Ralf Rothmann

Der Gott jenes Sommers

Roman

Suhrkamp

Ich habe diese Welt beschaut und bald gesegnet: Weil mir auf einen Tag all Angst der Welt begegnet. Wo ihr die Tage zählt; so bin ich jung verschwunden. Sehr alt; wofern ihr schätzt, was ich für Angst empfunden.

Andreas Gryphius

Lag sie lesend auf ihrem Bett und hörte die Flugzeuge über dem Gut, versuchte sie sich vorzustellen, wie das überschneite Land mit dem Kanal in den Augen der Piloten aussah. Die gewundene, von Wäldern und Äckern gesäumte Pflasterstraße, ein Rest des alten Ochsenweges, führte am Kloster vorbei nach Bovenau und teilte das Gehöft in zwei Hälften. Über eine stählerne, den Entengraben in sanftem Bogen überspannende Brücke gelangte man auf die Westseite, zu dem weiß gestrichenen Herrenhaus. Dominiert von einem Portikus auf vier Säulen – dorisch ausgekehltem Gips –, war es ziegelgedeckt und hatte elegante, mit französischen Läden versehene Rundbogenfenster, in denen sich die Hoflinde spiegelte.

Ihm gegenüber ragte das Reetdach des großen, für dreihundert Tiere gedachten Kuhstalls samt Futterboden höher in den Himmel als manche Kirche im Gau. Am Giebel hing eine Glocke, mit der die Melkzeiten eingeläutet wurden, und das Tor war gespickt mit Plaketten aus buntem Blech, den Auszeichnungen von Zuchtvereinen und Landwirtschaftsmessen. Zum Acker hin begrenzte die Maschinenscheune den Hof; riesige Pflüge mit blank geschliffenen Scharen standen darin, Traktoren und ein Garbenbinder, an dessen Haspelrad noch Halme von der letzten Ernte hingen.

Aber das konnten die Piloten natürlich nicht sehen, das Dach war unbeschädigt. Hatten sie den Westteil des Gutes und den kleinen, von der Alten Eider umgrenzten Park hinter dem Herrenhaus überflogen, blickten sie zunächst auf die Meierei mit ihren grün glasierten Zinnen. Die Strohscheune, eine Voliere für das Federvieh, verschiedene Ställe und eine Schmiede befanden sich auf dieser Seite der Straße. Manche der kaum mehr genutzten Backsteingebäude waren noch älter als das Herrenhaus und zerfielen bereits. Jeder neue Sturm riss ein bisschen mehr Reet von den Dächern und legte die schimmelschwarzen Mauern oder Nester von Ratten und Mardern bloß.

Obwohl Kiel mit seinem Marinehafen immer wieder angegriffen wurde, war auf dieses schutzlos dastehen-de, keine Autostunde von der Stadt entfernte Gut noch nie eine Bombe gefallen, während des ganzen Krieges nicht. Eine englische Spitfire hatte einmal eine Salve in die Dachuhr gefeuert und die Freitreppe zu den Melkerstuben überm Stall zerstört, aber den meisten Pilo-ten mochte die Landschaft mit den sanft gewellten Feldern, den hier und da rauchenden Schornsteinen, dem Treppengiebel des Klosters und den Rehen zwischen den Buchen wie ein Inbild des Friedens erscheinen. Nirgendwo Soldaten, kaum je ein Militärfahrzeug, und aus ihren beschlagenen Kanzeln konnten die Männer natürlich auch nicht die Erdbunker oder die getarnten Barackendächer im Fichtenwald sehen – von den U-Booten, die über den Kanalgrund Richtung Nordsee glitten, ganz zu schweigen.

Wieder war es weit nach Mitternacht geworden. Kein Laut auf dem Hof und in der Mansarde, und als plötzlich Wachs auf die Buchseite lief, eine klare Lache, unter der die jäh vergrößerten Lettern wie Insektenbeine zuckten, blies Luisa die Kerze aus. Sofort kam ihr das Zimmer kühler vor, und sie krümmte sich zusammen unter ihren Decken, rieb gähnend die Füße und dachte momentlang, einen Nachschein des Flämmchens auf den Umrissen der Möbel zu sehen. Am Wasserglas zuckte ein rötlicher Rand.

Sie stand auf, trat in die Fledermausgaube, behauchte die Frostkristalle auf der Scheibe. Kein Mond über den Feldern, nur vereinzelt Sterne, und doch konnte man die Chausseebäume erkennen, ihr schwarzes Geäst, und im Osten ein Lodern hinter einem Schleier, von dem sich nicht sagen ließ, ob es Nebel war oder Rauch. Jedenfalls brannte dort hinten Kiel.

Das dünne Eis in den Spuren der Trecker krachte unter den Sohlen, als sie am nächsten Morgen zur Meierei ging. An der Alten Eider standen Karren und Pferdewagen, zwei Dutzend oder mehr; fast täglich kamen neue hinzu. Manche waren bis zur Radnabe eingesunken im Uferschlamm, die Deichseln ragten kreuz und quer in den Himmel.

Die Sonne schien, aber der Wind war schneidend auf der Rampe. Flüchtlinge mit Eimern, Töpfen und Kannen warteten dort, manche Frauen trugen Stiefel aus Filz und mehrere Kopftücher übereinander, und kaum jemand sprach. Alle, auch die Kinder, starrten zur Tür, wo der alte Thamling mit Litermaßen und Quarkspachteln hantierte. Luisa mochte seine hellen, oft tränenden Augen, den weißen Seehund-Schnäuzer und sein immer wohlgemutes »Dat löpt sich torecht! Dat löpt sich bestemmt torecht.«

Aber als er sie heranwinkte, an allen Wartenden vorbei, war ihr das peinlich. Die Milch wurde limitiert, und die Letzten gingen oft leer aus. Schon glaubte sie ein Murren zu hören; eine alte Frau zischte etwas Unverständliches, ein Mann auf Krücken, dem eine Böe die dünne Jacke blähte, machte ihr nur widerwillig Platz. Der Verwalter grinste. »Na, lütt Deern? Wat soll’n denn die Ringe unter’n Augen? Ist das jetzt Mode? Hast wieder die ganze Nacht geschmökert, stimmt’s? Dein Fenster war hell.«

Nur schwer ließ sich der Deckel von der verbeulten Aluminiumkanne ziehen. Ein Zettel mit der Handschrift ihrer Mutter fiel dabei heraus, eine Bitte um Fett, und Luisa raffte den dicken, von ihrem Atem bereiften Schal vom Mund. »Gar nicht die ganze Nacht!« sagte sie. »Höchstens ein paar Stunden.«

Der Verwalter fuhr mit der Kelle, die einen armlangen Stiel hatte, durch das geflieste Becken. »Trotzdem hab ich Licht gesehen, eine flackernde Kerze, und die Piloten tun das auch, weißt du … Schon mal was von Verdunkelung gehört? Mensch, deine Zeit möchte ich haben. Kannst schlafen und schläfst nicht. Wo bist du denn jetzt?«

»›Winnetou II‹«, antwortete sie. »›Don Quijote‹ war aber besser. ›Die Schatzinsel‹ habe ich morgen durch, und nächste Woche fange ich vielleicht mit ›Effie Briest‹ an. Die Geschichte soll sehr traurig sein … Hat Kiel letzte Nacht gebrannt?«

Er schenkte ihr noch einmal Milch nach, und als er den Deckel auf die randvolle Kanne drückte, quollen Blasen darunter hervor. Dann zeigte er auf die Fässer vor den Mosaikfenstern, das leere Tretrad für den Hund. »Schöne Grüße an deine Eltern, aber Butter gibt’s erst morgen wieder, Motte hat lahme Pfoten. Und Kiel, oder was davon übrig ist, brennt fast jede Nacht, meine Hübsche. Ist nämlich Krieg, falls dir das noch keiner gesagt hat.«

Sie nickte verlegen, bedankte sich und stieg vorsichtig von der Rampe. Locker die Winkeleisen an den Stufen, und der Gutsverwalter hob noch einmal den Kopf und rief: »Luisa? Bevor du wieder zu den Büchern gehst, sag bitte deiner Schwester, sie soll ihre Rumba-Schuhe ausziehen in der Wohnung. Ist ja nicht auszuhalten, das Getrampel. Sonst kann sie demnächst mal Jauche fahren!«

Weder Pulsschlag noch Atem, und doch ist es Leben. Wir müssen es nur zu benennen wissen. Aber welche Schrift stillt das Leid unserer Tage, das bis in alle Zeitenferne strahlt, welcher Buchstab wäre mehr als ein Halm unter den Hufen der Armeen, die wenig wissen vom Recht, so sie auch in seinem Namen meucheln. Es fauchten die Flügel im Wind: Nur noch Flammen mahlte die Mühle, und Funken stoben ins Heu, verheerten die Arbeit von Wochen in einem Nu. Der Armbrust Pfeile durchschlugen manchen Wams, und wer dagegenhielt mit Stock oder Forke, wer sein Liebstes wollt schützen, hatte sogleich der Krieger fünf auf dem Leib. Der Müller, dem ein Keulenhieb das Licht nahm, verzuckte vor seinem Weibe, ihre Kinder warf man in den Brand. Die Fremden machten tüchtig Blut, es dampfte im frostigen Grase, und in der Angst, in den Fesseln, starb sich mancher voraus.

Einer der Schinder, ein Officier mit blauer Feder am Hut, gab dem Schulze einen Trunk von Jauche, des Goldes wegen und wo es vergraben, und als der das Füllrohr zerbiss, schnitt man ihm ab bei lebendigem Leib, was nicht zu sagen. Ein anderer Mann, so gewaltig wie ein Ochs, ergriff dessen Tochter, die eine heilige Schwester war und aus Husum gekommen, zu weihen die neue Kapelle am See. Er band sie fest auf dem Altar und tat ihr unter dem Kreuze gegen alle Gelübde, worauf der Zarten die Sinne schwanden. Für tot wurde sie befunden, doch lebte sie und kehrte zurück in den Stift, des Gesangs fürderhin nicht mehr fähig.

So also das Gut verbrannt bis auf den Grund und alle Keller leer, wollte niemand mehr wohnen an der Schläfe des Wassers, wo noch der Heere Nachzügler gingen im Pikenwald, auch anderes Gesindel, der Mordlust voll, der Gier zudem. Aller Hoffnung auf Linderung der Zeiten bloß, war heißes Tränenvergießen im Dorfe, und die Arbeit verkam. Viel Feld, das der Pflege bedurfte, versank im Kraute, und Streit wuchs zwischen den Äckern, dem Grund von Toten. Die Milch floss sauer aus den Kühen, die Kälber starben im Muttertier, und vom Kranksein und vom Zagen toll, ging man wie in einem schlimmen Traum.

Aus dem Lande traf kaum mehr Nachricht ein, nur Fledderer schlichen herbei, und denen bläute man den Buckel, so sie der Leichen Schmuck feilboten. Doch gab es ledige Männer, die machten sich unkeusch mit einer Handvoll Weibshaar, und es kam ein Fahrender mit fein geflochtenen Armreifen und Ketten, derart golden, dass einem wonniglich das Herz aufging in dieser schwarzen Zeit. Dem Bartholmes bot er sie an, dem Geprüften, als der den Steg wollt richten für seine Arbeit, die Fischerei. Und nicht nur erkannte er den Perldraht vom Markt in Lübeck wieder, mit dem das Haar umwunden. Sein Weib, fortgerissen von den Marodeuren, war das einzige im weiten Kreis mit Glanz und Fülle solcher Art, und das Gedächtnis seiner Hände sagte ihm, dass er ihren Schopf hielt. Tot brach er ins Wasser, und der Schuft entkam.

Es dünkt dem Verfertiger dieser Zeilen, Bredelin Merxheim mit Namen, nicht angemessen, von eigenem Leid zu sprechen, denn es ist gering im Vergleich. Das Leben ist gelebt, man hat Hühner und Roggen im steinernen Haus und kann trotz Gicht und Augenflecken schreiben und lesen, also geht es gut. Scheint das Glück auf die Auen und beschenkt uns mit Früchten, denkt keiner daran, die Feder zu spitzen, Pergament oder Bütten sind rar. Wenn aber der Mord umgeht und der Brand seine Wirkung hat und alles ihm gleich macht, gibt es Ruß und Galläpfel für Dinte hinlänglich. Und so wollen wir fortfahren mit dieser Chronik und der Schrift Genüge tun.