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Moritz Küpper

ES WAR EINMAL EIN SPIEL

Wie der Fußball unsere Gesellschaft beherrscht

VERLAG DIE WERKSTATT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de

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Umschlagfoto: imago sportfoto

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

ISBN 978-3-7307-0321-2

Über den Autor

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Moritz Küpper, geboren 1980, ist Landeskorrespondent für das Deutschlandradio in Nordrhein-Westfalen. Zuvor arbeitete er als Redakteur in der Deutschlandfunk-Sportredaktion sowie beim Wirtschaftsmagazin Capital. Er ist Autor der Bücher „Politik kann man lernen. Politische Seiteneinsteiger in Deutschland“ und „Die Joker. Warum unsere Gesellschaft Genera-listen braucht“.

Inhalt

  1. Zu diesem Buch
  2. Prolog:
  3. Von Bern nach Rio de Janeiro in sechs Jahrzehnten
  4. „Es war einmal ein Spiel“:
  5. Vom Massenphänomen zur Geldmaschine
  6. Am Puls der Macht:
  7. Wie der Fußball die Nähe zur Politik pflegt
  8. Populäres Druckmittel:
  9. Wie der Fußball von der öffentlichen Hand nimmt
  10. Großer Fan-Klub:
  11. Wie der Fußball sein Netzwerk in die Gesellschaft spinnt
  12. „Deutschland, einig Vaterland“:
  13. Wie der Fußball für Identität und Integration sorgt
  14. Lukratives Wechselspiel:
  15. Wie Fußball und Wirtschaft voneinander profitieren
  16. „Turek, du bist ein Fußballgott“:
  17. Wie der Fußball als Religionsersatz fungiert
  18. Allumfassende Dominanz:
  19. Wie der Fußball die übrigen Sportarten erdrückt
  20. Gesichertes Fundament:
  21. Wie der Fußball die Wissenschaft nutzt
  22. Rechtsfreier Raum:
  23. Wie der Fußball seine eigene Justiz pflegt
  24. Kontrollierte Öffentlichkeit:
  25. Wie der Fußball die Medien beeinflusst
  26. Absolute Aufmerksamkeit:
  27. Wie sich der Fußball in Musik, Mode und Lifestyle inszeniert
  28. Beliebtes Trittbrett:
  29. Wie über den Fußball (fast) alles vermarktet wird
  30. Eigene Welt:
  31. Wie der Fußball in einer Luxus-Blase lebt – und neues Personal anzieht
  32. Beliebte Floskeln:
  33. Wie sich der Fußball in unsere Sprache schleicht
  34. Keine Alternative:
  35. Wie der Fußball die Termingestaltung beeinflusst
  36. Kalkuliertes Kinderspiel:
  37. Wie der Fußball für Nachwuchs(-fans) sorgt
  38. Epilog:
  39. Die schönste (Neben-)Sache der Welt?
  40. Dank
  41. Literaturhinweise
  42. Personenregister

Zu diesem Buch

Der Fußball hat mich mein Leben lang begleitet. Zwar nie als Spieler in einem Verein, dafür in der Freizeit auf der Straße, mit Freunden auf Wiesen und Kunstrasenplätzen, als Zuhörer am Radio oder eben als Zuschauer im Stadion oder vor dem Fernseher. Und gut fünf Jahre als Redakteur in der Deutschlandfunk-Sportredaktion.

Den Sport als einen Teil der Gesellschaft sehen – und ihn entsprechend journalistisch begleiten. Das ist der Ansatz dieser Redaktion, der ich viel zu verdanken habe. Und so habe ich mich jahrelang auch beruflich mit dieser Rolle des Fußballs beschäftigt. Dazu gehörte natürlich die klassische Berichterstattung aus Bundesliga-Stadien oder von Länderspielen. Doch abseits dieser häufig öffentlichen Bühnen fanden sich zumeist die interessanteren Geschichten: Ich habe bei Auswahlturnieren Nachwuchsscouts getroffen und mich auf Bundestagen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) oder FIFA-Kongressen mit Funktionären unterhalten. Mit einer DFB-Delegation der U15-Nationalmannschaft bin ich nach Israel gefahren und war dabei, als diese jungen Spieler die Gedenkstätte Yad Vashem besuchten. Bei der letztmals veranstalteten Lizenz-Prüfung für Spielerberater saß ich im Prüfungsraum, hörte im Bundestags-Sportausschuss zu und besuchte ein „Fan-Hearing“ der Piraten-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag. Mit NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans war ich mit einem alten Ball bei Fortuna Köln im Südstadion zum Spendensammeln unterwegs, Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff habe ich in seiner Wahlheimat am Starnberger See getroffen und im Deutschlandfunk-Sportgespräch mit den Bundesinnenministern Thomas de Maizière und Hans-Peter Friedrich, den Professoren Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University) und Moshe Zimmermann (Hebräische Universität Jerusalem), den einstigen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger und Wolf-gang Niersbach, dem Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL), Christian Seifert, dem Weltmeister von 1954, Horst Eckel, und zahlreichen Bundesliga-Managern, -Trainern sowie anderen Sportlern wie Diskuswerfer Robert Harting und Welt-Hockeyspieler Tobias Hauke über die Rolle des Fußballs in unserer Gesellschaft diskutiert.

Dass dieser Stellenwert hoch ist, mag eine naheliegende Erkenntnis sein. Und doch wurde mir bei all diesen Gesprächen und Reisen immer deutlicher, wie stark und wie umfassend das Massenphänomen Fußball unsere Gesellschaft dominiert. Ich habe – gerade abseits der üblichen Orte – die Wirkung und Kraft, aber auch die Macht des Fußballs gespürt. Es waren zumeist kleine Anekdoten, weitreichende (personelle) Verflechtungen, überraschende Beobachtungen aus allen gesellschaftlichen Bereichen sowie aussagekräftige Vergleiche, die – wie bei einem Puzzle – ein komplettes Bild entstehen ließen. Im Anekdotischen das Exemplarische zu entdecken und somit das Sittengemälde einer Gesellschaft zu zeigen, in deren Mitte der einstige „Arbeitersport“ Fußball mittlerweile angekommen ist: Das war die Idee der sechsteiligen Deutschlandfunk-Serie „Blinde Liebe – Wie sich der Fußball in unserer Gesellschaft ausbreitet“ – und wurde zur Grundlage für dieses Buch.

Es will damit dem Gewöhnungsprozess ein wenig trotzen, der vieles bei diesem Massenphänomen mittlerweile als normal erscheinen lässt. Dieses Buch soll zeigen, wie sich der Fußball (und sein gesellschaft-licher Stellenwert) in den vergangenen sechs Jahrzehnten verändert hat: vom „Wunder von Bern“ bis hin zum „Triumph von Rio“. Wie sich der Fußball kommerzialisiert, politisiert, professionalisiert hat – und auch, wie dieses Spiel instrumentalisiert wird. Dieses Buch soll Augen öffnen, nicht anklagen – zugleich aber auch nicht der Faszination Fußball erliegen. Deshalb habe ich mich bemüht, meine Erlebnisse und Beobachtungen möglichst authentisch widerzuspiegeln. Denn, wie heißt es so oft? Fußball ist die schönste Nebensache der Welt. Dass der Fußball schön ist, erscheint angesichts des Massenphänomens als unstrittig. Aber eine Nebensache? Darüber dürfte wohl mancherorts diskutiert werden – vielleicht nach der Lektüre dieses Buchs.

Moritz Küpper, Februar 2017

Prolog: Von Bern nach Rio de Janeiro in sechs Jahrzehnten

„Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!“

(Radioreporter Herbert Zimmermann beim Weltmeisterschafts-Endspiel 1954 in Bern)

„Mach ihn! Maaach ihn! Er macht ihn!“

(TV-Kommentator Tom Bartels beim Weltmeisterschafts-Endspiel 2014 in Rio de Janeiro)

Die Füße tragen mittlerweile schwer. Knapp 60 Jahre nach dem legendären Weltmeisterschaftsfinale von Bern humpelt Hans Schäfer über eine große Einkaufsstraße im Kölner Westen. Gut 50 Meter könne er noch gehen, so Schäfer, das rechte Knie mache ihm Probleme. Jahrzehnte vorher war dies noch anders: Schäfer müsse nach innen flanken, rief einst der Rundfunkreporter Herbert Zimmermann in seinem legendären Kommentar. Der Rest waren ein Abpraller, ein Schuss von Helmut Rahn aus dem Hintergrund – und das 3:2 von Deutschland gegen Ungarn im WM-Finale 1954. Doch vom „Wunder von Bern“ will Schäfer heute nicht mehr viel wissen – er ist auf dem Weg zum Friseur. Wie fast jeden Donnerstag bringt er seine Frau dorthin. Schäfer setzt sich dann dazu, wartet und liest in der Kölner Boulevardzeitung Express. „Ich bin 1954 Weltmeister geworden, habe mir danach den Mund abgeputzt, das genügt doch“, sagte er einst in einem der seltenen Interviews, „was soll ich denn 60 Jahre ständig und immer darüber reden?“ In seiner Heimatstadt ist er dennoch bekannt: Im Supermarkt trägt ihm der Filialleiter die Einkaufstaschen zum Auto. Doch der Kult um die „Helden von Bern“ ist ihm fremd: „Die Dinge aus meiner Zeit als aktiver Fußballer habe ich alle verschenkt“, erzählt er: „Ich lebe in der Gegenwart.“ Von daher lehnt er weitere Interviews grundsätzlich ab, auch im Friseursalon – und widmet sich stattdessen wieder dem Express. Lesen mag er, sprechen mit Journalisten dagegen weniger. Auch Wochen später am Telefon bittet er darum, nicht mehr anzurufen, er habe „zu viel zu tun“. Dies sei eine Geheimnummer, man solle sie am besten streichen und sofort vergessen – und legt auf.

Schäfer ist, neben Horst Eckel, das letzte lebende Mitglied der WM-Elf von 1954. Sie sind Weltmeister – genauso wie der Jahrgang von 1974 um Franz Beckenbauer, Sepp Maier und Uli Hoeneß, die „Helden von Rom“ 1990 um Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann oder eben die Weltmeister 2014 aus Brasilien. Doch während der Titelgewinn all diese Männer verbindet, haben sich die Zeiten geändert. Es ist – ohne Vertragsdetails zu kennen – wohl nicht unwahrscheinlich, dass die drei deutschen Final-Siegtorschützen von 1954, 1974 und 1990, eben Helmut Rahn, Gerd Müller und Andreas Brehme, zusammengerechnet in ihrer gesamten Karriere nicht so viel verdient haben wie der damals 22-jährige Mario Götze bei seinem Siegtreffer im Juli 2014.

60 Jahre liegen zwischen dem ersten und dem bislang letzten WM-Erfolg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Auch 1954 jubelten die Menschenmassen den „Helden von Bern“ zu, doch deren Erfolg war beispielsweise der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) einst nur eine kleine Meldung auf der ersten Seite wert. 60 Jahre später übertrugen mehrere Fernsehsender den Empfang der „Helden von Rio“ in Berlin – und es gab keine deutsche Tageszeitung, die nicht mit dem Titelgewinn 2014 aufgemacht hat. In den sechs Jahrzehnten zwischen 1954 und 2014 hat sich der Fußball enorm entwickelt: Das Leben von Schäfer, der einst eine Tankstelle betrieb, als Kaufhof-Vertreter arbeitete und heute zurückgezogen lebt, ist nur eine dieser unzähligen Geschichten. Und die (fast) grenzenlose Kommerzialisierung ist auch nur ein Kapitel dieser Erfolgsgeschichte Fußball. Denn in den vergangenen sechs Jahrzehnten hat sich der Deutschen liebster Sport in fast alle gesellschaftlichen Bereiche vorgearbeitet und dort etabliert.

Von welchem Ausgangspunkt, das lässt sich gut 270 Kilometer von dem Friseursalon im Kölner Westen entfernt, in dem Schäfer häufig sitzt, feststellen: Horst Eckel öffnet die Tür zu seinem Haus in Vogelbach, einer Ortsgemeinde von Bruchmühlbach-Miesau in der Pfalz. Es ist ein kleines Dorf, in dem nicht nur die Geldautomaten ausgeschildert sind, sondern – sozusagen als Kontrast – auch die französische Hauptstadt. Bis Paris seien es 430 Kilometer, zeigt das Verkehrsschild an. Sein ganzes Leben hat Eckel hier verbracht. Hoch oben, über dem Dorf, liegt der Fußballplatz des SC Vogelbach, Eckels erstem Verein. Idyllisch, mitten im Wald. Im Jahr 1985 haben sie Eckel hier eine Gedächtnisbuche hingestellt. Und normalerweise fährt er für Interviews hoch in die Vereinsgaststätte. Dann muss man unten klingeln, „ihren Mann abholen“, wie Hannelore Eckel sagt, die sich um die Termine kümmert. Doch heute könne das Gespräch auch zuhause stattfinden. Im 60. Jahr nach dem „Wunder von Bern“ mehren sich mal wieder die Interview-Anfragen. Eckel trägt einen braunen Rollkragenpullover, an seiner linken Hand glänzt der goldene Siegel-Ring des 1. FC Kaiserslautern. Dazu eine Uhr für den WM-Erfolg.

Schäfers Schweigen macht Eckel zu „so etwas wie den inoffiziellen Nachlassverwalter des ‚Wunders von Bern‘“, stellte die Berliner Zeitung fest. Dabei sind ihre Herkunft und ihr Lebensweg jeweils typisch für die damalige Zeit: Ähnlich wie Schäfer blieb Eckel seinem Verein – dem 1. FC Kaiserslautern – immer verbunden. Ähnlich wie Schäfer lebte Eckel sein ganzes Leben an einem Ort. Und ähnlich wie Schäfer lernte Eckel nach der Karriere einen Beruf (Realschullehrer) und arbeitete darin. Während der WM 1954 teilten sich die beiden ein Zimmer, doch der Kontakt zueinander ist abgerissen. Schade findet Eckel das. Und auch der Umgang mit dem WM-Erfolg könnte nicht unterschiedlicher sein: Während Schäfer schweigt, sich mithilfe einer Telefon-Geheimnummer von der Öffentlichkeit abschottet und auf Anfragen knurrig reagiert, gibt Eckel bereitwillig Interviews, geht weiterhin zu Benefiz-Spielen und betreibt sogar einen eigenen Twitter-Account.

„Die Arbeit mit Kindern hat mir mehr bedeutet als das Sportliche“

Durch seine Erzählungen lässt sich erahnen, woher das heutige Massengeschäft Fußball einst kam: Zweimal die Woche hätten sie damals trainiert, erinnert sich Eckel. Die monatliche Obergrenze für die Bezahlung der Fußballer lag bei 320 DM, für den WM-Titel 1954 gab es 500 DM und einen Fernseher. 60 Jahre später waren es 300.000 Euro – pro Spieler. Anders als Schäfer hadert Eckel nicht mit diesen Summen: Wenn er heute noch spielen würde, hatte Schäfer, der als erster deutscher Spieler an drei Weltmeisterschaften teilnahm, immer mal wieder im Friseursalon gegrummelt, dann hätte er hunderte Millionen an Euro verdient. Ob realistisch oder nicht, für Eckel ist dies ohnehin zweitrangig. Denn das „Wunder von Bern“ war ihm zwar wichtig, noch schöner sei aber seine Zeit als Lehrer gewesen: „Die Arbeit mit Kindern hat mir mehr bedeutet als das Sportliche“, so Eckel. „Wenn ich sehen konnte, wie sich die Schüler entwickelt haben, was aus ihnen geworden ist.“ Werte weiterzugeben, bedeutet ihm viel. Und dennoch, bei allem Engagement: Auch Eckel merkt das Alter. Auch ihm wird der Trubel ein wenig zu viel. Weil Schäfer ja schweigt, fragen alle ihn, den damals Jüngsten, nach den alten Geschichten. Und Eckel erzählt. Wieder. Und immer wieder. Und obwohl er dies schon unzählige Male gemacht hat, nimmt er sich jedes Mal Zeit. Der WM-Erfolg von Bern war und ist für ihn auch eine Aufgabe – genauso wie Autogrammwünsche, bei denen er sich auch heute noch, sechs Jahrzehnte später, alle Mühe gibt. „Ohne Brille“, sagt er, an seinem Wohnzimmertisch sitzend, während er seinen Namen auf sein Bild schreibt: „Ich denke, das kann man gut lesen.“ Er blickt auf sein Werk: „Eckel“, steht da, leicht geschwungen, mit einem schwarzen, dicken Edding geschrieben. Wenige Minuten vorher hatte Eckel noch extra zwei Stifte auf einem Papier ausprobiert. „Autogramme muss man lesen können“, sagt er und blickt auf. „Was sollen die Leute sonst damit?“ Wenn er das bei den heutigen Bundesliga-Profis und Nationalspielern manchmal sehe, entfährt es ihm mit einem Kopfschütteln, „die machen einfach einen Haken“. Er fährt durch die Luft: „Das war’s.“ Er schüttelt wieder den Kopf: „Das hätten wir uns früher erlauben sollen.“ Seinen Namen ordentlich zu schreiben, sei eine Anweisung von Sepp Herberger gewesen, so Eckel, „und auch Fritz Walter hat immer darauf geachtet“.

Wie stark sich die Lebensumstände eines Fußball-Weltmeisters in 60 Jahren verändert haben, lässt sich aber nicht nur an den Autogrammen der Profis ablesen, nicht nur an Eckels Erzählungen, sondern auch an einer kleinen Begebenheit auf dem Weg zum WMTurnier nach Brasilien. Denn im Herbst 2013 qualifizierte sich die deutsche Mannschaft mit einem 3:0-Sieg über Irland in Schäfers Heimatstadt Köln für die Endrunde. Die Spieler bekamen daraufhin kurzfristig zwei Tage frei, woraufhin das DFB-eigene Reisebüro fast überrannt wurde. Und während die Spieler für anderthalb Tage von Köln nach London, München oder Madrid flogen, zeigt dies den Kontrast zu den Umständen 60 Jahre vorher. Denn vor dem Viertelfinale der WM 1954 gegen Jugoslawien hatte Hans Schäfer einst seine Frau angerufen: Sie solle in die Schweiz kommen. Schäfers Begründung: Gegen Jugoslawien seien sie chancenlos, würden ausscheiden und könnten anschließend gemeinsam in den Urlaub weiterfahren. „Wir verdienten damals nicht so viel Geld, dass wir hin- und herfahren konnten“, so Schäfer. Eine gute Idee, die aber doch scheiterte. Deutschland gewann, wurde Weltmeister – und das Volk wollte seine Helden sehen. Die Schäfers mussten zurück nach Deutschland. Ohne Urlaub.

„Es war einmal ein Spiel“: Vom Massenphänomen zur Geldmaschine

„Früher saßen die reichen Leute auf der Tribüne. Heute sitzen die armen oder nicht so bemittelten Leute auf der Tribüne, während die Millionäre unten auf dem Rasen rumlaufen.“

(Fritz Pleitgen, ehemaliger Intendant des WDR)

„Ich sehe noch keine Sättigung für die Marke der Nationalmannschaft. Ich sehe noch keine Sättigung für den Fußball. Insofern gibt es noch viele spannende Projekte.“

(Oliver Bierhoff, Manager der deutschen Fußball-Nationalmannschaft)

Jan Lehmann sitzt in der „Sky-Box“, in der 2. Etage eines Bürogebäudes in Köln. Es ist ein Besprechungsraum des Unternehmens Nielsen Sports. Von hier kümmert sich die Marktforschungs- und Beratungsfirma um Themen aus dem Sport, seien es Sponsoring-Daten, TV-Reichweiten oder die Einstellungen von Sportfans. Lehmann, braune Haare, graue Hose, hellblaues Hemd, hat einst Wirtschaftswissenschaften studiert, anschließend promoviert und beim Sportrechtevermarkter Infront Sports & Media in der Schweiz sowie als Unternehmensberater bei McKinsey & Company in Köln gearbeitet. Dann wechselte er zur DFL nach Frankfurt am Main und verantwortete dort das Produktmanagement und das strategische Marketing der Bundesliga. Auf der Suche nach der gesellschaftlichen Bedeutung des Fußballs und dessen rasanter Entwicklung ist Lehmann, selbst großer Fußballfan, ein guter Ansprechpartner. Denn: Er kann den Fußball in Zahlen fassen. Beispielsweise beim Trikotsponsoring. Die Einnahmen daraus stiegen in der Bundesliga von umgerechnet 80.000 Euro in der Saison 1972/73 auf knapp 182 Millionen Euro in der Saison 2016/17. Bekam Bayern München in der Spielzeit 1981/82 umgerechnet rund 380.000 Euro von Iveco, so bezahlte die Telekom in der Saison 2007/08 20 Millionen pro Jahr. Zuschauerzahlen? Von durchschnittlich 19.765 Besuchern in der Spielzeit 1989/90 stieg der Schnitt auf 42.421 in der Saison 2015/16. Ein Plus von 115 Prozent. Oder das aktuelle Sponsoring-Volumen: Die 100 größten Sportsponsoren in Deutschland zahlten in der Saison 2014/15 973 Millionen Euro – wovon 71 Prozent in den Fußball flossen.

Lehmann verweist auch auf den sogenannten Bundesliga-Report sowie die Studie „Wirtschaft sfaktor Bundesliga“. Letzteres ist ein Zusammenspiel seiner ehemaligen Arbeitgeber: McKinsey erstellte für die Saison 2013/14 im Auft rag der DFL eine viel zitierte Studie. Demnach sorgte das „System Profifußball“, wie es in dem Bericht heißt, in jener Saison für eine Wertschöpfung von 7,9 Milliarden Euro sowie 110.000 Arbeitsplätze und brachte dem Staat Nettoeinnahmen in Höhe von 2,3 Milliarden Euro. Gegenüber der Spielzeit 2007/08 waren die Werte jeweils um gut 50 Prozent gestiegen.

„Letztendlich ist der Fußball heut zutage ein Geschäft“

Es sind viele Zahlen, aussagekräft ige Zahlen mit vielen Nullen, die im Gespräch durch die Luft fliegen. Doch auch die Prozesse rund um Nielsen Sports beziehungsweise dessen Vorgängerunternehmen Repucom sind symptomatisch für die angesprochene Entwicklung: Denn in den Wochen rund um diesen warmen Sommertag im Juli 2016, an dem Lehmann über die gesellschaft liche Bedeutung des Fußballs berichtet, wird Repucom übernommen. Die einst schwarz-grüne Farbkombination des Unternehmens verschwindet in den nächsten Wochen, stattdessen dominiert künft ig Blau. Es ist eben die Farbe von Th e Nielsen Company, dem neuen Besitzer und Marktführer bei Marketing- und Medieninformationen. Niederlassungen in über 100 Ländern, rund 40.000 Mitarbeiter, der Jahresumsatz 2014 betrug 6,3 Milliarden Dollar. Was einst im Jahr 1984 als „Sport+Markt“ begann, als ehemalige Studenten der Sporthochschule Köln eine Firma gründeten, mit der sie Daten im Sport-Sponsoring und -Werbemarkt erheben wollten, endet damit in einem globalen Konzern: Im Jahr 2010 von Repucom übernommen, wurde aus der einstigen Studenten-Gründung eines der international führenden Unternehmen im Bereich Sportbusiness. Und nun – sozusagen als nächster Schritt – wird es von dem weltweit führenden Informations- und Marktforschungsunternehmen übernommen. Dort gehört Nielsen Sports zur Abteilung Nielsen Entertainment. Unterhaltung also. Auch für Lehmann ist diese Entwicklung logisch: „Letztendlich ist der Sport – und in Deutschland vor allem der Fußball – heutzutage ein Geschäft.“

Lehmanns Zahlen, aber auch die Firmengeschichte seines Arbeitgebers stehen damit prototypisch für eine Entwicklung, in der sich der Fußball von seinem Status als Sportart entkoppelt hat und stattdessen zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden ist. Fußball ist Small-Talk-Thema Nummer eins, gilt als der letzte Kitt der Gesellschaft. 90 Minuten lang sind alle gleich: egal ob reich oder arm, jung oder alt, männlich oder weiblich. Die Nationalmannschaft ist eine der Instanzen, der die Kraft nachgesagt wird, dem wiedervereinigten, durch Zuwanderung geprägten Land eine gemeinsame Identität zu geben – wie einst beim „Wunder von Bern“, der „wahren Geburtsstunde der Bundesrepublik“, so der Politologe Arthur Heinrich.

Dabei war und ist das Spiel eigentlich recht simpel: ein Platz, ein Ball, 22 Spieler. Seit den Anfängen im 19. Jahrhundert haben sich die Spielregeln so gut wie kaum verändert. Zumindest auf dem Platz. Doch abseits des Rasens ist aus dem Fußball eben ein gesellschaft-licher Faktor geworden, der seinesgleichen sucht und dessen Einfluss sich mittlerweile in (fast) allen Bereichen finden lässt: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Medien, Gesellschaft, Kultur, Entertainment, Tourismus, sogar innerhalb der Sprache.

Wenn die deutsche Nationalmannschaft das Endspiel um die Weltmeisterschaft erreicht, fliegen Bundespräsident und Bundeskanzlerin zu dem Spiel ein, obwohl gemeinsame Auslandsbesuche der beiden Staatsorgane – nach Auskunft des Bundespräsidialamtes – eigentlich vermieden werden sollen. Das war nicht nur bei der WM 2014 der Fall, sondern auch bei der WM 2002 in Japan, als der damalige Bundespräsident Johannes Rau sowie der seinerzeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Yokohama flogen. Weitere gemeinsame Auftritte der Staatsspitze im Ausland in der jüngeren Vergangenheit? Fehlanzeige.

Wenn Nationalspieler Mesut Özil ein paar Sätze bei Facebook postet, erreicht er bei seinen gut 31 Millionen Likes knapp fünfzehnmal so viele Menschen wie zeitgleich Bundeskanzlerin Merkel mit 2,2 Millionen Fans auf diesem Social-Media-Kanal.

Wenn Parteien einen Mitgliederschwund beklagen und alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien (CDU, CSU, SPD, Linke, Bündnis 90/Die Grünen) zusammen auf 1,3 Millionen Mitglieder kommen, kann der DFB auf steigende Zahlen und imposante 6,8 Millionen Mitglieder verweisen.

Wenn es in Deutschland einen Pilotenstreik gibt, kann der FC Bayern München trotzdem pünktlich fliegen, wie beispielsweise nach seinem Champions League-Auswärtsspiel im April 2014 in Manchester: „Damit sie weiter trainieren können und uns im Rückspiel keine Schande machen“, kommentierte der Leiter des Lufthansa-Flugbetriebs, Werner Knorr, damals.

Wenn der Präsident des FC Bayern München, Uli Hoeneß, wegen Steuerhinterziehung in München vor dem Landgericht steht, übersteigen die 545 Akkreditierungsanfragen der Journalisten deutlich die 324 Journalisten-Gesuche an dasselbe Gericht beim Prozess gegen den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der zehn Menschen umgebracht haben soll.

Wenn sich der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, Michael Ballack, im Vorfeld der WM 2010 verletzt, sendet die ARD einen „Brennpunkt“ nach der Tagesschau – wie sonst nur bei Terroranschlägen, Naturkatastrophen oder dem Rücktritt des Bundespräsidenten.

Wenn Vorstandsvorsitzende von Dax-Konzernen auf ihren Bilanzpressekonferenzen ein schlechtes Ergebnis verkaufen müssen, dann heißt es, dass „wir in der zweiten Halbzeit aufholen“ müssen (Telekom-Chef Timotheus Höttges). Denn: Man wolle ja „in der Champions League spielen“.

Wenn heutzutage Professoren auf wissenschaftlichen Tagungen ernsthaft darüber debattieren, ob „Fußball als Religionsersatz“ diene, und diese Frage bejahen, wenn es vereinseigene Friedhöfe sowie Gottesdienste gibt und das Maskottchen des 1. FC Köln, der Geißbock Hennes, in den Stein des Kölner Doms gemeißelt ist, erinnert sich kaum noch einer daran, dass sich bei der WM 1954 der Rundfunk-Reporter Herbert Zimmermann für seine Wortwahl „Turek, du bist ein Fußball-Gott“ noch rechtfertigen musste.

Und wenn das renommierte Frankfurter Naturmuseum Senckenberg seine Besucher darüber abstimmen lässt, wessen Gehirn in 50-facher Vergrößerung zu einer Begehung nachgebaut werden soll, gewinnt nicht der weltbekannte Physiker Albert Einstein, der Inbegriff der Intelligenz, sondern Karl-Heinz Körbel. Seines Zeichens Bundesliga-Rekordspieler, einst Verteidiger bei Eintracht Frankfurt, dessen Gehirn durch unzählige Kopfbälle erschüttert wurde. Er bekam gleich doppelt so viele Stimmen wie Einstein.

Wolfgang Holzhäuser schüttelt den Kopf, wenn er solche Vergleiche hört: „Die gesellschaftliche Beachtung des Fußballs ist zu hoch“, sagt er. „Ob der Fußball will oder nicht: Er ist mittlerweile eine Plattform, auf der sich alle tummeln.“ Holzhäuser sitzt in seinem Haus im Westen des Rheinisch-Bergischen Kreises. Es ist der Tag nach dem zweiten Vorrundenspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2016 gegen Polen. Rund 26 Millionen Zuschauer in Deutschland verfolgten das dröge 0:0-Unentschieden. Holzhäuser kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Ein sportlich fast bedeutungsloses Gruppenspiel wird zum Straßenfeger: „Ich habe mich heute Morgen, als ich das gelesen habe, ernsthaft gefragt: Wissen die Leute eigentlich, was sie sich da angetan haben?“ Der ehemalige Geschäftsführer von Bayer 04 Leverkusen guckt etwas ratlos. 26 Millionen TV-Zuschauer in der Vorrunde? Solche Zahlen sind mittlerweile Standard in Deutschland. Holzhäuser ist wahrlich kein Fußball-Skeptiker. Er gehört vielmehr einer Generation von Männern an, die den Fußball in Deutschland groß gemacht haben. Wie Heribert Bruchhagen. Auch der ehemalige Manager von Schalke, dem Hamburger SV, Arminia Bielefeld und Eintracht Frankfurt, neuerdings Vorstandsvorsitzender des HSV – und einst sportlicher Gegenspieler Holzhäusers –, ist angesichts dieser Entwicklung fast sprachlos. „Früher haben von den Zuschauern mindestens 60 bis 70 Prozent den kicker gelesen und selbst gespielt, die Fachspezifik des Publikums war hoch“, sagte Bruchhagen im Sommer 2016. „Diese Zahlen haben sich verändert. Heute ist der Fußball mehr erlebnisorientiert und emotional.“ Mit Bruchhagen hat Holzhäuser viele Auseinandersetzungen ausgetragen, hier aber stimmt er ihm ausdrücklich zu.

Holzhäuser nennt sich selbst ein Kind der Bundesliga. „Des Profi-fußballs“, schiebt er nach. Man könnte auch sagen: Er ist einer der Väter der Bundesliga, wie wir sie heute kennen. Denn Holzhäuser war maßgeblich an der Gründung der DFL sowie der Einführung der Kapitalgesellschaft en im Profifußball beteiligt. Dass aus dem Bundesliga-Klub mit dem Zusatz „e.V.“, dem eingetragenen Verein, eine GmbH oder eine Aktiengesellschaft wurde, ist mit sein Werk. Genauso wie die sogenannte „50+1-Klausel“, nach der der Verein weiterhin das Sagen in den Kapitalgesellschaft en haben soll.

All das sind große Weichenstellungen im deutschen Fußball gewesen, deren Anfänge jedoch auf einen Arbeitsamtbesuch im Jahr 1975 zurückgehen: Nach dem Abschluss seines BWL-Studiums erkundigte sich Holzhäuser dort nach beruflichen Perspektiven. Diese Auskunft von damals werde er nie vergessen, sagt er heute: „Mit Betriebswirten können wir die Straße pflastern.“ Doch seine Frau richtete ihn auf: „Sie hat mir damals gesagt: Du interessierst dich doch für Fußball, bewirb dich doch da mal.“ Holzhäuser schickte Bewerbungen zu Kickers Offenbach, zum Hessischen Fußball-Verband und zum DFB, der ihn letztendlich einstellte. Holzhäuser muss schmunzeln, wenn er an jene Zeit denkt: „Das war eine andere Welt damals“, erinnert er sich. „Das waren drei oder vier Zimmer.“ Er bekam ein paar Ordner hingestellt und sollte sich um den Liga-Betrieb kümmern. Doch nach Jahren beim Verband hatte Holzhäuser genug gesehen. Er wollte die Liga ausbauen und unabhängig machen. Seine Idee: den Profifußball den Profis überlassen. Doch damit stieß er auf großen Widerstand innerhalb des DFB. Die Funktionäre wollten die Liga nicht ziehen lassen, die Strukturen lieber innerhalb des Verbandes ausbauen. „Aber das hätte nicht funktioniert“, ist sich Holzhäuser noch immer sicher. Er kämpft e weiter, bis schließlich der damalige DFB-Präsident Egidius Braun Ende der 1990er Jahre entnervt aufgab. Die Grundlagen für die Liga waren gelegt – und Holzhäuser wechselte die Seiten, um seine Idee weiter voranzutreiben. „Die Bundesliga hätte mich nie als DFB-Vertreter akzeptiert“, erklärt er seinen Schritt, mit dem er auch seine berufliche Zukunft mit dem Glauben an eine eigenständige Liga verband: „Ich war Überzeugungstäter.“

„Der Fußball hat das Glück, dass keine Verteilungskämpfe einsetzen und Geld für alle da ist“

Holzhäuser wechselte in die Geschäft sführung von Bayer 04 Leverkusen, managte dort die Umwandlung des Vereins in eine GmbH. Er stieg zum Sprecher der Geschäft sführung auf, engagierte sich im neu gegründeten Ligaverband, dessen operative Tochter DFL den Spielbetrieb übernahm. Im September 2013, als sich Holzhäuser aus dem Fußball-Geschäft zurückzog, waren fast alle Bundesliga-Klubs Kapitalgesellschaften geworden. Die Geschichte hatte Holzhäuser Recht gegeben. Und auf seiner Abschiedsfeier erinnerte der damalige DFB-Präsident Wolf-gang Niersbach auch noch einmal an Holzhäusers Kündigung beim Verband. Denn mit deren Verkündung war damals direkt ein Schlussstrich gezogen worden. Holzhäuser musste sein Büro räumen, alles abgeben. „Der Wolfgang hat bei meiner Abschiedsfeier die Quittung von damals herausgeholt und vorgelesen“, erinnert sich Holzhäuser heute. „Ein Anzug, blau. Zwei weiße Hemden, Krawatte, Schlüssel, PKW und noch etwas stand darauf …“ Es fällt ihm gerade nicht ein. Doch angesichts der heutigen Summen erinnerte das kleine Stück Papier nochmals an die Zeiten vor den dreistelligen Millionen-Ablösen und milliardenschweren TV-Verträgen. „Der Fußball hat das Glück, eine so stark wachsende Branche zu sein, so dass keine Verteilungskämpfe einsetzen und dementsprechend Geld für alle da ist“, analysiert Holzhäuser mit etwas Abstand.

In der Branche hatte er immer das Image eines Kaufmanns, weil er sich bei Spielereinkäufen auch mal nach dem Grenzertrag erkundigte. Noch gut kann sich Holzhäuser an den öffentlichen Aufschrei beim ersten Millionen-Transfer der Bundesliga erinnern: Im Jahr 1976 wechselte der Stürmer Roger van Gool vom FC Brügge zum 1. FC Köln. Kaufpreis: eine Million DM. „Wenn Sie heute einen Spieler für zehn Millionen Euro kaufen und der einschlägt“, sagt Holzhäuser, „dann ist das ein Schnäppchen“. Mittlerweile sind Summen jenseits der 50-Millionen-Grenze Sommer für Sommer an der Tagesordnung. „In diese Zahlen wächst man rein“, erklärt Holzhäuser zwar. Aber: „Der Fußball ist nur noch Mittel zum Zweck.“ Für Holzhäuser ist die immer stärkere Kommerzialisierung nicht neu: „Ich habe schon damals die Haltung vertreten, dass wir ein Teil der Unterhaltungsindustrie sind. Einfach: die Sparte Fußball.“

Das betrifft nicht nur die Bundesliga, sondern auch und gerade die Nationalmannschaft. Eine „Bierhoffisierung des Fußballs“ nannte es Spiegel Online im Zuge der EM 2016 in Anlehnung an die Strategie des Nationalmannschafts-Managers Oliver Bierhoff und defi-nierte dies als: „Glattbügeln, Disziplinieren und Entemotionalisieren von allem, was irgendwie noch einen Hauch von Authentizität und Echtheit ausstrahlt. Und was die Inszenierung stören könnte.“ Denn über die Jahre und Jahrzehnte sind immer neue Geschäftsfelder entstanden, lässt sich der Fußball immer weiter monetarisieren, wie schon Ex-Repucom- und nun Nielsen-Mann Lehmann festgestellt hat. Ab den 1970er Jahren begann adidas mit dem Verkauf von Trikots der Nationalmannschaft und konnte Jahrzehnte später, rund um die WM 2014, mehr als drei Millionen Exemplare absetzen. Zu einem Stückpreis von rund 85 Euro. Die TV-Gelder, also die Einnahmen für die Fernsehübertragung des Fußballs, stiegen von rund 650.000 DM, die sich ARD und ZDF in den Gründungsjahren der Liga die Bericherstattung kosten ließen, auf inzwischen rund 1,3 Milliarden Euro. Pro Saison, ab der Spielzeit 2017/18.

Das alles funktioniert, weil der Fußball Aufmerksamkeit bekommt. Laut einer Umfrage der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse (AWA) im Jahr 2015 gab es zu der Zeit deutschlandweit rund 68,61 Millionen Personen in der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren, denen Fußball bekannt war. Das sind rund 99,1 Prozent, wobei sich nicht nur der damalige Chefredakteur des Kölner Stadt-Anzeigers, Peter Pauls, in einem Editorial wunderte, „dass es Menschen in unserem Land gibt, die nicht wissen, dass es Fußball gibt. 0,9 Prozent. Das sind ein paar Hunderttausend. Immerhin.“ Aufmerksamkeit ist die Währung im heutigen Medien-Zeitalter. In den Top Ten der quotenstärksten TV-Sendungen in Deutschland aller Zeiten sind ausschließlich Fußballspiele aufgeführt. An der Spitze steht das WM-Finale 2014: 34,57 Millionen Menschen schalteten damals offi-ziell ein. In Wahrheit dürfte diese Zahl sogar noch höher liegen. Der Fußball hat damit – nach dem Ende der TV-Sendung „Wetten, dass …?“ – den Status als das „letzte Lagerfeuer der Nation“.

Dabei hatte es zu Beginn der medialen Ausschlachtung des Fuß-balls noch Sorgen und Vorbehalte gegeben, wie sich Heribert Bruchhagen erinnert. Denn als Anfang der 1990er Jahre der Besitzer des Sky-Vorgängers Premiere, Leo Kirch, den Antrag stellte, die Bundesliga per Konferenzschaltung live zu übertragen, ließ Bruchhagen, der damals im Ligaausschuss saß, zu Protokoll geben, dass bei einer Zustimmung die Stadien alsbald leer sein würden. „Falscher konnte ich gar nicht liegen“, erinnerte er sich nun rückblickend: „Je mehr Hype es gibt und je mehr Fußball in den Medien stattfindet, umso mehr füllen sich die Stadien.“

Auch dieses Phänomen lässt sich belegen: Kamen in der Gründungssaison 1963/64 insgesamt rund sechs Millionen Zuschauer in die Stadien, verdoppelte sich diese Zahl bis heute – in der Saison 2011/12 waren es sogar exakt 13,55 Millionen. Und wie sich dieses Interesse teilweise vom sportlichen Erfolg entkoppelt hat, lässt sich an den Zuschauerzahlen des Gründungsmitglieds und ersten Meisters der Bundesliga, 1. FC Köln, ablesen: In der Saison 1977/78, als der FC das sogenannte Double aus Meisterschaft und DFB-Pokal gewann, hatte der Verein einen Zuschauerschnitt von 34.763, kein einziges Heimspiel war ausverkauft. Ab Ende der 1990er Jahre entwickelte sich das Team zu einer sogenannten Fahrstuhlmannschaft, stieg insgesamt fünf Mal aus der Bundesliga ab, zuletzt in der Saison 2011/12. Der Zuschauerschnitt in jener Spielzeit lag fast um ein Drittel höher: bei 47.257, sechs Heimspiele waren ausverkauft.

„Bis zur WM 2006 waren alle Sportereignisse einfach nur Sportereignisse“

Steigendes Interesse, steigende Einnahmen, steigende Bedeutung. Doch der endgültige Durchbruch zum gesellschaftlichen Massenphänomen ist nicht nur für Nielsen-Mann Lehmann und Ex-Fußballfunktionär Holzhäuser, sondern auch für Alfons Madeja eindeutig mit einer Jahreszahl verbunden: „Bis zur WM 2006 waren alle Sportereignisse einfach nur Sportereignisse“, sagt der Professor für Betriebswirtschaft und Kultur-, Freizeit-, Sportmanagement an der Hochschule Heilbronn. Madeja spielte einst beim VfB Stuttgart in der zweiten Mannschaft, studierte anschließend BWL. Er arbeitete im Management bei Bundesligavereinen und gründete dann an der Universität Bayreuth einen Studiengang für Sportmanagement, bevor er schließlich nach Heilbronn ging. „Mit dem Erfolg der WM 2006 als Massenveranstaltung wurde der Fußball zum unausweichlichen Instrument für die Gesellschaft “, sagt Madeja.

Daran war der grauhaarige Schwabe mit Schnäuzer nicht ganz unschuldig: Im Vorfeld der WM 2006 erhielt er vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) den Auft rag, zu evaluieren, wie aus dem Turnier eine Veranstaltung für das ganze Land sowie eine Werbeplattform für Gäste aus der ganzen Welt werden könnte. Madeja fuhr nach Portugal, zur Europameisterschaft 2004, und befragte die Zuschauer. Zudem erfuhr er vom damaligen DFB-Generalsekretär Niersbach, dass die Tickets bei der WM in Deutschland eher knapp sein würden. Eine Erkenntnis, die Madeja mit seiner Umfrage kombinierte. Ein Ergebnis: 53 Prozent der Befragten gaben an, auch ohne Eintrittskarten nach Deutschland kommen zu wollen. Es musste also ein Weg gefunden werden, diese Menschen, aber auch die heimische Bevölkerung an der WM teilhaben zu lassen. Madeja schlug ein „Fan-Dorf“ vor: ein, zwei zentrale Plätze, an denen möglichst vor Groß-bildleinwänden und umrahmt von Musik bei Liveübertragungen die Party steigen konnte. „Ich habe das damals ‚virtuellen Stadion-Besuch‘ genannt“, erinnert er sich heute. Doch anders als die Idee setzte sich Madejas Bezeichnung nicht durch. Stattdessen heißt es heute: „Public Viewing“ – und ist mittlerweile ein fester Bestandteil jeder Großveranstaltung. Alleine 15 Millionen Menschen kamen damals im WMSommer 2006 zu den offiziellen Festen des Weltverbands FIFA an den zwölf Spielorten. Der Fußball war endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Oder, wie es Madeja, der heute als Geschäftsführer der Beratungsagentur SLC Management GmbH sein Geld verdient, rückblickend formuliert: „Mittlerweile haben alle erkannt, dass der Fußball bei den Menschen eine gewisse Priorität hat.“ Und dies zeigt sich nunmehr nicht nur alle zwei Jahre bei einem Welt- oder Europameisterschaftsturnier oder wöchentlich Spieltag für Spieltag in der Bundesliga, sondern tagtäglich – und zwar in allen Bereichen.