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Anette Müller Lutz Müller

Praxis der Analytischen Psychologie

Ein Lehrbuch für eine integrative Psychotherapie

Unter Mitarbeit von Günter Langwieler und Thomas Schwind

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028396-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-028397-8

epub:   ISBN 978-3-17-028398-5

mobi:   ISBN 978-3-17-028399-2

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Inhalt

 

 

 

  1. Einführung
  2. I Essentials der Analytischen Psychologie
  3. 1 Das Primat und die virtuelle Realität der Psyche
  4. 1.1 Die Welt ist eine Projektion des SELBST
  5. 1.2 … und das SELBST ist eine Introjektion der Welt
  6. 1.3 Die Gewissheit der Ungewissheit
  7. 1.4 Mitmenschlicher Dialog ist dennoch notwendig und heilsam
  8. 1.5 Es geht immer vor allem um subjektive »Wahrheiten«
  9. 1.6 Die Psyche kümmert sich nicht um unsere Wirklichkeitskategorien
  10. 2 Das SELBST: das ganze »System Mensch«
  11. 2.1 Ganz vertraut – ganz fremd, ganz nah – ganz fern
  12. 2.2 Ganzheit und das Modell von Ken Wilber
  13. 2.3 Komplexität
  14. 2.4 Transpersonale Aspekte des Selbst
  15. 2.5 Das Mandala als SELBST-Symbol
  16. 3 Psycho-Symbole als Sprache der Seele
  17. 3.1 Vieldimensionalität der Symbole
  18. 3.2 Der fließende Übergang zwischen dem (Psycho-)Symbolischen und dem (Objektiv-)Konkreten
  19. 3.3 Wie findet man geeignete Symbole? Die Symbolisierung
  20. 3.4 Die symbolisierende Einstellung – das symbolische Leben
  21. 4 Polarität und Selbstorganisation
  22. 4.1 Grundpolaritäten des Lebens
  23. 4.2 Der Kreislauf der Natur
  24. 4.3 Selbstorganisation
  25. 4.4 Kompensation und Finalität
  26. 4.5 Stirb und Werde
  27. 4.6 Psychisch geschehen lassen
  28. 4.7 Analyse und Synthese
  29. 4.8 Umkreisung der Mitte, Zentrierung im SELBST
  30. 5 Das Schöpferische
  31. 5.1 Die schöpferische Fähigkeit der Fantasie
  32. 5.2 Die »transzendente Funktion« der Psyche
  33. 5.3 Der schöpferische Wandlungszyklus
  34. 5.3.1 Die Phasen der Kreativität
  35. 5.3.2 Den »Rubikon überschreiten«
  36. 5.3.3 Der therapeutische Wandlungszyklus
  37. 5.3.4 Stufen der therapeutischen Tiefe
  38. Therapeutische Tiefenstufe 1
  39. Therapeutische Tiefenstufe 2
  40. Therapeutische Tiefenstufe 3
  41. 5.3.5 Exkurs: Alchemie und schöpferischer Wandlungsprozess
  42. 6 Die Archetypen
  43. 6.1 Universale Bereitschafts- und Reaktionspotenziale
  44. 6.2 Faszination, Numinosität und Inflation
  45. 6.3 Anzahl der Archetypen
  46. 6.3.1 Allgemeine Psychologie, Ethologie, Biopsychologie und evolutionäre Psychologie
  47. 6.3.2 Linguistik
  48. 6.3.3 Märchen
  49. 6.3.4 Anthropologische Konstanten/Universalien
  50. 6.4 Bedeutung der archetypischen Dimension für die Psychotherapie
  51. 6.5 Bios, Eros, Heros, Logos und Mx: Das Pentaolon-Modell
  52. 7 Das Unbewusste
  53. 7.1 Das Unbewusste ist die überwiegende Funktionsweise aller psychischen Vorgänge
  54. 7.2 Das persönliche Unbewusste und das kollektive Unbewusste
  55. 8 Das Bewusstsein und das Ich-Erleben
  56. 8.1 Die Bedeutung des Bewusstseins
  57. 8.2 Phasen der Bewusstseinsentwicklung
  58. 8.2.1 Die unbewusste-undifferenzierte Phase der Bewusstseinsentwicklung
  59. 8.2.2 Die bewusst-differenzierte Phase
  60. 8.2.3 Die integrative, psycho-symbolische Phase
  61. 8.2.4 Non-Dualität?
  62. 8.3 Das bewusste Ich-Erleben
  63. 8.4 Aspekte des Ich-Erlebens
  64. 9 Individuationsprozess und Persönlichkeitsentwicklung
  65. 9.1 Motivation: Triebe, Libido und Grundbedürfnisse
  66. 9.2 Komplexe als psychische Energiezentren
  67. 9.2.1 Das Assoziationsexperiment
  68. 9.2.2 Komplexe als »via regia« zum Unbewussten und Landkarte der Seele
  69. 9.2.3 Systematik der Komplexe
  70. 9.3 Persönlichkeitseigenschaften und typologische Aspekte
  71. 9.3.1 Introversion, Extraversion und die Big Five
  72. 9.3.2 Psychische Orientierungsfunktionen
  73. 9.3.3 Therapeutische Funktion von Typologien
  74. 9.4 Die Persona, der Schatten und das Gegengeschlechtliche
  75. 9.4.1 Persona: Wie wir uns gerne darstellen
  76. 9.4.2 Der Schatten
  77. 9.4.3 Der innere Mann und die innere Frau: Animus und Anima
  78. 9.5 Die »Große Suche«: Der »heroische« Weg der Individuation
  79. 9.6 Die dialektische Beziehung
  80. 10 Der ganzheitlich-integrative Therapieansatz der AP
  81. 10.1 Ganzheitskonzepte in der Psychotherapie
  82. 10.2 Die Beziehung der AP zur Psychoanalyse
  83. 10.3 Die Beziehung der AP zur Humanistischen Psychologie
  84. 10.4 Die Beziehung der AP zur Kognitiven Verhaltenstherapie
  85. 10.5 Krankheitsverständnis der AP
  86. 10.5.1 Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer und psychosomatischer Symptome
  87. 10.5.2 Explizite Symptombehandlung und implizite Reifungs- und Lernerfahrungen
  88. 10.6 Wirkfaktoren der Psychotherapie
  89. 10.6.1 Bekenntnis, Aufklärung, Erziehung und Verwandlung
  90. 10.6.2 Von Mensch zu Mensch: Therapeutische Beziehung, Übertragung und Gegenübertragung in der AP
  91. 10.6.3 Das Verständnis von Widerstand in der AP
  92. 10.6.4 Kongruenz, Empathie und Akzeptanz: Die Wirkfaktoren Carl Rogers’ im Verständnis der AP
  93. 10.6.5 Jerome Franks Wirkfaktoren und die Position der AP
  94. 10.6.6 Wirkfaktoren der Gruppentherapie nach Irvin Yalom in der AP
  95. 10.6.7 Therapie als individuelle Komposition nach Klaus Grawe und die AP
  96. 10.6.8 Spezifische Wirkfaktoren der AP
  97. II Methoden und Interventionen in der Analytischen Psychologie
  98. 11 Überblick: Das A-bis-H-Schema
  99. 11.1 Sicherer Ort, sichere Beziehung, kreative Einstellung
  100. 11.1.1 Temenos und »Vas hermeticum«
  101. 11.1.2 Kreativität förderndes Verhalten des Therapeuten
  102. 11.2 A: Aktualisieren einer psychischen Thematik
  103. 11.2.1 Klären, intensivieren, verdeutlichen
  104. 11.2.2 Konfrontieren
  105. 11.2.3 Identifizieren, Personifizieren, Dialogisieren
  106. 11.3 B: Betrachten und Umkreisen einer psychischen Problematik
  107. 11.3.1 Die freie Assoziation
  108. 11.3.2 Amplifikation
  109. 11.3.3 Meditation und Kontemplation
  110. 11.3.4 Focusing
  111. 11.4 C: Creieren, Fantasieren, Imaginieren, Träumen, Spielen, Gestalten
  112. 11.4.1 Die Kraft der Fantasie und die Aktive Imagination
  113. Günter Langwieler
  114. 11.4.2 Die Praxis der Aktiven Imagination
  115. Günter Langwieler
  116. 11.4.3 Der Traum als Zugang zum Unbewussten
  117. Günter Langwieler
  118. 11.4.4 Jungs Traumtheorie und die empirische Traumforschung
  119. Günter Langwieler
  120. 11.4.5 Malen und Zeichnen
  121. 11.4.6 Tonen und Formen
  122. 11.4.7 Steine bearbeiten und Bildhauerei
  123. 11.4.8 Umgang mit den Gestaltungen
  124. 11.4.9 Körperausdruck und -bewegung, Musik und Tanz
  125. 11.4.10 Wort und Sprache
  126. 11.4.11 Spielen
  127. 11.5 D: Deuten
  128. 11.5.1 Aktueller Auslöser
  129. 11.5.2 Lebensgeschichtlicher Zusammenhang
  130. 11.5.3 Kompensatorische Funktion unbewusster psychischer Inhalte
  131. 11.5.4 Deutungsperspektiven
  132. 11.5.5 E: Eigen- oder Subjektperspektive
  133. 11.5.6 F: Beziehungs- und Objektperspektive (Fremdperspektive)
  134. 11.5.7 G: Globalperspektive: archetypische und existenzielle Themen der Individuation
  135. 11.6 H: Handeln
  136. 12 Praxis der Analytischen Psychotherapie
  137. Thomas Schwind
  138. 12.1 Der Rahmen in der Psychotherapie
  139. 12.1.1 Der Raum
  140. 12.1.2 Die Zeit
  141. 12.1.3 Das Geld
  142. 12.1.4 Die Grenzen
  143. 12.1.5 Beziehungsethische Grundhaltung
  144. 12.2 Die therapeutische Beziehung
  145. 12.2.1 Kreativität des Patienten und des Therapeuten
  146. 12.2.2 Erzählen und Hören
  147. 12.2.3 Enactment
  148. 12.2.4 Die therapeutische Grundhaltung
  149. 12.3 Der psychotherapeutische Prozess
  150. 12.3.1 Therapie als archetypischer Prozess: Der Weg
  151. 12.3.2 Die Initialphase als erste Phase des therapeutischen Prozesses
  152. 12.4 Die zweite Phase des Prozesses: Analyse, Regression, emotionale Auseinandersetzung mit zentralen Konflikten
  153. 12.5 Die dritte Phase des Prozesses: Synthese, Progression, Integration und Finden neuer Möglichkeiten
  154. 12.6 Die vierte Phase des Prozesses: Individuations- und Abschlussphase
  155. 12.7 Exkurs: Der Therapieprozess am Beispiel einer alchemistischen Bilderserie
  156. 13 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in der AP
  157. 13.1 Ansätze zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen in der AP
  158. 13.2 Die Methoden der AKJP in der AP
  159. 13.2.1 Freies Spiel als Methode
  160. 13.2.2 Dynamik von Regel- und Gesellschaftsspielen
  161. 13.3 Zum Rahmen in der Therapie von Kindern und Jugendlichen
  162. 13.3.1 Im Spannungsfeld Individuation – Sozialisation
  163. 13.3.2 Das Arbeitsbündnis im Dreieck KJ – Eltern – Therapeut
  164. 13.3.3 Der Therapieraum – »alchemistisches« Labor und Spielraum
  165. 13.3.4 Therapeutischer Raum – Temenos, vas hermeticum und …
  166. 13.3.5 … Raum für alle
  167. 13.3.6 Der Rahmen und die Grenzen
  168. 13.4 Die Phasen des therapeutischen Prozesses
  169. 13.4.1 Die Initialphase
  170. 13.4.2 Die zweite Phase: Analyse und Regression
  171. 13.4.3 Die dritte Phase: Synthese und Progression
  172. 13.4.4 Die vierte Phase: Integration und Individuation
  173. 13.4.5 Besonderheiten in den Behandlungen von Jugendlichen
  174. 14 Gruppenpsychotherapie im Rahmen der Konzepte der Analytischen Psychologie
  175. 14.1 Polarität zwischen Kollektiv und Individuum
  176. 14.2 Archetypische Wirkfaktoren
  177. 14.3 Symbolzentrierte Gruppenarbeit
  178. 15 Bilanz
  179. Literaturverzeichnis
  180. Autorenverzeichnis
  181. Stichwortverzeichnis

 

Einführung

 

 

 

Wissenschaftliche Theorien sind nur Vorschläge, wie man die Dinge betrachten könnte.

(Jung, GW 4, § 241)

Das Buch soll einen Einblick und Überblick über Theorie und Praxis der Analytischen Psychologie und Psychotherapie nach C. G. Jung geben (im Folgenden abgekürzt: AP). Dabei ist uns aus den folgenden Gründen besonders wichtig, neben dem analytischen Aspekt immer auch den integrativen Charakter der AP hervorzuheben:

•  Die alleinige Verwendung der Bezeichnung »analytisch« wird wesentlichen Aspekten der Analytischen Psychologie u. E. nicht wirklich gerecht. Die aus der AP abgeleiteten Methoden sind nicht nur als »analytisch« im Sinne eines Ursachen und Zusammenhänge aufhellenden und bewusstmachenden Prozesses zu verstehen, sondern sie haben immer auch eine »synthetische« und »integrative« Funktion. Im Sinne eines dynamischen Zusammenfügens, Verbindens, Vereinigens und Versöhnens von polaren Aspekten der Psyche und deren Bewusstmachung sollen sie die Persönlichkeit, die SELBST-Erfahrung wie auch die konkreten Lebens- und Verhaltensspielräume des Menschen erweitern helfen. (Wie in Kapitel 2 erläutert, schreiben wir den Begriff des SELBST in diesem Buch mit großen Buchstaben.) Diese ganzheitliche, integrierende, schöpferische, ressourcen- und sinnorientierte Konzeption wird durch den Begriff des »Analytischen« nicht ausreichend gefasst. Aus diesem Grund bevorzugen wir auch die umfassendere Bezeichnung Therapeut oder Therapeutin und nicht Analytiker oder Analytikerin.

•  Die Analytische Psychologie ist ihrem Ansatz nach schon immer eine integrative Psychologie und Psychotherapie gewesen. Dies zeigt sich praktisch in allen ihren Grundvorstellungen, z. B im Prinzip der Einheit und Ganzheit des Menschen, in der schöpferischen Spannung und Dynamik zwischen den unterschiedlichsten Polaritäten im Menschen, in der gegensatzverbindenden, transzendenten Funktion, in der umfassenden Bedeutung der allgemein-menschlichen, kulturübergreifenden archetypischen Dimensionen menschlichen Erlebens und Verhaltens, in der Hypothese des SELBST und dessen Verwirklichung im Individuationsprozess usw.

•  C. G. Jung hat für seinen Ansatz verschiedene Kennzeichnungen versucht, um ihn von der klassischen Psychoanalyse zu unterscheiden. Er sprach von einem »synthetischen« (im Sinne von Synthese), einem final-konstruktiven, auf einen Sinn und Ziel hin ausgerichteten Vorgehen. Auch verwendete er eine Zeit lang den Begriff der »Komplexen Psychologie«, um eben auf den komplexen, vieldimensionalen und polar-paradoxen Charakter der psychischen Vorgänge hinzuweisen. Was letztlich den Ausschlag dafür gegeben haben mag, dass er sie dann »Analytische Psychologie« nannte oder nennen ließ, ist schwer zu beurteilen. Wahrscheinlich spielen die von der Wortwahl her gezeigte Nähe einerseits und Entgegensetzung zur Psychoanalyse eine Rolle.

•  Ein weiterer Grund für die besondere Betonung des Integrativen liegt darin, dass wir es als für dringend notwendig erachten, dass die traditionellen psychodynamischen Schulrichtungen aus der Enge und Bindung an ihre Begründer heraustreten und auch eine aktive Auseinandersetzung mit der akademisch weitaus besser etablierten Kognitiven Verhaltenstherapie suchen. Die Letztere hat aufgrund der Vielzahl ihrer Ansätze, Methoden und Forscher problemlos mehrere »Wenden« vollzogen, sich inzwischen von der dritten »Welle« weitertragen lassen und dabei fast alles integriert und systematisiert, was therapeutisch nutzbar ist. Sie hat sich dabei selbst in solche Bereiche wie Achtsamkeit, Weisheit, Imagination, Emotionen und Unbewusstes hineingewagt, die sie vorher entschieden und als unwissenschaftlich bekämpft hat. Über Kurz oder Lang wird sie auch die sonstigen Domänen der Tiefenpsychologie, wie z. B. die biografische Konfliktanalyse, das Beachten von Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen, das schöpferische Spielen und Gestalten, die Arbeit mit Träumen, freien Fantasien, Symbolen, Märchen und Mythen usw. integrieren bzw. neu erfinden oder neu formulieren, ohne ihre Herkunft aus den psychodynamischen Richtungen zu benennen. Eine sinnvolle Gegenreaktion von Seiten der AP erscheint uns, bei dem ohnehin schon seit 100 Jahren vorliegenden integrativen Ganzheitskonzept unserseits selbst Elemente der Kognitive Verhaltenstherapie zu integrieren.

Die AP, wie wir sie in diesem Buch zu beschreiben versuchen, teilt mit den anderen psychodynamischen und psychoanalytischen Richtungen der Psychotherapie grundlegende Einsichten – insbesondere die über die Bedeutung unbewusster Prozesse für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung von psychischen Erkrankungen – erweitert diese zugleich zu einem umfassenderen Ansatz, indem sie von einem möglichst umfassenden Menschenbild und Krankheitsverständnis und einem auf die individuelle Persönlichkeit und Situation des Einzelnen zugeschnittenen Behandlungskonzept ausgeht. Die auf das SELBST und sein schöpferisches Potenzial hin orientierte Einstellung, die Förderung der Entwicklung der Persönlichkeit (Individuation), die Beachtung und Bedeutung der Sinnfindung und des religiösen Bezuges des Menschen für seine seelische Gesundheit bilden dabei spezielle Schwerpunkte.

C. G. Jung gehört neben S. Freud und A. Adler zu den bedeutendsten und bekanntesten Pionieren der Psychologie. In der Öffentlichkeit verbindet man seinen Namen am ehesten mit den Begriffen der »Archetypen« und des »kollektiven Unbewussten«, vielleicht auch noch mit denen des Schattens, von Animus und Anima und den Persönlichkeitseinstellungen »Introversion« und »Extraversion.« Über die anderen, weit über die traditionellen Vorstellungen der Psychoanalyse, der Gesprächspsychotherapie, der Verhaltenstherapie wie der Systemischen Therapie hinausgehenden Auffassungen ist allgemein wenig bekannt.

Um diese dem Leser nahezubringen, haben wir dem Praxisteil ein Kapitel über die Essentials der Analytischen Psychologie vorangestellt. Nur vor diesem Hintergrund kann auch die Bedeutung des Unbewussten, der dialektischen Beziehung und der kreativen Gestaltungsprozesse, die in der Praxis der AP eine bedeutende Rolle spielen, verstanden werden. Fantasie und kreative Gestaltungen sind nach Auffassung der AP ein wesentlicher Zugang zu den Ressourcen eines Menschen.

Entsprechend des »Primats der Psyche«, das wir als erstes skizzieren und der damit verbundenen Relativität aller Theorien und Glaubenssysteme, verstehen wir alle Aussagen dieses Buch als prinzipiell offene Hypothesen. An einigen Stellen heben wir besonders relevante Annahmen hervor, immer aber sie sind als vorläufige Annahmen gemeint, die wir gerne durch bessere ersetzen, wenn sie uns bekannt werden. Unserer Auffassung nach ist die im besten Sinne verstandene wissenschaftliche Grundhaltung eine große Errungenschaft des menschlichen Geistes, die noch einmal mehr gerade durch die Einsicht in das Primat der Psyche eine besondere Bedeutung erhält.

Ganz bewusst haben wir im Buch viele Zitate von C. G. Jung selbst aufgenommen. Dies zum einen, weil wir die Zitate gut und treffend finden und es fair und redlich finden, die Ursprünge unserer Gedanken und Ausführungen auch zu nennen. Zugleich wollen wir dem Leser damit auch deutlich machen, dass Jung über die bereits genannten, allgemein bekannten Begrifflichkeiten hinaus weitere zukunftsweisende, wenn nicht gar revolutionäre Auffassungen vertreten hat, so z. B. hinsichtlich der Selbstregulation, der Komplexität, der Realität (Virtualität) der Psyche und der Intersubjektivität des therapeutischen Prozesses.

Viele dieser Konzepte finden sich bei Jung allerdings nicht so systematisch dargestellt, wie wir es in diesem Buch versuchen, sondern eher verstreut und in nicht ganz offensichtlichen Zusammenhängen, so dass sie erst, wenn man das Gesamtwerk kennt, in ihrer ganzen Tragweite erkannt und gewürdigt werden können.

Gleichzeitig sind wir aber auch der Auffassung, dass Begrifflichkeiten und Hypothesen der Analytischen Psychologie fortwährend an den jeweils aktuellen Wissensstand angepasst, erweitert, modifiziert oder auch fallengelassen werden müssen, wenn sie ihren Beitrag in Psychologie und Psychotherapie weiterhin konstruktiv leisten will. Diese eigentlich selbstverständliche wissenschaftliche Grundhaltung finden wir auch schon bei Jung selbst, der ab den 1930er Jahren in der Schweiz mit vielen Forschern anderer Wissenschaftsdisziplinen zu den einjährlich abgehaltenen interdisziplinären Eranos-Tagungen zusammentraf.

Als zweitem Essential wenden wir uns dann dem Begriff des SELBST und einem seiner vielen Symbole zu: dem Mandala. Es ist sicher ungewöhnlich, dass ein Symbol für eine eher theoretische und wissenschaftliche Erörterung grundlegender Prinzipien verwendet wird, trifft aber ziemlich genau ein zentrales Anliegen der AP. Ein Symbol wie das Mandala legt nichts endgültig fest, sondern vermittelt eine mehr gefühlte Ahnung von etwas Ganzheitlichem, Wesentlichem und Zentralem und lässt einen weiten Spiel- und Freiraum für neue und zukünftige Entwicklungen.

So ist es auch mit Psychologie und Psychotherapie. Sie sind noch recht junge Wissenschaften und beginnen gerade, aus der Pionierphase, die mit einigen zentralen Gestalten wie James, Freud, Adler, Jung und Rogers verbunden ist, herauszuwachsen und zu einer schulenübergreifenden Perspektive, in der die einzelnen Richtungen sich nicht mehr abwerten und ignorieren, zu finden. Des Weiteren werden biologische und evolutionäre Psychologie, Hirnforschung, Psychopharmakologie und der sich immer rascher entfaltende Bereich der digitalen und virtuellen Kommunikation das Bild vom Menschen und seinen Entwicklungsmöglichkeiten in bis jetzt noch nicht absehbarer Weise verändern.

Was sich aber vermutlich nicht so rasch ändern wird, ist die Grundsymbolik des Mandalas. C. G. Jung entdeckte, als er in Situationen innerer Unruhe und Desorientierung einfache Mandalazeichnungen anfertigte, dass sich mit der Ausgestaltung dieser Zeichnungen auch sein innerer Zustand veränderte. Er erkannte:

Es wurde mir immer deutlicher: Das Mandala ist das Zentrum. Es ist der Ausdruck für alle Wege. Es ist der Weg zur Mitte, zur Individuation.

(Jung, Jaffé, 1962, S. 200)

Jung meinte das – wie so vieles in seinem Werk – natürlich symbolisch. Nicht ein konkretes einzelnes Mandala ist der Ausdruck für alle Wege und der eigentliche und hauptsächliche Weg zur Individuation, sondern die sich in den Mandalas der Weltkulturen ausdrückenden psychischen Tendenzen, unsere Sehnsucht z. B. nach umfänglicher Ganzheitlichkeit und Struktur und dem Spüren und Umkreisen-Wollen einer essenziellen Mitte, sei sie in einer Gottheit personifiziert dargestellt oder sei sie eine unbestimmte schöpferischen Fülle/Leere.

In diesem Sinne wird uns die Mandala-Symbolik – unserer Einschätzung nach – wie seit eh und je in allen möglichen Formen und Gestaltungen begleiten, wahrscheinlich immer differenzierter und drei- und mehrdimensional, aber vom Wesen her ähnlich, einfach deshalb, weil bislang kein besseres Symbol für die Mitte, die Dynamik und den Umfang des Menschen in seiner Beziehung zur Welt und zum Universum gefunden wurde.

Etwas ungewöhnlich für ein psychotherapeutisches Lehrbuch ist wohl auch, dass wir Abbildungen aus der Alchemie einbinden. Jung war immer auf der Suche nach historischen Vorbildern für das, was er den Individuationsprozess nannte. In manchen religiösen und auch philosophischen Systemen fand er Parallelen, aber diese Vorläufer passten nur zum Teil auf seinen Zugang, weil ihnen meist der wissenschaftlich-experimentelle Anteil fehlte. In der Alchemie des Mittelalters, in der sich vorwissenschaftlich forschender Geist mit reger Fantasietätigkeit verbanden, entdeckte er nun erstaunliche Parallelen zu den Bildern und Symbolen, die auftauchen können, wenn man sich mit der Psyche auf dem Weg von Introspektion, Traumarbeit, Imagination und Meditation auseinandersetzt. Er hatte den Eindruck, dass die Prozeduren, die die Alchemisten beschrieben, wenn man sie als Manifestationen psychischer Vorgänge betrachtete und symbolisch verstand, viel Ähnlichkeit mit dem hatten, was auch im Individuationsprozess beobachtet werden konnte. Darin geht es ums Analysieren, Lösen, Trennen, Differenzieren, Neuverbinden, Synthetisieren – psychologisch gesehen also ums Bewusstmachen und Integrieren vorher unbewusster Bereiche – und um das Finden des »Steins der Weisen« – in psychologischer Sprache: um die Entfaltung höherer Bewusstheit und Identität mit dem eigenen ganzheitlichen Wesen, dem SELBST.

Die Alchemie hat mir darum den unschätzbar großen Dienst geleistet, mir ihr Material, in dessen Umfang meine Erfahrung genügend Raum findet, anzubieten und hat es mir dadurch möglich gemacht, den Individuationsprozeß in seinen hauptsächlichen Aspekten zu beschreiben.

(Jung, GW 14/2, § 447)

Dieser psychologische Aspekt der Alchemie, der manchen Lesern seines Werkes fremdartig und unverständlich vorkommt, war für Jung eine wichtige Entdeckung, die bislang wenig gewürdigt wird. Deshalb versuchen wir, ihr auch in diesem Buch einen gewissen Raum zu geben, damit der Leser zu entscheiden vermag, ob der Bezug zwischen der Psychologie und den Symbolen der Alchemie Sinn macht oder ob das nur eine spezielle Vorliebe Jungs war, die aber für die Frage nach den Vorläufern moderner Wissenschaft und Psychotherapie weniger von Bedeutung ist.

Wenn Therapeuten, die mit den Ansätzen der Analytische Psychologie arbeiten, gefragt werden, was sie daran besonders schätzen, dann fallen oft die Worte »Kreativität« »Offenheit« und »Weite«. Diese prinzipielle Offenheit und Weite der AP, sowohl in ihrem Menschenbild als auch in ihrer Behandlungsmethodik, zeigt sich im zehnten Kapitel des Buches, in der die bis heute erforschten Wirkfaktoren der Psychotherapie besprochen werden. Sie bestätigen die Ansätze der AP weitgehend und weisen noch einmal darauf hin, dass die Zukunft der Psychotherapie in einem ganzheitlichen, integrativen Denken und Handeln liegt.

Anschließend wird dann eine Übersicht über alle Methoden gegeben, die in der AP bislang verwendet werden, wobei der zentrale Leitgedanke bei allen Methoden ist: Es kommt nicht primär auf eine einzelne Methode an, sondern darauf, dass der Patient in einer vertrauensvollen Beziehung den für ihn stimmigen Weg zu sich selbst, seinem »SELBST«, seiner inneren Wahrheit und Wirklichkeit findet und dass er darin gefördert wird, diese zum Ausdruck zu bringen und so gut es ihm möglich ist, auch zu leben. Die Methode wird letztlich vom Patienten bestimmt und natürlich auch von dem, was der Therapeut innerlich und äußerlich anzubieten vermag.

Oft kommen Leute zu mir in der Erwartung, ich würde jetzt einen medizinischen Zauber loslassen. Dann sind sie enttäuscht, wenn ich sie wie normale Menschen behandle und mich wie ein normaler Mensch benehme. Eine Patientin hatte in einem anderen Sprechzimmer nur den »schweigenden Gott« hinter ihrem Sofa erlebt. Als ich mit ihr zu sprechen begann, sagte sie erstaunt, fast entsetzt: »Aber Sie äußern ja Affekte, Sie äußern sogar Ihre Meinung!« Natürlich habe ich Affekte und zeige sie auch. Nichts ist wichtiger als dies: man muß jeden Menschen wirklich als Menschen nehmen und darum seiner Eigenart entsprechend behandeln.

(Jung, GW 10, § 881)

 

Der Patient ist nämlich dazu da, um behandelt zu werden, und nicht, um eine Theorie zu verifizieren. Es gibt keine Theorie im weiten Felde der praktischen Psychologie, die nicht gegebenenfalls grundfalsch sein kann.

(Jung, GW 16, § 237)

In vielen Fällen wird in der praktischen Therapie der Methodenreichtum der AP allerdings gar nicht benötigt oder ausgeschöpft, sondern es wird mit einem elementaren therapeutischen Setting gearbeitet, mit dem vermutlich viele Psychotherapeuten der verschiedenen Richtungen heute arbeiten: Innerhalb eines geschützten Rahmens und auf der Basis einer vertrauensvollen Beziehung wird der Patient ermutigt, frei und offen zu erzählen, was ihn emotional bewegt und beschäftigt. Die Hauptkunst und -tätigkeit des Therapeuten besteht darin, so gut zuzuhören und zu intervenieren, dass der Patient immer mehr ermutigt wird, tiefer zu gehen, seine Ängste und Widerstände vor der eigenen inneren Wahrheit und Wirklichkeit zu überwinden und ein akzeptierendes Verständnis von sich selber, seinem So-Geworden-Sein und seinen Konflikten zu entwickeln. Auf der Basis dieses besseren emotionalen Verstehens von sich selbst, seinen Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten, wird dann daran gearbeitet, welche konkreten Möglichkeiten und Übungsfelder der Patient hat, diese auch zu verwirklichen.

Ein solches Vorgehen scheint organisch und natürlich zu sein und den Bedürfnissen vieler Patienten weitgehend zu entsprechen. Nur dann, wenn der Patient auf diesem Wege nicht erreicht werden kann oder seine kreativen Ressourcen es besonders anbieten, werden weitere Methoden hinzugezogen, um den Prozess anzuregen oder zu intensivieren.

Der Unterschied zwischen der AP und der Psychoanalyse oder auch der Gesprächstherapie liegt dann beispielsweise darin, dass sich der Therapeut im Vergleich zur klassischen Psychoanalyse persönlicher als Dialogpartner einbringt und im Vergleich zur Gesprächstherapie, dass er mehr auch auf unbewusste Reaktionen und Aspekte, wie z. B. Symbole, Fantasien und Träume, achtet.

Zuletzt werden Aspekte der Erwachsenenpsychotherapie und einige Spezifika der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ausgeführt und die Gruppenpsychotherapie dargestellt.

Wir gehen zwar davon aus, dass die Aspekte, die wir in diesem Buch darstellen, von vielen Therapeuten der »jungianischen« Richtung geteilt werden, aber natürlich nicht von allen. Es gibt auch unter den »Jungianern« verschiedene Strömungen und Schwerpunkte. Insofern können wir nicht behaupten, dass die in diesem Buch dargestellten Essentials und die daraus abgeleiteten therapeutischen Implikationen die allgemein gültige und verbindliche Praxis der Analytischen Psychologie darstellen. Eine solche kann es im Grunde auch nicht wirklich geben, denn zu unterschiedlich und komplex ist jede therapeutische Beziehungskonstellation. Unsere Darstellungen fühlen sich dem verbunden, was C. G. Jung 1935 vor Kollegen formulierte:

Die Psychotherapie ist ein Gebiet der Heilkunst, das sich erst in den letzten fünfzig Jahren entwickelt und eine gewisse Selbständigkeit erlangt hat. Die Anschauungen in diesem Gebiete haben sich in mannigfacher Weise gewandelt und differenziert, und es haben sich Erfahrungen gehäuft, welche zu den verschiedensten Deutungen Anlaß geben. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Psychotherapie nicht eine einfache und eindeutige Methode ist, als welche man sie zuerst verstehen wollte, sondern es hat sich allmählich herausgestellt, daß sie in gewissem Sinne ein dialektisches Verfahren ist, d. h. ein Zwiegespräch oder eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen. Dialektik war ursprünglich die Unterredungskunst der antiken Philosophien, wurde aber schon früh zur Bezeichnung des Verfahrens zur Erzeugung neuer Synthesen. Eine Person ist ein psychisches System, welches, im Falle der Einwirkung auf eine andere Person, mit einem anderen psychischen System in Wechselwirkung tritt. Diese vielleicht modernste Formulierung des psychotherapeutischen Verhältnisses von Arzt und Patient hat sich, wie ersichtlich, weit entfernt von der anfänglichen Meinung, daß die Psychotherapie eine Methode sei, die irgend jemand zur Erreichung eines gewollten Effektes in stereotyper Weise anwenden könne. […]

(Jung, GW 16, § 1)

 

 

 

 

I           Essentials der Analytischen Psychologie

 

 

Der Mensch ist ein

hochkomplexes,

multidimensionales,

ganzheitlich-polar-paradoxes,

sich selbst kreativ organisierendes,

interaktives,

teilweise bewusstes,

überwiegend unbewusstes,

öko-bio-psycho-sozial-global-kosmisches System,

das sich selbst in einem virtuellen,

psycho-symbolischen Selbst-Welt-Modell repräsentiert.

 

Versuchsweise Definition des SELBST-Systems Mensch

 

1          Das Primat und die virtuelle Realität der Psyche

 

 

 

Die Idee der psychischen Realität könnte man wohl als die allerwesentlichste Errungenschaft moderner Psychologie bezeichnen, wenn sie als solche anerkannt wäre. Es scheint mir aber nur eine Frage der Zeit zu sein, bis diese Idee allgemein durchdringt. Sie muß durchdringen, denn diese Formel allein erlaubt es, die mannigfaltigen seelischen Erscheinungen in ihrer Eigenart zu würdigen.

(Jung, GW 8, § 683)

Wir beginnen die Darstellung der Essentials der AP mit einer Einsicht, die von Philosophen und Psychologen schon lange diskutiert wurde, aber niemals so recht in ihrer ganzen Bedeutsamkeit gewürdigt und anerkannt wurde, vermutlich, weil sie ein mühsames Neu- und Umdenken erfordert, das unser bisheriges Welt- und Menschenbild radikal auf den Kopf stellt. Entgegen unserem alltäglichen »naiven« Erleben, das uns die Welt »da draußen« als Objekt und uns selbst als Subjekt ganz konkret und realistisch erscheinen lässt, wird uns in den letzten Jahren insbesondere auch im Zusammenhang mit den Einsichten der Kognitions- und Neurowissenschaften zunehmend bewusster, dass wir in einer durch unser neuro-psychisches System erzeugten virtuellen Welt leben. Das, was wir wahrnehmen und kennen, sind nicht wir selbst, die Welt und die Wirklichkeit »an sich«, sondern es handelt sich um Modelle und Konstrukte, die sich im Laufe der Evolution als überlebensförderlich herausgestellt haben. Wir leben in einer Welt von Tönen, Farben und Formen, Begriffen, Vorstellungen und Bildern, die es außerhalb dieser Gestaltungsformen in dieser Weise gar nicht gibt und deren »wahre« Natur wir vermutlich niemals erfassen können.

Das Einzige, was wir wirklich erfahren, fühlen und erkennen, ist unsere psychische Realität, das, was uns durch die »Software« unserer psychisch-neuronalen Prozesse vermittelt wird. Dies gilt sowohl für die Wahrnehmung der äußeren Welt und unserer Mitmenschen wie auch für uns selbst. Auch das, was wir von uns selber kennen, ist ein Bild, ein Modell, eine Konstruktion. Wer oder was die Welt draußen »wirklich« ist oder wer wir »wirklich« im letzten Sinne sind, können wir nicht sagen. Wir können nur Vermutungen, Hypothesen und Fantasien darüber entwickeln, die wiederum von unseren psychisch-neuronalen Möglichkeiten begrenzt sind.

Die historische Beweislast ist erdrückend: Soweit wir überhaupt nur zurückdenken können, haben Menschen offenbar innere Bilder über die Beschaffenheit ihrer äußeren Welt entwickelt und zur Gestaltung dieser Welt benutzt. Im Lauf der Menschheitsgeschichte zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Bedingungen, in den Gehirnen einzelner Menschen erst einmal entstanden, haben bestimmte Visionen und Ideen als individuelle und kollektive Leitbilder die bisherige Lebens- und Weltgestaltung der Menschen auf dieser Erde bestimmt. […]

Mit ihrer Hilfe wurde nicht nur das Gleisbett gelegt, auf dem der Zug, mit dem sich die Menschheit fortbewegt, schlingernd und mehr oder weniger rasch vorankam. Sie, diese selbst mit den modernsten bildgebenden Verfahren im Gehirn des Menschen kaum sichtbaren Aktivierungsmuster bestimmter Neuronenverbände und synaptischer Netzwerke, haben auch die entscheidenden Weichen gestellt, über die dieser Zug in eine bestimmte Richtung dahinrollte.

Was für eine ungeheure Vorstellung: Nichts weiter als nackte Bilder, bloße geistige Vorstellungen erweisen sich als die entscheidenden, die Menschheit bewegenden, die Menschheitsentwicklung bestimmenden Kräfte.

(Hüther, 2004, S. 11 f.)

1.1       Die Welt ist eine Projektion des SELBST

Die Tiefenpsychologie war sich der psychischen Qualität unseres Erlebens schon lange bewusst und hatte schon früh begonnen, von »Imagines«, von »Repräsentationen« und »Repräsentanzen« zu sprechen (z. B. Objekt- und Selbstrepräsentanzen). Sie hat damit manche Positionen, die der philosophische und neurobiologische Konstruktivismus später noch radikaler ausgearbeitet haben, vorweggenommen. In einem Seminar aus dem Jahre 1935 antwortet Jung auf eine Frage, die im Kontext des psychischen Charakters und der Mehrdimensionalität des SELBST stand:

Die Welt ist unser Bild. Nur kindische Leute stellen sich vor, die Welt sei so, wie wir meinen, sie sei. Das Bild der Welt ist eine Projektion der Welt durch das Selbst, so wie letzteres eine Introjektion der Welt ist. Aber nur der besondere Geist eines Philosophen geht über das übliche Bild der Welt hinaus, in der es statische und isolierte Dinge gibt. Wenn wir darüber hinausgehen wollten, würden wir ein Erdbeben im Geist des Durchschnittsmenschen hervorrufen, der ganze Kosmos würde erschüttert, die heiligsten Überzeugungen und Hoffnungen würden aus den Angeln gehoben, und ich sehe nicht ein, weshalb man eine solche Unruhe anstreben sollte. Es wäre weder für die Patienten noch für die Ärzte gut; vielleicht ist es gut für die Philosophen.

(Jung, GW 18/1, § 200)

Ob diese Vorsicht heute noch berechtigt ist, ist fraglich. In den letzten 100 Jahren hat sich sehr viel im Hinblick auf ein dynamisches, konstruktivistisches Verständnis der Psyche getan. Die Vernetzung, Medialisierung und Virtualisierung der Welt hat so zugenommen, dass viele Menschen für psychologisch-konstruktivistische Perspektiven zunehmend offener sind (vgl. dazu auch Roesler, 2005, 2007, Schlegel, 2005). Die Filmreihe »Matrix« (1999–2003) am Übergang ins neue Jahrtausend ist möglicherweise symptomatisch dafür, dass sich diese Sichtweise durchzusetzen beginnt.

Die AP geht vom Primat (dem Vorrang) der Psyche und deren psycho-symbolischer Ausdrucksformen aus. Das bedeutet, dass die Produkte der psycho-neuronalen Prozesse das Erste und Einzige sind, was wir »wirklich« kennen. Unsere Welt- und Selbst-Bilder sind – im weitesten Sinne – Bilder, »Ein-Bildungen«, unbewusst-bewusste Vor-Stellungen, Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Denk-Muster, die wir von uns, den Mitmenschen und der Welt haben.

Über die »wirkliche« Natur dessen, was unter, hinter oder über diesen psychischen Phänomenen liegt, können keine gesicherten Aussagen gemacht werden. Auch sogenannte »objektive« wissenschaftliche Theorien und Interpretationen bleiben immer noch psychische Aussagen, gefasst in bestimmten, zeitbedingten Vorstellungs- und Denkmustern (»Mythen«).

Viele unserer heute als »wissenschaftlich« angesehenen Denkmodelle werden in 100 oder in 1000 Jahren sehr wahrscheinlich noch einmal ganz anders gesehen und formuliert werden.

Diese Vor-Stellungen sind notwendigerweise immer auch Ver-Stellungen. Sie stellen sich selektierend, filternd, modifizierend, transformierend, kreierend, konstruierend, systematisierend, vereinfachend und in tausend Formen sich wandelnd zwischen uns und das, was außen und innen »wirklich« ist, was wir aber als solches nicht erkennen können.

Es ist meine bilderreiche Seele, die der Welt Farbe und Ton verleiht, und was ich jene allerrealste, rationale Sicherheit, die Erfahrung nenne, so ist auch ihre einfachste Form noch ein über alle Maßen kompliziertes Gebäude seelischer Bilder: So gibt es gewissermaßen nichts von unmittelbarer Erfahrung als nur gerade das Seelische selbst. Alles ist durch dasselbe vermittelt, übersetzt, filtriert, allegorisiert, verzerrt, ja sogar verfälscht. Wir sind dermaßen in eine Wolke wechselnder und unendlich vielfach schillernder Bilder eingehüllt, daß man mit einem bekannten großen Zweifler ausrufen möchte: ›Nichts ist ganz wahr - und auch das ist nicht ganz wahr‹. […]. Wir leben unmittelbar nur in der Bilderwelt.

(Jung, GW 8, § 623 f.)

 

Wieviel Gegebenheit der Seele in das Unbekannte der äußeren Erscheinung projiziert wird, das ist jedem Kenner der alten Naturwissenschaft und Naturphilosophie bekannt. Es ist in der Tat so viel, daß wir überhaupt nicht imstande sind, jemals anzugeben, wie die Welt an sich überhaupt beschaffen ist, da wir ja gezwungen sind, das physische Geschehen in einen psychischen Prozeß umzusetzen, wenn wir überhaupt von Erkenntnis reden wollen. Wer garantiert aber, daß bei dieser Umsetzung ein irgendwie zulängliches «objektives» Weltbild herauskomme? […]

Ganz im Gegenteil sogar beweisen unzählige Tatsachen, daß die Seele den physikalischen Vorgang in Bilderfolgen übersetzt, die häufig mit dem objektiven Vorgang einen kaum noch erkennbaren Zusammenhang haben. […]

Was wir beim gegenwärtigen Standpunkt unseres Wissens mit Sicherheit feststellen können, ist unsere Unwissenheit um das Wesen des Seelischen.

(Jung, GW 9/1, § 117)

Bei aller Unwissenheit um das Wesen des Seelischen schien – zumindest zur Zeit der klassischen Psychoanalyse – immer noch ein wenig die Hoffnung durchzuschimmern, dass man hinter den psychischen Bildern, Fantasien, Symbolen, Tarnungen, Abwehrvorgängen und Selbsttäuschungen einmal zu den »wirklichen« Tatsachen und Vorgängen vordringen könnte.

Diese Hoffnung nach endgültiger »Aufklärung« oder »Aufhellung« des »Unbewussten« und dessen Kontrolle scheint sich nicht aufrechterhalten zu lassen. Es scheint keinen Weg zu geben, das »Gefängnis« unserer psychischen – und neurophysiologischen – Bedingungen zu verlassen. Das Wesen der Psyche und des Unbewussten »an sich« lässt sich prinzipiell nicht bewusst machen, es bleibt unbewusst und unbekannt. Was immer uns bewusst wird, ist nicht wirklich das vorher Unbewusste »an sich«, sondern es sind bereits modellierte und konstruierte Vorstellungen, Bilder und Symbole, die eine Form angenommen haben, mit denen das Bewusstseinssystem umgehen kann. Wir erleben immer nur das Endprodukt der unter- und hintergründig ablaufenden psychischen Prozesse, die diese Selbst- und Weltmodelle konstruieren. Wir – unser Ich-Bewusstsein – werden gewissermaßen als letzte informiert, was die Psyche als nächstes mit uns bzw. sich selbst vorhat.

Spätestens seit der Systemtheorie ist uns deutlich geworden, dass ein System die Funktion, die es hervorbringt, nicht auf sich selber anwenden kann: Es hat in Bezug auf sich selbst notwendigerweise einen »blinden Fleck«. Das Gehirn und das Zentralnervensystem, das die psychischen Prozesse steuert, Muster, Bilder und Symbole hervorbringt, kann sich selbst und seine Funktionen nicht unmittelbar erkennen. An der Stelle unseres Kopfes, wo das Gehirn sitzt, können wir nichts spüren, schon gar nichts von den dort in den Nervenzellen ablaufenden Aktionen. Selbst wenn wir unser Gehirn von außen anschauen, sezieren und bis auf die mikroskopische Ebene der Zell- und Genstrukturen hinabsteigen könnten, würden wir nichts von den inneren Welten sehen, die wir erleben, wir würden dort nichts von den Farben, Formen, Tönen und den Sinnesempfindungen, von den Gefühlen, Ängsten und Sehnsüchten, Fantasien und Gedanken erkennen, die unser Leben so tief bestimmen.

Zwischen der »Hardware« unseres biochemischen Organismus und der »Software« der psycho-symbolischen Prozesse des »Geistigen« und Bewusstseins besteht ein aufs Engste und Höchste korrelatives Verhältnis, aber beide sind offenbar nicht ganz dasselbe, wie man sich am Beispiel des Zusammenhangs zwischen Hard- und Software eines Computers verdeutlichen kann. Ohne die »an sich« immaterielle Software wäre die materielle Hardware zu nichts zu gebrauchen, aber das Gleiche gilt auch für die Software, die auf eine auf sie abgestimmte Hardware angewiesen ist. Was aber die »Hardware« und die »Software« unseres Organismus wesensgemäß sind und wie sie zusammenspielen, so dass daraus bewusstes Erleben entsteht, ist nach wie vor ein großes Rätsel. Und manche Forscher sind der Auffassung, dass dieses Rätsel aus den genannten prinzipiellen systemischen Gründen – die Software kann weder sich selbst und ihre innere Struktur noch die Hardware verstehen – auch nicht wirklich lösbar ist, höchstens in einer allergröbsten und andeutungsweisen Vereinfachung.

Somit kann sich auch das SELBST, also die unbewusst-bewusste Ganzheit unserer Person, in seiner wirklichen Natur nicht erkennen. Wir wissen nur etwas von uns, insofern etwas von uns durch unsere psychischen Wahrnehmungen, durch unsere Umwelt und unsere Mitmenschen gespiegelt wird und wir uns ein Erfahrungsbild davon machen können. Aber dieses gespiegelte Wissen von uns selbst – unser Selbst-Bild, unser Selbst-Modell oder psychologisch: unsere Selbst-Repräsentanz – ist nur der allerkleinste und meist ein ziemlich verzerrter Teil von dem, was wir wirklich sind.

Zur Veranschaulichung dessen, was mit psychischer Realität gemeint ist, lassen sich vier Ebenen unterscheiden:

Der dunkelgraue Hintergrund der Abbildung 1.1 (Ebene 1) bezeichnet das absolute Sein, das »vor« »hinter«, »über«, »unter« und in Allem die »wirkliche Wirklichkeit« ist, aber prinzipiell in seiner Eigenart unerkennbar bleibt. Dafür haben die Religionen, die Philosophien und die Naturwissenschaften unterschiedliche Begrifflichkeiten entwickelt, über deren Inhalt, Sinn und Berechtigung bis heute gestritten wird: Gott, die Schöpfung, das Universum, die kosmische Energie …

Ebene 2: Der mittelgraue Kreis stellt das SELBST im Sinne der Analytischen Psychologie dar. Das ist »das System Mensch«, die Ganzheit des sich selbst organisierenden öko-bio-psycho-sozialen Organismus, der in enger Wechselwirkung und in ständigem Austausch mit Ebene 1 steht. Auch das SELBST ist in seinem ganzen Wesen und Umfang unerkennbar, es ist nur an dessen Wirkungen (z. B. Körperempfindungen, Gefühlen, Sinneswahrnehmungen, Bedürfnissen, Denkprozessen, Identitätserleben, Symbolen) zu erleben, die erst auf Ebene 3 zugänglich werden.

Ebene 3: Der hellgraue Kreis in der Mitte. Hier beginnt die psychische Realität, die einzige Realität, die das menschliche Bewusstsein unmittelbar kennt. Innerhalb des SELBST bzw. des menschlichen Organismus entsteht mit Hilfe neuropsychischer Prozesse eine Repräsentation, eine Vorstellung, ein Modell von der Welt, ihrer Objekte und des eigenen SELBST. Auch auf dieser Stufe sind die Selbst-Welt-Repräsentationen nicht unbedingt in ihrem psycho-symbolischen Charakter zu erkennen, sondern werden meist für die tatsächliche Wirklichkeit gehalten. Die gestrichelte Kreislinie symbolisiert auch hier die relative Durchlässigkeit und fortwährende Wechselwirkung zwischen dem SELBST und den SELBST-Repräsentationen.

Images

Abb. 1.1: Virtuelles Welt-Selbst-System

Ebene 3 ist der Bereich, auf den Philosophie und akademische Psychologie sich oft beziehen und dafür Begriffe verwenden wie Ich/Ego/Selbst, Selbst-Bild, Selbst-Modell, Selbst-Konzept, Selbst-Bewusstsein, Selbst-Erleben oder Selbst-Steuerung. Dabei werden aber oft nur die Aspekte gesehen, die dem bewussten Erleben zugänglich sind oder sich auf das Gehirn beziehen. Nach Auffassung der AP muss in einer Therapie aber immer das ganze SELBST (Ebene 2) berücksichtigt werden, denn es ist fraglich, ob eine bloße Veränderung der bewussten Selbst-Bilder und Selbst-Repräsentanzen für eine Besserung der Symptomatik ausreicht.

Ebene 4 – in der Abbildung dargestellt durch das Fragezeichen – symbolisiert die erst ganz spät in der Evolution aufgetauchte Fähigkeit des Menschen zur bewussten Selbstreflektion, wodurch der psycho-symbolische Charakter aller Wahrnehmung, Fantasien, Gefühle, Gedanken und Erkenntnisse zumindest rational erkannt werden kann. An der Einsicht in dieses »Primat der Psyche« und deren Konsequenzen für die Entwicklung des Menschen arbeitet die Tiefenpsychologie seit mehr als 100 Jahren, sie findet in den letzten Jahrzehnten Unterstützung durch die neurowissenschaftliche Forschung.

1.2       … und das SELBST ist eine Introjektion der Welt

Mit dem »Primat der Psyche« wird nicht die reale Existenz einer von uns als »materiell« bezeichneten Außenwelt geleugnet, wie es in idealistischen und östlichen Philosophien gelegentlich zu sein scheint. Auch wenn wir nicht wirklich angeben können, wie die »wirkliche Wirklichkeit« »da draußen« beschaffen ist und wie sie aussieht – falls sie überhaupt irgendwie »aussieht« – so scheint es doch eine zur Zeit sinnvolle These zu sein, dass sich über die Milliarden von Jahren der Evolution auf dieser Erde physiologische Strukturen, Sinnessysteme und psychische Funktionen entwickelt haben, die eine recht gute bis zuweilen höchst erstaunliche Anpassung und Korrelation mit den wie auch immer gearteten »Objekten« der »wirklichen Wirklichkeit« aufweisen. Wir sind ja in der Lage, die Eigenschaften und das Verhalten von materiell-physikalischen Objekten relativ gut für unseren Gebrauch zu nutzen, zu berechnen und vorherzusagen. Das lässt die Vermutung zu, dass unser körperlicher Organismus wie auch unser psychisches System auf die Gegebenheiten auf dieser Erde und auf die Gesetzmäßigkeiten in diesem Universum relativ gut abgestimmt sind. Wenn man sich modellhaft vorstellt, wie sich die ganze Evolution vom »Urknall« bis zu Entstehung der Energiequanten, Atome, Moleküle, Materie, der Sterne und Planeten, den ersten Lebensformen, Sinnesorgane und Nervensysteme über für uns fast unvorstellbare Zeiträume entwickelt hat, dann kann man, ohne metaphysische Anleihen zu machen, sagen, dass wir – das »System Mensch«, das SELBST –, eine Inkarnation der Erde und des Universums sind. Unser SELBST ist, wie Jung es sagt, eine Introjektion, ein Nach-Innen-in-unseren-Organismus-Hineinnehmen und Widerspiegeln der Welt. Insofern fügen wir der heute weitgehend anerkannten Definition des Menschen als eines bio-psycho-sozialen Systems gerne auch noch die Aspekte hinzu, die uns mit der Umwelt und Erde, sowie dem Universum bzw. Kosmos verbinden. Auch die Gesetzmäßigkeiten, die im Universum gültig sind, haben uns geprägt und prägen uns heute noch. Diese Aussage ist, um es zu wiederholen, naturwissenschaftlich und nicht metaphysisch gemeint.

C. G. Jung beschreibt in seiner Autobiografie eine für ihn wegweisende Erfahrung, die er 1925 in Afrika machte:

Auf einem niedrigen Hügel in dieser weiten Savanne erwartete uns eine Aussicht sondergleichen. Bis an den fernsten Horizont sahen wir riesige Tierherden […]

Langsam strömend, grasend, die Köpfe nickend, bewegten sich die Herden, kaum daß man den melancholischen Laut eines Raubvogels vernahm. Es war die Stille des ewigen Anfangs, die Welt, wie sie schon immer gewesen, im Zustand des Nicht-Seins; denn bis vor kurzem war niemand vorhanden, der wußte, daß es ›diese Welt‹ war. Ich entfernte mich von meinen Begleitern, bis ich sie nicht mehr sah und das Gefühl hatte, allein zu sein.

Da war ich nun der erste Mensch, der erkannte, daß dies die Welt war und sie durch sein Wissen in diesem Augenblick erst wirklich erschaffen hatte. Hier wurde mir die kosmische Bedeutung des Bewußtseins überwältigend klar […] der Mensch ist unerläßlich zur Vollendung der Schöpfung, ja er ist der zweite Weltschöpfer selber, welcher der Welt erst das objektive Sein gibt, ohne daß sie ungehört, ungesehen, lautlos fressend, gebärend, sterbend, köpfenickend durch hunderte von Jahrmillionen in der tiefsten Nacht des Nicht-Seins hin ablaufen würde. Menschliches Bewußtsein erst hat objektives Sein und den Sinn geschaffen, und dadurch hat der Mensch seine im großen Seinsprozess unerläßliche Stellung gefunden.

(Jung, Jaffé, 1962, S. 259)

Die Bewusstwerdung des Menschen im großen Seinsprozess könnte unserer Existenz einen übergreifenden Sinn und eine besondere Verantwortung schenken: die Individuation des Einzelnen wie die Evolution im Ganzen bestmöglich zu fördern, uns zu einem integrativen, globalen und kosmischen Bewusstsein zu entwickeln und das Leiden der Lebewesen zu mildern.