaug senkte den Kopf, ging geräuschlos den Weg zurück, den er gekommen war, passierte, nachdem er das schmiedeeiserne Gitter durchschritten hatte, die Jahreskrippe, die im Fortgang des Kirchenjahres je andere Szenen aus der biblischen Geschichte zeigte - all dies vor der beständigen Kulisse des Dorfes Thalkirchen zur Zeit des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts - und blieb vor dem Tisch an der dunklen Seite stehen, auf dem Informationsmaterial, Ansichtskarten, Heiligenbildchen und andere Devotionalien neben einer angeketteten Kasse auslagen.

Ein Heft fotokopierter Seiten, die mit einem Seil grob zusammengehalten wurden, zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

"Kirchenmusiken, die in dieser Kirche uraufgeführt wurden." las er und "Fridolin Limbacher, Isartaler Messe für Dreigesang und Stubn-Musi, uraufgeführt Weihnachten 1971"

- Da schau her, dachte er, lokale Größe, die für diese Kirche komponiert. Gut, sehr gut.

Ebenfalls von Freund Fridolin: Eine canzone proprium nach original Instrumentalsätzen aus dem Venedig von 1600, sowie eine Gitarrenmesse für drei Gitarren, Baß, gemischten Chor und Orgel und auch noch eine Monteverdi-Messe, eingerichtet von eben demselben Fridolin Limbacher.

Zaug versagte ihm seine Anerkennung nicht, wog das Heft prüfend in der Hand und ließ es dann wieder an seinem Seil von der Ausstellungstheke baumeln.