Sven Elvestad

Der kleine Blaue

 

 

 

III. - Die eiserne Kasse

 

»Nun, wie sieht es aus?« fragte der Chef, als er das Büro betrat.

»Vorläufig habe ich nicht den geringsten Ansatzpunkt,« antwortete Krag.

Der Detektiv bemerkte, dass sein Vorgesetzter etwas nervös war. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Krag blieb an dem grünen Tisch sitzen.

»Verbrechen?« fragte der Chef wieder und legte eine vielsagende Betonung auf das Wort.

»Wahrscheinlich.«

»Mord?«

»Wahrscheinlich.«

»Und nicht ein Anhaltspunkt? Nicht eine Idee?«

»Vorläufig nicht, soweit ich sehen kann.«

»Ja, da stehen wir wieder in einem schlechten Licht, Herr Krag; wenn jetzt diese Affäre so rasch nach der unaufgeklärten Sache mit dem Diamantenhalsband kommt, wird die Presse schön über uns herfallen. Wie ist das Skelett?«

(Das Skelett ist der Fachausdruck, mit dem die Detektive die Tatsachen bezeichnen, die bei Beginn einer Sache vorliegen.)

Asbjörn Krag erwiderte:

»Was ich bis jetzt gesammelt habe, ist ganz minimal, und dabei ist es nicht einmal ausgemacht, ob die verschiedenen Glieder zusammengehören.

Am Elften bekommt Jaerven einen Brief, in dem er aufgefordert wird, am selben Abend den Absender an einem Ort zu treffen, der genauer gesagt als die Höhle bezeichnet wird. Jaerven sollte zu diesem Zusammentreffen den »kleinen Blauen« mitbringen. Mit dem „kleinen Blauen“ ist sicherlich ein Papier gemeint, vermutlich ein Wechsel.

Der Abzocker ging auch tatsächlich an diesem Abend weg, was er nach Aussage seiner Vermieterin sonst nie tat. Gegen Mitternacht kam er wieder und legte sich dann gleich hin. Am nächsten Tage schloss er sich ein; niemand durfte zu ihm herein, obwohl mehrere Besucher draußen waren und an der Tür klopften. Erst um acht Uhr abends ging er weg, und die Vermieterin sah ihn durch das Fenster, das auf die Treppe zeigt.

Seither ist er verschwunden.

Es scheint mir ganz ausgeschlossen, dass er sich umgebracht hat. Dazu hatte er keinen Anlass.

Ganz unmöglich ist es, dass er durchgebrannt ist.

Folglich kann sein totales Ausbleiben in nichts anderem seinen Grund haben, als dass er aus dem Weg geräumt wurde. Der Abzocker Jaerven gehört wohl nicht mehr zu den Lebenden.«

Der Polizeichef hatte aufmerksam und schweigend die Erklärung seines fleißigsten Beamten angehört. Hier und da nickte er, um den Folgerungen des Detektivs zuzustimmen.

Schließlich berichtete Krag seinem Chef von der Mitteilung in der Annonce, die er veröffentlicht hatte. »Die Annonce sollte ins Abendblatt kommen,« sagte er, »vermutlich ist sie schon gelesen, und wenn der Betreffende ein reines Gewissen hat, können wir ihn recht bald erwarten.«

Der Detektiv hatte kaum zu Ende gesprochen, als das Telefon klingelte. Es war der Zeitungsverlag.

»Die Person, nach dem Sie in der Annonce gesucht haben, hat jetzt einen Brief abgegeben,« hieß es.

Krag rief einen Mitarbeiter herein und beauftragte ihn, die betreffende Person einzuladen, nachdem er mit Hilfe des Briefes seine Adresse ausfindig machen konnte.

Es dauerte beinahe eine Stunde, bis der Mann kam. Die Polizisten erkannten ihn sofort nach der Beschreibung der alten Witwe.

Es war ein kräftiger Mensch von ungefähr vierzig Jahren gekleidet mit einem braunen, nahezu perfekten Anzug.

Krag bat ihn um Entschuldigung, dass man ihn bemüht hatte, aber es sei von großer Wichtigkeit, die Geschichte seines misslungenen Besuches beim Abzocker Jaerven am Zwölften dieses Monats erzählt zu bekommen.

Der Mann schien zuerst etwas ungehalten darüber, dass man ihn zur Polizei geschleppt hatte; aber er beruhigte sich schnell und gab bereitwillig seine Erklärung ab.

Er war gerade am Zwölften in einer kleinen Geldnot gewesen und hatte die Absicht, ein Darlehen bei Jaerven zu erhalten. Der Abzocker hatte ihm schon früher unter ähnlichen Umständen geholfen, auch wenn er unverschämte Zinsen verlangt hatte.

»Nun, so ging ich dann hinauf und klopfte an seine Tür,« fuhr der Mann fort, »aber er machte nicht auf.«

»Vielleicht war er nicht zu Hause,« warf der Detektiv hin.

»Natürlich war er zu Hause. Ich hörte ihn ja deutlich im Haus herumgehen. Dann rüttelte ich an der Tür, aber er machte nicht auf. Da bückte ich mich, um durch das Schlüsselloch zu ihm hineinzuschauen.«

»Der Schlüssel steckte also nicht?«

»Nein.«

»Nun, und sahen Sie etwas?«

»Ja, ich sah Jaerven. Ich konnte ihn ganz deutlich sehen. Er stand drüben am Fenster.«

»Mit dem Gesicht zu Ihnen?«

»Nein, er stand mit dem Rücken zu mir.«

»Wie lange sahen Sie ihn so?«

»Nur ganz kurze Zeit.«

»Warum nicht länger?«

»Ja, er deckte das Schlüsselloch mit der Hand zu.«

»Aber Sie sagten doch eben, dass er ganz hinten am Fenster stand.«

»Ja, ganz richtig. Aber es war so, als spürte er, dass ich ihn anguckte, denn er ging dann rückwärts auf die Türe zu und verdeckte das Schlüsselloch mit der flachen Hand.«

»Rückwärts? Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«

Der Mann blickte verdutzt auf.

»Ja, wenn ich es mir so überlege ... es war eigentlich ganz komisch.«

Krag notierte etwas in sein Notizbuch.

»Und Sie haben Jaerven schon öfter gesehen?«

»Ja natürlich, oft, sehr oft! Ich erkannte ihn sofort. Schon der abgetragene alte Samt Rock war genug.«

»Wie lange standen Sie da vor der Tür?«

»Na, vielleicht eine Viertelstunde. Dann ging ich. Aber ich hatte eine Riesenwut, weil er mich nicht hineinließ. Das Geld konnte ich mir dann, Gott sei Dank, anderswo besorgen. Möchten Sie noch etwas wissen?«

»Nein, danke.«

Der Mann entfernte sich, sichtlich erstaunt über die vielen komischen Fragen, die man ihm gestellt hatte.

Asbjörn Krag blieb eine Weile sitzen und starrte gerade vor sich hin, tief in Gedanken versunken. Plötzlich sah er seinen Chef an, und in seinen Augen blitzte etwas auf, das darauf hindeutete, dass ihm eine Idee gekommen war. Er nahm wieder sein Notizbuch und durchblätterte es, die verschiedenen Angaben und Daten miteinander vergleichend. Er wurde nervös, ja etwas hektisch, wie immer, wenn ihm eine Idee gekommen war. Aber gleich darauf beruhigte er sich wieder.

Der Polizeichef beobachtete erfreut den Wandel von Krag. So etwas versprach immer Gutes.

Der Detektiv klappte das Notizbuch zusammen und erhob sich.

»An die Arbeit!« sagte er. »Hier ist ein Verbrechen begangen worden, und wir haben es sicherlich mit einem gefährlichen und intelligenten Verbrecher zu tun.«

»Haben Sie jetzt einen Anhaltspunkt?« fragte der Chef interessiert.

»Möglicherweise. Ich beginne etwas zu ahnen. Aber einen eigentlichen Anhaltspunkt habe ich noch nicht. Wir wollen doch sehen, ob meine alte Behauptung sich nicht wieder einmal bestätigt. Sprich dass, selbst wenn ein Verbrechen mit einer geradezu genialen Intelligenz und Akribie geplant ist, selbst wenn es bis ins kleinste Detail gelingt, es doch immer wieder Kleinigkeiten gibt, die früher oder später zur Entdeckung führen müssen. Die Voraussetzung ist nur, dass der richtige Mann die Sache richtig anpackt.«

Krag war nun sichtlich gut gelaunt – ein Gemütszustand, den sein Chef wohl kannte und zu schätzen wusste. Wie alle wirklich großen Entdecker war Krag auch bisweilen nicht ganz frei von ein Eitelkeiten und hatte einen gewissen Hang, ein wenig Überheblichkeit aufgrund seines Scharfsinns und seiner Intelligenz an den Tag zu legen.

»Was wollen Sie jetzt tun?« fragte der Chef.

»Ich will eine umfassende Hausdurchsuchung in Jaervens Wohnung vornehmen,« erwiderte Krag; »vielleicht kann ich da dem Einen oder dem Anderen auf die Spur kommen.«

Der Chef erklärte sich damit einverstanden, und der Detektiv ging, um die Untersuchung vorzunehmen.

Als er sich ein paar Stunden später wieder vor seinem Vorgesetzten zeigte, hatte sein Gesicht einen Ausdruck, der darauf hindeutete, dass es keine neuen Erkenntnisse gab.

»Da sind eine Menge Darlehnspapiere,« sagte er, »Wechsel, Garantieverschreibungen und dergleichen, auf ganz großen Beträgen lautend. Ich wundere mich nur, dass nicht mehr Leute dagewesen sind und nach Jaerven gefragt haben, seitdem er verschwunden ist. Hier habe ich mir die Namen der Personen notiert, von denen ich feststellen konnte, dass Jaerven in einer Geschäftsverbindung mit ihnen stand. Es ist eine ganz interessante Liste. Aber sie bringt mich nicht einen Schritt vorwärts. Jetzt bleibt uns nur noch Eines.«

»Was denn?«

»Seine große eiserne Kasse zu sprengen. Ich habe sie hierherbringen lassen, und acht Mann tragen sie gerade herauf. Es müssen ja bei einem solchen Vorgang gewisse Amtspersonen zugegen sein.«

Der Polizeichef setzte sich mit ein paar Herren vom Gericht in Verbindung. Sobald diese eingetroffen waren, begaben sich alle in den großen Saal, wo die Kasse auf einen Tisch gestellt worden war. Auch ein Schlosser war gekommen und hatte einige grobe Stemmeisen mitgebracht. Er versuchte die Kasse zu öffnen, aber musste es bald wieder aufgeben.

»Das ist der massivste Geldschrank, der mir je untergekommen ist,« sagte er; »soweit ich sehe, muss er mit Dynamit gesprengt werden. Sonst würde es zu lange dauern, ihn zu öffnen.«

Asbjörn Krag gab einem der anwesenden Bediensteten eine Anweisung. Der Mann entfernte sich in der Richtung von Krags Büro. Einen Augenblick später kam er mit einer kleinen, mit schwarzen Leder überzogenen, Kassette zurück, auf der Krags Name auf kleinen weißen Silberplättchen eingraviert war. Der Detektiv öffnete die Kassette und breitete den Inhalt auf dem Tisch aus, während der Chef des Sicherheitsbüros, der Schlosser und die Gerichtspersonen mit steigendem Interesse zusahen. Die Kassette enthielt Einbruchswerkzeuge der allerfeinsten Art, blitzeblank und scharf geschliffen; sie sahen beinahe wie chirurgische Instrumente aus. Da waren kleine scharfe Sägen, ein paar kurze, dicke Stemmeisen, dünne aber scharfe Bohrmaschinen usw. Die größten Instrumente maßen ca. 25 cm, die kleinsten waren nicht größer als Stopfnadeln. Krag wählte einige Instrumente aus und begann unermüdlich an der Kasse zu arbeiten. Man hörte, wie die Bohrer in den harten Stahl geschraubt wurden, wie die Säge ihn mit einem Zischlaut durchschnitt, man sah die kleinen weißen Eisenspäne über die Schranktür blättern. Innerhalb von zehn Minuten war das Schloss gesprengt – ein Griff mit dem Stemmeisen, und die Kasse lag offen da.

Der Polizeichef war ganz sprachlos vor Staunen. Aber Asbjörn Krag sagte seltsam lächelnd:

»Sie haben allen Grund, sich zu freuen, meine Herren – dass ich auf Ihrer Seite bin.«

In der Kasse lagen eine Menge Papiere verstreut. Mehrere waren zerrissen. Aber was man direkt bemerkte, war, dass das kleine Geheimfach im Innern der Kasse, das vermutlich die wichtigsten Papiere des Abzockers beinhaltet, mit Gewalt in Stücke gesprengt war, und dass man dort herumgewühlt hatte.

»Habe ich‘s mir doch gedacht,« murmelte der Detektiv, »hier sind ungebetene Gäste gewesen.«

Der Polizeichef, der Krags Bemerkung gehört hatte, wendete ein:

»Aber die Kasse selbst ist doch unversehrt. Wie reimen Sie sich das zusammen?«

Wieder lächelte der Detektiv in seiner eigentümlichen Weise.

»Ja, wenn ich das wüsste,« gab er zurück, »dann hätte ich damit eines der Geheimnisse gelöst.«

»Eines der?«

»Ich sage, eines der,« fuhr der Polizist ernst fort, »denn in dieser unheimlichen Tragödie gibt es viele Geheimnisse.«

IV. - Die falschen Wechsel