Über das Buch

Maggie Nelson kennt alle Schattierungen und Geheimnisse von Blau – stolz hütet sie ihre Sammlung blauer Objekte – und sie kennt sie alle, die Künstler, die dem Blau verfallen waren: Joni Mitchell, Billie Holiday, Yves Klein, Leonard Cohen und Andy Warhol. Aber zugleich nutzt sie die Farbe, um sich selbst zu erkunden, die eigenen Laster, Abgründe und Grenzen. Denn hinter all dem Nachsinnen über die Farbe Blau verbirgt sich die Geschichte einer tragischen Liebe. Er, der Prinz des Blauen, hat sie verlassen. Also gibt sie sich mit ganzer Kraft dem hin, was noch von ihm übrig ist: dem Blau. Nur um irgendwann resigniert zuzugeben: »Ich will, dass du weißt, dass es einmal eine Zeit gab, in der ich dich lieber an meiner Seite gehabt hätte als alles Blau dieser Welt.«

Es gibt nur sehr wenige Autorinnen, die ihren Schmerz auf derart poetische und inspirierende Weise seziert haben, wie Maggie Nelson es in diesem Buch tut.

Maggie Nelson

Bluets

Aus dem Englischen von Jan Wilm

Hanser Berlin

Und wenn es wahr wäre, so halten wir dafür, die gesamte Philosophie wäre nicht eine einzige Stunde ihrer Mühe und ihres Schmerzes wert.

Pascal, Pensées

1. Angenommen, ich würde beginnen, indem ich sagte, ich hätte mich in eine Farbe verliebt. Angenommen, ich würde es sagen, als wäre es eine Beichte; angenommen, ich würde meine Serviette zerfetzen, während wir uns unterhielten. Es fing langsam an. Als Wertschätzung, als Wahlverwandtschaft. Dann, eines Tages, wurde es ernster. Dann (während ich in eine leere Teetasse schaue, deren Boden befleckt ist mit einer dünnen, braunen Ausscheidung, spiralförmig gerollt wie ein Seepferdchen) wurde es irgendwie persönlich.

2. Und so verliebte ich mich in eine Farbe – in diesem Fall in die Farbe Blau –, wie durch eine Verzauberung, eine Verzauberung, die ich verteidigte und gegen die ich mich wehrte – immer im Wechsel.

3. Gut, was ist schon dabei? Ein Wahn aus freien Stücken, könnte man sagen. Jedes blaue Objekt eine Art brennender Dornbusch, ein heimlicher Code, nur für eine einzige Agentin bestimmt, ein X auf einer Karte, die viel zu diffus ist, um sie jemals ganz zu entfalten, die jedoch das gesamte begreifbare Universum umfasst. Wie können all die Fetzen blauer Müllbeutel, die in Brombeersträuchern hängen, oder die strahlend blauen Planen, die über den Shantys und den Fischbuden der Welt flattern – wie können sie im Wesentlichen die Fingerabdrücke Gottes darstellen? Ich will versuchen, das zu erklären.

4. Ich gebe zu, dass ich vielleicht einsam gewesen bin. Ich weiß, dass Einsamkeit Wallungen von brennendem Schmerz hervorrufen kann, einem Schmerz, der, wenn er nur lange genug und heiß genug bleibt, eine Stimulation oder eine Provokation – ganz wie man will – mit sich bringen kann, die zur Vorstellung des Göttlichen führt. (Das sollte uns misstrauisch machen.)

5. Doch als Erstes: Betrachten wir einen gewissen Fall von seinem Ende her. Im Jahr 1867 schrieb der französische Dichter Stéphane Mallarmé nach einer langen Zeit der Einsamkeit einen Brief an seinen Freund Henri Cazalis: »Ich habe ein entsetzliches Jahr hinter mir: Mein Denken dachte sich und ist bei einem reinen Konzept angelangt. Wie sich das an meinem Wesen rächte und was ich während dieser langen Agonie erlitt, ist unmöglich in Worte zu fassen.« Mallarmé beschrieb diese Agonie als einen Kampf, der sich auf Gottes »Honigschwingen« zutrug. »Ich rang mit dieser Kreatur von altem, bösem Gefieder – Gott –, die ich schließlich besiegte und zu Boden warf«, schrieb er mit ausgelaugter Zufriedenheit an Cazalis. Schließlich ging Mallarmé dazu über, in seinen Gedichten »le ciel« durch »l’Azur« zu ersetzen, um Verweise auf den Himmel von religiösen Assoziationen reinzuwaschen. »Glücklicherweise«, schrieb er an Cazalis, »bin ich jetzt ganz tot.«

6. Der Halbkreis des blendend türkisblauen Ozeans ist die Urszene dieser Liebe. Dass es dieses Blau gibt, macht mein Leben außergewöhnlich, einfach nur weil ich es gesehen habe. Solch schöne Dinge gesehen zu haben. Sich in ihrer Mitte zu befinden. Ohne jede Wahl. Gestern ging ich dorthin zurück und stand erneut auf dem Berg.

7. Doch was für eine Art von Liebe ist das eigentlich? Mach dir nichts vor und nenne sie erhaben. Gestehe dir ein, dass du in einem Museum vor einem kleinen Puderhäufchen lapisblauen Pigments in einem Glas gestanden und ein stechendes Verlangen empfunden hast. Aber was tun? Es befreien? Kaufen? Sich einverleiben? In der Natur gibt es sehr wenig Essbares, was blau ist – tatsächlich steht Blau in der Wildnis eher für Nahrung, die man vermeiden sollte (Schimmel, giftige Beeren) –, so dass kulinarische Ratgeber meistens davon abraten, blaues Licht, blaue Farben, blaue Teller zu verwenden, wenn und wo Essen serviert wird. Doch auch wenn die Farbe vielleicht den Appetit auf ganz wörtliche Weise zügelt – auf eine andere Weise nährt sie ihn. Vielleicht möchtest du zum Beispiel die Hand ausstrecken und den aufgehäuften Pigmentstaub aufwühlen, damit erst deine Finger und dann die ganze Welt beflecken. Vielleicht möchtest du ihn verdünnen und darin schwimmen, vielleicht willst du deine Nippel damit schminken, vielleicht willst du damit das Kleid einer Jungfrau malen. Und trotzdem hättest du keinen Zugang zu seinem Blau. Nicht ganz.

8. Mache aber nicht den Fehler zu denken, jedes Verlangen sei Sehnsucht. »[S]o sehen wir das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht«, schrieb Goethe, und vielleicht hat er recht. Aber ich habe kein Interesse daran, mich danach zu sehnen, in einer Welt zu leben, in der ich schon lebe. Ich will mich nicht nach blauen Dingen sehnen und um Gottes willen nicht nach irgendeiner »Blauhaftigkeit«. Vor allem will ich damit aufhören, dich zu vermissen.

9. Also schreib mir bitte nicht mehr, um mir von weiteren schönen blauen Dingen zu erzählen. Zugegebenermaßen wird dir dieses Buch auch nichts über sie erzählen. Es wird darin nicht heißen: Ist X nicht schön? Solche Inanspruchnahmen sind Mörderinnen der Schönheit.

10. Was ich höchstens tun möchte, ist, dich auf die Spitze meines Zeigefingers hinzuweisen. Auf seine Stummheit.

11. Das soll heißen: Es ist mir egal, ob sie farblos ist.

12. Und bitte erzähl mir nichts von dem, »was da ist«, und dass es heißt, auf irgendeiner »blauen Gitarre« verwandelt sich’s. Was sich auf einer blauen Gitarre verwandeln lässt, ist hier nicht von Interesse.

13. Bei einem Vorstellungsgespräch an einer Universität sitzen mir drei Männer gegenüber. In meinem Lebenslauf heißt es, ich arbeite gerade an einem Buch über die Farbe Blau. Ich habe das seit Jahren behauptet, ohne auch nur ein Wort geschrieben zu haben. Vielleicht ist das meine Art, mir das Gefühl zu geben, mein Leben sei »im Gang« und nicht nur die Aschehülse, die von einer brennenden Zigarette abfällt. Einer der Männer fragt, Warum Blau? Man stellt mir oft diese Frage. Ich weiß nie, wie ich darauf antworten soll. Ich will sagen: Wir haben keine Wahl, wen oder was wir lieben. Wir haben einfach keine Wahl.

14. Es hat mir gefallen, den Leuten zu erzählen, dass ich ein Buch über das Blaue schreibe, ohne es tatsächlich zu tun. Was in solchen Fällen meistens geschieht, ist, dass dir die Leute Geschichten oder Hinweise oder Geschenke geben, und dann kannst du mit diesen Dingen anstelle von Wörtern herumspielen. In den letzten zehn Jahren habe ich blaue Tinten, Bilder, Postkarten, Farbstoffe, Armbänder, Steine, Edelsteine, Wasserfarben, Pigmente, Briefbeschwerer, Kelche und Süßigkeiten geschenkt bekommen. Ich wurde mit einem Mann bekannt gemacht, der seine Schneidezähne durch Lapislazuli ersetzen ließ, einfach nur, weil er den Stein liebte, und mit einem anderen Mann, der das Blau so sehr verehrt, dass er sich weigert, etwas Blaues zu essen, und ausschließlich blaue und weiße Blumen für seinen Garten züchtet, der die blaue Exkathedrale umringt, in der er lebt. Ich habe einen Mann kennengelernt, der der wichtigste Erzeuger von biologisch angebautem Indigo ist, und einen anderen, der Joni Mitchells Blue herzzerreißend als Frau verkleidet singt, und noch einen anderen mit dem Gesicht eines Ausgestoßenen, aus dessen Augen wortwörtlich Blau strömte, und diesen nannte ich den Prinzen des Blauen, was tatsächlich sein Name war.

15. Ich betrachte diese Leute als meine blauen Korrespondenten, deren Job es ist, mir blaue Berichte aus dem Feld zu schicken.

16. Aber du sprichst davon auf eine unbeschwerte Weise, obwohl es in Wahrheit doch eher so ist, als ob du todkrank gewesen wärst und dir diese Korrespondenten immer wieder neue blaue Nachrichten schickten, als allerletzte Hoffnungen auf eine Heilung.

17. Doch was geht in dir vor, wenn du über Farbe sprichst, als wäre sie eine Heilung, obwohl du bislang noch nicht deine Krankheit benannt hast?

18. Ein warmer Nachmittag Anfang Frühling, New York City. Wir gingen ins Chelsea Hotel zum Ficken. Hinterher beobachtete ich vom Fenster unseres Zimmers aus, wie auf dem Dach gegenüber eine blaue Plane im Wind flatterte. Du schliefst, also war es mein Geheimnis. Es war eine Spur des Alltäglichen, eine blendend blaue Flocke inmitten all der muffigen Fügung. Es war das einzige Mal, dass ich kam. Es war im Grunde genommen unser Leben. Es war erschütternd.

19. Monate vor diesem Nachmittag hatte ich einen Traum, in dem ein Engel zu mir kam und sagte: Du musst mehr Zeit damit verbringen, über das Göttliche nachzudenken, und weniger Zeit damit, dir vorzustellen, wie du dem Prinzen des Blauen die Hose im Chelsea Hotel aufknöpfst. Ich wandte ein: Aber was, wenn doch die aufgeknöpfte Hose des Prinzen des Blauen selbst das Göttliche ist. Sei’s drum, sagte der Engel und ließ mich schluchzend zurück, meine Stirn auf dem blauen Schieferboden.

20. Ficken belässt alles, wie es ist. Ficken darf in keiner Weise die eigentliche Verwendung von Sprache behindern. Denn es kann ihr auch kein Fundament verleihen. Es belässt alles, wie es ist.

21. Ein anderer Traum zur gleichen Zeit: In einem Haus am Meer, eine finstere Landschaft. Es fand ein Tanz statt, in einem mit Mahagoni getäfelten Ballsaal, wo wir tanzten, wie Leute tanzen, die einander sagen, dass sie miteinander schlafen wollen. Danach war es Zeit für raue Zauberei: Damit der Zauber wirkte, musste ich jedes blaue Objekt (zwei Murmeln, einen Miniaturfächer, eine Scherbe Azurglas, eine Lapiskette) in meinen Mund stecken und die Objekte auf der Zunge behalten, während sie eine unerträgliche Milch absonderten. Als ich aufsah, flohst du in einem Ruderboot, da du plötzlich gesucht wurdest. Ich spuckte die Objekte als blaue, schlangengleiche Paste auf meinen Teller aus und bot an, bei der Suche nach dir mit dem Polizeischiff zu helfen, doch man sagte, die Strömungen seien zu außergewöhnlich. Also blieb ich zurück, und ich wurde bekannt als die Dame, die wartet, die Dorfidiotin mit Haaren, die stinken wie ein Tier.

22. Manche Dinge verändern sich trotzdem. Eine Membran kann sich einfach von deinem Leben ablösen, wie die Schicht getrockneter Farbe, die man von der Öffnung einer Farbdose abzieht. Ich erinnere mich genau an jenen Tag: Ich hatte einen Anruf bekommen. Eine Freundin hatte einen Unfall gehabt. Vielleicht würde sie nicht überleben. Es war sehr wenig von ihrem Gesicht übrig geblieben, und ihre Wirbelsäule war an zwei Stellen gebrochen. Sie hatte sich noch nicht bewegt; der Arzt beschrieb sie als »Kiesel im Wasser«. Ich lief durch Brooklyn und bemerkte, dass das welke Immergrün der heruntergekommenen Mobil-Tankstelle an der Ecke plötzlich blühte. In den babykackegelben Duschen meines Sportstudios, wo manchmal der Schnee durch die angelehnten, vergitterten Fenster flatterte, fiel mir auf, dass die gelbe Farbe an manchen Stellen abbröckelte und an ihrer statt ein anständiges, industrielles Blau hineinzukriechen versuchte. Am Boden des Schwimmbads beobachtete ich, wie das weiße Winterlicht das Wolkenblau durchflimmerte, und ich wusste, zusammen erschufen sie Gott. Als ich das Krankenzimmer meiner Freundin betrat, hatten ihre Augen ein schneidendes, blasses Blau und waren der einzige Teil ihres Körpers, der sich bewegte. Ich hatte Angst. Sie auch. Das Blau pulsierte.

23. Goethe schrieb seine FarbenlehreChromaBemerkungen über die Farben