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Impressum
© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-813-3
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Roy Palmer

Zu zäh zum
Sterben

Kein Seewolf gibt auf und Hasard erst recht nicht …

„Hasard ist tot!“

Keiner sprach es aus, aber alle dachten es, obwohl die Erkenntnis ungeheuerlich, ja gleichsam lähmend und vernichtend war: Es gab keine Hoffnung mehr für den Seewolf. Keiner der Männer auf der „Isabella IX.“ oder der Mitglieder des Bundes der Korsaren glaubte noch daran, daß es eine Überlebenschance für ihn gab – von Ben Brighton, Big Old Shane, Ferris Tucker und Dan O’Flynn bis hin zu den Zwillingen, die ihren Schmerz hinter steinernen Mienen verbargen. Er war ertrunken – oder die Haie hatten ihn zerrissen. Es war endgültig: Tote kehren nicht zurück …

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Mit einem unterdrückten Stöhnen flog Hasard außenbords. Die Besanrute hatte seinen Brustkorb getroffen. Er hatte das Gefühl, zerquetscht zu werden. Seine Lungen schienen eingeklemmt zu sein, er hatte nicht mehr die Kraft, zu schreien und konnte nicht mehr atmen. Eine unsichtbare Macht schien ihn vom Deck seines Schiffes zu entführen. Er stürzte in einen wild kreisenden, schwarzen Sog, der ihn in unendliche Tiefen riß.

Er nahm kaum wahr, wie die Fluten über ihm zusammenschlugen. Alles schien in tiefster Finsternis zu versinken, jedes Gefühl erstarb. Die Schmerzen klangen ab und wichen einem trägen Gefühl der Erlösung und Sorglosigkeit.

Genau dies war der kritischste, gefährlichste Punkt. Hasard drohte zu ertrinken, aber er spürte nicht, daß er Wasser schluckte. Sein Körper drehte sich im Wasser, die Arme und Beine waren bewegungslos wie die einer Gliederpuppe. Er drohte, immer tiefer abzusinken, verlor die Besinnung und war seinem Schicksal ausgeliefert.

Plötzlich aber setzte doch eine instinktive Abwehr ein. Er begann, knappe, zuckende Schwimmbewegungen zu vollführen, die ihm etwas Auftrieb verliehen. Das Salzwasser drang in seine Atemwege ein, er fing an, zu spucken und zu husten, schluckte beinah noch mehr Wasser und hatte keine Luft mehr. Er krümmte sich, arbeitete heftiger mit den Armen und Beinen und riß die Augen weit auf. Die Gefahr, ohnmächtig zu werden, war gebannt. Aber die stechenden Schmerzen in seinem Brustkorb brachten ihn fast um.

Hinzu kam eine aufsteigende, würgende Übelkeit, die ihm ebenfalls zuzusetzen begann. Er war kaum noch Herr seiner Bewegungen. Etwas schien an seinen Gliedmaßen zu zerren und ihn gefangenzusetzen und zu paralysieren. Wieder drehte er sich, und ein tosender Strudel griff nach seinem Kopf. Er glaubte, den Verstand zu verlieren.

Er spürte kaum, wie sein Kopf durch die Wasseroberfläche stieß. Noch war er wie gelähmt und nahezu unfähig, zu atmen. Der übermächtige Schmerz in seinem Brustkorb schien ihn zerreißen zu wollen. Noch einmal ging er unter, schluckte Wasser, schoß wieder hoch und spuckte es hustend aus. Japsend schöpfte er ein wenig frische Luft und trat Wasser, um zu verhindern, daß er erneut wegsackte.

Nach wie vor befand er sich in einem Zustand halber Betäubung, so daß er immer noch nicht die Kraft und den Willen zu einer Reaktion hatte. Hätte er jetzt um Hilfe gerufen, wäre seine Donnerstimme nicht zu überhören gewesen. Aber er blickte nur halb irritiert, halb verständnislos um sich und versuchte, durch ständige Arm- und Beinbewegungen ein erneutes Abgleiten in die Tiefe zu verhindern.

Wer unvermutet ins Wasser fliegt, der steht unter einer Art Schockwirkung, die entweder Lähmung oder wilde Panik hervorruft. In dieser Situation ist es sogar leicht möglich, daß ein Mann einen Herzanfall erleidet und ihm erliegt.

Hasard vermochte einen Anflug aufsteigender Panik zwar zu bezwingen, aber er war unfähig, die Männer der „Isabella“ zu alarmieren. Er trieb ab, war allein und konnte auf keine Hilfe mehr hoffen, hier, am späten Nachmittag des 24. Juni 1594 nördlich der Bahia de Nipe an der Nordostküste von Kuba. Es gab keine Rettung.

Er konnte nur keuchen und nach Luft ringen. Sonst war er vollauf damit beschäftigt, sich durch paddelnde Armbewegungen und stetige Beinarbeit über Wasser zu halten. Was er tat, geschah nach wie vor eher unbewußt. Die Schmerzen und die Übelkeit wollten nicht nachlassen, rote und schwarze Schleier schienen vor seinen Augen zu wallen.

Farbige, fallende Nebelschwaden – nur undeutlich konnte er die „Isabella IX.“ vor sich erkennen. Sie schien in einer anderen Sphäre zu segeln, fern und unerreichbar. Fast war er versucht, die Hand nach ihr auszustrecken, aber es blieb bei dem Verlangen, er drohte unterzugehen. Es kostete ihn seine ganze Kraft, wenigstens mit dem Kopf über Wasser zu bleiben, um ständig Luft schöpfen zu können.

Etwas anderes schob sich in sein Blickfeld: gigantische Schatten. Sie wirkten wie unfertige, angedeutete Gemälde, Silhouetten vor dem blassen Himmel, die jeden Augenblick verwischen wollten. Täuschte er sich? Gaukelte ihm sein verwirrter Geist dieses Bild nur vor – oder existierte es wirklich?

Flüche und Gebrüll ertönten, spanische Wortfetzen schallten zu Hasard. Zwei Kriegsgaleonen glitten auf ihn zu, eine war wie zum Greifen nahe. Was war geschehen? Er versuchte, sich an die Ereignisse zu erinnern, aber es fiel ihm nicht leicht.

Doch allmählich fügte sich aus Bruchstücken und Fetzen wieder eine Vorstellung zusammen. Die „Isabella IX.“ und die „Le Vengeur III.“ hatten die Verfolgung des spanischen Kriegsverbandes aufgenommen, nachdem die Schiffe des Bundes der Korsaren im Nebel den Gegner verfehlt hatten.

Eine rasche Umkehr erfolgte, und die „Isabella“ und die „Le Vengeur“ als die eindeutig schnellsten Schiffe hatten die Spanier als erste eingeholt. Zwei Schiffe gegen neun schwer armierte Kriegssegler – da stand ihnen einiges bevor.

Auch die Spanier sichteten ihren Feind, und drei Galeonen und eine Karavelle gingen auf Gegenkurs und segelten ihnen entgegen. Sie sollten die „Isabella“ und Ribaults Schiff aufhalten, während der Restverband mit östlichem Kurs weiter in Richtung Schlangen-Insel segelte.

Hasards Befehl lautete, nach Norden und Süden auszuweichen, die vier Kriegsschiffe zu umgehen und leerlaufen zu lassen, wieder auf den Verband der fünf anderen Kriegsschiffe zuzustoßen und dann mit aller Härte zuzuschlagen. Ribault fiel nach Süden ab, da er die Leeposition hatte. Der Seewolf hingegen brachte die „Isabella“ hoch an den Wind, der aus Nordosten wehte.

Sofort reagierte der Gegner, und zwei Kriegsgaleonen luvten an, um die „Isabella“ zu fassen. Die dritte Galeone und die Karavelle fielen mit der Absicht ab, den Kurs der „Le Vengeur“ zu kreuzen. Beide Gegnergruppen steuerten Kollisionskurs.

Ribault gelang es dennoch, seinen beiden Gegnern zu entwischen, indem er plötzlich hochluvte und hinter ihnen auf den alten Kurs durchbrach. Aber sie ließen sich nicht hinters Licht führen und drehten nach.

Der Seewolf und seine Männer trachteten danach, durch plötzliches Abfallen am Gegner vorbeizustoßen, aber der fiel, wenn auch mehr aus Zufall, zu diesem Zeitpunkt ebenfalls ab. Was sich aus dieser Situation ergab, war ein Passiergefecht, in dem die „Isabella IX.“ die Luvposition hatte. Mit Volltreffern stieg sie in den Kampf ein, aber dann feuerten beide Seiten gleichzeitig aufeinander, und es gab Treffer bei den Spaniern und bei den Arwenacks.

Der „Isabella“ wurde die Besanrute weggeschossen. Sie wischte mit Drall nach Backbord über das Achterdeck und nahm Hasard mit, der sich zu spät abgeduckt hatte. Wie ein Geschoß wurde er nach Luv außenbords katapultiert, und keiner seiner Männer bemerkte es in diesem Augenblick, denn ihre volle Konzentration war auf den Gegner gerichtet.

Im übrigen herrschte Wuhling: Auf der Kuhl schrie Carberry nach dem Kutscher, weil Sam Roskill flach an Deck lag. Ein Holzsplitter hatte ihm den halben Rücken aufgerissen. Auf dem Achterdeck war Ben Brighton besinnungslos zusammengebrochen.

Pulverqualm lag auf allen Decks, die Männer husteten und fluchten. Pete Ballie steuerte den Kurs, der die „Isabella“ an den Fünferverband der Spanier führen sollte, und die „Le Vengeur“ folgte ihm bereits, hatte aber den Gegner im Nacken.

Ein Kettenschuß hatte Rack und Toppnanten der Großrah der „Isabella“ getroffen und zum Teil zerschlagen. Doch sie krachte erst an Deck, als Pete Ballie bereits auf dem neuen Kurs lag. Niemand wurde durch diese Spiere verletzt, aber genau in diesem Augenblick registrierte Dan O’Flynn auf dem Achterdeck, daß Hasard fehlte.

Hasard blickte wieder zu der „Isabella“, die jetzt, ohne Besan und Großsegel, nicht mehr viel Fahrt lief und nach Lee driftete. Er glaubte, wie aus weiter Ferne eine Stimme zu vernehmen: Dan, der nach ihm rief.

Hasard wußte nicht, daß seine Männer zunächst wie erstarrt dastanden, dann aber fieberhaft nach ihm Ausschau hielten. Wieder wehten Rufe heran, aber die Suche war zwecklos. Für sie war er verschwunden. In der eintretenden Dämmerung hatten sie weder die nötige Sicht noch die Zeit, nach ihm zu fahnden, denn jetzt war auch wieder der Gegner heran und setzte ihnen mit donnernden Kanonenschüssen zu.

Die erste Galeone war ziemlich stark angeschlagen, aber ihr Kapitän gab trotzdem noch nicht auf. Er wollte es wissen. Verbissen nahm er den Kampf wieder auf, und mit eiserner Hand brachte er Ordnung in die Reihen seiner Männer, die gerade eben die ersten Verletzten geborgen und versorgt hatten. Das Gebrüll wollte nicht abreißen, aber der Capitán schrie lauter als alle anderen und verschaffte sich Gehör. Er ließ halsen und lief hinter der „Isabella“ her.

Die Galeone steuerte direkt auf Hasard zu und schien ihn unter sich begraben zu wollen. In einem Abstand von nur etwa fünf Yards rauschte sie an ihm vorbei – ein beängstigender Koloß. Im Schwell ihrer Bugwelle tanzte er wie ein Korken auf und nieder. Das Wasser schlug wieder über ihm zusammen. Er konnte sich nicht mehr halten, drohte zu ertrinken, schluckte Wasser, erbrach es und kämpfte wieder mit seiner Atemnot.

Jetzt stieg doch Panik in ihm hoch. Aus, dachte er verzweifelt, vorbei, Gott im Himmel, es ist alles aus!

Er tauchte aber doch wieder auf, spuckte das salzige Wasser aus und schöpfte japsend und hustend neue Luft. Die Galeone war an ihm vorbei und segelte, gefolgt von der anderen Galeone, der „Isabella“ und der „Le Vengeur“ nach. Die Wogen glätteten sich. Hasard gelang es, seine Panik wieder zu bezwingen. Allmählich verebbte auch der Schockzustand, er konnte wieder klare Gedanken fassen.

Aber die Schmerzen in seinem Brustkasten blieben, und er war nach wie vor nicht dazu in der Lage, um Hilfe zu rufen. Das Tageslicht schwand jetzt rasch, von einem Moment zum anderen. Neuer Kanonenböller ertönte, Schußblitze zuckten über die See, das Gefecht ging weiter.

Hasard konnte sich wieder in etwa orientieren: Das war südostwärts von seiner Position und gar nicht allzu weit von ihm entfernt. Dort kämpfte die „Isabella“ nun weiter gegen ihren Feind, und seinen Augen bot sich ein schaurig-schönes Bild.

Von Bord der „Isabella“ flogen in rasender Folge Brandpfeile zu den beiden Galeonen hinüber, leuchtende Fanale in der zunehmenden Dunkelheit, die sich gierig durch Holz und Segeltuch fraßen. Gleichzeitig stachen aus den Mündungen der Kanonen grelle Lichtblitze, die den fallenden Vorhang der Nacht zerschnitten, gefolgt vom Wummern und Dröhnen der Pulverexplosionen. Schließlich torkelten Höllenflaschen mit zischenden Lunten durch die Luft, polterten auf die Decks der Spanier und flogen mit ohrenbetäubendem Krachen auseinander.

Zum erstenmal verfolgte Hasard auf Distanz, wie seine Männer kämpften. Er war beeindruckt und besorgt zugleich. Die „Isabella“ wirkte wie ein Feuerspeier, dessen Depots sich nie leerten und dessen Reserven unerschöpflich waren. Aber konnten die Männer es schaffen, gegen zwei Schiffe zu bestehen?

Sehr manövrierfähig war die „Isabella“ zur Zeit keineswegs, sie bewegte sich eher plump. Aber die Männer befanden sich in einem Zustand der Raserei – wegen des Verlustes ihres Kapitäns und wegen der Verletzten, die es in ihren Reihen gegeben hatte. Ihre Berserkerwut verdoppelte ihre Kräfte, sie tobten und fluchten, schossen und brüllten.

Feuer brach auf beiden spanischen Kriegsgaleonen aus, und laufend entstanden durch die Brand- und Pulverpfeile neue Brände. Eine Galeone hatte bereits schwere Schlagseite. Es war jene, die um ein Haar über den Seewolf hinweggesegelt wäre. Gellende Schreie begleiteten die Treffer, die Ferris Tucker mit seinen Pulverflaschen erzielte. Es krachte und donnerte immer noch unablässig – und die Arwenacks waren erbarmungslos.

Dan O’Flynn, der das Kommando über die „Isabella“ übernommen hatte, brachte abwechselnd die Breitseiten zum Einsatz. Inzwischen waren die Spanier zu sehr mit dem Löschen der Brände beschäftigt, um ihrerseits noch zurückfeuern zu können. Das Grauen vor diesem wild um sich schlagenden Gegner schien sie gepackt zu haben, sie vermochten sich gegen die rasenden Teufel nicht mehr zur Wehr zu setzen.

Dieses Geschehen verlieh Hasard plötzlich neue Kraft und die Energie, durchzuhalten. Mühsam begann er zu schwimmen, aber es bereitete ihm große Schwierigkeiten. Er drehte sich auf den Rücken und beschränkte sich auf die Beinbewegungen. Viel war es nicht, es brachte ihn nur schleppend voran. Aber er bildete sich dennoch ein, näher an die „Isabella“ zu gelangen.

Vielleicht kann ich es noch schaffen! Dieser Gedanke durchströmte ihn mit neuer Kraft, und er versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Als er sich einmal umdrehte und wieder Wasser trat, um die Lage zu erkunden, sah er, daß die beiden spanischen Galeonen lichterloh brannten. Für die Kapitäne gab es nur noch eine Chance: Sie mußten die Schiffe aufgeben, denn bald würde das Feuer die Pulverkammern erreicht haben.

In der Tat: Boote wurden von den beiden Galeonen ausgesetzt – soweit sie nicht bereits zerschossen waren. Vier Jollen, mit Männern überfüllt, bewegten sich nach Süden.

Sie fliehen zur Küste, dachte Hasard. Dann drehte er sich wieder auf den Rücken und schwamm weiter.

Aber schon nach kurzer Zeit gab er diese Körperlage wieder auf. Trotz seiner Schmerzen zwang er sich jetzt zum Kraulstil. Noch etwa zehn Kabellängen, dachte er, und wühlte sich durch die Fluten. Der Kampfplatz schien näher zu rücken, und doch war der Abstand immer noch unendlich groß, zu groß für einen Mann, der sich behindert fühlte und sich nicht bewegen konnte, wie er wollte.