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SULEIMAN
MOURAD

PERRY
ANDERSON

Das
Mosaik
des
Islam

Aus dem Englischen von
Anne Emmert

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Vorwort

1
Der Koran und Mohammed

2
Ausbreitung des Islams und Entwicklung des Dschihad

3
Schia und Sunnismus

4
Salafismus und militanter Islam

Nachwort

Glossar

Kurzbibliografie

Vorwort

In der neueren Geschichte des Westens hat der Islam nie so viel Beachtung gefunden wie heute, positiv wie negativ. Das hat mehrere Gründe. Seit einem Vierteljahrhundert toben im Nahen Osten unter Beteiligung europäischer Mächte und der Vereinigten Staaten Kriege, für die kein Ende in Sicht ist und die sich zunehmend auch auf den Westen auswirken. In Europa entstand durch die Einwanderung aus Gebieten des früheren Osmanischen Reichs zum ersten Mal eine signifikante muslimische Bevölkerungsgruppe. Transatlantische Debatten über den Multikulturalismus, die auch die religiöse Pluralität insgesamt berühren, befeuern das Interesse an der Religion, die historisch betrachtet die größte Konkurrenz zum Christentum darstellt. So entstand eine umfangreiche Literatur, die alle Fragen des Islams im öffentlichen Raum behandelt. In keinem Land erschienen wohl mehr Bücher als in Frankreich, wo Politikwissenschaftler wie Olivier Roy und Gilles Kepel immer wieder Debatten anschieben und ein breites Publikum erreichen. Im angelsächsischen Raum übernimmt ein Autor wie Malise Ruthven eine entsprechende Funktion.

Einen völlig anderen Bereich bilden westliche Traditionen historischer Forschung zur muslimischen Welt seit dem sechzehnten Jahrhundert, die das Korpus klassischer Texteins Zentrum rücken. Hier zeichnet sich Frankreich durch kontinuierliche Forschungstätigkeit aus, mit einer mehr oder weniger ungebrochenen orientalistischen Tradition von den 1540er Jahren bis in die Gegenwart, von Guillaume Postel über Antoine Galland und Silvestre de Sacy bis hin zu Louis Massignon, Jacques Berque und ihren heutigen Nachfolgern.1 In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts kamen aus der deutschen und österreichischen Forschung wegweisende Arbeiten protestantischer und jüdischer Gelehrter wie Julius Wellhausen und Ignaz Goldziher.2 Im dritten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts stammten die innovativsten Ansätze von Historikern aus England – John Wansbrough, Patricia Crone, Michael Cook, Martin Hinds –, ehe sich der Schwerpunkt der angelsächsischen Forschung in die Vereinigten Staaten verlagerte.3 Die beherrschende Disziplin eines solchen Orientalismus war, egal wo, meist die Philologie, die als stark spezialisierte und unzugängliche Geisteswissenschaft galt. Seit einigen Jahren ermöglichen methodologische Fortschritte in der Erforschung altarabischer und anderssprachiger Texte eine immer anspruchsvollere Quellenkritik, was diesen Forschungsbereich von der Betrachtung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen und politischer Ereignisse absetzt.

Die Arbeit des Historikers Suleiman Mourad illustriert diese Fortschritte. Ende der sechziger Jahre in einer einfachen sunnitischen Familie in den Bergen des Südlibanon zur Welt gekommen, erlebte er in seiner Jugend die israelische Invasion und den libanesischen Bürgerkrieg. Mourad studierte an der Amerikanischen Universität Beirut zu einer Zeit, da die meisten Studenten Stipendien erhielten und es auf dem Campus so gut wie keine religiös motivierten Spaltungen gab. Drei seiner Dozenten waren in Palästina geboren (in sunnitischen und arabisch-orthodoxen Familien), ein Libanese stammte aus einer der ersten protestantischen Familien des Landes. Suleiman Mourad verfasste seine Master-Arbeit über die frühen arabischen Eroberungen, betreut von dem Historiker Tarif Khalidi, der den, wie er es formulierte, »islamischen Triumphalismus« ablehnte. Im Jahr 1996 lud die Universität Yale Mourad ein, dort zu promovieren. In Yale stürzte er sich in Sprachkurse – Syrisch, Persisch, Deutsch –, die er an der Amerikanischen Universität Beirut nicht belegt hatte, und in das Studium der Religionen: Islam und Mystik, das Neue Testament und das frühe Christentum. Sechs Jahre später erhielt er einen Lehrauftrag in Vermont, und heute ist er Professor für Religionswissenschaft am Smith College in Massachusetts.

Aus seiner Doktorarbeit ging sein erstes Buch hervor, eine kritische Untersuchung berühmter Texte, die Al-Hasan al-Basri zugeschrieben werden, einem der wichtigsten muslimischen Denker aus der Generation nach Mohammed; darin geht Mourad auch auf Umstände seines Lebens ein und zeigt auf, dass diese Texte – unter anderem der bekannte Brief an den mächtigen Umayyaden-Kalifen Abd al-Malik (der die Zerstörung des Felsendoms in Jerusalem befahl) – lange nach seinem Tod verfasst wurden, um spätere theologische Positionen zu legitimieren.4 Seither hat er als maßgeblicher Vertreter der Mediävistik richtungsweisende Studien veröffentlicht: über die Einflechtung von Legenden um Maria und Josef in frühe islamische Texte, über die hermeneutischen Methoden der Koran-Exegese durch die Gelehrten der Mutazila unter den Abbasiden sowie über die Entwicklung Jerusalems zum wichtigsten Ort der religiösen Vorstellungswelt des Islams.5 Jüngst wirkte er als Co-Autor an einer maßgeblichen Studie zum historischen Umfeld des zwölften Jahrhunderts mit, als das Dschihad-Gebot zur uneingeschränkten Pflicht umgedeutet wurde, nicht nur gegen Kreuzritter und Mongolen in den Kampf zu ziehen, sondern auch gegen die schiitische Fatimidenherrschaft in Ägypten und andere Muslime.6 Derzeit untersucht er Gegenströmungen der Toleranz im Aufeinandertreffen der muslimischen und der christlichen Welt im Nahen Osten des Spätmittelalters. Dies ist der cursus eines Historikers, der mit seiner Arbeit in der überaus anspruchsvollen Tradition einer in die Moderne überführten philologischen Gelehrsamkeit steht.

Es fällt jedoch auf, dass Mourad als Historiker durchaus nicht entrückt ist von den jüngeren oder aktuellen Umbrüchen in der arabischen und islamischen Welt, sondern dass er die politische und intellektuelle Landschaft der Gegenwart bestens kennt. Es ist diese Kombination, die Mourad auszeichnet und die er in diesem Buch so aufschlussreich zur Entfaltung bringt. Denn hier wird die Trennung zwischen historischen und gegenwärtigen, philologischen und sozialen Auffassungen des Islams in Westasien und Nordafrika, die Trennung zwischen Literaturen, die sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart befassen, aufgelöst zugunsten einer kohärenten Betrachtung. Ausgehend von der Entstehung des Korans und seiner Beziehung zu jüdischen und christlichen Formen des Monotheismus, wendet er sich der Literatur über das Leben Mohammeds zu und beleuchtet die frühen arabischen Eroberungen und die Streitigkeiten über die Nachfolge für das Kalifat, die später die Spaltung zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam herbeiführten. Gegensätzliche mittelalterliche Interpretationen des Dschihad-Gebotes von der Zeit der Abbasiden bis zu den Kreuzzügen leiten über in eine Analyse der modernen salafistischen Glaubenslehren. Die Geschicke der reformatorischen Moderne einerseits und der Neubelebung des Wahhabismus in jüngster Zeit andererseits, die theologische Einordnung von Bewegungen wie den Muslimbrüdern (Ichwan) in Ägypten oder der AKP in der Türkei, die Ursachen für die augenfällig unterschiedliche politische Entwicklung der Schia in Syrien und im Irak, die Faktoren, aufgrund derer Nordafrika von einer einst vorherrschend schiitischen zu einer homogen sunnitischen Region wurde, der Niedergang der klassischen islamischen Rechtsschulen, die Zunahme religiöser Feindseligkeiten im gesamten Nahen Osten seit der iranischen Revolution: All diese Fragen und mehr beleuchtet Suleiman Mourad in unnachahmlicher Ruhe, Klarheit und Unparteilichkeit.

Das ausgedehnte Gespräch,7 das den Rahmen für diese Ausführungen bietet, entspann sich während eines gemeinsamen Aufenthalts am Institut d’Etudes Avancées in Nantes, wo Gelehrte aus aller Welt und besonders aus dem globalen Süden die einmalige Gelegenheit erhalten, Fächer- und Ländergrenzen überschreitend voneinander zu lernen. Unzählige Gespräche über verschiedenste Themen gingen kreuz und quer über die Tische hinweg. Im Laufe eines unvergesslichen Jahres entfachten alle möglichen Fragen die Neugier der Umsitzenden. Dieses Buch ist eine Frucht dieser Neugier. Ihre Form verdankt es dem genius loci und der Herzlichkeit und Intensität des intellektuellen Austausches, den er in Gang setzte. Ohne das Institut hätten die in diesem Buch gestellten Fragen nie Gestalt annehmen, noch hätten die Antworten dem Geiste, der an diesen Abenden an der Loire herrschte, so lebhaft Ausdruck verleihen können.

Perry Anderson

1

Der Koran und Mohammed

PERRY ANDERSON: Wann wurde der Koran vermutlich verfasst, und wie viele Schichten weist seine Entstehung auf?

SULEIMAN MOURAD: Der islamischen Überlieferung zufolge wurde der Koran dem Propheten Mohammed über einen Zeitraum von zweiundzwanzig Jahren zwischen 610 und 632 unserer Zeit offenbart; Muslime glauben, dass Mohammed des Lesens unkundig war und daher den Koran nicht selbst niedergeschrieben haben kann. Er lernte ihn auswendig, wie auch einige seiner Anhänger Teile auswendig lernten oder aufschrieben. Als Mohammed 632 starb, gab es noch keinen Kodex im eigentlichen Sinne. Verschiedene Schüler hatten unterschiedliche Varianten aufgeschrieben, und so wurde es um das Jahr 650 notwendig, eine kanonische Version zu erstellen, denn der damalige Kalif Uthman fürchtete, die Unterschiede könnten Spaltungen unter den Muslimen herbeiführen. Daher berief er eine Kommission ein, die einen für alle Gläubigen verbindlichen Standardtext festlegen sollte. So lautet die traditionelle Darstellung dessen, wie der geschriebene Text zustande kam, der Mitte des siebten Jahrhunderts kursierte. Aus dem siebten Jahrhundert selbst haben wir so gut wie keine schriftlichen, sondern nur mündliche Überlieferungen, deren Authentizität angesichts der vielen Widersprüche schwer zu verifizieren ist – das erschwert die Forschungsarbeit enorm. Es gibt ein paar wenige Ausnahmen, etwa die Inschrift im Felsendom von Jerusalem (erbaut 692), die einige Verse aus dem Koran dokumentiert (zum Beispiel 4:171–172).

Wenn wir uns als Historiker mit dem Koran befassen, fällt uns als Erstes auf, dass es sich um einen sehr schwierigen Text handelt. Er ähnelt nicht der jüdischen Bibel und lässt sich auch nicht mit den Evangelien vergleichen. Der Koran erzählt uns nicht die Geschichte einer Person oder eines Volkes. Die jüdische Bibel enthält die Geschichte der Israeliten; die Evangelien berichten vom Wirken Jesu. Der Koran erzählt nicht die Geschichte der Araber oder das Wirken Mohammeds. Sein einzigartiger narrativer Charakter stellt den Historiker vor besondere Probleme. Wenn wir nur den Koran lesen, erfahren wir sehr wenig über Mekka, Mohammed und Arabien. Die Muslime haben den Koran immer zusammen mit den Büchern über das Leben Mohammeds gelesen und so den Korantext mit detaillierten historischen Schilderungen angereichert und erklärt. Das ist in dieser Form einzigartig und wird im Koran auch so dargestellt. Abgesehen von einigen Versen, die Rechtsfragen behandeln, neigt der Koran zur Kürze und setzt voraus, dass die Geschichten, Ereignisse und Themen, auf die er Bezug nimmt, seinem unmittelbaren Publikum bereits bekannt sind.

Moderne Historiker sind der Auffassung, dass der Koran von einem Menschen verfasst wurde, aber gab es nur einen Autor oder mehrere Autoren? Lange Zeit gingen die Forscher auf diesem Gebiet – der einflussreichste unter ihnen war John Wansbrough (gest. 2002) – davon aus, dass der Koran Ende des achten oder Anfang des neunten Jahrhunderts vollendet wurde. Wansbroughs Sicht gilt jedoch als widerlegt, seit man frühe Inschriften und jüngst auch Teilmanuskripte des Korans fand, die sich auf das späte siebte oder frühe achte Jahrhundert datieren lassen. Aus Material und Schrift können wir schließen, wann diese frühen Manuskripte entstanden. So verwendete man in der muslimischen Welt Mitte des achten und Anfang des neunten Jahrhunderts überwiegend Papier. Leder, Papyrus und Pergament kamen aus der Mode, weil sie viel unpraktischer waren. Auch die Schrift spielt eine Rolle. Im siebten Jahrhundert waren die Hauptschriften Kufi (benannt nach der Stadt Kufa im Irak) und Alt-Hidschasi (benannt nach der westarabischen Region Hedschas, in der Mekka und Medina liegen). Später entwickelten Muslime neue Schriften und gaben diese beiden auf. Daher müssen in Kufi oder Alt-Hidschasi verfasste Manuskripte, zumal auf Papyrus oder Pergament, aus dem siebten oder achten Jahrhundert stammen.

Wo wurden diese Manuskripte gefunden?

Bei der Renovierung der Großen Moschee in Sanaa entdeckte man Anfang der 1970er Jahre einen geheimen Dachboden mit einer Unmenge alter Manuskripte. Nach nahöstlicher Tradition (die auch für Christen und Juden gilt) darf man ein Manuskript, das den Namen Gottes oder den Namen des Propheten trägt, nicht zerstören. Am besten schafft man es beiseite, oder man vergräbt es, so geschehen mit den Schriftrollen von Qumran oder den Nag-Hammadi-Schriften. Man will sie nicht einfach nur verstecken, sondern vor allem verhindern, dass sie beschädigt werden, was einer Beleidigung Gottes gleichkäme. Das war in Sanaa der Fall. Eine deutsche Wissenschaftlerin durfte die Funde untersuchen, hat aber aus Angst vor möglichen politischen Folgen kaum etwas darüber veröffentlicht; offenbar drohte die jemenitische Regierung Deutschland mit Konsequenzen für den Fall, dass etwas Unangenehmes ans Licht kommen sollte. Von den wenigen alten Pergamenten des Konvoluts, die auf Alt-Hidschasi verfasst sind, wissen wir, dass sie auf das späte siebte oder frühe achte Jahrhundert zurückgehen, und in ihnen ist bereits eine maßgebliche Abweichung von der kanonischen Version des Korans erkennbar. Nach traditioneller Sicht weisen die verschiedenen Versionen, die Kalif Uthman um das Jahr 650 zusammentrug, keine gravierenden Unstimmigkeiten auf. Wir wissen aber, dass beliebte Koranversionen ohne größere Abweichungen vom kanonischen Text in bestimmten Regionen – Irak oder Syrien – aus lokalem Stolz heraus bis ins achte Jahrhundert bewahrt wurden. Das jemenitische Manuskript jedoch enthält eine sehr gravierende Divergenz. Im kanonischen Koran wird in einem Vers der Imperativ »sag« (qul) verwendet – Gott erteilt Mohammed einen Befehl –, wohingegen es im Text von Sanaa in demselben Vers »er sagte« (qala) heißt. Das lässt vermuten, dass einige frühe Muslime den Koran als Wort des Propheten betrachtet haben könnten und seine überlieferten Worte erst später zum göttlichen Befehl wurden. Die Länge einiger Kapitel schwankt zudem beträchtlich.

Auch eine andere frühe Abweichung ist nachgewiesen. Im Felsendom sind in Inschriften drei Stellen festgehalten, die sich auf Jesus beziehen, aus drei verschiedenen Teilen des Korans (3:18–19, 4:171–172 und 19:33–36). Im Original von Vers 19:33 sagt Jesus: »Und Frieden war mit mir am Tage meiner Geburt und wird es am Tage sein, da ich sterbe, und am Tage, da ich zum Leben erweckt werde!«8 Die Inschrift im Felsendom lautet jedoch: »Friede sei mit Jesus am Tage seiner Geburt, am Tage, da er starb, und am Tage, da er zum Leben erweckt wurde.« Der Übergang von der ersten zur dritten Person ist keine wesentliche Veränderung, könnte aber eine Variante des offiziellen Korans sein.

Wie sieht es mit den internen Schichten in der kanonischen Fassung aus?

Diese Frage wirft eine größere Problematik der textuellen Zusammensetzung des Korans auf. Die mekkanischen Verse – die dem Glauben nach zwischen 610 und 622 in Mekka offenbart oder verfasst wurden – unterscheiden sich erheblich von denen, die zwischen 622 und 632 in Medina offenbart oder verfasst wurden. Das eine Buch enthält zwei sehr gegensätzliche Stile. Für den einen ist der Reim von zentraler Bedeutung. Die Verse sind kurz, mehrdeutig und weisen zahlreiche Bezüge auf, die niemand recht versteht. Einige dieser Verse, besonders die sehr frühen, die heute am Ende des Korans stehen, hatten möglicherweise liturgische Funktion: Ein Priester sprach Worte, auf die die Gemeinde ritualhaft antwortete. Die mekkanischen Teile des Korans können wir mit dem Begriff unitarisch beschreiben: Die Verse fordern einen strikten Monotheismus, in dem Christen und Juden nicht als Außenseiter gelten und Abraham als gemeinsamer geistiger Urvater beschworen wird für alle, die den einen Gott verehren. Das ist nachvollziehbar, denn Mohammed bekleidete in seiner Zeit in Mekka noch keine Führungsposition. Doch er konnte Anhänger gewinnen, indem er gegen den Polytheismus arabischen Vorbilds zu Felde zog – nicht das Heidentum, das der Koran verachtet, sondern einen Polytheismus mit einem Hauptgott (dem Gott des Monotheismus), in dem die Anbetung weiterer Gottheiten als Vermittlungsinstanzen (Götzen von Mekka) oder als Teilhaber (Dreifaltigkeit) die Gottesverehrung pervertiert. In diesem Sinne ist der Gott des Korans eine sehr biblische Gottheit – ein eifersüchtiger Gott, der auf keinen Fall neben andere gestellt werden will und fordert, dass wir ihn, wenn wir ihn verehren wollen, schon ausschließlich verehren müssen, und wenn wir das nicht tun, übt er Rache.

Als Mohammed dagegen nach Medina kommt, ist er kein einfacher Gläubiger mehr, sondern Prophet und Staatsmann: Religionsführer seiner Anhänger und politischer Anführer in einer Stadt, in der einige Einwohner nicht seiner religiösen Gemeinschaft angehören. In Medina leben Juden, Polytheisten und Neubürger aus Mekka, die sich Muslime nennen. In Mekka war jede mit jedem verwandt – dort lebten Mitglieder eines Stammes, der Quraisch, und die mussten ihre Probleme unter dem Stammesrecht lösen. In Medina gab es unterschiedliche Stämme ohne Verwandtschaftsbeziehungen mit verschiedenen Religionen in verschiedenen Gemeinschaften. Als Mohammed an die Spitze all dieser Gruppen tritt, nimmt der Koran daher plötzlich eine andere Form an. Er verliert das Poetische, wird prosaischer, konzentriert sich auf rechtliche Schranken und juristische Fragen und schlägt einen aggressiveren Ton gegenüber anderen Monotheisten und einen deutlich aggressiven Ton gegen den Polytheismus an.

Sind die beiden Textkomponenten klar voneinander zu unterscheiden?

Moderne Forscher vertreten heute die traditionelle Vorstellung, nach der Teile des Korans mekkanisch, andere medinensisch sind, obwohl wir nicht alles hundertprozentig zuordnen können. So wurden mehrere einzelne Verse aus der Offenbarung in Mekka in Kapitel eingefügt, die in Medina offenbart wurden, und umgekehrt. Und weil uns keine klare Chronologie der Verse vorliegt, verheißt auch der Versuch, den Koran in genauer chronologischer Reihenfolge zu ordnen, keinen Erfolg. (Zwei Orientalisten, Theodor Nöldeke, gest. 1930, und Richard Bell, gest. 1952, haben das versucht und sind an ihrer eigenen Inkohärenz gescheitert.) Die Sprache des Textes weist eine deutliche Entwicklung auf; einige Wörter verschwinden vollständig, während andere neu auftauchen. Im Koran sind auch ein paar grundlegende grammatikalische Fehler zu beobachten: Manchmal beginnt ein Satz im Singular und endet im Plural (zum Beispiel 9:49–50), oder zwei Partikel sind regelwidrig miteinander verbunden (zum Beispiel 3:178), oder in der Deklination stimmen die Vokale nicht (zum Beispiel 22:78). So jedenfalls die streng linguistische Betrachtung. Traditionell gesehen aber sind das keine Fehler, da der Koran als Wunder gilt.

Man muss hier deutlich darauf hinweisen, dass sich die Kommission, die um 650 den offiziellen kanonischen Text kompilierte, für eine abnehmende Reihenfolge entschied, also mit dem längsten Kapitel begann und mit dem kürzesten endete. An den Beginn stellte man ein kurzes Eröffnungskapitel – in den ersten Jahrhunderten waren sich die Gelehrten uneinig, ob es überhaupt zum Koran gehört.

Gibt es im Text Anachronismen, und wenn nicht, würde das eine frühe Datierung stützen?

Wenn der Koran aus dem achten oder neunten Jahrhundert stammte, gäbe es philologische Spuren. Nehmen wir den berühmten »Wandteppich der Apokalypse« in Angers, der aus dem vierzehnten Jahrhundert stammt und Szenen aus der Offenbarung des Johannes zeigt: Auf einem Element steht ein siebenköpfiger Löwe mit der französischen Lilie (für Frankreich) einem siebenköpfigen Drachen gegenüber (für England). Hier wird der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England in eine Vision zurückprojiziert, die 1300 Jahre früher entstand, und damit soll ausgedrückt werden, dass sich Frankreich auf der Seite Gottes und England auf der Seite des Teufels befindet. Wenn der Koran später entstanden wäre, würden sich darin einige der erbitterten Streitigkeiten wiederfinden, die nach Mohammeds Tod unter den Gläubigen ausbrachen, die großen theologischen Spaltungen und mit Sicherheit auch die politischen Konflikte um Mohammeds Nachfolge. Doch der Koran sagt nichts über die Nachfolge oder spätere Spaltungen. Daher gibt es keinen Zweifel, dass der Koran, den wir heute vor uns haben, derselbe ist, der 650 entstand, und dass er auch stark dem Koran ähnelt, der dem Propheten Mohammed, wie er seinen Anhängern erklärte, offenbart worden war.

Einen Vorbehalt gilt es allerdings zu bedenken. Im arabischen Alphabet haben viele Buchstaben dieselbe Form. Als Laute unterscheiden sie sich entweder durch den Vokal, den sie transportieren, oder durch die Punkte. Das war jedoch im siebten Jahrhundert noch nicht der Fall. Vokale und Punkte waren für die Schrift noch nicht erfunden worden. So wurden beispielsweise die drei Konsonanten Dschim (image), Ha (image) und Cha (image) – und entsprechend andere Zweier- oder Dreiergruppen – alle mit demselben Buchstaben notiert (image). Auch mehrere andere Buchstaben, die konsonantisch nichts miteinander zu tun haben – das Ba hat einen Punkt unten (image), das Ya zwei Punkte unten (image) und das Nun einen Punkt oben (image) –, sehen ohne Punkte alle gleich aus, besonders am Beginn und in der Mitte eines Wortes. Bei einem Wort mit vier Buchstaben führt das, wenn wir jeden Buchstaben auf zweierlei oder dreierlei Art lesen, zu einem verwirrenden Durcheinander. Manchmal erschließt sich die Bedeutung aus dem Kontext, sodass man erraten kann, wie ein Buchstabe ohne Punkte zu lesen ist. Aber häufig ist das nicht der Fall. Eine wichtige Differenz zwischen Sunniten und Schiiten dreht sich beispielsweise um einen Vokal und ein Häkchen. In einem Vers des Korans (3:110) lässt sich ein Wort entweder als umma lesen, also Gemeinschaft, oder als a’imma, Imame, und deshalb kommt für die Sunniten »Gesegnet sei die Umma« und für die Schiiten »Gesegnet seien die Imame« heraus – womit sich die gesamte Dynamik des Kapitels verschiebt, das für die Schiiten die Institution des Imamats legitimiert, während es für die Sunniten die Gemeinschaft bevollmächtigt, selbst zu entscheiden, wer sie regiert.

Nach Mohammeds Tod wurde der Koran von Menschen gelesen, die Arabisch gelernt hatten, es aber nicht als Muttersprache beherrschten und die mündlichen Überlieferungen des Korans nicht kannten. Jeder schlug für bestimmte Wörter eine andere Lesart vor. Daher wurde um das Jahr 700 wieder eine Kommission eingesetzt – ein Beitrag der Umayyaden-Dynastie – und damit beauftragt, Vokale und Punkte einzufügen und so den Text festzulegen, damit ihn jeder, der den mündlich tradierten Koran nicht kannte, zur Hand nehmen und lesen konnte. So wird das Dschim nun mit einem Punkt unter dem Buchstaben notiert, das Ha hat keinen Punkt, das Cha trägt einen Punkt über dem Buchstaben.

Aber jede Seite gelangte zu einer einzigen anerkannten Version?

Nein, zur Zeit der Kodifizierung unter den Umayyaden hatten sich bereits viele verschiedene Lesarten des Korans etabliert und verbreitet. Um nicht mit der Festlegung einer Lesart eine Spaltung der Muslime herbeizuführen, legten die Gelehrten im achten Jahrhundert daher sieben Lesarten als kanonisch fest und duldeten darüber hinaus weitere, weniger wichtige Varianten. Seither gibt es für viele Wörter im Koran zahlreiche kanonisch sanktionierte Lesarten.

Ein eifriger junger Muslim, der den Koran liest und ihn richtig verstehen will, braucht demnach einen Anmerkungsapparat, der ihm die Varianten erklärt?

Ja und nein. Die Texte werden (je nach Land) in einer Lesart gedruckt, damit die Kinder sie in der Koranschule leichter auswendig lernen können. Aber wenn wir den Text richtig analysieren und lehren wollen, müssen wir uns auf dem Fachgebiet der Exegese mit den Varianten befassen. Daraus entwickelte sich eine Wissenschaft: Jeder Koranlehrer muss alle Varianten kennen. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erstellte eine Kommission in Ägypten einen Koran für moderne Muslime mit dem Ziel, die Welt des Islams zu einen. Diese massenhaft gedruckte Version kam so gut wie überall in Gebrauch, und so verblasste in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein für die verschiedenen Lesarten des Korans. In dieser Hinsicht verstehen die meisten Muslime heute den Islam nicht korrekt, denn einige können den Koran zwar lesen, sind sich aber nicht bewusst, wie er offenbart wurde und wie er gelesen werden sollte.

Wenn Sie sagen, die Leute könnten ihn lesen: Das Arabische hat doch seit dem siebten oder achten Jahrhundert sicher viele Veränderungen durchlaufen?

Durchaus. Für einen normalen Arabisch sprechenden Menschen ist heute aus dem Koran nur wenig verständlich. Es handelt sich auch nicht um klassisches Arabisch. Die Sprache des Korans ist teilweise der Dialekt Mekkas, teilweise der Dialekt anderer Stämme jener Zeit. Sie hat viel mit der vorislamischen Dichtung des späten sechsten und frühen siebten Jahrhunderts gemein: bildliche Ausdrücke, Bezüge, Metaphern, Redewendungen, die Kürze der Worte. In einem solchen Gedicht konnte über vierundneunzig Zeilen ein Pferd heraufbeschworen und bei jeder Erwähnung mit einem anderen Wort bezeichnet werden – unglaublicherweise wird für das Pferd kein Wort zweimal verwendet. Diese Dichtung wurde nicht schriftlich fixiert, doch ab dem achten Jahrhundert begannen die Gelehrten sie aufzuschreiben, um darüber den Koran zu erklären. Das klassische Arabisch dagegen wurde im achten Jahrhundert im Irak entwickelt, vorwiegend von persischen Geistlichen und Beamten, die ein von Arabern beherrschtes Reich verwalteten. Da sie die Sprache lernen mussten, verfassten sie die ersten Grammatiken und Wörterbücher, die es vorher noch nicht gab. Das klassische Arabisch, das ja in einem völlig anderen Umfeld entstand, verhilft uns daher für sich allein nicht dazu, den Koran zu verstehen. Das moderne Standard-Arabisch ist wieder etwas völlig anderes. Es ist eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, entwickelt von einer Kommission in Ägypten als eine Sprache, die in der Schule gelehrt werden konnte, um eine panarabische – nicht islamische – Einheit zu befördern.

Der Koran wird häufig als Höhepunkt einer monotheistischen Tradition charakterisiert, die eine deutlich erkennbare Schichtung jüdischer und christlicher Einflüsse aufweist. Stimmt das?