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Mami
– Box 3 –

E-Book 1739-1744

Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-707-3

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Geliebtes fremdes Mädchen

Das schwere Los eines Pflegekindes

Roman von Gisela Heimburg

Es regnete, was nur vom Himmel herunter wollte – dieses Märchen hatte Sandy als Kind besonders geliebt. Doch heute, da sie selbst in tiefer Waldeinsamkeit vom Unwetter überrascht worden war, befiel sie schon leises Grauen.

Im Scheinwerferkegel ihres Wagens stürzte der Regen wie ein dichter silberner Schleier hernieder. Rechts

und links der schmalen Waldstraße sprudelten weiße Bäche durch das Moos.

Offenbar habe ich mich total verfahren, dachte Sandy verzweifelt. Im gleichen Moment entdeckte sie ein goldenes Viereck, das anheimelnd durch die Finsternis schimmerte. Erleichtert stoppte das Mädchen an einer halbzugewucherten Gartenpforte, sprang aus dem Wagen und lief geduckt zum Haus. Mühsam ertastete sie den Klingelknopf.

Schon schwang die Tür auf. Im hellen Rahmen stand ein schlanker hochgewachsener Mann, der die späte Besucherin bestürzt musterte.

»Entschuldigen Sie bitte«, begann Sandy mit einem unsicheren Lächeln, »ich wollte mich nur nach dem Weg erkundigen. Ich…«

»Erst einmal herein mit Ihnen! Sie sind ja ganz naß.« Der Hausherr ergriff ihre Hand und zog sie in die Diele, bevor sie sich zu wehren vermochte. »Kommen Sie rasch an den Kamin.«

Der Raum, in den er sie führte, wurde nur von einer Tischlampe und dem Schein des Feuers matt erhellt. Rötlich schimmerndes Holz, Messing und unzählige Papiere schufen eine behagliche Atmosphäre.

»Bitte, nehmen Sie doch am Feuer Platz.«

Sandy schüttelte die Regentropfen aus ihrem schulterlangen honiggoldenen Haar. Dabei bemerkte sie, daß der Fremde sie mit einem Ausdruck unverhohlener Bewunderung anblickte.

»Hoffentlich können Sie mir helfen…«

»Aber gewiß!« fiel er ihr lächelnd ins Wort, griff nach einer auf dem Kaminsims abgelegten Pfeife und setzte sich.

»Sind Sie immer so siegessicher?«

»Das nicht, aber ich bin wildentschlossen, Ihnen zu helfen, ganz gleich, was Sie von mir verlangen!«

»Es gibt also doch noch edelmütige Menschen!« konterte Sandy amüsiert. »Sind Sie stets so hilfsbereit?«

»Nein.« Er zog an seiner Pfeife

und sah sie mit einem fast anbetenden, zärtlichen Augenausdruck an, so daß Sandy irritiert die Wimpern senkte.

»Also, ich suche das Landhaus Petermann.«

»Ich fürchte, da werden Sie vergeblich anklopfen Gerade heute bin ich daran vorbeigefahren. Dort ist niemand. Das Haus steht schon seit einiger Zeit leer. Ich glaube, die Petermanns haben es in diesem Sommer überhaupt noch nicht benutzt.«

»Ich weiß, aber ich habe die Schlüssel.«

»Ach, Sie gehören zur Familie?«

»Nein. Sylvia Petermann ist meine Schulfreundin. Ich heiße Sandy Eckner.«

»Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, die nur darauf zurückzuführen ist, daß Sie mich ein wenig in Verwirrung gestürzt haben, Fräulein Eckner. Mein Name ist von Weillheim. Sandy – ist das die Koseform von Alexandra?«

»Nein, viel schlimmer.«

»Nanu?«

»Meine Mutter muß gerade in einem romantischen Buch gelesen haben, als ich unterwegs war, in dem eine Melisande vorkam.«

»Aber das ist ja entzückend! Melisande – wie gut der Name zu Ihnen paßt!«

»Finden Sie?« Sandy runzelte mißtrauisch die Stirn.

»Aber ja!« beteuerte der Hausherr begeistert.

»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?«

»Hat Ihnen das noch niemand gesagt? Nein? Wo haben die Leute nur die Augen! Melisande – der Name einer Prinzessin! Ja, Sie sehen genauso aus, wie ich mir als kleiner Junge, wenn ich meine Märchenbücher schmökerte, eine Prinzessin vorgestellt habe, so schön, so zart, so blond, ein bißchen verträumt, irgendwie nicht ganz von dieser Welt.«

»Hören Sie bloß auf!« rief Sandy, der das Blut in die Wangen stieg. »Ich bin nichts weiter als Verkäuferin in einer Parfümerie. Wenn mein Äußeres einigermaßen annehmbar und gepflegt ist, so ist das vor allem das Verdienst meiner Chefin, die immer sagte: ›Ein Mädchen in einer Parfümerie muß adrett und kostbar aussehen.‹ Das ist alles.«

»Ich will das Verdienst Ihrer Chefin nicht schmälern, aber es muß ja erst einmal etwas vorhanden sein, das schön und kostbar aussehen kann. Sie wollen im Landhaus Petermann ihren Urlaub verbringen?«

»Schön wär’s. Nein, meine Chefin ist ganz plötzlich verstorben. Die Erben haben das schöne alte Haus sofort zum Abbruch verkauft, und da meine kleine Wohnung über dem Geschäft lag, stand ich auf der Straße. Als ich meiner Freundin Sylvia davon erzählte, bot sie mir spontan an, in ihrem leerstehenden Landhaus zu wohnen, bis ich wieder etwas Geeignetes gefunden habe.«

»Eine hervorragende Idee! Warum sind Sie nicht schon früher einmal gekommen?«

»Vor etlichen Jahren war ich schon einmal zu Besuch im Landhaus, während der Osterferien. Aber die Fahrt heute hat länger gedauert, als ich dachte, und in der Dunkelheit und dem Unwetter fand ich den Weg nicht mehr.«

»Ich bringe Sie hin, sobald der Regen nachläßt. Es ist nicht weit von hier.«

»Danke.« Sandy blickte in das schmale, intelligente Gesicht des Mannes, das von welligen aschblonden Haaren umrahmt wurde. Er mochte Ende Zwanzig sein. Unnachahmlich lässig hielt er die Dublin-Pfeife in der Hand. Etwas Heiteres und Unbekümmertes ging von ihm aus, als nähme er sich selbst und die ganze Welt nicht ernster als unbedingt nötig.

»Übrigens«, lächelte er, »ich bin ebenfalls mit einem ungewöhnlichen Vornamen gesegnet oder geschlagen, wie man’s nimmt. Ich heiße nämlich Pascal.«

»Ja, aber Sie sind adlig, wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe. Pascal von Weillheim, das klingt! Und bei Adligen ist man ja an seltsame Namen gewöhnt.«

Pascal von Weillheim neigte sich zu ihr. Zärtlichkeit schimmerte in seinen Augen.

»Der wahre Adel rührt nicht von der Geburt her, sondern kommt aus der Seele«, flüsterte er. »Und darum stehst du in der Rangliste weit über mir, mein Mädchen, mein Traum…«

Näher und näher kam sein Mund. Schon streifte sein heißer Atem Sandys Lippen. Sekundenlang saß sie wie gebannt, eingehüllt in die halbdunkle gemütliche Atmosphäre des Raumes und die betörenden Worte.

Doch im selben Moment, als von Weillheim seine Lippen auf ihren willenlosen Mund pressen wollte, schnellte sie in die Höhe.

»So, ich glaube, der Regen hat nachgelassen! Wenn Sie so freundlich sein würden…« Sie wandte sich zur Tür.

Der Hausherr folgte ihr, lächelnd und nicht im mindesten verlegen. Im Vorbeigehen nahm er einen Schirm vom Garderobenhaken.

»Ich wandere nachher zu Fuß nach Hause. Vor dem Zubettgehen unternehme ich gern noch einen Spaziergang, um frische Luft in die Lungen zu pumpen.«

Er dirigierte sie durch den nächtlichen Wald, und wenig später stoppte Sandy ihren Wagen vor dem Landhaus, daß sich in ihrer Phantasie in ein Traumschloß verwandelt und auch heute noch nichts von seinem Zauber eingebüßt hatte. Der feuchte Efeu, der an der schwarz-weißen Fachwerkfassade emporrankte, glänzte wie versilbert. Verspielte Erker schmückten das steile Dach. Jenseits der Gartenmauer rauschten die hohen Fichten leise im Nachtwind. Es regnete nicht mehr. Schwarze Wolkenfetzen jagten am Mond vorbei.

»Kommt es Ihnen nicht ein bißchen unheimlich vor – so ganz allein?« erkundigte sich Pascal von Weillheim.

»Unheimlich – wieso?«

»Meinen Sie nicht, daß es für eine junge Dame gefährlich werden könnte, so mutterseelenallein zu hausen? In meiner bescheidenen Hütte gibt es auch ein Fremdenzimmer, das ich Ihnen liebend gern zur Verfügung stellen würde.«

»Tatsächlich? Und Sie meinen, das wäre weniger gefährlich?«

Ihr Begleiter legte treuherzig die Hand aufs Herz. »Ich verspreche Ihnen, ganz brav zu sein.«

»Danke für das – selbstlose Angebot, Herr von Weillheim, aber ich bleibe lieber hier.«

»Nennen Sie mich doch Pascal, und gönnen Sie mir das Vergnügen, zu Ihnen Melisande sagen zu dürfen. Ich liebe diesen entzückenden Namen! Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich in den nächsten Tagen ein wenig gutnachbarschaftlich um Sie kümmere und Ihnen behilflich bin.«

»Danke. Aber wie kommen Sie darauf, daß ich nicht allein fertigwerden könnte?«

»Vielleicht haben Sie Schwierigkeiten, den Swimmingpool zu füllen oder was dergleichen Probleme mehr sind. Ein Mann ist mitunter nicht zu verachten.«

»Was Sie nicht sagen!« Sandy lächelte ihn ironisch an. »Also gut, ich werde mich melden, wenn ich nicht mehr weiter weiß.«

Pascal von Weillheim leuchtete mit einer Taschenlampe, als Sandy das Portal aufschloß und nach dem Lichtschalter tastete. In der weitläufigen Diele flammten drei schmiedeeiserne Kronleuchter auf und warfen ihr goldgetöntes Licht auf die gediegene rustikale Einrichtung.

»Schön ist es hier.« Das blonde Mädchen sah sich mit leuchtenden Augen um. »Ich komme mir vor, als ob ich träume.«

»Durchaus nicht, das ist genau der Rahmen, der zu Ihnen paßt, Melisande.«

Sie musterte ihn aus schmalgezogenen Augen, gab sich schließlich einen Ruck und sagte: »Danke, es war sehr nett von Ihnen, mich zu begleiten. Gute Nacht.«

»Sie werden doch wenigstens noch gestatten, daß ich Ihr Gepäck ins Haus trage.«

»Das kann ich nicht verlangen.«

»Sie können noch viel mehr verlangen.« Er eilte zum Wagen und öffnete den Kofferraum. »Ein Mädchen wie Sie, das eigentlich zur Prinzessin geboren wäre…«

»Hören Sie endlich auf, mich zu veräppeln!« rief Sandy ärgerlich.

»Tue ich das? Sie irren sich, Melisande. Ich muß Sie immer wieder anschauen. Wäre es vielleicht denkbar, daß Sie in der Klinik vertauscht worden sind?«

Sandy lachte hellauf. »Sicher! In der Klinik, in der ich das Licht der Welt erblickte, wimmelte es nur so von Hoheiten! So, nun ist aber Schluß mit den Albernheiten! Nochmals herzlichen Dank für Ihre Mühen.«

»Gern geschehen, Allergnädigste. Es ist eine Freude, Ihnen dienen zu dürfen. Schlafen Sie wohl, und mögen angenehme Träume Ihren Schlaf umgaukeln. Sie wissen doch, was man in der ersten Nacht an einem fremden Ort träumt, geht in Erfüllung.«

»Abergläubisch sind Sie auch?«

»Das hat durchaus nichts mit Aberglauben zu tun, sondern… Aber darüber plaudern wir vielleicht morgen weiter, ja, denn das ist ein weites Feld. Gute Nacht, schöne Melisande.«

»Gute Nacht, Pascal.« Sie betonte den Namen.

Von Weillheim schwenkte seinen Regenschirm wie einen Degen und lächelte ihr strahlend zu, als habe sie ihn reich beschenkt, während er in der Dunkelheit verschwand.

Aufatmend schloß Sandy das Portal von innen ab. Uff! Ein netter Kerl, aber ziemlich anstrengend. Dauernd mußte man auf der Hut sein. Um ein Haar hätte er sie geküßt. Mit seinem Charme und seinen süßen Worten hatte er sicher schon so manches Mädchenherz dahinschmelzen lassen. Aber bei ihr war er an der falschen Adresse, sie war nicht der Typ, der sich einwickeln ließ. Trotzdem fühlte Sandy sich nach dieser Begegnung leichter und beschwingter. Die Sorge um die Zukunft hatte alles Schicksalsschwere verloren.

Beschwingt begann sie durch das Landhaus zu wandern und sich alles anzuschauen. Die bäuerlich-elegante Einrichtung war beeindruckend. Im ersten Stockwerk lagen die Gästezimmer, eines schöner als das andere. Sandy entschied sich schließlich für einen Raum, der in Altrosa und Lindgrün gehalten war, ihren Lieblingsfarben.

Eine Viertelstunde später lag sie unter der luxuriösen Daunendecke, die kaum spürbar auf ihr schwebte. Ein wohlig-entspanntes Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie rollte sich auf die Seite und ließ die Ereignisse des Tages noch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren, wie sie es jeden Abend vor dem Einschlafen tat. Am Nachmittag hatte sie die Stadt verlassen und war in die Wälder gefahren, war in eine völlig andere Welt eingetaucht, in eine stille ruhige Welt. Sie fühlte einen tiefen Frieden. Doch als sie dann an die Begegnung mit Pascal von Weillheim dachte, klopfte ihr Herz unvernünftig schnell. Ein bemerkenswerter Mann. Was er wohl von Beruf sein mochte? Warum lebte er in der Einsamkeit? Ob er wohl verheiratet war? Nichts im Hause hatte auf die Anwesenheit eines weiblichen Wesens hingedeutet.

Als Sandy bereits in die Bereiche des Traumes hinüberzudämmern begann, vernahm sie plötzlich ein Geräusch, das sie aufschrecken ließ. Angespannt lauschte sie. War es der Wind in den Bäumen? Knackte irgendwo ein Balken?

Tap – tap – tap…

Sandy fuhr in die Höhe. Jemand schlich durch den Korridor.

Das Herz des Mädchens hämmerte zum Zerspringen. War der Mann zurückgekehrt und ins Haus eingedrungen? Verbarg sich hinter seinem charmanten Äußeren ein gemeiner Charakter?

Sandy war völlig ratlos. Was konnte sie tun? Fahrig tastete sie nach der Nachttischlampe. Das Licht flammte auf, doch die Gespenster der Furcht wichen nicht.

Draußen knackten die Dielen.

Sandy löste sich mit aller Willenskraft aus ihrer Erstarrung. Sie warf die Decke beiseite und schwang sich aus dem Bett. Auf nackten Sohlen huschte sie zur Tür und öffnete sie Millimeter um Millimeter einen Spaltbreit. Mit ängstlich geweiteten Augen starrte sie hinaus. Und dann hätte sie vor Erleichterung beinahe laut aufgelacht.

Es war ein Kind, ein kleines Mädchen, das sich gerade anschickte, die Treppe zu erklimmen, die unters Dach führte. In der Hand hielt es einen Leuchter mit einer flackernden Kerze.

»Kind, wie kommst du denn hierher?« fragte Sandy entgeistert.

Das kleine Mädchen fuhr herum. Das hübsche Gesichtchen, das von dichten dunkelbraunen Haaren umrahmt wurde, war kalkweiß. Der Leuchter begann dem zitternden Händchen zu entgleiten. Sandy sprang hinzu und fing die Kerze auf.

Die Knie des Kindes gaben nach. Es sackte in sich zusammen und hockte sich auf eine Treppenstufe.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, erklärte Sandy rasch, »ich bin hier zu Gast, genau wie du, mein Kleines. Bist du mit deinen Eltern hier? Ich hatte keine Ahnung. Sylvia Petermann meinte, das Haus stehe völlig leer. Wie heißt du denn?«

Das Kind, das ein bodenlanges weißes Nachthemd trug, brachte kein einziges Wort hervor.

Sandy setzte sich ebenfalls auf die Treppe. »Ich heiße Sandy. Und du? Willst du es mir nicht verraten?«

Plötzlich sprang das kleine Mädchen auf und versuchte blindlings zu fliehen. Sandy holte es ein, packte es und wollte es auf den Arm heben. Doch es wehrte sich verzweifelt, strampelte mit Armen und Beinen und versuchte zu beißen.

»Willst du wohl vernünftig sein!« keuchte Sandy fassungslos. »Ich will dir doch nichts tun.«

Im selben Moment spürte sie, daß sie von hinten angesprungen wurde.

Entsetzt schrie sie auf.

Jemand entriß ihr das zappelnde kleine Mädchen.

Sandy fuhr herum.

Ein größeres Mädchen – Sandy schätzte es auf achtzehn Jahre – hielt die Kleine an sich gepreßt, als gelte es, das Kind gegen eine feindliche Welt zu verteidigen.

Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Das Mädchen und das Kind hatten das gleiche schwarzbraune, ungebändigte Haar, die gleichen schönen Nachtaugen, die gleichen hübschgeschwungenen weichen Lippen. Schwestern – ganz offensichtlich.

Sandy schnappte nach Luft. »He? Warum der Aufstand? Ich hatte nicht die Absicht, deine kleine Schwester zu entführen. Aber ich möchte doch zu gern wissen, wer ihr seid.«

»Meine kleine Schwester? Meinen Sie etwa Geli?« erwiderte die Fremde kratzbürstig und warf den Kopf in den Nacken.

Das Kind blickte finster über die Schulter und rief: »Aber das ist doch meine Mami!«

Sandy stutzte. »Oh, entschuldigt, das konnte ich nicht ahnen. Ich habe Sie höchstens für achtzehn Jahre gehalten.«

»Ich bin vierundzwanzig«, entgegnete das Mädchen trotzig und glich während dieser Beteuerung mehr denn je einer halbwüchsigen Wildkatze.

»Und Sie sind hier zu Besuch?« forschte Sandy.

»Ja, das heißt nein, also…«

»Das hört sich ja ziemlich konfus an. Vielleicht sollten wir uns erst einmal miteinander bekannt machen, dann plaudert es sich leichter. Ich bin Sandy Eckner, Sylvia Petermanns Schulfreundin.«

Die Fremde schwieg so verbissen wie ihre kleine Tochter.

»Tja«, meinte Sandy, »dann ist es wohl am besten, ich rufe bei den Petermanns an und erkundige mich.«

»Nein!« rief das dunkelhaarige Mädchen erschrocken. »Bitte nicht! Wir haben uns hier nämlich versteckt!«

»Versteckt? Sind Sie etwa vor Ihrem Mann ausgerückt? Ist er gewalttätig geworden?«

»Ich – ich habe keinen Mann«, antwortete die Fremde betreten und senkte den Kopf.

»Nein, wir haben keinen Papi«, fügte die kleine Geli hinzu.

»Aber aus welchem Grund verstecken Sie sich? Das müssen Sie mir schon sagen, Frau…«

»Steffi… Stefanie Rieck heiße ich. Wenn wir wenigstens noch heute nacht bleiben dürfen? Bitte!« Sie sah so verstört aus, daß eine Woge des Mitgefühls in Sandy emporstieg.

»Selbstverständlich dürfen Sie bleiben, ich habe nichts dagegen. Aber ich schlage vor, daß Sie Geli erst einmal wieder zu Bett bringen, und dann ziehen Sie sich etwas an, wenigstens Schuhe, damit Sie sich nicht erkälten. Nach dem Unwetter ist es kalt geworden.«

Stefanie Rieck blickte auf ihre nackten Füße, die unter dem langen Nachthemd hervorlugten, dann hob sie den Blick. In ihren dunklen Augen war ein unendlich dankbarer Ausdruck. Sie kam Sandy wie ein Tier des Waldes vor, das versehentlich in eine Falle geraten war, nun aber begriff, daß es einen Menschen gab, zu dem es Vertrauen haben konnte.

Die junge Mutter begann ihr Kind die Treppe hinaufzutragen. Unwillkürlich folgte Sandy ihr. Sie gelangten in ein winziges Zimmer mit schrägen Wänden, offenbar eine ehemalige Dienstbotenkammer. Stefanie Rieck legte das kleine Mädchen zärtlich in das Bett, deckte es fürsorglich zu, küßte und flüsterte: »Hab keine Angst, meine Kleine. Die Tante ist lieb, sie wird uns nicht verraten, bestimmt nicht. Schlaf jetzt schön weiter. Deine Mami kommt auch bald.«

»Bestimmt?«

»Du weißt doch, daß ich dich nicht anschwindele, Schätzchen, nicht wahr?«

»Ja, Mami.«

»Na also.«

Stefanie schlüpfte in ihre Schuhe, die vor dem Bett standen, zog einen leichten Mantel über, den sie achtlos über eine Sessellehne geworfen hatte, schob Sandy aus dem Zimmer und schloß leise die Tür.

»Am besten, wir setzen uns ins Wohnzimmer«, schlug Sandy vor.

Schweigend stiegen sie die Treppen hinunter. Als sie sich gegenübersaßen, zog Stefanie Rieck die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Es fiel Sandy schwer, sich vorzustellen, daß dieses Geschöpf bereits Mutter war.

»Wie alt ist Ihre kleine Geli?« fragte sie unwillkürlich.

»Sieben.«

»Hat Geli irgend etwas ausgefressen? Müßt ihr euch deshalb verstecken?«

»Sie meinen, daß die Polizei hinter uns her ist? Nein.«

Wieder herrschte drückendes Schweigen. Stefanie starrte auf ihre Fußspitzen.

»Wie sind Sie denn ins Haus gekommen? Haben Sie einen Schlüssel?«

Stefanie schüttelte den Kopf ohne aufzusehen.

»Sie sind also eingebrochen?«

»Nein! Bloß eingestiegen. Ein Kellerfenster stand offen.«

»Aha. Sie wußten also, daß dieses Haus leersteht. Pech, daß ich ausgerechnet in diesem Moment aufkreuzen mußte, wie?«

»Ja, das war Pech.«

»Wie lange sind Sie denn schon hier?«

»Eine Woche ungefähr.«

»Und wie lange gedachten Sie zu bleiben?«

Die junge Mutter strich sich mit einer hilflosen Geste das wirre Haar aus den Augen und zuckte die Achseln.

»Nun erzählen Sie mir doch endlich, warum Sie sich verbergen müssen!« forderte Sandy ungeduldig.

»Weil sie mir mein Kind wegnehmen wollen!« stieß Stefanie mit wilden Augen hervor.

»Wer denn?«

»Die vom Amt! Und die Heineckes!«

»Nun einmal schön der Reihe nach.« Sandy kam sich plötzlich um Jahrzehnte älter als dieses dunkellockige Naturkind vor, obwohl sie genau im gleichen Alter waren. »Niemand kann in diesem Land einer Mutter ihr Kind wegnehmen, jedenfalls nicht ohne triftigen Grund.«

»Es gibt keinen Grund!« begehrte Stefanie auf. »Es sind Lügen, alles Lügen!«

»Haben Sie Ihr Kind vernachlässigt?«

»Niemals! Ich habe meine Kleine lieb! Sie ist doch das einzige, was ich auf der Welt habe! Gelis Vater war ein elender Schuft. Er kam als Lehrer an die Zentralschule. Beim Schützenfest lernten wir uns kennen. Im Festzelt. Er hat schöngetan mit mir. Ich mochte ihn von Anfang an. Aber er war verheiratet. Das war vielleicht ein Schock! Ja, und dann kam Geli auf die Welt. Ich war gerade siebzehn und noch mitten in der Lehre.«

»Aber die Familie Heinecke war gut zu Ihrem Kind, oder?«

»Sicher! Sonst hätte ich Geli doch nicht dort gelassen! Die Frau konnte keine Kinder bekommen. Ja, sie war gut zu meiner Geli, viel zu gut, wie ich heute weiß. Ganz vernarrt war sie in mein Baby. Ich ahnungsloses Schaf! Ich dachte mir nichts dabei, als Frau Heinecke mich immer wieder flehendlich bat, Geli doch noch bei ihr zu lassen. So ging die Zeit dahin. Aber dann habe ich mir endlich eine richtige kleine Wohnung gemietet, um Geli zu mir zu nehmen. Als ich Frau Heinecke davon erzählte, bekam sie fast einen hysterischen Anfall.«

»Sie wollte das Kind nicht hergeben?«

»Genau! Sie wollte meine Geli behalten – stellen Sie sich das nur vor! Ich habe zuerst ganz vernünftig mit ihr und ihrem Mann geredet. Die beiden versuchten, mir mein Kind abzuhandeln. Ja, sie wollten es regelrecht kaufen! Geld haben sie mir geboten, einen Haufen Geld!«

Sandy seufzte tief. »Ja, das ist ein Problem. Die Heineckes hatten sich natürlich an ihr Pflegekind gewöhnt. Und es ist ja auch ein gutes Zeichen, daß sie es nicht leichten Herzens hergeben mochten.«

Stefanie Riecks Nachtaugen wurden groß und wild. »Zuerst taten sie mir ja auch leid. Ich war selbst schuld, ich hätte Geli nicht jahrelang bei fremden Leuten lassen dürfen! Darum ließ ich mich bereden, meine Kleine noch ein Vierteljahr in der Obhut der Pflegeeltern zu lassen – und dann wieder ein Vierteljahr. Schließlich wurde es mir zu dumm. Jetzt wollte ich Geli haben, ohne Fisimatenten. Da war es schon zu spät.«

»Wieso zu spät?«

»Eines Tages tauchte eine Fürsorgerin bei mir auf, um mich ›persönlich in Augenschein zu nehmen‹, wie sie sich ausdrückte, diese arrogante Person. Na, ich bin ein bißchen frech geworden, das muß ich zugeben, aber das ist doch kein Grund, mir meine Tochter wegzunehmen!«

»Hat es denn eine Gerichtsverhandlung gegeben?«

»Noch nicht. Aber die vom Amt haben angeordnet, daß Geli erst einmal in der Pflegestelle bleibt. Da habe ich rot gesehen. Ich habe mir meine Kleine geschnappt und bin mit ihr auf und davon. Hier im Landhaus Petermann sind wir erst einmal untergekrochen. Ich habe so oft gehofft und gebetet, daß niemand kommt. Aber Sie werden uns nicht verpetzen, nicht wahr?«

»Selbstverständlich nicht, da können Sie völlig beruhigt sein. Denn schließlich sind Sie im Recht. Ein Kind gehört zu seiner Mutter. Und Geli möchte doch auch lieber bei Ihnen leben als bei den Pflegeeltern?«

»Klar, die Kleine hängt an mir.«

»Ja, das habe ich gesehen. Und Sie verteidigen Ihr Töchterchen mit dem Mut einer Löwin. Wie Sie mir das Kind entrissen haben, sehr beachtlich!«

»Ich dachte im ersten Moment, Sie sind eine vom Jugendamt, die mich hier aufgestöbert hat!« lachte Stefanie Rieck unbekümmert.

»Sehe ich so aus?«

»Eigentlich nicht.«

»Ich bin keine Beamtin, sondern Verkäuferin. Bislang habe ich in einer Parfümerie gearbeitet. Jetzt muß ich mich nach einem anderen Job und einer anderen Wohnung umsehen, denn meine Chefin ist verstorben.«

»Oh, das tut mir aber leid.«

»Vorerst werde ich hier wohnen. Ich denke, wir drei werden gut miteinander auskommen.«

»Prima! Ich freue mich! Ein bißchen einsam und unheimlich war es manchmal, besonders heute nacht bei dem Sturm. Geli und ich haben uns ganz dicht aneinandergekuschelt.«.

»Aber auf die Dauer können Sie sich natürlich nicht versteckt halten! Das ist keine Lösung.«

»Was soll ich denn machen?« fragte Stefanie verzweifelt.

»Wir werden schon einen gangbaren Weg finden. Sie stammen aus dem Dorf, wie Sie sagten. Da muß es doch Leute geben, die für Sie aussagen können.«

»Na, ich weiß nicht. Die meisten können mich nicht leiden, weil ich ihnen früher Äpfel geklaut habe – und solche Sachen.«

Sandy lachte. »Aber das ist doch kein Grund, um nicht Partei für eine junge Mutter zu ergreifen, die um ihr Kind kämpft. Ich habe vorhin einen netten Herrn kennengelernt. Er heißt Pascal von Weillheim, und er…«

»Ach, der Spinner!« rief Stefanie verächtlich.

»Wieso ist er ein Spinner? Ich fand ihn recht vernünftig.«

»Der hat den Kopf immer in den Wolken. Der schreibt nämlich.«

»Er schreibt? Ist er Schriftsteller?«

»Ja, er dichtet Zukunftsromane. Also, so ein blödsinniges Zeug, das können Sie sich gar nicht vorstellen! Außerdem haßt er mich.«

»Warum denn? Das bildest du…, das bilden Sie sich doch sicher nur ein.«

»Der wollte mit mir mal anbändeln. Ich habe ihm die kalte Schulter gezeigt. Und seitdem ist er sauer.«

»Hm«, Sandy schluckte. »Ich schlage vor, wir vertagen unsere Unterhaltung auf morgen. Es ist schon spät.«

»Okay. Und Sie hauen mich bestimmt nicht in die Pfanne? Daß nicht plötzlich Polizei vor unserem Bett steht?«

»Ihre Phantasie möchte ich haben! Also, bis morgen!«

»Danke. Sie sind sehr lieb.« Stefanie umarmte Sandy, hauchte einen Kuß auf ihre Wange und entschwand.

Sandy lag noch lange hellwach in ihrem Luxusbett. Sie hatte geglaubt, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, kaum jemals einen Menschen zu sehen, und nun überstürzten sich die seltsamsten Begegnungen.

Ob Stefanie ihr die ganze Wahrheit gesagt hatte? Vielleicht war dieses kindhafte Geschöpf tatsächlich nicht in der Lage, für eine Tochter zu sorgen – aus welchen Gründen auch immer. Egal! Mit dem Herzen stand sie auf der Seite der jungen Mutter.

Lange nach Mitternacht schlummerte Sandy endlich ein.

*

Als Sandy am nächsten Morgen die geschwungene Treppe hinunterstieg, wehte ihr köstlicher Kaffeeduft entgegen. In der Küche klapperte Geschirr.

In der offenen Tür stand die kleine Geli in einem moosgrünen Kinderdirndl. Einen Moment lang spannte sich das schmale Gesichtchen, doch dann stürmte das Mädchen durch die Diele und flog in Sandys Arme.

»Ich bin so froh, daß du uns nicht vor die Tür gejagt hast!« flüsterte Geli heiß und schmiegte ihr Köpfchen an die Wange des blonden Mädchens.

Ein warmes Gefühl durchströmte Sandy. Innig drückte sie das Kind an sich. Sie konnte verstehen, daß sich die Pflegeeltern in dieses entzückende kleine Mädchen mit den Sommerkirschenaugen verliebt hatten. Aber ihr war auch klar, daß sie genauso um Geli kämpfen würde, wenn sie die leibliche Mutter wäre.

»Halli-hallo, das Frühstück ist fertig!« rief eine frohe übermütige Stimme.

»Guten Morgen, Stefanie.« Sie brachte es einfach nicht fertig, dieses Naturkind mit »Frau Rieck« anzureden.

»Guten Morgen! Ich habe für uns alle auf der Terrasse gedeckt. Ist es recht?«

»Natürlich ist es recht. Ich finde es ganz reizend von Ihnen. Daß Sie schon auf den Beinen sind, ahnte ich gar nicht.«

»Geli und ich springen immer früh aus den Federn. Morgens ist die Welt am schönsten. Und man findet die meisten Beeren im Wald, oder Pilze. Ja, man muß draußen sein, bevor die anderen aufkreuzen, die Langschläfer, wie dieser Dichter, der Spinner Sie wissen schon.«

»Komm!« Geli packte Sandy eifrig bei der Hand und zerrte sie durch das Wohnzimmer und die sperrangelweit offenstehende Terrassentüren. Die Sonne vergoldete eine Welt, die nach dem ausgiebigen Regenbad der Nacht so frisch und neu wirkte, als liege der erste Schöpfungstag noch nicht weit zurück. Wilde Blumen rankten üppig über die verwitterte Balustrade der Terrasse. Vögel jubilierten und begrüßten den jungen Tag wie ein Wunder.

»Wie schön es hier ist!« Sandys Brust weitete sich, und ihre grünen Augen leuchteten die Smaragde. Ihr Blick fiel auf den Frühstückstisch.

»Wo haben Sie denn all die leckeren Sachen her? Etwa aus dem Dorf? Haben Sie sich zum Einkaufen hinausgewagt?«

»Ich war im Nachbardorf, und zwar verkleidet«, verkündete Stefanie mit einem spitzbübischen Lächeln, das sie noch jünger erscheinen ließ.

»Verkleidet?«

»Ich war so frei, mir eines von Syl­vias Kleidern auszuleihen, ein Pariser Modell, glaube ich.«

»Und dann hat meine Mami ein Kopftuch umgebunden und eine große Sonnenbrille aufgesetzt«, erläuterte Geli. »Das sah vielleicht ulkig aus!«

Stefanie nickte. »Ich bin quer durch den Wald gestiefelt zum Einkaufen. Im Dorf haben sie mich bestimmt für einen Feriengast gehalten. Jedenfalls hat keiner was gemerkt. Geli war inzwischen ganz brav und hat allein auf mich gewartet.«

»Aber mir war gruselig«, bekannte das kleine Mädchen. »Alleinsein ist nicht schön, nicht, Tante Sandy?«

In diesem Augenblick ertönte durch die Stille ein lautes Motorengeräusch. »Ein Wagen!« Stefanie Rieck schnellte in die Höhe, stürmte durch das Wohnzimmer in die Diele, spähte durch die Gardine, kam mit hektisch glühenden Wangen zurück und flüsterte:

»Es ist der Spinner! Daß der so früh schon auf ist, wundert mich. Was jetzt? Geli, schnell, das Geschirr in die Küche, hopp-hopp!«

»Nein, Sie brauchen sich nicht zu verstecken«, widersprach Sandy rasch. »Wir werden uns ganz ruhig und vernünftig mit Herrn von Weillheim unterhalten und ihn bitten, uns zu helfen.«

Stefanie aber schüttelte wild den Kopf. Die ungebändigten dunklen Locken flogen ihr ins Gesicht. »Auf den ist kein Verlaß! Der verpfeift mich! Bitte, bitte, nichts sagen!« Flehend legte sie die Hände auf Sandys Unterarme.

»Schon gut, ich halte den Mund.«

In Windeseile begann Stefanie, zwei Frühstücksgedecke zusammenzustellen. Ihre kleine Tochter half ihr nach besten Kräften. Kaum waren sie in der Küche verschwunden, als es am Portal läutete.

Sandy atmete tief durch, zauberte ein strahlendes Lächeln auf ihre Züge und öffnete.

»Hallo – einen wunderschönen guten Morgen!« begrüßte sie Pascal von Weillheim. »Haben Sie wohl geruht, Melisande? Prächtig schauen Sie aus in dem himmelblauen Kleid. Sie haben eine erstklassige Schneiderin, das steht fest!«

Sandy lachte amüsiert. »Die erstklassige Schneiderin bin ich selbst.«

»Tatsächlich? Ich staune. Haben Sie noch mehr verborgene Talente? Welch eine Frage! Natürlich! Ich schätze, Sie können auch wunderschön malen und Klavier spielen.«

»Spinner!«

»Wie bitte?«

»Ich meine, es ist ja kein Wunder wenn die Phantasie mit Ihnen durchgeht – bei Ihrem Beruf.«

Pascal stutzte. »Woher kennen Sie meinen Beruf?«

Sandy spürte, daß ihr das Blut in die Wangen stieg. »Ich – also…«, stammelte sie, »ich traf heute morgen eine alte Frau, die im Wald Pilze sammeln wollte. Sie erzählte mir, daß Sie ein bekannter Science-Fiction-Autor sind.«

»Schau an, Melisande interessiert sich derart für meine Wenigkeit, daß sie alten Frauen im Wald diesbezügliche Fragen stellt! Wie erfreulich!«

»Ihre Ironie können Sie sich sparen. Was ist denn Schlimmes daran, wenn man über einen Nachbarn spricht, und zwar nichts Schlechtes?«

»Sie haben recht, es gibt kaum ein besseres Gesprächsthema als die lieben Nachbarn.«

»Ich verstehe gar nicht, warum Sie so empfindlich sind. Übrigens – ich lese auch gern utopische Romane. Ihr Name ist mir allerdings noch nie aufgefallen – eine Bildungslücke, nicht wahr?«

»Wohl kaum«, schmunzelte der Schriftsteller. »Allerdings würden Sie meinen richtigen Namen vergeblich suchen, denn ich schreibe unter Clark Henderson.«

»Nein!« rief Sandy überrascht. »Gerade neulich habe ich ›Die Zukunftsmaschine‹ von Clark Henderson gelesen! Das sind Sie?«

»Ich staune, Melisande. Meine Leser habe ich mir anders vorgestellt, ganz anders.«

»Sie meinen, ein Mädchen darf nur Liebesromane schmökern?«

»Bewahre! Aber im allgemeinen neigen junge Mädchen nicht dazu, Science-Fiction-Romane in die Hand zu nehmen.«

»Das Buch hat mir sogar besonders gut gefallen, vor allem auch, weil keine Kriege und Gewalttaten darin vorkommen. Haben Sie noch mehr geschrieben?«

»O ja!«

»Ob ich mir eins ausleihen dürfte?«

»Wenn ich das nächste Mal komme, bringe ich Ihnen zwei oder drei Schmöker mit. – Was haben Sie heute nacht geträumt, Melisande?«

Sandy warf einen unauffälligen Blick auf die Küchenuhr. Das kleine Mädchen brauchte nur ungewollt ein Geräusch zu verursachen, um den Besucher mißtrauisch zu machen. Außerdem wollte sie nicht, daß Stefanie und ihr Kind wie in einer Mausefalle hockten, darum entgegnete sie mit einem verheißungsvollen Lächeln: »Wenn Sie mich bei dem kleinen Morgenspaziergang begleiten, den ich gerade unternehmen wollte, erzähle ich es Ihnen.«

»Mit dem größten Vergnügen!«

Sie verließen das Landhaus. Sandy schloß die Tür ab. Unter den leise rauschenden Parkbäumen tanzten Sonnenreflexe wie Lichtelfen.

»Nun? Wovon haben Sie geträumt?« Pascal umfaßte leicht ihren Arm.

»Leider, leider nicht von Ihnen, Pascal, falls Sie das gehofft haben sollten.« Sandy warf ihm einen glitzernden, spöttischen Seitenblick zu.

»Schade!«

»Mir träumte von einem Kind, einem ganz süßen kleinen Mädchen.«

»Ach, das ist ja interessant!«

»Inwiefern?«

»Träume geben über unser Unterbewußtsein Aufschluß, wie Ihnen sicher bekannt sein dürfte. Das heißt also, daß Sie von einem Kind träumen, genauer, von einer Familie, einem Zuhause, einem netten Ehemann.«

»Wie scharfsinnig! Welches Mädchen wohl nicht?«

»Ist es nur ein Traum? Oder steckt etwas Reales dahinter? Ein Verlobter?«

»So fragt man Leute aus!« lachte Sandy und schüttelte übermütig ihr helles Haar, das in der Morgensonne leuchtete.

Pascal von Weillheim ergriff ihre linke Hand und betrachtete sie ernst. »Kein Ring. Kein Verlobter?«

»Meine Güte, nein! Der Richtige ist mir noch nicht über den Weg gelaufen.«

Der Waldweg kreuzte jetzt eine schmale Asphaltstraße, die sich einsam durch den Wald schlängelte, Sandy schaute aufmerksam nach links und rechts – da stockte ihr Herzschlag.

Am Straßenrand lag ein Reh. Leblos. Starr. Mit gestreckten Läufen.

Neben dem Muttertier aber stand steifbeinig ein Kitz, das die Alte immer wieder mit seinem winzigen Köpfchen anstieß, als wollte es sagen: Komm doch, Mami, steh auf! Laß uns weiterspielen und durch den Wald ziehen…

Sandy erstarrte in der Bewegung und packte die Hand des Mannes, um ihn zurückzuhalten.

Das Kitz hob den Kopf und sah aus dunklen fassungslosen Augen zu ihnen herüber, unschlüssig, verängstigt. Es drängte sich an die Mutter, suchte Schutz und Geborgenheit, und fürchtete sich doch vor den Menschen, die Gefahr bedeuteten, wie jedes Tier des Waldes instinktiv wußte.

Schließlich siegte die Furcht. Das Junge entwich langsam ins Gebüsch jenseits des Straßengrabens.

Sandys Herz hämmerte im Hals. Sie ließ Pascals Hand los und bewegte sich wie in Trance vorwärts, ging in die Knie, legte die Hand auf den Hals des Rehs.

Es war noch warm, aber die Augen wirkten gebrochen, und es rührte sich nicht.

Pascal hockte sich dicht neben ihr nieder.

»Es ist tot«, murmelte er, »wahrscheinlich von einem Auto angefahren.«

Plötzlich fuhr sie hoch. »Das Kitz! Wir müssen es mitnehmen. Es hat sonst keine Überlebenschancen.«

Vorsichtig kletterte Sandy über den Straßengraben. Schon entdeckte sie das winzige Tierchen zwischen den dichten Haselnußzweigen.

»Helfen Sie mir, Pascal«, flüsterte sie atemlos. »Gehen Sie langsam auf die andere Seite.«

Der Mann gehorchte.

Sandy begann beruhigend auf das kleine Reh einzureden: »Lauf nicht weg, mein Kleines. Wir wollen dir ja nichts tun. Du hast deine Mami verloren, aber wir bringen dich schon durch, keine Angst.«

Das kleine Tier ließ sich greifen und wehrte sich auch kaum, als Sandy es auf die Arme hob. Innig drückte sie es an sich, warmes atmendes Leben, einer feindlichen Welt schutzlos preisgegeben, nachdem es die Mutter, seinen einzigen Halt, verloren hatte.

Sie wollte sofort den Waldweg einschlagen, der zum Landhaus führte, doch Pascal vertrat ihr den Weg.

»Bitte, warten Sie, Melisande. Lassen Sie uns das Kitz lieber zum Förster bringen. Erstens liegt das Forsthaus ganz nah, und zweitens hat Herr Schröder mehr Erfahrung, was in einem solchen Fall zu tun ist.«

Ein paar Sekunden lang kämpfte Sandy mit sich. Am liebsten hätte sie selbst alles nur Menschenmögliche für dieses arme Waisenkind getan, doch dann siegte ihre Vernunft.

»Geben Sie mir das Tierchen.«

»Nein, nein, ich trage es selbst. Zeigen Sie mir nur den Weg.«

Vertrauensvoll kuschelte sich das Reh an seine neue Beschützerin, doch als Sandy sich in Bewegung setzte, reckte es das Hälschen, versuchte einen Blick auf die zurückbleibende Mutter zu erhaschen und fiepte herzzerreißend.

Tränen stürzten Sandy in die Augen. Halb blind stolperte sie die Straße entlang.

Als die Tränen endlich versiegten und Sandys Blick wieder klarer wurde, entdeckte sie abseits der Straße ein romantisches Ziegelsteinhaus mit grünen Fensterläden. Über dem moosbewachsenen Dach rauschten die breit ausladenden Zweige mächtiger Fichten. Ein Eichhörnchen trippelte den First entlang und entschwand mit elegantem Schwung in einer der dichtbenadelten Baumkronen.

Pascal von Weillheim klopfte lautstark an die Tür.

»Ich komme ja schon! Wo brennt’s denn?« ertönte eine jung klingende Männerstimme.

Die Haustür schwang auf. Sandy hatte einen alten Förster mit eisgrauem Bart erwartet, doch in der Öffnung stand ein schlanker dunkelhaariger Mann, nicht älter als Anfang Dreißig. Er trug die grüne Uniform seiner Zunft.

»Was bringen Sie mir denn da ins Haus, Herr Weillheim?«

Pascal begann mit knappen Worten zu berichten. Währenddessen glitt der Blick des Försters über seine Schulter hinweg. Sandy war einige Schritte entfernt auf dem Gartenweg stehengeblieben. Ihr Herz klopfte schnell und stark.

»Fräulein Eckner wollte das Kitz mit ins Landhaus Petermann nehmen«, schloß der Schriftsteller seinen Bericht. »Aber ich schätze, bei Ihnen ist es entschieden besser aufgehoben.«

Der Förster kam auf Sandy zu. Sein Gesicht wirkte ernst und angespannt.

»Achim Schröder«, stellte er sich mit einer kurzen Verbeugung vor. »Ja, das Auto ist in unseren Wäldern das größte Raubtier geworden. Ein Glück, daß Sie gerade zufällig vorbeigekommen sind.« Ein kleines Lächeln löste seine düsteren Züge.

»Werden Sie es durchbringen?« fragte Sandy ängstlich.

Der Förster nahm ihr das Tierchen vorsichtig ab.

»Ich hoffe es.«

»Herr Schröder hat schon manches Tier aufgezogen oder gesundgepflegt«, ließ sich Pascal von Weillheim vernehmen. »Er gilt in der Umgebung fast als ein Hexenmeister, was Tiere anbelangt.«

»Herr von Weillheim neigt von Berufs wegen zu Übertreibungen«, lächelte der Förster Sandy an.

»Ich weiß«, nickte sie zustimmend.

Achim Schröder trug das Waisenkind in ein Gatter und setzte es behutsam ins Gras.

»Bleiben Sie bitte bei dem Kitz, Fräulein Eckner, ich hole die Milchflasche.«

Sandy ließ sich auf den Boden sinken und streichelte das Tierchen beruhigend, bis es seine ängstliche Scheu verlor und sich an sie schmiegte.

»Es sieht in Ihnen offenbar schon die neue Mutter, Melisande«, schmunzelte Pascal, der am Gatter lehnte und seine Pfeife stopfte.

In erstaunlich kurzer Zeit kehrte der Förster mit einer gefüllten Milchflasche zurück. Nach wenigen vergeblichen Versuchen, und nachdem der Mann ein wenig Milch an sein Mäulchen geschmiert hatte, begriff das Kitz, daß aus dem Gummisauger die lebensspendende Nahrung floß, und begierig begann es zu saugen.

»Na also.« Mit einem Seufzer der Erleichterung atmete Achim Schröder auf. »Das Schwerste ist schon überstanden. Nun kommt es nur noch darauf an, daß sich unser Baby nicht allzu einsam fühlt.«

Ein warmer zärtlicher Glanz leuchtete in seinen dunklen Augen.

Sandy atmete tief auf. »Sie haben sicher nicht allzuviel Zeit, Herr Schröder. Ich dagegen verfüge über Zeit in Massen. Darf ich manchmal herkommen und mich um das Kleine kümmern?«

»Sie könnten unserem Schützling keinen größeren Gefallen tun, Fräulein Eckner, und seine Überlebenschancen würden erheblich steigen.«

»Gut, dann komme ich, sooft es geht!« versprach Sandy mit einem scheuen glücklichen Lächeln.

Drei Tage waren vergangen. Pascal von Weillheim stand mit unwilliger Miene vor dem Portal des Landhauses. Er hatte bereits dreimal geläutet. Verärgert wandte er sich ab. Ihm war klar, wo er Melisande antreffen würde: im Forsthaus.

Vor dem einsamen Forsthaus stoppte er scharf und sprang aus dem Wagen. Er entdeckte Melisande am Gatter. Zum Glück war sie allein. Achim Schröder war nicht der Mann, der seine Pflichten vernachlässigte, weil eine schöne blonde Waldfee in sein Reich eingedrungen war.

»Guten Morgen, Melisande!« Wie taufrisch sie wirkte!