Umschlag

Nach einer Assistenzzeit im ehemaligen DEFA-Studio für Dokumentarfilme studierte Rolf Sakulowski an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg. Seit mehr als zwanzig Jahren dreht der erfahrene Regisseur und Autor Filme im In- und Ausland. Daneben gibt er Filmseminare und arbeitet zu Themen polizeilicher Krisenintervention. »Die Gloriosa-Verschwörung« ist sein zweiter Kriminalroman um den jungen Historiker Jonas Wiesenburg.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Jonathan Schöps/photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne Bartel
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-407-0
Originalausgabe

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Für Nelly

1

6. August 1665

Endlich schwieg die Glocke. Dass sich nun wieder Stille über dem Dorf ausgebreitet hatte, entnahm der schwarz verhüllte Mann auf seinem entfernten Beobachtungsposten der Tatsache, dass sich die Schar aufgeschreckter Vögel kreisend um den doppelten Kirchturm sammelte und schließlich wieder auf dem Dachfirst niederließ. Für die unschuldigen Geschöpfe zählte nur der Moment. Was bis vor wenigen Augenblicken im Kirchenschiff tief unter ihnen geschehen war, konnten sie nicht ermessen.

Vorsichtig zog sich der Fremde die talggetränkten Stoffpfropfen aus den Ohren. Zunächst noch misstrauisch und bereit, sie sofort zurückzustopfen. Doch seine Sorge erwies sich als unbegründet. Kein Geräusch drang vom Dorf zu ihm herüber. Es war vorbei.

Der sehnige Mann hatte seinen Posten am Waldrand bereits im Morgengrauen bezogen und achtete auch jetzt sorgsam darauf, den Schutz der Bäume nicht zu verlassen. Noch eine Weile verharrte er regungslos im Schatten. Dann zog er sich behutsam zurück und lief zielstrebig in die Tiefe des Waldes.

Nach einigen Minuten erreichte er den Rand eines schmalen Tales. Im Dickicht war der schroffe Einschnitt kaum auszumachen. Ein feuchter Nebelteppich lag unbeweglich über der Senke, so als wollte er den Ort zusätzlich vor neugierigen Blicken verbergen. Geschmeidig stieg der Fremde hinab, immer bemüht, auf dem Geröll keine lauten Geräusche zu machen oder es gar in Bewegung zu versetzen. Trotzdem ertönte schon bald ein alarmiertes Schnauben. Im Dämmerlicht des Grundes schälte sich ein dunkler Schemen aus dem Dunst, der sich unruhig tanzend hinter einem Baum bewegte und dabei seine Form unablässig veränderte. Erst als ein weiterer Nebelschwaden durchschritten war, kamen die Konturen eines edlen schwarzen Pferdes zum Vorschein. Der Mann ging geradewegs auf das stattliche Tier zu. Es erklang ein kurzes, kraftvolles Wiehern, als der Rappe seinen herannahenden Besitzer erkannte.

»Arco.« Sofort war die Aufregung des Tieres verschwunden. Der Fremde beließ es bei diesem einen Wort, in welchem eine merkwürdige Melancholie gelegen hatte. Mit präzisen Handgriffen löste er die Leine, mit der das Pferd an dem Baum festgebunden war, und führte den Rappen davon, wobei sich das Tier eng an die Seite seines vertrauten Herrn drückte.

Kurz vor dem Ausgang der Talsenke gab der Nebel einen leichten Pferdewagen frei, der versteckt hinter einer dichten Eichengruppe stand. Bisher hatte der Fremde nichts an seiner Mission dem Zufall überlassen, und auch die Art des Wagens war bewusst gewählt. Klein und unauffällig sollte er sein, aber bei näherer Betrachtung von einer dezenten Eleganz, damit sein Lenker im Falle einer Überprüfung als respektabler Herr durchgehen konnte. Von außen nicht sichtbar waren die Verstärkungen des Rahmens und der Achsen mit Beschlägen aus geschmiedetem Eisen, die dafür sorgen sollten, dass der Wagen seine besondere Bestimmung erfüllte.

Der Mann tätschelte den Hals seines Rappen, führte ihn an die Deichsel und legte ihm routiniert das Zuggeschirr an. Nur wenige Augenblicke später verließ der Pferdewagen den Schutz des Tales und bog in einen Hohlweg ein, der direkt aus dem Wald herausführte. Eine wichtige Aufgabe hatte der Fremde noch zu erledigen. Ein letztes Mal musste er ins Dorf.

Von den Ausläufern des Waldes führte ein staubiger Fahrweg in gerader Strecke bis hinunter zu dem kleinen Weiler. Die Räder schwerer Fuhrwerke hatten über die Jahre zwei tiefe Rinnen in den Boden gepflügt, denen der Reisewagen des Fremden nun schlingernd folgte. Obwohl die Sonne ihren Zenit noch längst nicht erreicht hatte, lag schon eine schwere Wärme über den goldenen Feldern links und rechts. Das Korn stand gut auf dem Halm und wartete auf seine Ernte.

In den letzten Wochen war der Fremde schon einige Male hier gewesen, um sich mit den Umständen und Gepflogenheiten der Gegend vertraut zu machen. Doch nur ein einziges Mal hatte er sich bis hinunter in die Ansiedlung gewagt. Es war für sein Vorhaben unvermeidlich gewesen.

Obwohl er einen wilden und exzentrischen Charakter besaß, achtete er bei seinen Missionen peinlich genau darauf, im Hintergrund zu bleiben und seine Spuren im Bewusstsein der Menschen durch ein betont unauffälliges Auftreten zu verwischen. Deswegen hatte er auch die Gastwirtschaft des Dorfes gemieden und für die Zeit seiner Unternehmung eine Herberge in einem benachbarten Flecken gewählt. Dort hielt man ihn für einen in sich gekehrten Magister der Botanik, der seine Zeit mit dem Sammeln von Feldpflanzen verbrachte.

Eine Schar Gänse machte lärmend Platz, als das Gefährt des Fremden die Dorfgrenze erreichte. Der Einspänner steuerte zielstrebig auf den doppeltürmigen Kirchenbau zu, der sich auf einem Hügel am gegenüberliegenden Ende des Weilers erhob. Über dem gesamten Ort lag eine drückende Stille. Einzig das rhythmische Aufstampfen der Hufe und das Knarren des Reisewagens störten den Frieden dieses Augustvormittags. Der schwarz gekleidete Mann auf der Sitzbank des Einspänners warf aufmerksame Blicke zu den Fenstern der windschiefen Gesindekaten und in die Einfahrten der Gehöfte. Doch keine Menschenseele begegnete ihm. Es war Sonntag. Die Bewohner des frommen Dorfes hatten sich zur Messe in der Kirche versammelt.

Das Gotteshaus erhob sich auf einer großen Wiese, die vom Staub der Sommerwinde grau gefärbt war. Eine Gruppe mächtiger alter Bäume umgab das Gebäude wie eine stumme Wachmannschaft. Die beiden Türme verliehen der Kirche eine robuste Präsenz. Obgleich nicht sehr groß, strahlte der Bau schlichte Erhabenheit aus.

Mit einem Schnalzen und einem kurzen Zug an den Leinen brachte der Ankömmling das Gefährt zum Stehen. Während er die Speichenräder seines Wagens mit einem Keil arretierte, ließ er seinen Blick noch einmal vorsichtig umherschweifen. Dann tastete er kurz über die Tasche seines Wamses und versicherte sich, dass er die talggetränkten Ohrenstopfen griffbereit hatte. Auch wenn sie ihn vermutlich in dieser Nähe nicht retten konnten. Aber er ging ohnehin davon aus, dass die Glocke nicht mehr ertönen würde.

In die kühle Abgeklärtheit des Fremden mischte sich jetzt, als er die letzten Schritte zum Kirchenportal zurücklegte, eine Spur düsterer Aufregung. Die schwere Tür war geschlossen. Die Bäume wiegten sich sanft im Wind, während ihre Schatten auf dem ausgeblichenen Holz flimmerten. Kein Geräusch drang aus der Kirche. Der Fremde betrachtete die abgenutzte Türklinke aus einem schnörkellosen Eisenband. Wie viele Menschen hatten sie in ungezählten Jahren heruntergedrückt? Er griff nach dem schmalen Metall. Es war an der Zeit, sein Werk zu begutachten. Entschlossen trat er ein.

Nach der gleißenden Sonne schlug ihm im Inneren der Kirchenhalle fast komplette Dunkelheit entgegen. Seine Augen schmerzten. Der kühle Raum umgab ihn wie eine düstere Landschaft aus Schatten. Doch dann, nach einer kurzen Zeit der Gewöhnung, kehrte das Sehvermögen mit erbarmungsloser Klarheit zurück. Das gesamte Dorf war in der Kirche versammelt. Frauen und Männer. Kinder und Greise. Kräftige und Schwache. Keiner hatte die Andacht verpassen wollen. Alle befanden sich hier.

Der Fremde hatte geglaubt, auf das, was ihn erwartete, vorbereitet zu sein. Doch als er in die ersten Augenpaare blickte, schrak er zurück. Hass lag darin, aber auch Erstaunen, Schmerz und Resignation. Am Ende war es die friedliche Stille, die ihm fast den Verstand raubte. Er hatte den Ort der Apokalypse betreten. Niemand im Raum lebte mehr. Er blickte in die Gesichter von Toten.

Langsam schob sich der Besucher tiefer in die dunkle Halle. Registrierte mechanisch die Gruppen unnatürlich verdrehter Leiber, die wie zu einem bizarren Schlachtgemälde erstarrt waren. Ein jeder von ihnen hatte bis zuletzt gekämpft. Doch sie waren keinem Feind zum Opfer gefallen. Sie hatten sich gegenseitig umgebracht.

Wie in Trance schritt der Fremde durch die Kirche. Es hatte keiner Waffen bedurft. Die wären unter den unschuldigen Besuchern des Gottesdienstes auch kaum zu finden gewesen. Stattdessen hatten sie alles benutzt, was ihnen zum Schlagen oder Stechen geeignet erschienen war. Gusseiserne Kandelaber. Aus den Fenstern gebrochene Glasscherben. Am Ende sogar ein Kruzifix. Viele mussten sich mit bloßen Händen aufeinandergestürzt haben. So lange, bis keiner von ihnen mehr übrig gewesen war.

Plötzlich stutzte der Fremde. Seine Hand zuckte zum Griff seines Degens. Da war jemand! Er spürte es nur, aber seine lange Erfahrung in Dingen dieser Art gab ihm Gewissheit. Argwöhnisch ließ er seinen Blick zur Seite schweifen. Und tatsächlich: Im fahlen Licht des Altarraums stand ein alter Mann im schmucklosen Kittel eines einfachen Bauern. Ohne Regung verharrte er an seinem Platz. Der Alte schien den Besucher nicht wahrzunehmen, starrte stattdessen ungläubig und mit glasigen Augen auf seine schwieligen Hände.

Die Begegnung mit dem Überlebenden erschreckte den Fremden mehr als der Anblick der Toten. Für einen Augenblick überlegte er, ob er den Mann mit einem schnellen Stoß seiner verzierten Klinge zu den Seelen der anderen schicken sollte. Doch das war nicht nötig. Der Irrsinn hatte den armen Schlucker bereits in eine fremde Welt gerückt, die ohnehin nichts mehr mit dieser gemein hatte.

Der Besucher zwang sich, seinen Blick von der grausamen Szenerie loszureißen. Was hier geschehen war, würde nicht lange unbemerkt bleiben. Er musste das Artefakt bergen. Nur deswegen war er in diese Hölle zurückgekehrt.

Eilig durchquerte er das Kirchenschiff, verfolgte nun wieder mit kühler Zielstrebigkeit seine Mission. Die niedrige Pforte, die zu einer der Turmtreppen führte, stand weit offen. Dahinter lag die Stiege verwaist im Halbdunkel. Katzenartig duckte sich der Fremde ins Geviert des linken Turmes. Er wusste, dass er hinter einem Vorsprung in der Mauer eine Laterne finden würde. Schnell entzündete er die Talgkerze darin und machte sich im flackernden Schein der Lampe an den Aufstieg. Auf einem Zwischenboden im Quergang zwischen den beiden Türmen blieb er stehen und hob das Licht langsam in die Höhe. Sein Blick erfasste einen Gegenstand, der hier nicht hingehörte. Und der ihm zutiefst vertraut war. Für einen andächtigen Moment vergaß er seine Eile. Vor ihm stand das Artefakt.

Ein leichter Wind strich über die Landschaft, als der Fremde dem Dorf den Rücken kehrte. Ein achtsamer Beobachter hätte bemerkt, dass sich der Rappe jetzt stärker in sein Geschirr stemmen musste und die Räder des Wagens um einiges schwerfälliger durch die ausgefahrenen Spurrinnen pflügten. Was daran lag, dass der verborgene Hohlraum im Herzen des Reisewagens nun nicht mehr leer war.

Unter großer Kraftanstrengung war es dem Besucher gelungen, den schweren Gegenstand, den er »das Artefakt« nannte, aus dem Turmbau der Kirche zu bringen. Genauso wie er ihn nur wenige Tage zuvor an dieser Stelle platziert hatte.

Das einsame Gefährt erreichte die Waldgrenze und bog wenig später an einem Kreuzweg ab. Der Fremde hatte während der gesamten Fahrt nicht ein einziges Mal zurückgeschaut, aber nun fiel sein Blick auf die abgewetzte Truhe, in deren Innerem das Artefakt ruhte. Lange hatte er experimentiert. Gezweifelt. Gefleht. War sich bis zuletzt nicht sicher gewesen, ob seine Erfindung funktionieren würde. Doch heute hatte sie ihre Feuerprobe mit tödlicher Präzision bestanden.

Gemächlich, aber unaufhaltsam bewegte sich der unauffällige Pferdewagen auf ausgespülten Hohlwegen. Der Fremde mied die bekannten Handelsstraßen und nutzte den Schutz der Wälder. Einen halben Tag war er so unterwegs, dann lichtete sich das Dickicht. Unvermittelt traten die Baumreihen zurück und gaben den Blick auf eine weite Landschaft frei. In der Ferne kündete der alles überragende Dom von der sich nähernden Bischofsstadt Erfurt. Der schwarz gewandete Mann fixierte die mächtigen Türme von St. Marien mit feurigen Augen. Bald würde sich dort das Schicksal der Stadt entscheiden. Für einige Sekunden umspielte ein seltenes Lächeln seine harten Züge. Es war vollbracht. Der Klang des Satans war in der Welt.

2

Gegenwart

Das Publikum im Raum hing ihm gebannt an den Lippen, und seine anfängliche Aufregung war dem Gefühl gewichen, dass dieser unwirtliche Oktoberabend tatsächlich zu einem Erfolg werden konnte. Jonas Wiesenburg legte eine kleine Pause ein, um die Spannung noch weiter zu steigern. Dann, endlich, gab er das Geheimnis preis: »Der Name des Mörders ist … Maria Heublein.«

Die Zuhörer in dem überfüllten Galeriecafé tuschelten aufgeregt, als er fortfuhr: »Sie haben richtig gehört. Es ist eine Mörderin

In der ersten Reihe fächelte sich eine ältere Dame nervös frische Luft ins Gesicht und tauschte mit ihrer Nachbarin einen verblüfften Blick. Fast jeder im Raum schien von der Auflösung überrascht zu sein, und eine knisternde Spannung lag in der Luft.

Jonas verlor keine Zeit, die Details der Tragödie nachzuschieben: »Die Magd war ihrem verhassten Bruder Laurentius noch am Abend in die Küche der herrschaftlichen Burg gefolgt, um ihn in einem günstigen Moment hinterrücks zu erschlagen. Und – sie hatte die Tat auch schon gestanden. Doch das konnte an diesem 24. Januar des Jahres 1295 niemand im Gerichtssaal wissen. Denn das Geständnis lag nicht im Interesse des Vogtes, der eigene Pläne verfolgte. Als oberster Richter war es für ihn ein Leichtes gewesen, die Geständnisurkunde verschwinden zu lassen und stattdessen Indizien für die Schuld seines Nebenbuhlers Heinrich Cronacher zu platzieren. Und so wurde der arme Heinrich unschuldig an Marias Stelle hingerichtet. Glück für Maria Heublein.«

Jonas sah von der letzten Buchseite auf und warf seinen Zuhörern einen komplizenhaften Blick zu, ehe er hinzufügte: »Und Glück für uns, dass der Vogt ihr Geständnisprotokoll so schlampig versteckt hat, dass ich es finden konnte. Wenn auch siebenhundertdreiundzwanzig Jahre zu spät, um auf das Urteil noch Einfluss zu nehmen.«

Er schlug das druckfrische Buch behutsam zu, während im Raum lautstarker Beifall einsetzte. Wohin er auch blickte – er sah in beeindruckte Gesichter. Wie sehr hatte Jonas darauf gehofft und konnte es jetzt doch fast nicht glauben. Es war geschafft. Seine Buchpremiere hatte das dicht gedrängte Publikum gefesselt. Erleichtert strich der schlanke Neunundzwanzigjährige seine rotblonden Haare zurück, die sich jedoch allen Bändigungsversuchen widersetzten und gleich darauf wieder aufmüpfig abstanden.

»Bravo!« Henriette Kurek, die quirlige Inhaberin des Galeriecafés La Rivière und Gastgeberin des Abends, pflügte gut gelaunt durch die eng stehenden Besucher und setzte dabei ihre bemerkenswerte Oberweite charmant als Schubhilfe ein.

»Der Laden ist so was von voll«, raunte sie Jonas verschwörerisch zu, als sie endlich neben ihm auf dem Podium stand. »Nicht, dass uns noch die Brücke zusammenbricht.« Damit spielte sie auf den gleichermaßen exotischen wie exklusiven Ort an, der ihr Galeriegeschäft beherbergte: die Erfurter Krämerbrücke. Ein einzigartiges Bauwerk im historischen Herzen der Stadt, welches nicht nur einen steinernen Weg über den Fluss schlug, sondern auch zweiunddreißig mittelalterliche Fachwerkhäuser trug.

»Liebe Freunde, liebe Gäste«, wandte sich Henriette Kurek jetzt an das Publikum im Raum. »Und sehr verehrte Damen und Herren von der Presse«, fügte sie hinzu und deutete hier und da ein Nicken in Richtung einzelner Gesichter an, die ihr offensichtlich vertraut waren, »ich freue mich, Sie alle heute bei uns zu haben. Auch deshalb, weil es ein so hoffnungsvolles Talent ist, das uns zusammengeführt hat.« Damit schob sie Jonas ein wenig nach vorn in Richtung der Fotografen, die in der Enge des überfüllten Raumes versuchten, einigermaßen günstige Perspektiven für ihre Bilder zu finden. Dann fuhr sie fort: »Als mich Jonas Wiesenburg vor ein paar Wochen gefragt hat, ob mein Galeriecafé nicht ein guter Ort für die Premierenlesung seines ersten Buches sein könnte, habe ich nicht lange nachgedacht und sofort zugesagt. Und wie Sie sich nach diesem spannenden Abend vorstellen können, bereue ich es keine Sekunde lang. Jonas – ich denke, ich kann für alle hier sprechen, wenn ich sage: Sie haben uns mit diesem außergewöhnlichen Einblick in die düsteren Machenschaften unserer Vorfahren in Ihren Bann gezogen. Ein wirklich bemerkenswertes Debüt!« Erneuter Beifall bestätigte ihre Worte, und ein Gewitter aus Fotoblitzen tauchte das Podium einen Moment lang in einen flackernden Schein und malte unheimliche Schatten auf die Wände.

Zwei Jahre hatte Jonas Tag für Tag an seinem Projekt gearbeitet – einem ungeschönten Buch über Kriminalfälle aus dem Mittelalter. Dabei wollte er sich bewusst von der Vielzahl der Publikationen absetzen, die historische Ereignisse lediglich nacherzählten. Jonas interessierte sich für die ungelösten Fälle. Für die Widersprüche und Unstimmigkeiten. Die Rätsel und die offenen Fragen.

Seit seinem Studium der mittelalterlichen Geschichte faszinierte es ihn, die dunklen Kammern der Vergangenheit zu betreten. In die Welt nie aufgedeckter Ränkespiele und Intrigen einzutauchen, die allzu oft das Rad der Geschichte im Kleinen oder Großen beeinflusst hatten. Oft stieg der junge Historiker hinab in die geheimnisumwobene Welt alter Archive. Ging Spuren nach, über die sich seit vielen hundert Jahren der Mantel des Vergessens gebreitet hatte. Die Zeugen, die er aufspürte, waren längst zu Staub zerfallen. Aber es gab Akten und Tagebücher. Geschichtliche Querverbindungen. Und manchmal sogar noch die Gebäude, die in einem tragischen Moment der Vergangenheit zum Tatort geworden waren.

Bei seinen Recherchen orientierte sich Jonas an Ermittlungsmethoden, wie sie heute auch die Kriminalpolizei nutzte. Er besaß die Gabe und die Geduld, den längst verstummten Stimmen zuzuhören. Auf diese Weise hatte er bis jetzt ein gutes Dutzend rätselhafter Fälle gelöst. Keiner von ihnen lag weniger als fünfhundert Jahre zurück. Sein Buch trug den Titel »Nomina peccatorum – Die Namen der Sünder«. Denn Jonas gab nicht auf, bis er die Täter mit Rang und Namen ermittelt hatte. Den Opfern konnte er damit nicht mehr helfen, aber wie ein Zeitreisender brachte er menschliche Schicksale, die noch immer atemlos machten, zurück ins heutige Bewusstsein. Und gerade hatte ihm sein Publikum bewiesen, dass es sich von dieser Faszination anstecken ließ.

Jetzt, auf dem hell erleuchteten Podium des Galeriecafés, stellte sich bei Jonas so etwas wie wirklicher Stolz ein. Doch als Henriette Kurek ihre kurze Laudatio beendet hatte, wies er als Erstes ganz nach hinten in den Raum. »Bevor ich das tolle Lob für meine Arbeit annehme«, begann er mit einem Anflug von Rührung in der Stimme, »möchte ich mich zuerst bedanken – bei der coolsten und stärksten Partnerin, die man haben kann. Und zwar beim Schreiben und im Leben. Bei meiner Freundin Fenja!«

Die Augen aller im Raum folgten unvermittelt Jonas’ Blick. In der letzten Reihe stand eine junge Frau Ende zwanzig, deren anmutige und gleichermaßen nachdenkliche Gesichtszüge etwas Geheimnisvolles hatten, deren dunkle Augen jetzt aber verschmitzt aufblitzten. Sie zwinkerte Jonas kurz zu, und erst als sie sah, dass er sie mit einer beharrlichen Geste zu sich nach vorn winkte, verließ sie ihren Platz. Ihr langes schwarzes Haar fiel locker über das lapislazuliblaue Kleid, welches ihre schlanke, sportliche Figur noch betonte. Im Gegensatz zur Gastgeberin des Abends musste Fenja sich nicht durch die Menge drängen. Wie von selbst bildete sich eine Gasse, durch die sie unter bewundernden und auch einigen neidischen Blicken zum Podium gelangte.

»Danke«, sagte Jonas noch einmal leise und umarmte Fenja lange.

Fenja Wolff war Geologin und erforschte Höhlen und Gebirge. Am liebsten war sie in der Natur unterwegs, und zwar bei fast jedem Wetter und in jedem noch so unwegsamen Gelände. Daneben hatte sie ihren Freund von Beginn an bei der Arbeit an seinem Buch unterstützt. Während Jonas der gewiefte Rechercheur, Kombinierer und Stratege war, brachte Fenja mit ihrer Spontaneität, ihren verrückten Ideen und ihrer Lust am Abenteuer eine frische Lebendigkeit in ihre Beziehung. Zusammen waren sie ein fast unschlagbares Team.

Fenjas Auftauchen neben Jonas hatte den Beifall im Raum noch einmal anschwellen lassen. Als sich der Applaus langsam legte, zog ein einzelnes Händeklatschen, das hartnäckig und pointiert andauerte, die Aufmerksamkeit aller Gäste auf sich. Es kam von einem distinguierten Mann im dunklen Maßanzug, der sich jetzt gemessenen Schrittes in Bewegung setzte und, weiterhin klatschend, auf das Podium zuging.

»Dr. Hutter«, raunten gleich mehrere Besucher, und der Tonfall reichte dabei von Wertschätzung bis Verachtung.

»Meinen Glückwunsch!«, sagte Hutter, als er vor Jonas und Fenja stand. Dann nahm er Fenjas Hand und hauchte einen flüchtigen Kuss auf ihre Haut. »Ein wunderbares Werk!« Für einen kurzen Augenblick ließ er in der Schwebe, ob er damit Fenja oder das soeben präsentierte Buch meinte. Dann wandte er sich Jonas zu, drückte ihm jovial beide Oberarme und fuhr fort: »Jonas, Ihre Arbeit hat mich wirklich beeindruckt.« Mit einer routinierten Drehung schraubte sich Hutter in Richtung Publikum und verwandelte so seinen Glückwunsch übergangslos in eine Ansprache, wobei er seine Worte instinktiv auf den Galeriebereich konzentrierte, in dem die meisten Pressevertreter standen. »Die Historie, meine Damen und Herren! Die Historie benötigt immer auch eine Stimme, die sie erweckt. Einen Mutigen, der sie wieder ans Licht zieht. Einen Anwalt, der für sie kämpft. Und solch einen Mann sehen Sie hier vor sich. Jonas Wiesenburg.«

Hutter machte eine Pause und gab dem Publikum damit Gelegenheit für einen kurzen Beifall. Dann setzte er seinen Diskurs mit dem Rhythmusgefühl eines erfahrenen Redners fort: »Und deshalb war es mir eine Herzensangelegenheit, Jonas’ vielversprechendes Erstlingswerk mit einem bescheidenen Betrag zu unterstützen. Spannende Projekte brauchen Menschen, die an sie glauben. Wie die meisten von Ihnen sicherlich wissen, ist das seit vielen Jahren nicht nur mein persönliches Motto, sondern auch die Maxime von Metropolis Thuringiae. Wir bauen ein neues Erfurt auf, das sich fest auf die Fundamente seiner großartigen Geschichte gründet.« Eine weitere Pause folgte, in der nur noch artiger Applaus gespendet wurde.

Jonas ließ die subtile Vereinnahmung des Abends durch Dr. Hutter mit halbwegs guter Miene geschehen. Er hatte sein Buch selbst vorfinanziert und publizierte es jetzt im Eigenverlag. Hutter war einer der wenigen gewesen, die sich frühzeitig bereitgefunden hatten, das Projekt zu fördern und einen Teil der nicht unerheblichen Druckkosten zu übernehmen. Der Mann war Jurist und Vorsitzender des Erfurter Lobbyistenvereins Metropolis Thuringiae, eines erlesenen Clubs, der das Augenmerk von Politik und Bevölkerung gern auf die Historie der Landeshauptstadt lenkte, der aber auch solide wirtschaftliche Interessen vertrat. Dem Verein gehörten zahlreiche Baufirmen an, die ihr öffentlichkeitswirksames Schwärmen für die mittelalterliche Bausubstanz Erfurts gern mit lukrativen Sanierungsaufträgen adelten.

»Dann bleibt mir nur noch, mein lieber Jonas, Ihrem Buch einen durchschlagenden Erfolg zu wünschen«, beendete Dr. Hutter seinen Exkurs, bevor er mit einem hintergründigen Lächeln anfügte: »Und dass Sie für uns auch weiterhin in die dunklen Tiefen der Vergangenheit schauen und uns die ›Namen der Sünder‹ offenbaren.«

»Könnten wir bitte noch mal ein Foto …?« Eine kleine Schar von Pressefotografen drängte sich zum Podium. Jonas fühlte sich fast geblendet, als er schon zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit vom harten Licht der blitzenden Kameras eingehüllt wurde. Für einen kurzen Moment blickte er irritiert zur Seite. Und genau in diesem Augenblick sah er es.

An einem der Galeriefenster, die hinaus auf die nachtschwarze Brücke gingen, erschien plötzlich ein Gesicht. Es gehörte zweifellos zu einem Mann, hatte aber nichts Menschliches an sich. Die Züge waren zu einer bösartigen Fratze verzerrt, und die weit aufgerissenen Augen durchbohrten Jonas mit einem wahnsinnigen Ausdruck. Dann, nach einem entsetzlichen Moment der Erstarrung, verschwand die Gestalt genauso schnell, wie sie aufgetaucht war, und hinter der Fensterscheibe blieb nur unergründliche Schwärze zurück.

Jonas hatte sich so erschrocken, dass er im ersten Moment nicht reagieren konnte. Irgendetwas an dem Gesicht war ihm auf verstörende Weise bekannt vorgekommen, doch er wusste nicht, was es war. Hilfesuchend blickte er zu den anderen Gästen, die überall in kleinen Gruppen beieinanderstanden, an Sektgläsern nippend und in angeregte Gespräche vertieft. Niemand im Raum schien die Erscheinung am Fenster bemerkt zu haben, alle befanden sich in bester Stimmung. Hatte ihm seine Wahrnehmung einen Streich gespielt?

Mit wenigen Schritten erreichte Jonas die Ladentür, riss sie auf und trat hinaus auf die Brückenstraße. Schlagartig waren alle Premierengeräusche wie weggewischt, und die kühle Stille der Nacht schlug ihm entgegen. Jonas hätte nicht genau sagen können, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, aber der Mann vom Fenster musste einfach noch irgendwo in der Nähe sein. Doch so häufig er sich auch umblickte – er konnte weit und breit nichts sehen außer dem fahlen Licht der Brückenbeleuchtung und der regenfeuchten Dunkelheit der Nacht.

3

Obwohl die Schicht von Sven Künzel gerade erst begonnen hatte, schlich sich bei ihm schon jetzt eine hartnäckige Müdigkeit ein. Das lag auch daran, dass der frühe Sonnenuntergang und das ungemütliche Wetter dieses Oktoberabends ganz Erfurt in eine düstere Stimmung versetzt hatten. Und natürlich daran, dass es wieder die Spätschicht war, die ihm sein Chef immer dann aufs Auge drückte, wenn er sich aus irgendeinem belanglosen Grund angepisst fühlte. Was in letzter Zeit häufiger geschah.

Eigentlich fand Sven Künzel seinen Job ganz in Ordnung. Er arbeitete bei einem privaten Security-Unternehmen und war für einen Trupp von acht Ordnern zuständig. Er mochte es, wenn andere ihn mit Respekt behandelten, und das taten sie schon deshalb, weil seine in einem Riether Kraftsportstudio geformte Figur auch ohne viele Worte zu überzeugen vermochte. Künzels persönlicher Ehrgeiz bestand darin, dass in dem Bereich, für den er Verantwortung trug, alles korrekt und geregelt zuging.

Seit dem Frühjahr hatte seine Firma einen festen Vertrag mit der Stadtverwaltung, und so war Sven Künzels Arbeitsplatz seit fast sechs Monaten das historische Rathaus am Fischmarkt. Er empfand es als Vorteil, dass seine Schichten jetzt wesentlich ruhiger abliefen als früher, wo er sich an den Türen der Vorortclubs Nacht für Nacht mit irgendwelchen Spinnern hatte herumschlagen müssen. Und als Nachteil, dass er jetzt für blasierte Krawattenträger Dienst tat, die jemanden wie ihn kaum eines Blickes würdigten. Aber inzwischen hatte sich Sven Künzel damit arrangiert. Die Bezahlung stimmte, und er und seine Jungs waren ein gutes Team.

Künzel sah auf die Uhr. Die heutige Veranstaltung sollte um einundzwanzig Uhr beginnen, und schon jetzt, zwanzig Minuten vorher, war der holzgetäfelte Festsaal bis auf den letzten Stuhl gefüllt. Eine Stunde lang waren die Honoratioren der Stadt in ihren Smokings und Abendroben hereingerauscht. Doch ausgerechnet der Hauptgast des Abends fehlte noch. Enrico Chevalier, siebenundsechzigjähriger Kulturmäzen und eine der schillerndsten Persönlichkeiten Erfurts, würde heute die Ehrenbürgerwürde der Stadt verliehen bekommen. Künzel fand das gut. Chevalier stammte wie er aus einfachen Verhältnissen, hatte nach der politischen Wende 1990 seine Chance ergriffen und war mit sicherem Instinkt groß ins Sportgerätegeschäft eingestiegen. Mit einer Kette von Fitnessstudios hatte er in wenigen Jahren ein erhebliches Vermögen angehäuft, das er mit einigen hemdsärmeligen Börsenspekulationen noch vervielfachte. »Mit fünfzig muss man es geschafft haben«, zitierte Chevalier sich gern selbst und hatte sich getreu diesem Leitspruch an seinem fünfzigsten Geburtstag zum Privatier erklärt. Obwohl er nie eine künstlerische Ader entwickelt hatte, stiftete er seit Jahren regelmäßig größere Summen für spektakuläre Kunstprojekte, womit sich der manchmal recht ungehobelte Geräteverleiher einigen gerümpften Nasen zum Trotz einen festen Platz in der gehobenen Erfurter Gesellschaft gesichert hatte. Und jetzt auch die Ehrenbürgerschaft.

»Andy von Sven. Habt ihr den Chevalier schon auf dem Schirm?«, fragte der bullige Security-Mann in sein Walkie-Talkie und meinte damit einen der beiden Kollegen, die am Eingang des Rathauses postiert waren.

»Negativ«, kam es knapp zurück.

So langsam wurde Künzel unruhig. Laut seinem Plan hätte der angehende Ehrenbürger seit mindestens einer halben Stunde im Gebäude sein sollen. Doch das war er nicht, und der Büroleiter des Oberbürgermeisters eilte jetzt schon zum zweiten Mal mit fragendem Gesicht auf ihn zu.

Zehn Minuten nach dem geplanten Beginn der Veranstaltung hatte sich das Fehlen von Enrico Chevalier bis in die letzte der eng besetzten Stuhlreihen herumgesprochen und wurde mit dezentem Geraune der Festgäste kommentiert. Mehrere Mitarbeiter des Rathauses schritten nervös auf und ab, die Gesichter in konzentrierter Ratlosigkeit verzogen und ihre Smartphones fest ans Ohr gepresst. Doch von keinem von ihnen kam der erlösende Ausruf. Der Erfurter Ehrenbürger in spe blieb verschollen.

Sven Künzel hatte seine Ordner inzwischen drei Mal abgefragt und sah im Moment keinen Sinn darin, dies ein viertes Mal zu tun. Weitere zwanzig Minuten später war er sich sicher, dass es an diesem Abend keinen Festakt mehr geben würde. Offenbar schwänzte der Geehrte seine Zeremonie, der Grund dafür ließ sich auch durch Nachdenken nicht ermitteln. Fest stand: Die Welt würde davon nicht untergehen. Der Security-Mann entspannte sich und beobachtete mit einem gewissen Vergnügen, wie einige der nobel gekleideten Gäste verstohlen zu dem üppigen Büfett hinüberschielten, sich aber nicht trauten, ihren schlecht kaschierten Gelüsten nachzugeben.

»Achtung an alle. Chevalier ist im Anmarsch«, krächzte es unvermittelt aus Künzels Walkie-Talkie. Und gleich danach: »Ach du Scheiße …«

»Andy?«, fragte Künzel nach einer Schrecksekunde zurück. Mit dieser Meldung hatte er nicht mehr gerechnet. »Andy von Sven. Was ist los?« Doch er erhielt keine Antwort. Stattdessen drangen verzerrte Rufe vom Vorplatz zu ihm herauf, gefolgt von einem dumpfen Poltern im Foyer. Künzel war sofort alarmiert. Irgendetwas ging da gerade gehörig schief. Und das war nicht gut.

In wenigen Schritten war er an der nächstgelegenen Tür, die vom Festsaal hinaus zum Treppenhaus führte. Doch noch bevor er die Hand nach dem verzierten Messinggriff ausstrecken konnte, schwangen die beiden Flügel auf, und vor ihm stand Enrico Chevalier. Der Kunstmäzen trug einen taubenblauen Anzug und um den Hals ein elegantes Tuch aus weinroter Seide. In der Hand hielt er einen Gehstock mit silbernem Knauf, der mit feinen Gravuren überzogen war. Alles an dem Mann strahlte ausgefeilte Eleganz aus. Doch irgendetwas an dem Bild stimmte nicht.

Es ist der Blick, durchfuhr es Künzel. Etwas lag in Chevaliers Augen, das der Security-Mann nicht einordnen konnte. Für kurze Zeit war er zwischen Faszination und Erschrecken gefangen, dann hatte ihn Chevalier auch schon passiert und schritt geradlinig durch den Mittelgang, der zwischen den Stuhlreihen nach vorn zum Rednerpult führte.

»Verdammt, wir haben hier Verletzte! Der ist völlig durchgedreht!«, schrie es plötzlich aus dem Funkgerät. »Vorsicht, der muss zu euch unterwegs sein!«, brüllte ein anderer Ordner auf demselben Kanal.

Künzel zuckte zusammen und hob mechanisch das Gerät vor den Mund. »Wer?« Doch er wusste sofort, wer gemeint war, als sich Chevalier mitten im Saal langsam zu ihm umdrehte.

Ein entrückter Blick traf ihn, dann verzerrte sich Chevaliers Antlitz zu einer gehetzten Fratze. Ohne Vorwarnung holte er mit seinem Gehstock aus und hieb den massiven Silberknauf ins Gesicht eines schmächtigen Mannes in der ersten Sitzreihe. Eine hellrote Blutfontäne spritzte ins Publikum, dann fiel der Getroffene mit einem glucksenden Geräusch vornüber und rutschte aufs Parkett. Da war Chevalier schon einige Meter weiter und drosch mit einem unmenschlichen Schrei auf sein nächstes Opfer ein. Die Gäste waren so perplex, dass es einen Moment dauerte, bis die ersten zu schreien begannen. Dann brach die Hölle los.

Männer und Frauen sprangen von ihren Sitzen auf, versuchten, in unterschiedliche Richtungen zu entkommen, und rissen sich dabei gegenseitig zu Boden. Chevalier preschte unterdessen durch die kopflose Menge und schlug mit einem archaischen Gebrüll um sich. Die Anwesenden gehorchten nur noch ihrem puren Überlebensinstinkt. Viele drängten in die hinteren Sitzreihen oder begannen, dem Angreifer mit dem Mut der Verzweiflung Stühle entgegenzuschleudern.

Wie in Zeitlupe nahm Künzel das surreale Geschehen wahr. Für ein paar kostbare Sekunden war er zu keiner Reaktion fähig, doch dann prasselten die Bilder und Geräusche mit ungebremster Wucht auf sein Gehirn ein. Das hier war kein Alptraum. Das war echt. Enrico Chevalier war dabei, Menschen zu töten. Er musste aufgehalten werden.

Mit einem kurzen Sprint katapultierte sich der Security-Mann ins Zentrum des Tumults, ignorierte die Stühle, die ihn trafen, und die Menschen, die er zur Seite rempeln musste. Künzel hatte nur sein Ziel im Auge. Zeitgleich mit zweien seiner Kollegen erreichte er Chevalier und fiel den Angreifer sofort an. Doch der Mann entwickelte schier unmenschliche Kräfte. Immer wieder entwand er sich den Klammergriffen der drei durchtrainierten Ordner, warf sich ihnen entgegen und brachte seine Gegner aus dem Gleichgewicht. Erst nach einigen unendlichen Minuten gelang es ihnen mit vereinten Kräften und vollem Körpereinsatz, Chevalier niederzuringen und am Boden zu fixieren. Doch kaum hatten seine Schultern den Parkettboden berührt, bäumte er sich erneut auf, drückte die auf ihm knienden Wachmänner von sich und bog die muskulösen Arme, die ihn festhielten, langsam und unaufhaltsam zur Seite. Die Stärke, die er dabei an den Tag legte, war ganz und gar unnatürlich für einen Mann seiner Statur und seines Alters. Es folgte ein kehliger, lang gezogener Schrei, und dann, ganz plötzlich, war es vorbei. Enrico Chevalier sackte kraftlos in sich zusammen. Sein dunkelrot angelaufenes Gesicht verlor alle Farbe, sein Blick wurde glasig, und das schwere Keuchen seiner Stoßatmung wich einer gespenstischen Stille.

Sven Künzel brauchte keine medizinischen Fachkenntnisse, um zu wissen, dass der Mann nicht mehr lebte. In seinen gebrochenen Augen war noch ein Rest der irren Aggression zu erahnen, mit der er Minuten zuvor gewütet hatte, doch zu Künzels Verwunderung lag in den bleichen Zügen des Toten vor allem ein Ausdruck von Angst und Erstaunen. Von einem Moment auf den anderen hatte sich Enrico Chevalier von einer übermenschlichen Kampfmaschine wieder in den siebenundsechzigjährigen Bonvivant zurückverwandelt, den jeder im Raum gekannt hatte.

Sven Künzel blickte wie betäubt auf den grotesk verrenkten Körper hinab. Und nahm erst jetzt wahr, dass er selbst am ganzen muskelbepackten Leib zitterte.

4

Jonas Wiesenburg war kaum zum Nachdenken gekommen, seit er die verstörende Erscheinung am Fenster der Galerie gesehen hatte. Zu viele seiner Premierengäste interessierten sich für die Anekdoten und Hintergründe seines Buches und bestürmten ihn mit Fragen und Kommentaren. Erst als die letzten zähen Fans das Galeriecafé verlassen hatten, trat etwas Ruhe ein.

»Dom?«, fragte Fenja.

»Ja, noch kurz«, antwortete Jonas. Das war ihr Ritual: Am Ende wichtiger Tage gingen sie oft noch einmal zum Domplatz, um einen Blick auf den berühmten Hügel zu werfen, der sich inmitten Erfurts erhob. Den Hügel, auf dem der Mariendom und die benachbarte Severikirche über der Stadt thronten.

Hand in Hand verließen sie die Krämerbrücke, die im schwarzen Mantel der Nacht wie die Kulisse aus einer fernen Zeit wirkte. Jetzt, zu dieser späten Stunde, war die Altstadt ganz und gar pur. Ein ehernes Wesen aus Stein und Holz, das sich der Geschäftigkeit seiner Bewohner und dem Gewimmel der Touristenmassen entzogen hatte.

»Und, zufrieden?«, fragte Fenja gut gelaunt. Sie hatte sich ihre geliebte alte Lederjacke übergestreift und blitzte Jonas unternehmungslustig an.

»Total. Ich bin megaglücklich«, gab er schnell zurück.

»Megaglücklich. Aha. Genau so siehst du auch gerade aus.« In Fenjas Augen lag ein ironisches Lächeln. Sie spürte, dass ihr Freund etwas auf dem Herzen hatte, was nichts mit dem unbestrittenen Erfolg seiner Buchpremiere zu tun hatte.

»Da war jemand am Fenster. Vorhin in der Galerie. Wie ein Geist«, sagte Jonas, nachdem sie einige Schritte gegangen waren.

»Ein Geist?«, fragte sie zurück.

»Ein Gesicht. Eine Fratze. Irgendwas dazwischen.«

»Vielleicht hat sich nur einer einen Spaß erlaubt. Du weißt ja, was hier manchmal nachts für Typen rumhängen.«

»Kann sein. Wahrscheinlich. Aber ich bin rausgegangen und habe nachgesehen. Da war niemand.«

»Hm. Komisch.« Fenja dachte eine Weile nach, während sie langsam weiterschlenderten. Schließlich flüsterte sie: »Dann war es vielleicht wirklich ein Geist. So einer wie ich.« Sie fauchte Jonas mit einem zur Grimasse verzogenen Gesicht an, musste dabei aber fast sofort lachen, was auch Jonas ansteckte.

Ihre Unterhaltung wurde jäh unterbrochen, als plötzlich in ihrer Nähe ein Martinshorn losheulte und kurz darauf ein Rettungswagen mit Blaulicht an ihnen vorbeiraste.

»Der kommt vom Fischmarkt«, wunderte sich Jonas.

Kurz darauf erreichten sie den historischen Marktplatz. Zuerst fiel ihnen das blaue Flackern auf, das die kunstvollen Fassaden ringsum unheimlich pulsieren ließ. Der Zugang zu dem Platz war mit eisernen Sperrgittern verstellt. Polizisten bewachten die Barriere und öffneten sie nur, um weitere Krankenwagen durchzulassen. Der Fischmarkt selbst wirkte wie die Kulisse aus einem Actionfilm. Sanitäter und Sicherheitskräfte eilten zwischen ihren Fahrzeugen hin und her, Gestalten in den weißen Overalls der Kriminaltechnik untersuchten markierte Bereiche auf dem gepflasterten Boden. Halogenstrahler auf mobilen Teleskopmasten verwandelten die Fläche vor dem Rathaus in eine unwirkliche Insel des Lichts.

Jonas und Fenja blieben stehen. Irgendetwas Schreckliches war hier vorgefallen, und es konnte noch nicht allzu lange her sein. An der Absperrung hatten sich kleine Gruppen von Nachtschwärmern zusammengedrängt, deren fahle Gesichter Neugier und Besorgnis widerspiegelten und die sich mit gedämpften Stimmen austauschten.

»Wisst ihr, was hier passiert ist?«, fragte Fenja eine Gruppe junger Mädchen, die in ihren aufgetakelten Outfits vermutlich nach einer Party hier gestrandet waren.

»Nee, keine Ahnung. Irgendwas im Rathaus. Die tragen ständig Verletzte raus«, antwortete eine etwa Sechzehnjährige mit gereizter Stimme, die ihre Beunruhigung nur unzureichend kaschierte.

»Ein Anschlag war’s nicht. Jedenfalls keine Bombe, das hätte man gehört«, ergänzte das Mädchen neben ihr.

»Vielleicht drehen die auch nur wieder einen Film«, warf eine dritte Freundin ein, was aber gleich mit skeptischem Kopfschütteln der anderen quittiert wurde.

Eine Weile blieben Jonas und Fenja ratlos stehen, bis sie fast gleichzeitig eine Frau mit mittellangem Haar und energischen Gesichtszügen entdeckten, die im abgesperrten Bereich an einem Zivilfahrzeug stand und einem bleichen Hünen in der Arbeitskleidung einer Security-Firma zuhörte.

»Ach du Scheiße. Was macht die denn hier?«, entfuhr es Jonas.

Fenja sagte nichts und starrte wie gebannt auf die Frau, die sich, scheinbar unbeeindruckt vom Gewimmel der Einsatzkräfte, auf ihr Gespräch mit dem Wachmann konzentrierte.

Spätestens jetzt realisierten beide, dass die absurde nächtliche Szene vor ihnen wirklich echt war. Sie kannten die Frau nur zu gut. Kriminalkommissarin Anne Vareel. Sie waren ihr vor fünf Jahren schon einmal begegnet, in einer Situation, in der Fenja und Jonas dem Tod ins Auge geblickt hatten. Eine dunkle Episode ihres jungen Lebens, die sie seitdem hinter einem Schutzwall des Vergessens zu verstecken suchten.

»Lass uns gehen«, sagte Jonas bestimmt.

Fenja nickte und riss sich von der Szenerie los.

In diesem Moment flammte in der Seitenstraße rechts neben ihnen eine helle Lampe auf, und der Lichtkegel einer Kamera fiel auf eine üppige Frau mit derangierter Abendgarderobe. Ihr dickes Make-up war tränenverschmiert und verlieh ihr ein clowneskes und zugleich tragisches Aussehen. Trotzdem schien sie sich ganz und gar freiwillig vor der Kamera zu präsentieren, ihren Auftritt zu wünschen oder zumindest für geboten zu halten. Nachdem der Kameramann ein knappes »Wir laufen« hervorgepresst hatte, fragte ein Reporter: »Frau Wondrasch, können Sie noch einmal kurz schildern, was Sie gerade im Rathaus erlebt haben?«

Man konnte erkennen, dass sich die Frau sehr zusammenriss, als sie mit belegter Stimme zu berichten begann: »Also, angefangen hat alles ganz normal. Wir waren zu dem Empfang eingeladen, mein Mann und ich. Das war ja heute Abend die Verleihung der Ehrenbürgerwürde für Enrico Chevalier. Das heißt, das sollte es sein. Aber wir haben gewartet, und der kam und kam nicht. Dann war er plötzlich da. Seine Augen hätten Sie sehen sollen. Der ist durch den Saal marschiert und hat wahllos auf die Leute eingeschlagen. Wie ein Roboter. Immer weiter. Wir haben erst gar nicht richtig begriffen, was da passiert. Plötzlich war überall Blut. Oh Gott …« Ein Weinkrampf zwang sie zu einer Pause, und der Reporter redete beruhigend auf sie ein, wobei es ihm nur unzureichend gelang, seine im Tonfall mitschwingende Ungeduld zu verbergen.

Jonas war blass geworden. Das Gesicht. Enrico Chevalier. Mit einem Mal wusste er, wer ihn vorhin wie ein Höllenbote durch das Fenster angestarrt hatte.

»Und wenn er zu uns reingekommen wäre? Ich meine, vorhin in der Galerie«, sagte Jonas wie zu sich selbst. Zusammen mit Fenja stand er inzwischen auf dem menschenleeren Domplatz – dem eigentlichen Ziel ihres abendlichen Spazierganges. Hier herrschte eine sanfte Stille, die nur ab und zu vom gedämpften Geräusch eines sich entfernenden Martinshorns unterbrochen wurde.

»Ist er aber nicht. Und jetzt denk nicht mehr dran.« Fenjas Stimme war fest.

»Ja, du hast recht.« Doch es gelang Jonas nur schwer, die letzten Eindrücke des Abends beiseitezuschieben.

Die beiden blickten hinauf zum Domberg. Vor dem Nachthimmel zeichnete sich die angestrahlte Kathedrale ab. Das mächtige Kirchenschiff und die drei Turmspitzen hatten etwas Erhabenes, Zeitloses. Der Bau verströmte Ruhe und Kraft. Und das, obwohl er nicht nur friedliche Tage, sondern auch die dunklen Epochen der Stadt miterlebt hatte. Oder vielleicht gerade deshalb.

Jonas und Fenja blieben eine Weile stehen, ohne etwas zu sagen. Den Moment nicht zerreden. Sie mochten diese spätabendlichen Besuche, bei denen sie auch die zunehmende Kühle und der aufziehende Nebel nicht störten. Weder Jonas noch Fenja fühlten sich einer Konfession zugehörig. Aber das spielte keine Rolle. Der Dom hatte für sie etwas, was über solchen Dingen stand. Er war ein Freund in der Nacht.

Schließlich gingen die beiden zurück zur Krämerbrücke. Auf ihrem Weg mieden sie den Fischmarkt, ohne dass es dafür einer besonderen Verständigung bedurft hätte, und schlenderten durch die engen Gassen der Altstadt. Als sie den berühmten Flussübergang erreicht hatten, war Henriette Kureks Galeriecafé längst genauso dunkel wie all die anderen kleinen Läden, die sich auf der siebenhundert Jahre alten Brücke aneinanderreihten.

Jonas schloss die schmale, altmodische Holztür auf, die in einer Nische neben einem Schaufenster versteckt lag und sich mit einem tiefen Knarren öffnete. Die beiden verschwanden in einem engen Flur, der nicht breiter als einen Meter war. An seinem Ende führte eine hölzerne Stiege zwischen den engen Putzwänden steil nach oben. Die symbolische Treppenbeleuchtung spendete kaum Licht, doch Jonas und Fenja kannten jede Stufe. Seit zwei Jahren wohnten sie hier, mitten auf der Krämerbrücke.

Um das verschachtelte Quartier im Obergeschoss der mittelalterlichen Häuserzeile wurden sie von vielen beneidet. Vor allem von denen, die nie probiert hatten, im Zentrum einer neunundsiebzig Meter langen Touristenattraktion zu leben, die im Jahr Hunderttausende Besucher anzog.

Nach kurzem Aufstieg erreichten die beiden den Eingang ihrer Wohnung. Auch wenn Passanten hier nicht vorbeikamen, prangte daneben ein glänzendes Messingschild:

DETEKTEI WIESENBURG

HISTORISCHE ERMITTLUNGEN

Ein ermutigender Scherz, den sie Jonas’ altem Geschichtsprofessor Degglinger verdankten. Und nicht mal ganz unzutreffend. Bei den Recherchen zu seinem Buch hatte sich Jonas tatsächlich manchmal wie ein Detektiv gefühlt.

Erschöpft ließ er sich auf das alte Sofa in ihrem gemeinsamen Arbeitszimmer fallen. Die Wände und Holzbalken ringsum waren wie die Clipboards in einem Kriminalbüro mit Fotos, Skizzen und Notizen bedeckt. All diese Fälle hatte er gelöst, und sie waren nun in seinem Buch nachzulesen. Die Zettel konnten also verschwinden.

»Und, wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Fenja in die Stille hinein.

Jonas gab keine Antwort, weil er sie nicht kannte.

5

Tomasz Pietrzak schlug die letzte Seite der Lokalzeitung zu, bevor er das Blatt wieder zurück in die Mitte der fleckigen Tischplatte schubste, die das Herzstück ihres Baustellencontainers bildete. Der Amoklauf des Verrückten im Rathaus lag nun schon eine Woche zurück, und die Berichte darüber waren längst vom neuen großen regionalen Thema verdrängt worden: dem bevorstehenden Besuch von Papst Marcellus III. In etwas mehr als sechs Wochen wurde Seine Heiligkeit für drei Tage in der thüringischen Landeshauptstadt erwartet. Seit die Apostolische Nuntiatur die Visite im März endgültig bestätigt hatte, liefen hier, auf dem Erfurter Domberg, fast schon panische Vorbereitungen. Die umfangreiche Sanierung der Domkrypta, an der auch Tomasz Pietrzak beteiligt war, musste in jedem Fall bis zur klerikalen Visite abgeschlossen sein, was gehörig Druck in die Arbeiten brachte.

Der fünfzigjährige Maurer, der in seinem polnischen Geburtsort Spycimierz eine geradlinige katholische Erziehung genossen hatte, sah dem Papstbesuch mit Stolz entgegen. Marcellus III. war noch nicht lange im Amt, hatte aber bereits erkennen lassen, dass er die liberale Linie seines Vorgängers nicht weiterverfolgen würde. Der italienische Geistliche galt als konservativ. Der von ihm gewählte Papstname war in der Kirchengeschichte zuvor erst zwei Mal gebraucht worden, wohl auch deshalb, weil sich der ursprüngliche Namenspatron durch seine Härte und Unnachgiebigkeit nicht gerade beliebt gemacht hatte.

»Nicht wundsitzen!«, brüllte es jetzt durch das Fenster des Baucontainers, und ringsum schabten die Beine zurückgestoßener Sperrholzstühle über den Metallboden. Auch ohne die spöttische Ansage des Poliers wusste jeder, dass es auf der Dombaustelle kaum eine Chance gab, die Pause über die tariflich vorgeschriebene Länge hinaus auszudehnen. Der Papstbesuch saß allen gleichermaßen im Nacken.

Der Bautrupp marschierte die lange Treppe hinab, die in die Krypta der Kathedrale führte. Wortlos passierten die Männer die zwei mächtigen steinernen Sarkophage, in denen die Gebeine der Gründungsbischöfe Adelar und Eoban ruhten. Im hinteren Bereich des Grabgewölbes war aus dem Steinboden ein Geviert herausgeschlagen worden, in dem ein provisorisches Gerüst aus Kanthölzern und Aluminiumleitern in die Tiefe führte. Den Schacht hatte man eigens erschlossen, um die sperrigen neuen Stahlträger in die darunterliegenden Ebenen zu befördern. Nach der Sanierung würde er wieder versiegelt werden. Der Domkeller erstreckte sich über drei Etagen, die eigentliche Baustelle lag in den beiden unteren.