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Roland Zingerle

Ausgekegelt

Klagenfurter Kneipen-Krimi Nr. 0

 

 

 

 

 

Prolog

 

Gesetz und Verbrechen unterliegen dem Henne-Ei-Prinzip. Zwar scheint das Verbrechen älter zu sein, da Gesetze ansonsten nicht nötig geworden wären, doch hätte man schwerlich je ein Verbrechen erkannt, wäre damit nicht irgendein Gesetz gebrochen worden.

Gesetze regeln das menschliche Zusammenleben und über ihre Einhaltung wacht die Polizei. Aber nicht nur: In Klagenfurt haben sich der Großhandelsvertreter Hubert Pogatschnig und der Bierführer-Assistent Ludwig Melischnig die Aufklärung von Kapitalverbrechen zur Aufgabe gemacht. Dabei besteht der besondere Reiz für die beiden darin, schneller zu ermitteln als die Polizei. Von den Medien als „Zwei für die Gerechtigkeit“ gefeiert und von der Polizei unter dem Kommando von Gruppeninspektor Leopold Ogris als „Deppen-Duo“ verachtet, machen sich die beiden Hobby-Detektive die Vorteile des Tratsches zunutze: Sie suchen dort nach Hinweisen, wo Informationen ausgetauscht werden, nämlich in den Gaststätten in und um Klagenfurt…

Montag, 8.30 Uhr, Wirtshaus Zum Goldenen Kegel, Klagenfurt-Ebenthal

 

„Nicht schon wieder! Nicht schon wieder!“

Ludwig Melischnig hörte die Worte, war sich aber nicht sicher, ob sie ihm galten. Der junge Bierführer-Assistent hatte gerade das Wirtshaus „Zum Goldenen Kegel“ betreten und dies waren die ersten Worte, die er hier hörte:

„Nicht schon wieder! Nicht schon wieder!“

Melischnig befand sich auf der Suche nach seinem Chef, dem Bierführer Peppi Ramsbacher, der heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen war. Mit dem, was er stattdessen vorfand, hatte er nun wirklich nicht gerechnet: Der sonst so rüpelhafte Freddy Münzer, seines Zeichens Wirt und Inhaber des „Goldenen Kegels“ samt dazugehöriger Kegelbahn, saß zu einem Häufchen Elend zusammengekrümmt auf einem Barhocker und murmelte unzusammenhängende Wörter vor sich hin. Zwischendurch wiederholte er immer wieder sein zweifaches „Nicht schon wieder!“

Ludwig Melischnig, der sich aufgrund seiner Körpergröße von mehr als 1,90 Meter zu Freddy Münzer hinunterbeugen musste, fragte diesen:

„Was ist denn passiert?“

Freddy zuckte nur mit den Achseln, deutete mit der Hand in Richtung Hinterausgang und presste ein „Tot!“ zwischen seinen Lippen hervor.

Ehe er wusste was er tat, bewegte sich Melischnig schon in die gezeigte Richtung. Seine Muskeln verkrampften sich, als er die Tür zum Hinterhof öffnete und sich Schritt für Schritt den Mülltonnen näherte. Sein Atem wurde schwer und er spürte ein Brennen in der Brust. Sein Gefühl sagte ihm, dass ihn etwas Schlimmes erwarten würde!

Und dieses Gefühl täuschte Ludwig Melischnig nicht. Als er sah, was Freddy Münzer in diesen Schockzustand versetzt hatte, begann er zu zittern: Zwischen den Mülltonnen lag der leblose Körper seines Chefs Peppi Ramsbacher. Der Körper des stämmigen Mannes war über und über voll Blut. An seinem Hemd konnte Melischnig eine Reihe von Einstichen sehen, sechs oder mehr.

Melischnigs Magen verkrampfte sich. Sein Blick wanderte zum Gesicht des Toten. Erschrocken wich der junge Mann zurück, denn was er hier sah, ließ sein Blut in den Adern gefrieren! Peppis Unterkiefer war ausgerenkt und zwar aufgrund eines Kegels, der ihm mit offensichtlicher Brutalität in den Rachen gedrückt worden war.

Das war für den sensiblen Melischnig eindeutig zu viel. Er torkelte benommen zur Seite, stolperte über die Beine des toten Bierführers und stürzte plump zu Boden, nicht ohne sich zuvor den Kopf kräftig an der Mülltonne angeschlagen zu haben. Mühevoll rappelte er sich wieder auf und schleppte sich zurück in die Wirtsstube.

 

Einige Minuten später traf Gruppeninspektor Leopold Ogris mit einer Tatortgruppe im Wirtshaus Zum Goldenen Kegel ein. Während seine Leute den Fundort der Leiche sicherten, befragte der Gruppeninspektor den Wirt Freddy Münzer:

„Schon wieder ein Gewaltverbrechen bei Ihnen? Das ist aber kein Zufall, oder?“

Münzer reagierte nicht auf den Kriminalpolizisten. Sein Blick war gleich geistesabwesend wie sein Murmeln und Stottern.

Ogris seufzte und wandte sich an Melischnig, der krampfhaft versuchte, die schmerzende Stelle an seinem Kopf zu ignorieren:

„Was tun Sie hier?“

Melischnig begann zu erzählen, wobei er sich immer wieder die wunde Stelle am Kopf rieb:

„Ich wollt’ eigentlich nur den Peppi … also den Herrn Peppi Ramsbacher – das ist mein Chef, der ist nämlich Bierführer – suchen, weil wir zwei am Freitag nach der Arbeit da beim Freddy waren und da haben wir ein bisserle gefeiert und dann sind die ‚lustigen Bierbuam’ gekommen, weil die kegeln wollten. Die sind nämlich eine Kegelmannschaft, wo nur Bierführer dabei sein dürfen und weil ich ja nur Assistent bin, bin ich da nicht dabei und da bin ich dann einfach gegangen und deshalb …“

„Stop!“, unterbrach Gruppeninspektor Leopold Ogris. Er konnte ja verstehen, dass auch in einem so wuchtigen Kerl eine zarte Seele wohnte, doch ging es hier um Mord und diesen konnte er nur aufklären, wenn er Fakten bekam!

„Noch einmal von vorne und schön langsam“, versuchte er, dieses Riesenbaby zu beruhigen.

Melischnig nickte benommen. Die Wunde an seinem Kopf schmerzte immer mehr und er sah kleine schwarze Pünktchen vor seinen Augen. Er begann erneut zu sprechen, diesmal jedoch betont langsam, wie der Polizist es befohlen hatte:

„Heute Morgen ist der Peppi nicht zur Arbeit gekommen und das ist überhaupt nicht dem Peppi seine Art, weil der Peppi kommt immer zur Arbeit, weil der ist nämlich fleißig und …“

Während Melischnigs Redefluss hatte ein gedrungener, etwas dicklicher Mann mit Halbglatze den Raum betreten und verfolgte nun aufmerksam das Verhör.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, fragte Gruppeninspektor Ogris, als er auf ihn aufmerksam wurde.

„Ich bin Vertreter eines Großhändlers für Lebensmittel“, antwortete der Mann. „Ich habe geschäftlich mit Herrn Münzer zu tun, mein Name ist …“

„Ja, ja, schon gut“, schnitt ihm der Kriminalist das Wort ab und wandte sich wieder Ludwig Melischnig zu, welcher weitersprach:

„Na ja, jedenfalls hab ich den Peppi auch telefonisch nicht erreichen können und die ‚Bierbuam’, die ja auch schon bei der Arbeit waren, haben erzählt, dass das am Freitag noch ein ziemliches Besäufnis war und dass alles ein bisserle aus dem Ruder gelaufen ist. Ich hab den Depotleiter gefragt, ob er mir erlaubt, dass ich den Peppi suchen geh’ und der Depotleiter hat gesagt ja, aber nicht zu lang, weil wir müssen dann Bier noch ausliefern.“

Gruppeninspektor Leopold Ogris bemerkte erst jetzt die dicke Beule an Melischnigs Kopf.

„Wenn Sie fertig erzählt haben, wird Sie der Notarzt untersuchen“, versprach der Polizist und seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren erstaunlich sanft. „Haben Sie den Herrn Münzer schon in diesem Zustand vorgefunden?“ Ogris deutet auf den noch immer vor sich hinstarrenden und -brabbelnden Wirt. Melischnig nickte. Der Gruppeninspektor fragte weiter:

„Und dann sind sie zur Hintertür hinaus und haben die Leiche gesehen?“

Melischnig nickte erneut und die Erinnerung daran ließ ein Grauen durch seinen Blick flackern.

In diesem Moment kam der Notarzt zur Hintertür herein. Er zog sich die Plastikhandschuhe von den Fingern und deutete Gruppeninspektor Ogris, er müsse mit ihm sprechen. Ogris entfernte sich ein paar Schritte von Melischnig und der Notarzt raunte ihm seinen ersten Befund zu:

„Unzweifelhaft Mord“, meinte er, „und eines sage ich Ihnen: Wer den Mann umgebracht hat, der hatte eine ziemliche Wut im Bauch! Ich habe selten eine so entstellte Leiche gesehen.“

In kurzen Worten schilderte der Mediziner einige weitere Beobachtungen, dann schickte er sich an zu gehen. Der Gruppeninspektor bat ihn, Ludwig Melischnig zu untersuchen. Der Notarzt sah sich die Beule an und stellte Melischnig ein paar Fragen nach seinem Befinden.

„Könnte eine Gehirnerschütterung sein“, meinte der Arzt abschließen. „Am besten wird sein, ich bringe Sie bei der Rückfahrt im Krankenhaus vorbei, dort soll man Sie gründlich untersuchen.“

Der Notarzt verließ mit Melischnig im Schlepptau das Wirtshaus. Melischnig stieg in das Auto des Notarztes und war froh, endlich den Ort dieses grausamen Geschehens verlassen zu können.

 

„Wollen Sie den Großen wirklich einfach so gehen lassen?“, meldete sich nun der gedrungene Mann mit Halbglatze aus dem Hintergrund. „Mit dem stimmt doch etwas nicht.“

Gruppeninspektor Leopold Ogris musterte den Lebensmittelvertreter erstaunt und fragte:

„Bitte was?“

„Pogatschnig, Hubert Pogatschnig“, stellte sich der Mann eifrig vor und trat schnellen Schrittes auf den Polizisten zu. „Ich wollte Herrn Münzer geschäftlich sprechen.“ Der Gruppeninspektor ignorierte die Hand mit den Wurstfingern, die Hubert Pogatschnig zum Gruße ausgestreckt hatte. „Aber wie mir scheint“, sprach dieser weiter, „wird heute nichts daraus werden.“

„Tun Sie nur Ihre Arbeit“, entgegnete Ogris kalt, „ich tue meine.“ Damit wandte er sich ab.

Pogatschnig schnaubte verärgert.

„Na gut“, meinte er, „wenn Sie das Offensichtliche nicht sehen wollen, dann nehme ich die Sache selbst in die Hand.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Wirtshaus in der Absicht, dem Notarztwagen – und damit diesem Melischnig – ins Krankenhaus zu folgen.

Gruppeninspektor Leopold Ogris sah der Halbglatze in einer Mischung aus Ärger und Verwunderung hinterher, wandte sich aber gleich wieder ab, um seine Ermittlungen fortzusetzen; diesen Kerl würde er immerhin eh nie wieder sehen.

Montag, 10.30 Uhr, Landeskrankenhaus Klagenfurt

 

Der Assistenzarzt, der Ludwig Melischnig im Landeskrankenhaus Klagenfurt in Empfang nahm, machte einen leicht verwirrten Eindruck. Er untersuchte ihn eingehend und stellte schließlich eine nicht gerade unerwartete Diagnose:

„Platzwunde auf der Stirn und leichter Schock. Nicht so schlimm. Das Wehwehchen werden wir gleich anständig verarzten. Welche Verbandsfarbe hätten Sie denn gerne?“

Wenig später verließ Melischnig mit einer hellblauen, seiner Meinung nach ziemlich lässigen Bandage am Kopf das Behandlungszimmer. Auf dem Weg nach draußen fiel ihm ein dicklicher Mann auf, der ihn anscheinend verfolgte. Melischnigs Schritte wurden hastiger, doch der Fremde glich seine Geschwindigkeit an. Melischnig wagte kaum ein Auge auf seinen Verfolger zu werfen, doch bei einem unsicheren Blick zurück erfasste er das Gesicht des Mannes. – Dieser kugelförmige, schweinchenrosafarbene Kopf, die dicken runden Brillengläser, das alles kam ihm irgendwie bekannt vor. Plötzlich fiel es Melischnig wie Schuppen von den Augen: Das war doch dieser Kerl von vorhin, dieser neugierige Lebensmittelvertreter! Musste der sich etwa auch hier behandeln lassen?

Dem Bierführer-Assistenten fiel ein Stein vom Herzen. Er wandte sich um und marschierte geradewegs auf seinen Verfolger zu.

„Sie haben mir ja einen schönen Schrecken eingejagt“, erklärte er diesem. „Haben Sie auch eine Beule, oder warum sind Sie im Krankenhaus?“

Hubert Pogatschnig war es peinlich, dass seine Verfolgung nicht unbemerkt geblieben war. Leicht unbeholfen versuchte er, die Situation zu retten, indem er stammelte:

„Ähm, äh … Kontrolle. Hoher Blutdruck, Sie wissen schon … was für ein Zufall! … Wie klein die Welt doch ist.“

Melischnig lachte erleichtert, als er meinte:

„Und ich hab schon gedacht, Sie sind ein Polizist oder ein Mörder! Das kann man ja heutzutage nie wissen. Aber … aber bitte halten Sie mich jetzt nicht für verrückt, Herr … wie heißen Sie eigentlich?“

„Pogatschnig, Hubert Pogatschnig. Lassen Sie uns doch auf diesen Schreck hin auf einen Kaffee gehen.“

Ludwig Melischnig nickte zustimmend und die beiden spazierten zum nächsten Kaffeeautomaten.

„Am liebsten würd’ ich den ganzen Tag aus meinem Gehirn streichen“, jammerte der Bierführer-Assistent dabei. „Es ist alles so furchtbar!“

„Das ist wohl wahr“, erwiderte Hubert Pogatschnig, warf ein paar Münzen in den Automaten und fragte: „Wie trinken Sie Ihren Kaffee?“

„Gar nicht“, antwortete Melischnig und erklärte, als er Pogatschnigs verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte: „Kaffee ist mir zu bitter. Ich hätt’ lieber einen Kakao.“

Während die Maschine arbeitete, sprach Melischnig weiter:

„Diese Ungerechtigkeit in der Welt ist doch einfach nicht auszuhalten. Immer trifft’s die, die es einfach nicht verdienen, am allerhärtesten.“

Pogatschnig reichte ihm den Plastikbecher und wählte für sich selbst einen Espresso aus. Der erste Schluck hinterließ einen Schokoladenbart auf Melischnigs Oberlippe. Ohne das zu bemerken, jammerte dieser weiter:

„Ich hab’ meinen Chef echt mögen. Freilich war er manchmal streng, aber immer gerecht. Es ist voll ungerecht, dass er so grausig und unwürdig hat sterben müssen.“

Pogatschnig schüttete sich nachdenklich seinen heißen Espresso in den Mund. Ex. Das war jedoch nicht der Grund, warum Melischnig große Augen bekam. Dafür war der Gedanke verantwortlich, der ihm gerade ins Hirn geschossen war:

„Stellen Sie sich vor, mich hätte es genauso treffen können! Wer weiß, was gewesen wäre, wäre ich nicht früher nach Hause gegangen …“

„Ja, das habe ich mich auch schon gefragt“, hakte Pogatschnig misstrauisch ein. „Warum sind Sie vor Ihrem Chef nach Hause gegangen, Herr Melischnig?“

„Wissen Sie …“ Melischnig stieg eine leichte Schamesröte ins Gesicht. „Am Freitagabend kegeln immer die lustigen Bierbuam. Das ist eine Kegelmannschaft, bei der nur Bierführer dabei sind. Und ich bin ja nur Bierführer-Assistent. – Erster Bierführer-Assistent zwar, aber eben nur Bierführer-Assistent. Ich wollte ja auch Bierführer werden, bin aber leider bei der Prüfung für den LKW-Führerschein dreimal durchgefallen. Aber irgendwann werd’ ich auch Bierführer, das hab’ ich mir ganz fest vorgenommen! Irgendwann werd’ ich auch …“

„Soso, nur Bierführer also“, unterbrach Pogatschnig Melischnigs Redeschwall. Er war in Gedanken versunken, nachdem er erkannt hatte, dass dieser so stark und wuchtig wirkende Mann keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Und da Ludwig Melischnig für ihn somit nicht mehr als Täter infrage kam, hatte er in eine andere Richtung zu denken begonnen.

„Was halten Sie davon“, meinte er nun, „wenn wir dieser Ungerechtigkeit gemeinsam auf den Grund gehen und die Sache aufklären?“

„Davon halte ich sehr viel“, rief Melischnig begeistert. „Ich weiß auch schon, wo wir mit unseren Nachforschungen anfangen können.“