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Titelseite

Inhalt

Kapitel 1 – Seit ich denken …

Kapitel 2 – In den ersten …

Kapitel 3 – Beim Abendessen stocherte …

Kapitel 4 – Als ich am …

Kapitel 5 – Nias Atelier lag …

Kapitel 6 – Nia baute sich …

Kapitel 7 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 8 – Der nächste Tag …

Kapitel 9 – Am Samstagmorgen war …

Kapitel 10 – Montag früh ertrug …

Kapitel 11 – Mit einem Schlag …

Kapitel 12 – Das Abendessen war …

Kapitel 13 – Als Nia mich …

Kapitel 14 – Für den nächsten …

Kapitel 15 – Als die Delfine …

Alle Abenteuer von Dolphin Dreams

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Impressum

Kapitel-Vignette

1

Seit ich denken konnte, fand ich Delfine einfach nur magisch. Wie verspielt sie waren, und wie mühelos diese eleganten Wesen durch die Wellen flitzten und sprangen … sie waren absolut wundervoll. Ich wollte immer nur in ihrer Nähe sein, denn vielleicht würden sie mir ein bisschen was von ihrem Zauber abgeben. Und streng genommen wohnte ich sogar auf einer Insel – aber rund um New York City schwammen leider kaum Delfine.

»Echt schade, dass es im Aquarium keine Delfine mehr gibt«, murmelte ich seufzend. Auf das Geländer gelehnt beobachtete ich ein Walross, das träge hin und her glitt. Es war ein Riesentier, und wenn es auf die künstlichen Felsen in seinem Gehege watschelte, wirkte es ziemlich tollpatschig. Im Wasser jedoch bewegte es sich geschickt und elegant. Allerdings weniger elegant als die Haie im Becken gegenüber oder die Otter nebenan und längst nicht so anmutig wie ein Delfin.

Dass es im Aquarium keine Delfine mehr gab, konnte mich natürlich nicht davon abhalten, trotzdem so oft wie möglich hinzufahren. Es gab noch so viele andere interessante Tiere zu sehen: Seelöwen und Pinguine, Aale, Haie und Rochen … Delfine waren meine Lieblinge, aber ich hatte alle Meeresbewohner ins Herz geschlossen. Wenn ich groß war, wollte ich Meeresbiologin werden. Auch wenn sich alle wunderten, wie sich ein ganz normales Mädchen aus Brooklyn so einen Unsinn in den Kopf setzen konnte.

Das Walross guckte aus dem Wasser und blickte sich um. In seinem struppigen Bart hingen Tropfen, und ich grinste über seinen komischen Gesichtsausdruck. Im nächsten Moment vibrierte das Handy in der Tasche meiner Shorts.

Es war eine Nachricht von meiner Freundin Julia.

Hey Lily! Alles klar bei dir? Heute haben wir im See einen Frosch gesehen, da mussten wir an dich denken. Das heißt, Amber hat eigentlich nur noch gekreischt.☺☺

»Er heißt Archie«, sagte eine Jungenstimme neben mir.

Ich zuckte zusammen. Ich hatte mich so sehr auf Julias Nachricht konzentriert, dass ich ihn nicht bemerkt hatte.

»Kennen wir uns?«, platzte ich heraus und wich einen Schritt zurück.

»Entschuldigung.« Der Junge deutete mit einer lässigen Bewegung auf mein Handy. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich, äh … ich dachte, du guckst vielleicht Infos über das Walross nach.« Seine braunen Augen zuckten zum Display, dann blickte er mich wieder ernst an. »Und das Walross heißt eben Archie. Das ist eine Abkürzung für Archibald.«

»Ach so.« Verwirrt musterte ich den Jungen, der etwa in meinem Alter war, also ungefähr zwölf. Er hatte kurze schwarze Haare, trug kakifarbene Stoffshorts und ein Kurzarmhemd – das fand ich ein bisschen seltsam. In meiner Gegend liefen die meisten Jungs den ganzen Sommer in Jeans oder Sporthose und T-Shirt herum.

Ich überlegte gerade, was ich noch sagen könnte, da eilte eine Frau herbei. Auch sie trug eine kurze Kakihose, und auf dem blütenweißen Schildchen an ihrer Brusttasche stand: Susan – Verantwortliche für die Wasserqualität. Ich hatte sie schon ein oder zwei Mal im Aquarium gesehen, aber nie von so Nahem, dass ich ihr Namensschildchen hätte entziffern können. Ihr Gesicht sah ich auch zum ersten Mal aus der Nähe. Im Moment wirkte sie ungeduldig und griesgrämig.

»Du da«, stieß sie hervor und deutete auf den Jungen. »Im Labor warten sie auf dich. Was treibst du dich hier draußen herum?« Jetzt zielte ihr misstrauischer Blick auf mich, als hätte ich den Jungen absichtlich abgelenkt.

»Entschuldigung«, murmelte er. Er sah mich noch einmal kurz an und verschwand dann schnell um die Ecke hinterm Souvenirladen.

Ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, marschierte die Frau zurück zu den Ottern. Ich beobachtete sie unauffällig, denn ich war neugierig auf ihre Arbeit. Sie nahm ein paar Plastikflaschen aus einem Eimer und schöpfte damit Wasser aus dem Becken.

»Wen haben wir denn da?« Eine tiefe, raue Stimme riss mich aus meiner Hypnose. »Miss Giordano!«

Diesmal wusste ich sofort, wer es war: Eddy aus dem Souvenirladen. Schon bei meinem allerersten Besuch im Aquarium hatte er dort hinter der Kasse gestanden.

Als ich mich umdrehte, lächelte er mich mit seinen schiefen Zähnen an, und ich lächelte zurück. Eddy erinnerte mich immer an Grandpa Rocco, der vor einem Jahr gestorben war. Dabei hatten die beiden auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam: Eddy war groß und schwarz und redete viel, Grandpa Rocco war klein und weiß gewesen und hatte meistens geschwiegen. Aber wenn ich Eddy sah, mit den Lachfältchen um seine Augen und seinem ganz speziellen Lachen, freute ich mich immer, und das war bei Grandpa genauso gewesen.

Eddy lehnte jetzt neben mir auf dem Geländer und schaute zu, wie Archie seine Runden durchs Becken drehte. »Ich habe übrigens mitgekriegt, wie du mit dem Jungen geflirtet hast, Lily«, sagte er kichernd und schwenkte einen Finger mit knubbeligen Knöcheln.

»Wie bitte?« Ich richtete mich auf und schob seine Hand ärgerlich beiseite. »Eddy!«

Er lachte. »Ist doch kein Grund, sich zu schämen. Das ist ein hübscher Junge.«

Ich merkte, wie ich rot wurde, aber gleichzeitig lachen musste. »So ein Quatsch! Ich bin doch erst zwölf. Außerdem kenne ich ihn gar nicht. Er hat mich einfach so angesprochen.« Ich zögerte. Einerseits wollte ich mich nicht weiter veralbern lassen, andererseits war ich neugierig. »Ähm … arbeitet er hier?«

»Ja, er hat vor ein paar Wochen angefangen, zu Beginn der Sommerferien.« Eddy kratzte sich am Kinn. »Er macht ein … wie nennt man das noch … ein Schülerpraktikum drüben im Forschungslabor. Sein Daddy arbeitet da als Biologe, und …«

»Eddy!«, rief Susan, die Wasserexpertin. Sie hatte inzwischen genügend Proben genommen und stapfte nun mit einem Eimer voll gefüllter Flaschen und schmalen Augen auf uns zu. »Hast du nichts zu tun? Als ich das letzte Mal hier war, hast du auch schon Pause gemacht.«

Eddy wich einen Schritt zurück. »’tschuldigung, Ma’am. Ich wollte nur kurz Miss Lily Hallo sagen.« Er zwinkerte mir zu. »Bis bald.«

»Tschüss!« Ich winkte Eddy, während er zum Souvenirladen gleich gegenüber zurückkehrte. Als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass Susan mich misstrauisch anstarrte.

»Bist du allein hier?«, fragte sie. »Wie alt bist du eigentlich?«

»Ich, äh …« Obwohl ich gar nichts falsch gemacht hatte, wurde ich auf einmal nervös und wusste nicht mehr, wohin mit meinen Händen.

In diesem Moment rief jemand meinen Namen. Erleichtert blickte ich zu meiner Retterin hinüber, Nia Watts. Mit großen Schritten lief sie von den Imbissständen zu mir, in jeder Hand ein Eis am Stiel. Nia war über 1,80 Meter groß, dünn wie ein Aal und hatte eine riesige, buschige Afrofrisur. Die Spitzen färbte sie sich immer in den verrücktesten Farben, gerade waren sie neonblau mit etwas Rot und Gelb bei den Ohren.

»Lily! Da bist du ja!« Nia schenkte mir ein lilafarben verschmiertes Eiscremelächeln und drückte mir ein Eis in die Hand. »Noch mal Glück gehabt. Wenn ich auch nur eine Sekunde länger nach dir hätte suchen müssen, hätte ich einfach beide gegessen.«

»Danke.« Ich warf einen kurzen Blick auf Susan, aber die zog sich schon unauffällig zurück und tat dabei so, als müsste sie die Flaschen in ihrem Eimer umsortieren. Endlich ließ meine Nervosität nach, und ich musste ein bisschen grinsen. Wenn man sie nicht kannte, konnte einem Nias auffällige, knallige Art schon etwas Angst einjagen.

Ich aber kannte Nia fast schon mein ganzes Leben lang. Sie war mit meinem ältesten Bruder Ricky zur Schule gegangen, und der war beinahe zwölf Jahre älter als ich. In den vergangenen Jahren hatten meine Eltern sie in den Sommerferien immer als Babysitterin für mich angeheuert, wenn sie beide in der Arbeit waren. Okay, diesen Sommer wäre ich bestimmt auch allein zurechtgekommen – meine Freundin Julia passte seit dem Frühjahr immer nach der Schule schon selbst auf ihre kleine Schwester auf! Aber ich hatte gar nichts dagegen, mit Nia herumzuhängen, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie mich genauso gern mochte. Meistens waren wir bei ihr. Sie hatte sich ein Kunstatelier gemietet und bastelte dort seltsame, aber wunderschöne Skulpturen aus Metall und Glas, manchmal auch aus Ton und Federn oder worauf sie eben Lust hatte. Doch ich konnte sie immer wieder überreden, mal eine Pause einzulegen und mit mir eine »Exkursion« zu unternehmen – so nannten wir das. Und am liebsten ging ich natürlich ins Aquarium.

»Mit wem hast du da geredet?«, fragte Nia und schleckte schnell einen Tropfen von ihrem Eis auf, damit er nicht auf ihrem sommerlichen Batikkleid landete.

»Was?« Ich guckte mich um – die Wasserexpertin war nirgends zu sehen. »Ach, ist nicht so wichtig.«

Nia zuckte mit den Schultern. »Auch gut. Sollen wir dann los? Ich muss langsam weitermachen, und du musst doch noch ein bisschen lesen.«

»Stimmt.« Ich wäre viel lieber noch geblieben. »Na gut. Aber danke, dass wir hergefahren sind.«

Lächelnd strubbelte Nia mir durch meine dunklen Haare. »Aber klar. Du weißt doch, ich mag das Aquarium. Ich finde es sehr inspirierend.« Sie grinste. »Vielleicht sollte ich als Nächstes etwas mit Pinguinen machen. Was meinst du?«

»Klingt gut.« Gemeinsam liefen wir zum Ausgang. Nia hatte so lange Beine, dass ich immer zwei schnelle Schritte machen musste, wenn sie einen machte.

Draußen gingen wir zur U-Bahn-Haltestelle an der West 8th Street. Fast alle anderen Leute wollten in die entgegengesetzte Richtung, zum Vergnügungspark und zum Strand auf Coney Island. Teenager waren dorthin unterwegs sowie aufgeregte kleine Kinder, die ihre Eltern oder andere Aufpasser hinter sich herschleiften, und auch viele Pärchen aus munteren alten Damen im Badeanzug und mit Badekappe auf dem Kopf.

Wir stiegen in einen Wagen der U-Bahn-Linie F, in dem nicht besonders viel los war. Hinten fanden wir zwei freie Plätze, und Nia angelte sofort ein zerfleddertes Buch aus ihrem großen Rucksack: Der Ruf der Wildnis.

Sie reichte es mir. »Viel Spaß.«

Sekunden später saß sie zurückgelehnt auf ihrem Platz, die Augen geschlossen, Stöpsel in den Ohren, und summte zu einem Song auf ihrem Handy. Ich schlug das Buch an der umgeknickten Ecke auf und seufzte.

Eigentlich fand ich das Buch ziemlich okay. Ja, es gefiel mir sogar ganz gut. Es wäre mir nur lieber gewesen, wenn ich es mir selbst ausgesucht hätte, anstatt es von meinen Eltern aufgedrückt zu bekommen. Die Schule gab uns jedes Jahr eine Leseliste für den Sommer mit, aber das waren im Grunde nur Empfehlungen. Diese Ferien war ich allerdings von meinen Eltern dazu verdonnert worden, alle Bücher auf der Liste zu lesen, denn in der sechsten Klasse hatte ich in Englisch eine 3− im Zeugnis gehabt.

Das ist so unfair, dachte ich, während ich auf die Buchseite starrte, ohne sie wirklich zu sehen. Ich habe die eine Klassenarbeit doch nur vermasselt, weil ich so viel mit meinem Biologieprojekt zu tun hatte. Außerdem, wenn Ozzy mit einer 3 in Englisch nach Hause käme, dann würden meine Eltern eine Party für ihn schmeißen …

Mein Bruder Ozzy war fast siebzehn und kein besonders toller Schüler, aber bei ihm war das halb so wild. Wenn Ozzy mit der Highschool fertig war, würde er sowieso in der Sanitärfirma meines Dads anfangen, genau wie Ricky damals. Mein Dad hatte sogar schon die Aufschrift auf seinem Lieferwagen geändert. Jetzt stand dort Giordano und Söhne, dabei war bisher nur ein Sohn richtig mit eingestiegen.

Aber ich … ich hatte es nicht so leicht. Am Ende der fünften Klasse hatte ich einen großen Preis für meinen Aufsatz über den Roman Insel der blauen Delfine gewonnen, und seitdem dachte meine ganze Familie, ich müsste auf jeden Fall Englischlehrerin werden. Und wenn ich ihnen noch so oft erklärte, dass ich Biologie viel lieber mochte …

Bis zu unserer Haltestelle an der Kreuzung von Smith und 9th Street schaffte ich ein halbes Kapitel, doch als wir die rund fünfundzwanzigtausend Stufen vom Bahnsteig zur Straße hinunterstiegen, drifteten meine Gedanken schon wieder ab. Ich dachte an den Jungen im Aquarium. Wäre es nicht cool, in den Ferien dort ein Praktikum zu machen?

»Lily! Hey!«

Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Eine Dreierbande polterte die Treppe hinauf: Olivia Choi und zwei Freundinnen von ihr, alle aus meiner Klasse. Olivia war eines der beliebtesten Mädchen der Schule und trotzdem nett zu jedermann. Doch ich kannte sie nicht besonders gut, sie wohnte nämlich im schicksten Teil von Park Slope, während mein Zuhause in Carroll Gardens war, auf der anderen Seite des Kanals.

»Hi«, sagte ich zurückhaltend.

Nia blickte eine von Olivias Freundinnen an. »Hey, du bist doch die Schwester von Vanessa! Bei eurer Geburtstagsfeier letztes Jahr haben wir zusammen Siebdruck-Shirts gemacht. Weißt du das noch?«

Das war mal wieder typisch. Nia kannte praktisch jeden in Brooklyn. Oder vielleicht nicht jeden, aber egal wo wir waren, irgendwer lief ihr immer über den Weg.

Das Mädchen nickte begeistert und erwiderte Nias Lächeln. »Ja, das war super. Ich habe immer noch mein selbst bedrucktes T-Shirt, das ist so cool!«

»Freut mich.« Nia grinste. »Und wohin geht die Reise, werte Damen?«

»Zum Straßenfest in Brooklyn Heights.« Olivia sah mich an. »Willst du mitkommen, Lily?«

»Nein, das geht nicht«, erwiderte ich schnell, damit Nia nicht auf die Idee kam, für mich zu antworten. »Ich, äh … ich habe Nia versprochen, dass ich ihr noch bei ihrer Arbeit helfe.«

»Na, dann vielleicht ein andermal.« Olivia lächelte noch einmal, kurz bevor eine ihrer Freundinnen aufkreischte, weil oben ihr Zug angerattert kam. Schon rasten die drei lachend und johlend die Stufen hinauf.

Nia musterte mich und hob eine Augenbraue – diesen Blick kannte ich gut. »Willst du nicht doch mit zum Straßenfest?« Sie grinste. »Ich würde deinen Eltern natürlich erzählen, du hättest brav dein Buch gelesen.«

»Schon gut.« Ich ging weiter die Treppe hinunter. »Ich habe keine Lust, bei der Hitze ewig draußen herumzulaufen.«

Nia bohrte nicht weiter nach, und genau das mochte ich so an ihr. Meine Eltern wären mir immer weiter auf die Nerven gegangen. Sie hätten mich gefragt, ob ich wirklich die ganzen Ferien allein sein wollte, nur weil Julia und Amber weg waren …

Aber Nia lief schweigend neben mir, bis wir zur Brücke über den Gowanuskanal kamen. »Hey, sollen wir noch ein bisschen Material einkaufen gehen?«, fragte sie und deutete mit dem Kinn auf den riesigen kastenförmigen Baumarkt weiter vorne.

»Muss ich unbedingt mit rein?«, fragte ich.

»Du kannst auch gerne drüben am Wasser warten, kleine Meerjungfrau«, sagte Nia freundlich. »Solange du dein Handy dabei hast.«

Ich zog es hervor. »Habe ich.«

»Gut. Falls du von einem Kidnapper geschnappt wirst, ruf einfach kurz an. Oder nee, schreib mir – dann kann ich mir in Ruhe überlegen, ob ich mir die Mühe mache, dich zu retten.«

Als Nia über den gigantischen Parkplatz zum Eingang eilte, grinste ich immer noch vor mich hin. Nia scherzte ständig über Sachen, die anderen Leuten Sorgen machten. Mein Dad runzelte in solchen Momenten jedes Mal die Stirn und Ricky verdrehte die Augen, aber ich fand es witzig.

Am hinteren Ende des Parkplatzes war ein kleines Stück Wiese mit einem Zaun am Rand, und auf der anderen Seite davon floss der Kanal.

Ich lehnte mich an den Zaun und starrte in die trübe Brühe. Der Gowanuskanal war wirklich kein besonders schöner Anblick, nicht mal für einen Wasserfan wie mich. Direkt vor mir trieben mehrere unförmige Abfallklumpen vorüber, und gleich unter meinen Füßen hatte sich eine weiße Plastiktüte in den Steinen am Ufer verfangen.

Und trotzdem war die Atmosphäre am Kanal irgendwie magisch. Das stetig fließende Wasser, die leichte Brise, die kreisenden Möwen am Himmel … Außerdem wusste ich genau, dass der Kanal zur Bucht führte, hinter der das Meer lag, die Heimat so vieler faszinierender Tiere.

Ich ging am Zaun entlang und beobachtete, wie die leichte Strömung das Wasser kräuselte. Unter der Oberfläche war nichts zu erkennen, aber ich malte mir aus, dort würden große Fischschwärme umherflitzen oder auch eine Qualle schwimmen, eine Krabbe krabbeln …

Dort, wo der Zaun nach links abknickte, befand sich eine größere Einbuchtung, in der ein stattliches Boot hätte anlegen können. Aber ich hatte hier noch nie eines gesehen.

Ich warf einen letzten Blick in den Kanal, weil ich eigentlich gerade umkehren und zurückspazieren wollte … da stutzte ich. War ich auf eine Wasserspiegelung hereingefallen? Ich hätte schwören können, knapp unter der Oberfläche hätte sich etwas bewegt.

»Was zur …«, murmelte ich und lehnte mich weit über den Zaun, um es mir genauer anzusehen. Die Sonne glitzerte auf der öligen Brühe, ich musste die Augen zusammenkneifen.

Aber … da drüben! Da glitt eindeutig irgendetwas unter der Oberfläche hin und her!

Vor meinem geistigen Auge tänzelten schon ein paar Meerjungfrauen durch den Kanal, und ich musste grinsen. Irgendwie hätte es mich weniger gewundert, wenn in dieser giftigen Brühe ein Fabelwesen gewohnt hätte, und kein echtes Tier. Doch in diesem Moment tauchte es auf – ich staunte.

Ein paar Meter vor mir, mitten in meinem guten, alten Brooklyn, im schmutzigen Wasser des Gowanuskanals schwamm ein leibhaftiger Delfin!

Kapitel-Vignette

2

In den ersten Sekunden war ich wie gelähmt. Und als sich endlich mein Gehirn einschaltete, war der Delfin schon wieder untergetaucht.

»Oh Gott!«, stieß ich hervor. »Oh Gott!«

Ich lehnte mich über den Zaun und klatschte in die Hände. Irgendwie musste ich ihn auf mich aufmerksam machen. Schwamm dort wirklich ein Delfin? Oder hatten mir die giftigen Dämpfe des Kanals die Sinne vernebelt?

Von wegen – da war er wieder! Diesmal guckte der Delfin nur für einen Moment aus dem Wasser, ehe er wieder verschwand. Aber ich hatte ihn ohne Zweifel gesehen!

Mein Herz klopfte wie wild. Ich stieß einen leisen Pfiff aus. Vor ungefähr einem Jahr hatte ich mich im Internet über Delfinlaute informiert und eine Weile einige davon geübt. Aber erzählt hatte ich das niemandem, denn Julia und Amber hätten sich darüber bestimmt königlich amüsiert und meine Brüder erst recht. Die hätten das seltsam gefunden, genauso schräg wie ein Kleinkind, das sich bellend mit dem Hund unterhält. Aber jetzt fielen mir die ganzen Quiek-, Zwitscher- und Pfeiflaute wieder ein, und ich probierte es mit allen, die ich noch einigermaßen zustande brachte.

Endlich zeigte sich der Delfin wieder – es war ein Weibchen, da war ich mir so gut wie sicher. Sie sah mich mit großen, dunklen, traurigen Augen an, und ich erwiderte ihren Blick. Sie war so schön, mir blieb die Luft weg.

Das Delfinmädchen zuckte, wirbelte herum und schwamm in Richtung des eigentlichen Kanals. Doch kurz vor der Einbuchtung bremste es wieder ab, zwitscherte einmal und kehrte um. Dann verschwand es unter der schlierigen Oberfläche.

Mit zitternden Händen zog ich mein Handy aus der Tasche. So aufgeregt, wie ich war, hätte ich niemals eine Textnachricht schreiben können. Deshalb tippte ich einfach auf das kleine Telefonsymbol neben Nias Namen.

»Hey, du solltest mir doch schreiben«, sagte sie zur Begrüßung. »Ist wohl ein besonders gruseliger Kidnapper?«

»Nein«, antwortete ich schnell. Mit dem Blick tastete ich weiter das schimmernde Wasser der Einbuchtung ab. »Hier ist ein Delfin!«

»Bitte was? Hör mal, ist das jetzt so dringend? Ich bin nämlich sowieso fast fertig und …«